JACK HIGGINS
Die Stunde des
Jägers
Scanner: der_leser K&L : Yeti42 September 2002 Privat digitalisiertes Buch
BAST...
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JACK HIGGINS
Die Stunde des
Jägers
Scanner: der_leser K&L : Yeti42 September 2002 Privat digitalisiertes Buch
BASTEI - LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11929
Die Stunde des Jägers Titel der Originalausgabe: Confessional
Copyright © 1985 by Jack Higgins
Ecocet Titel der Originalausgabe: Exocet
Copyright © 1983 by Jack Higgins
Gesamtdeutsche Rechte für beide Romane
beim Scherz Verlag, Bern und München
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Scherz Verlages:
Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach
Printed in Germany März 1993 Einbandgestaltung: Roland Winkler
Titelfoto: ZEFA
Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-404-11929-0
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen
Mehrwertsteuer
PROLOG
1959
Als der Landrover um die Ecke bog, ging Kelly gerade an der Heiliggeistkirche vorbei. Er trat rasch ins Portal, öffnete die schwere Tür, ging hinein und ließ sie einen Spalt offe nstehen, damit er sehen konnte, was draußen geschah. Der Landrover war bis auf das Chassis demontiert wo rden, so daß der Fahrer und die beiden Polizisten, die hinten kauerten, völlig ungeschützt waren. Sie trugen die unverwechselbaren dunkelgrünen Uniformen der Royal Ulster Constabulary und hielten ihre Sterling-Maschinenpistolen schußbereit. Das Fahr zeug entfernte sich auf der schmalen Straße in Richtung Ze n trum von Drumore, und Kelly ve rweilte einen Augenblick lang in der Sicherheit des Halbdunkels, spürte einen vertrauten Ge ruch. »Weihrauch, Kerzen und Weihwasser«, sprach er leise vor sich hin und tauchte die Fingerspitzen in die Granitschale ne ben der Tür. »Kann ich etwas für dich tun, mein Sohn?« Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und als Kelly sich umwandte, kam ein Priester aus der Finsternis, ein alter Mann in schäbiger Soutane und mit schlohweißem Haar, das im Kerzenlicht schimmerte. In der einen Hand trug er einen Schirm. »Ich stelle mich nur unter, Pater, mehr nicht«, erklärte Kelly. 4
»Es regnet.« Er stand leicht vornübergebeugt da, hatte die Hände tief in der Tasche eines alten braunen Regenma ntels stecken. Er war klein, höchstens einsfünfundsechzig, kaum mehr als ein Junge, doch das blasse teufelsähnliche Gesicht unter der Krempe des alten Filzhuts und die brütenden dunklen Augen, die durch alles hindurch und in die Ferne zu starren schienen, ließen mehr ahnen. All das sah und verstand der Priester. Er lächelte milde. »Be stimmt wohnst du nicht in Drumore?« »Nein, Pater, ich bin nur auf der Durchreise und mit einem Freund hier in einem Pub verabredet, das Murphy’s heißt.« Seiner Stimme fehlte der unverkennbare harte Akzent der Nordiren. »Kommst du aus der Republik?« fragte der Priester. »Aus Dublin, Pater. Wissen Sie, wo Murphys Lokal ist? Es ist sehr wichtig. Mein Freund hat versprochen, mich nach Be lfast mitzunehmen. Ich habe die Chance, dort Arbeit zu finden.« Der Priester nickte. »Ich will dir zeigen, wo es ist. Es liegt auf meinem Weg.« Kelly machte die Tür auf, der Alte ging hinaus und spannte seinen Schirm auf, da es inzwischen heftig regnete. Kelly schloß sich ihm an. Eine Blaskapelle stimmte ein altes Kir chenlied an, Abide with Me, und Stimmen ertönten melancho lisch im Regen. Der alte Priester und Kelly blieben stehen, schauten zum Rathausplatz hinunter. Dort stand ein Krieger denkmal aus Granit, an dessen Sockel Kränze lagen. Umgeben war es von einer kleinen Menschenmenge; die Kapelle hatte seitlich Aufstellung genommen. Ein irischer Geistlicher leitete den Gedenkgottesdienst. Vier alte Männer hielten im Regen stolz Fahnen hoch, unter denen Kelly jedoch nur den Union Jack erkannte. »Was ist denn das?« fragte er scharf. »Man gedenkt des Waffenstillstands im Ersten Weltkrieg und 5
der Gefallenen beider Weltkriege. Was du da siehst, ist die Ortsgruppe der Britischen Legion. Unsere protestantischen Freunde halten gerne fest an dem, was sie ihr geschichtliches Erbe nennen.« »Ach, wirklich?« entgegnete Kelly. Sie gingen weiter die Straße entlang. An der Ecke stand ein kleines Mädchen, kaum älter als sieben oder acht. Es hatte eine alte Felduniformmütze auf, die ebenso wie sein Mantel zwei Nummern zu groß war. In seinem blassen Gesicht spannte sich die Haut straff über hervorstehenden Backenknochen, doch die braunen Augen schauten wach und intelligent, und es rang sich ein Lächeln ab, obwohl seine Hände, in denen es eine flache Pappschachtel hielt, blaugefroren waren. »Guten Tag, Pater«, sagte das Mädchen. »Kaufen Sie mir ei nen Klatschmohn ab?« »Armes Kind, an so einem Tag gehörst du nach Hause.« Er nahm eine Münze aus der Tasche, ließ sie in die Sammelbüch se gleiten und nahm sich eine rote Papierblume. »Mohn, wie er auf Flanderns Schlachtfeldern wuchs, zum Andenken an unsere heldenhaften Kriegstoten«, erklärte er Kelly. »Aha.« Kelly wandte sich um und sah, wie das kleine Mäd chen ihm schüchtern eine Blüte hinhielt. »Auch ein Mohn für Sie, Sir?« »Warum nicht?« Es steckte ihm die Blume an den Regenmantel. Kelly schaute kurz aus dunklen Augen in das abgespannte Gesichtchen und fluchte dann leise vor sich hin. Er nahm eine lederne Briefta sche aus der Innenseite seines Regenmantels, öffnete sie, zog zwei Pfundnoten heraus. Das Mädchen starrte sie erstaunt an. Er rollte sie zusammen und steckte sie in die Sammelbüchse. Dann nahm er ihm sanft die Pappschachtel mit den Blumen aus den Händen. »Geh nach Hause«, sagte er leise. »Wärm dich auf. Wirst bald merken, wie kalt die Welt ist, Kleines.« 6
Ihr Blick verriet Verwirrung, Unverständnis. Das Mädchen drehte sich um und rannte weg. Der alte Priester sagte: »Ich war selbst an der Somme dabei, aber dieser Verein da« – er machte eine Kopfbewegung zu der Menge am Mahnmal hin – »würde das am liebsten vergessen.« Beim Weitergehen schüttelte er den Kopf. »So viele Tote. Ich hatte nie Zeit zu fragen, ob ein Mann Katholik oder Protestant war.« Er blieb stehen und warf einen Blick über die Straße. Auf ei nem verblaßten Schild stand Murphy’s Select Bar. »So, da wä ren wir. Was fängst du damit an?« Kellys Blick fiel auf die Pappschachtel mit den Papierblu men. »Weiß der Herrgott.« »Tut er meiner Erfahrung nach auch.« Der Alte zog ein sil bernes Etui aus der Tasche und nahm sich eine Zigarette, ohne Kelly eine anzubieten. Er stieß Rauch aus, hustete. »Als junger Priester besuchte ich einmal eine alte katholische Kirche in Studley Constable in Norfolk. Dort gab es ein bemerkenswer tes Fresko von einem unbekannten Meister des Mittelalters: der Tod in schwarzem Mantel und Kapuze, der gekommen war, seine Ernte einzufordern. Heute sah ich ihn wieder, in meiner eigenen Kirche. Der einzige Unterschied war, daß er einen Filzhut aufhatte und einen alten Regenmantel trug.« Er fröstel te jäh. »Gehen Sie heim, Pater«, sagte Kelly sanft. »Hier draußen ist es zu kalt für Sie.« »Ja«, erwiderte der Alte. »Viel zu kalt.« Er eilte fort, als die Kapelle einen neuen Choral anstimmte. Kelly drehte sich um, ging die Stufen zum Eingang von Mur phy’s Bar hoch und stieß die Tür auf. Er fand sich in einem langen, schmalen Raum, an dessen Ende ein Kohlenfeuer brannte. Im Lokal standen mehrere Tische und Stühle aus Guß eisen, an der Wand eine Bank. Die Theke war aus dunklem Mahagoni mit Marmorplatte und einer Fußstütze aus Messing. 7
Die übliche Flaschenbatterie stand aufgereiht vor einem großen Spiegel, von dessen Rahmen das Blattgold abblätterte. Gäste waren keine anwesend, der Wirt stand allein beim Bieraus schank, ein massiger, fast kahler Mann mit Speckfalten im Ge sicht und Flecken an seinem krage nlosen Hemd. Er warf Kelly einen Blick zu und musterte die Schachtel mit den Blumen. »Ich hab’ schon eine.« »Geht uns doch allen so, oder?« Kelly stellte die Schachtel auf einen Tisch und lehnte sich an die Theke. »Wo sind denn alle Mann?«
»Auf dem Platz beim Gedenkgottesdienst. Das ist hier eine Protestanten-Stadt, mein Sohn.« »Und woher wissen Sie, daß ich keiner bin?« »Nach fünfundzwanzig Jahren als Wirt? Mach mal halblang. Was darf’s sein?« »Bushmills.« Der Dicke nickte beifällig und griff nach einer Fla sche. »Ein Mann mit gutem Geschmack.« »Sind Sie Murphy?« »So nennt man mich.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Sie sind nicht von hier.« »Nein, ich sollte mich hier mit einem Freund treffen. Vie l leicht kennen Sie ihn?« »Wie heißt er denn?« »Cuchulain.« Das Lächeln verschwand spurlos aus Murphys Gesicht. »Cu chulain«, flüsterte er. »Der letzte der Schwarzen Helden.« »Mein Gott, habt ihr Jungs einen Sinn fürs Melodramati 8
sche«, sagte Murphy. »Wie in einem schlechten Fernsehspiel. Man hat dir gesagt, du sollst keine Waffe tragen.« »Tu ich auch nicht.« »Gut.« Murphy holte eine große braune Reisetasche unter der Theke hervor. »Direkt gegenüber is t die Polizeikaserne. Der Lieferwagen eines Lebensmittelhändlers von hier wird jeden Tag Punkt zwölf durchs Tor gelassen. Schmeiß das hinten rein. Reicht aus, um die halbe Kaserne umzublasen.« Er langte in die Tasche. Es klickte vernehmlich. »So, hast jetzt fünf Minu ten Zeit.« Kelly nahm die Tasche und ging zur Tür. Als er sie erreicht hatte, rief Murphy ihm nach: »He, Cuchulain, Schwarzer Held?« Kelly drehte sich um. Der Dicke hob ein Glas: »Weißt ja, wie die Rede geht: Mögest du in Irland sterben.« Da war etwas in diesen Augen, ein Spott, der Kellys Sinne rasiermesserscharf werden ließ, als er hinaus und auf den Platz trat. Die Kapelle war bei einem neuen Kirche nlied angelangt, die Menge sang und zeigte trotz des Regens keine Neigung, sich zu entfernen. Er warf einen Blick über die Schulter und sah Murphy auf der obersten Stufe vor seinem Pub stehen. Seltsam – und dann winkte der mehrere Male, als gäbe er je mandem ein Zeichen. Mit jäh aufheulendem Motor schoß der offene Landrover aus einer Seitenstraße auf den Platz und kam seitwärts auf Kelly zugerutscht. Kelly begann zu rennen, glitt auf dem nassen Pflaster aus und fiel auf ein Knie. Der Kolben einer Sterling wurde ihm schmerzhaft in die Nierengegend gerammt. Als er aufschrie, trat der Fahrer, ein Sergeant, wie er nun sah, fest auf Kellys ausgestreckte Hand und hob die Re isetasche auf. Er kehrte sie um, und eine billige hölzerne Küchenuhr fiel heraus. Er kickte sie wie einen Fußball über den Platz in die Menge, die ausei nanderstob. »Keine Angst!« rief er. »Ist nur eine Attrappe!« Er beugte sich vor und packte Kelly langes Haar im Genick. »Ihr lernt 9
auch nie, ihr Idioten! Kannst keinem trauen, mein Sohn. Das hätten sie dir beibringen sollen.« Kelly schaute an ihm vorbei zu Murphy hinüber, der auf den Stufen vor seinem Lokal stand. Aha – ein Denunziant. Noch immer Irlands Fluch, erkannte er, doch zornig machte ihn das nicht. Nur kalt – eiskalt, und sein Atem ging langsam. Der Sergeant hatte ihn im Genick, auf den Knien, auf allen vieren wie ein Tier. Er beugte sich vor, tastete Achselhöhlen und Körper ab, suchte nach einer Waffe und schleuderte dann den noch immer knienden Kelly gegen den Landrover. »Los, Hände auf den Rücken. Hättest daheim in den Saustäl len bleiben sollen.« Kelly begann sich zu erheben, beide Hände am Griff des Browning-Revolvers, den er sich so sorgfältig an die Innenseite der Wade überm linken Knöchel geklebt hatte. Er riß ihn los und schoß dem Sergeanten durchs Herz. Die Wucht des Ein schlags riß den Sergeanten von den Füßen und warf ihn gege n den neben ihm stehenden Polizisten. Der Mann fuhr herum, versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Kelly schoß ihm in den Rücken, und dann schwenkte der Browning schon auf den drit ten Polizisten zu, der sich auf der anderen Seite des Landrovers erschrocken umdrehte und die Sterling-Maschinenpistole hob – zu spät, denn Kellys dritte Kugel traf ihn in den Hals und warf ihn rückwärts gegen die Wand. Die Menge stob auseinander, Frauen schrien, einige Musiker ließen ihre Instrumente fallen. Kelly stand ganz still und gelas sen inmitten des Blutbads und schaute über den Platz zu Mur phy hinüber, der wie erstarrt auf den Stufen vor seinem Pub verharrte. Kelly hob den Browning, zielte, aber aus einem Lautsprecher donnerte eine Stimme auf russisch durch den Regen: »Schluß, Kelly! Genug!« Kelly wandte sich um, ließ die Waffe sinken. Der Mann mit dem Megaphon, der die Straße entlang auf ihn zukam, trug die 10
Uniform eines KGB-Obersten und hatte sich zum Schutz gegen den Regen einen la ngen Mantel um die Schultern geworfen. Der Mann neben ihm war Anfang Dreißig, groß, dürr, und hat te krumme Schultern. Er trug einen Trenchcoat aus Leder, eine stahlgefaßte Brille und war blond. Hinter ihm tauchten aus den Nebenstraßen mehrere Trupps russischer Soldaten mit schuß bereiten Gewehren auf und hielten im Laufschritt auf den Platz zu. Sie trugen Kampfanzüge und die Abzeichen der Brigade ›Eiserner Hammer‹, eines Eliteverbands. »Gut so! Waffe hinlegen!« rief der Oberst. Kelly fuhr herum, hob den Arm und schoß einmal, über die Distanz erstaunlich exakt. Murphy wurde der größte Teil des linken Ohres wegge rissen. Der Dicke schrie auf, hielt sich die linke Kopfseite, zwi schen seinen Fingern quoll Blut hervor. »Schluß, Michail! Genug!« schrie der Mann im Ledermantel. Kelly drehte sich lächelnd zu ihm um und sagte auf russisch: »Klar, Professor, wie Sie me inen«, und legte den Browning behutsam auf die Motorhaube des Landrovers. »Sagten Sie nicht, man habe ihm beigebracht, Befehle zu be folgen?« fragte der Oberst aufgebracht. Ein Leutnant der Armee trat vor und salutierte. »Einer lebt noch, zwei sind tot, Oberst Maslowski. Ihre Anweisungen?« Maslowski ignorierte ihn und sprach Kelly an: »Sie sollten keine Waffe tragen.« »Ich weiß«, erwiderte Kelly. »Andererseits sollte Murphy den Spielregeln zufolge kein Denunziant sein. Man sagte mir, er gehöre zur IRA.« »Sie glauben also immer, was man Ihnen erzählt?« »Das hat die Partei mir eingeschärft, Genosse Oberst. Haben Sie vielleicht ein Buch mit neuen Dienstvo rschriften für mich?« Man merkte Maslowski seinen Zorn an, denn an ein solches Benehmen war er nicht gewöhnt – nicht von einem XBeliebigen. Er öffnete den Mund und setzte zu einer scharfen 11
Entgegnung an, aber da erklang plötzlich ein Schrei. Das kleine Mädchen, das Kelly die Blumen ve rkauft hatte, drängte sich durch die Menge und fiel neben der Le iche des PolizeiSergeanten auf die Knie. »Papa!« wehklagte sie auf russisch. »Papa!« Dann hob es sein blasses Gesicht zu Kelly hoch: »Du hast ihn umgebracht! Du hast meinen Vater totgescho ssen!« Das Mädchen ging auf ihn los wie eine junge Tigerin, wollte ihm das Gesicht zerkratzen, weinte hysterisch. Er hielt seine Handgelenke fest. Jäh wurde es von allen Kräften verlassen und sank gegen ihn. Er umschlang es, drückte es an sich, strich ihm übers Haar, flüsterte ihm ins Ohr. Der alte Priester kam aus der Menge. »Ich kümmere mich um das Kind«, sage er und legte ihm sanft die Hände auf die Schultern. Sie entfernten sich zusammen, die Menge wich zurück und ließ sie durch. »Lassen Sie den Platz räumen!« rief Maslowski dem Leutnant zu. Dann wandte er sich an den Mann im Le dermantel. »Ich habe diesen ewigen Ukraine-Regen satt. Gehen wir zurück ins Trockene. Und bringen Sie Ihren Schützling mit. Die Sache muß beredet werden.« Das KGB, größter und kompliziertester Geheimdienst der Welt, hat in der Sowjetunion Millionen unter totaler Kontrolle und greift mit seinen Tentakeln nach jedem Land. In seinem Herzen, dem geheimsten aller Bereiche, arbeitet Abteilung 13, verantwortlich für Mord, Attentate und Sabotage im Ausland. Oberst Iwan Maslowski stand Abteilung 13 nun seit fünf Jah ren vor. Er war ein massiger, recht brutal aussehender Mann, dessen Erscheinung im Widerspruch zu seiner Herkunft stand. Der Arztsohn, 1919 in Leningrad geboren, studierte dort Jura und machte sein Staatsexamen kurz vor dem deutschen Über fall auf Rußland. Während der ersten Phase des Krieges kämpf te er in Partisanenverbänden hinter den feindlichen Linien, wurde dann aber wegen seiner Bildung und Sprachbegabung zu 12
einer im Krieg geschaffenen Abwehrorga nisation namens SMERSCH versetzt. Dort arbeitete er mit solchem Erfolg, daß er nach Kriegsende beim Geheimdienst blieb und nicht im ge ringsten mehr Lust verspürte, als Jurist zu praktizieren. Er war hauptverantwortlich gewesen für die Einrichtung höchst origineller Spionageschulen, wie zum Beispiel Gatschi na, wo Agenten in originalgetreuen Nachbildungen britischer oder amerikanischer Städte für den Einsatz in englischsprachi gen Ländern ausgebildet wurden und genauso lebten, wie sie es im Westen tun würden. Die außerordentlich erfolgreiche Infil trierung des französischen Geheimdienstes auf allen Ebenen durch das KGB war vorwiegend Produkt einer Schule, die er in Grosnia eingerichtet hatte und wo das Schwergewicht auf al lem Französischen lag: Umwelt, Kultur, Küche und Kleidung wurden originalgetreu reproduziert. Er genoß das uneingeschränkte Vertrauen seiner Vorgesetz ten und hatte freie Hand zum Ausbau des Systems bekommen, was die Existenz eines nordirischen Marktfleckens namens Drumore tief in der Ukraine erklärte. Der Raum, in dem Maslowski arbeitete, wenn er aus Moskau kam, war recht konventionell ausgestattet: Schreibtisch, Akten schränke, an der Wand ein großer Stadtplan von Drumore. Im offenen Kamin brannte hell ein Holzfeuer, vor dem er stand und die Wärme genoß, in der Hand einen Becher mit starkem schwarzem Kaffee und einem Schuß Wodka. Hinter ihm ging die Tür auf, der Mann im Ledermantel trat ein und kam frö stelnd auf das Feuer zu. »Verdammt, ist das kalt da draußen.« Er nahm sich Kaffee und Wodka vom Tablett auf dem Schreibtisch und ging ans Feuer. Paul Tscherny war vierund dreißig, ein gut aussehender, umgänglicher Mann, der bereits einen internationalen Ruf auf dem Gebiet der Experimental psychologie genoß; für den Sohn eines Dorfschmieds aus der Ukraine eine beachtliche Leistung. Im Krieg hatte er als Sech 13
zehnjähriger in einer Partisanengruppe gekämpft. Sein Grup penführer, im Zivilleben Englischdozent an der Universität Moskau, hatte seine Begabung erkannt. Tscherny schrieb sich 1945 an dieser Universität ein. Er stu dierte Psychologie im Hauptfach und ve rbrachte dann zwei Jahre in einer Forschungsgruppe für Experimentalpsychiatrie an der Universität Dresden, wo er 1951 seinen Doktor machte. Sein Interesse für Verhaltenspsychologie führte ihn an die Uni versität Peking, wo er mit dem berühmten chinesischen Psy chologen Pin Chow arbeitete, dessen Spezialität der Einsatz verhaltenspsychologischer Techniken beim Verhör und der Gehirnwäsche britischer und amerikanischer Kriegsgefangener im Korea-Krieg gewesen war. Als die Zeit reif für Tschernys Rückkehr nach Moskau war, hatte ihm seine Arbeit auf dem Gebiet der Beeinflussung menschlichen Verhaltens unter Anwendung Pawlo wscher Techniken die Aufmerksamkeit des KGB im allgemeinen und Maslowskis im besonderen eingetragen, der entscheidend bei seiner Berufung als Professor für Experimentalpsychologie an die Universität Moskau mitgewirkt hatte. »Er ist ein Einzelgänger«, sagte Maslowski. »Kein Respekt vor der Obrigkeit. Hält sich grundsätzlich nicht an Befehle. Man hatte ihm doch gesagt, er solle ohne Waffe gehen, nicht wahr?« »Ja, Genosse Oberst.« »Er mißachtet also einen Befehl und macht aus einer Rout i neübung ein Blutbad. Um die verdammten Dissidenten, die wir hier einsetzen, geht es mir nicht. Wenigstens eine Art, sie zu zwingen, ihrem Vaterland zu dienen. Wer waren übrigens die Polizisten?« »Das weiß ich nicht genau. Moment bitte.« Tsche rny griff nach dem Telefon. »Lewin, reinkommen.« »Wer ist Lewin?« fragte Maslowski. 14
»Der ist seit ungefähr drei Monaten hier. Jüdischer Dissident, wegen Geheimkorrespondenz mit Verwandten in Israel zu fünf Jahren verurteilt. Er leitet überaus tüchtig das Büro.« »Was war er von Beruf?« »Physiker – Konstruktionsingenieur. Soviel ich weiß, ha tte er mit Flugzeugentwicklung zu tun. Ich habe guten Grund zu glauben, daß er sein Fehlverhalten bereits eingesehen hat.« »Das behaupten sie alle«, versetzte Maslowski. Es klopfte an die Tür, und der Erwähnte trat ein. Viktor Le win war ein schmächtiger Mann, den nur sein gesteppter An zug kräftiger erscheinen ließ. Er war fünfundvierzig, hatte ei sengraues Haar, und das Drahtgestell seiner Brille war mit Klebeband repariert. Er sah gehetzt aus, als erwartete er, das KGB könne jeden Augenblick die Tür auftreten; in seiner Lage keine übertriebene Mutmaßung. »Wer waren die drei Polizisten?« fragte Tscherny. »Der Sergeant hieß Woronin, Genosse«, antwortete Lewin. »Früher Schauspieler am Moskauer Staatstheater. Versuchte im letzten Jahr nach dem Tod seiner Frau in den Westen zu flüch ten. Urteil: zehn Jahre.« »Und das Kind?« »Tanja Woroninowa, seine Tochter. Wer die beiden anderen sind, muß ich erst noch nachprüfen.« »Im Augenblick unwichtig. Sie können gehen.« Lewin entfernte sich. Maslowski sagte: »Zurück zu Kelly. Unbegreiflich, daß er auf den Mann vor dem Lokal schoß. Glatte Mißachtung meines Befehls. Es war allerdings«, fügte er hinzu, »ein erstaunlicher Treffer.« »Ja, gut ist er.« »Erzählen Sie mir noch mal seine Vorgeschichte.« Maslowski goß sich noch einen Kaffee mit Wodka ein und setzte sich ans Feuer. Tscherny nahm eine Akte vom Schreib 15
tisch und schlug sie auf. »Michail Kelly, geboren 1938 in dem Dorf Ballygar in Kerry. Das liegt in der Republik Irland. Vater: Sean Kelly, IRA-Aktivist im spanischen Bürgerkrieg. Lernte in Madrid die Mutter des Jungen kennen – Martha Wronski, So wjetbürgerin.« »Und der Vater wurde von den Briten gehängt, wenn ich mich recht entsinne.« »Korrekt. Er nahm während der ersten Monate des Zweiten Weltkriegs an einer Bombenkampagne der IRA im Raum Lo n don teil, wurde erwischt, vor Gericht gestellt und hingerichtet.« »Ein britischer Märtyrer mehr. Dieses Volk scheint sie zu brauchen.« »Martha Wronski, der die irische Staatsbürgerschaft zustand, lebte weiter in Dublin und bestritt ihren Lebensunterhalt als Journalistin. Der Junge ging dort auf eine Jesuitenschule.« »Katholisch erzogen?« »Selbstverständlich. Diese recht absonderlichen Umstände kamen unserem Mann in Dublin zu Ohren, der Moskau über Kelly informierte. Daß der Junge Potential hatte, lag auf der Hand. Die Mutter wurde 1953 dazu bewegt, mit ihm nach Ruß land zurückzukehren. Zwei Jahre später starb sie an Mage n krebs.« »Inzwischen ist er also zwanzig und hochintelligent, wie ich höre?« »Allerdings. Hat eine Begabung für Sprachen. Schnappt sie einfach so auf.« Tscherny blickte noch einmal in die Akte. »Ganz besonders talentiert ist er aber als Schauspieler. Ich würde sogar so weit gehen, ihn als Genie auf diesem Gebiet zu bezeichnen.« »Angesichts der Umstände höchst angemessen.« »Unter anderen Verhältnissen könnte er es durchaus zu einem großen Schauspieler bringen.« »Nun, das kann er jetzt vergessen«, kommentierte Maslowski 16
säuerlich. »Sein Killerinstinkt kommt mir sehr entwickelt vor.« »An Leuten mit Gewaltpotential mangelt es uns nicht«, er klärte Tscherny. »Zum Töten kann man jeden abrichten, wie Sie wohl wissen, Genosse Oberst. Gerade aus diesem Grund legen wir bei der Rekrutierung großen Wert auf Intelligenz. Allerdings zeigt Kelly beim Umgang mit Handfeuerwaffen eine seltene, fast einmalige Begabung.« »Das fiel mir auch auf«, entgegnete Maslowski. »Einfach so rücksichtslos zu töten… er muß einen starken psychopathi schen Zug haben.« »In diesem Fall nicht, Genosse Oberst. Es mag nicht sehr eingängig sein, aber Kelly ist, wie ich bereits sagte, ein brillan ter Schauspieler. Heute spielte er die Rolle des IRARevolverschützen und führte sie aus, als sei sie ihm in einem Film zugewiesen wo rden.« »Nur daß ein Regisseur fehlte, der ›Schnitt!‹ rief«, merkte Maslowski an, »und daß die Toten nicht aufstanden, als die Kamera ausgeschaltet wurde.« »Ich weiß«, gestand Tscherny zu. »Aber damit ist psycholo gisch erklärt, weshalb er drei Männer erschießen und befehls widrig auf Murphy feuern mußte. Murphy war ein Denunziant, den es öffentlich zu bestrafen galt. Gemäß der Rolle, die er spielte, konnte Kelly einfach nicht anders handeln. Das ist der Zweck seiner Ausbildung.« »Gut, ich habe begriffen. Und Sie meinen, er ist jetzt so weit, daß wir ihn hinaus in die Kälte schicken können?« »Ich glaube ja, Genosse Oberst.« »Gut, holen wir ihn rein.« Ohne Hut und Regenmantel sah Michail Kelly noch jünger aus. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover, eine Jacke aus Donegal-Tweed und Cordhosen. Er machte einen völlig gefaß ten, fast verschlossenen Eindruck, und Maslowski spürte wie der diese undefinierbare Gereiztheit in sich hochkommen. 17
»Sie sind wohl stolz auf das, was Sie da draußen angerichtet haben? Ich sagte Ihnen, Sie sollten nicht auf diesen Murphy schießen. Warum haben Sie meinen Befehl mißachtet?« »Weil er ein Denunziant war, Genosse Oberst. Solchen Leu ten muß man eine Lektion erteilen, wenn Männer wie ich über leben wollen.« Er hob die Schultern. »Zweck des Terrorismus ist die Verbreitung von Terror. Das hat Lenin gesagt. In der irischen Revolution war das Michael Collins’ Lieblingszitat.« »Verflucht noch mal, das war doch nur gespielt!« explodierte Maslowski. »Und nicht echt!« »Wenn wir dieses Spiel lange genug treiben, Genosse Oberst, spielt es womöglich gelegentlich mit uns«, versetzte Kelly ge lassen. »Guter Gott!« rief Maslowski, und diesen Ausdruck hatte er seit Jahren nicht gebraucht. »Gut, weiter im Tritt.« Er setzte sich an den Schreibtisch, Kelly gegenüber. »Professor Tscher ny hält Sie für einsatzbereit. Einverstanden?« »Jawohl, Genosse Oberst.« »Ihre Aufgabe ist leicht zu umschreiben. Unsere Hauptgegner sind Amerika und Großbritannien. Letzterer ist der schwäche re; sein kapitalistisches Gefüge bröckelt ab. Der ärgste Pfahl in Englands Fleisch ist die IRA. Sie sind im Begriff, ein weiterer zu werden.« Der Oberst lehnte sich vor und sah Kelly fest in die Augen. »Sie sind ab sofort Unruhestifter.« »In Irland?« »Am Ende schon, aber erst müssen Sie sich draußen einer weiteren Ausbildung unterziehen. Lassen Sie mich Ihre Aufga be ausführlicher erläutern.« Er stand auf und ging ans Feuer. »Neunzehnhundertsechsundfünfzig stimmte der Armeerat der IRA für eine weitere Kampagne in Nordirland. Drei Jahre sind vergangen, und sie war ein außerordentlicher Mißerfolg. Kaum ein Zweifel, daß sie eingestellt wird, und zwar eher früher als 18
später. Sie hat zu nichts geführt.« »Und?« meinte Kelly. Maslowski kehrte an den Schreibtisch zurück. »Andererseits deuten unsere eigenen Geheimdienstque llen an, daß letztlich in Irland ein Konflikt ausbrechen wird, sehr viel ernster als jeder andere zuvor. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, müssen Sie bereit sein, tief eingewühlt warten.« »Verstanden, Genosse.« »Hoffentlich. Genug fürs erste. Professor Tscherny wird Sie über Ihre unmittelbaren Pläne aufklären, wenn ich fort bin. Und nun können Sie abtreten.« Kelly ging wortlos hina us. »Er schafft es. Da bin ich ganz si cher«, sagte Tscherny. »Will ich auch hoffen. Er könnte so gut sein wie jeder andere irische Maulwurf und säuft weniger.« Maslowski trat ans Fenster und lugte hinaus in den Re gensturm, plötzlich müde, und dachte überha upt nicht an Kelly, sondern aus unerfindlichen Gründen an den Ausdruck des Kin des, als es auf dem Platz auf den Iren losgegangen war. »Wie hieß dieses Kind noch mal?« fragte er. »Tanja – Tanja Woroninowa.« »Ist sie jetzt Waise? Hat sie keinen, der sich um sie küm mert?« »Soweit ich weiß, nicht.« »Sie war recht reizend und intelligent, finden Sie nicht auch?« »So kam es mir vor. Persönlich hatte ich bisher nicht mit ihr zu tun. Haben Sie ein besonderes Interesse, Genosse Oberst?« »Möglicherweise. Letztes Jahr verloren wir bei der Grippe welle unsere sechsjährige Tochter. Meine Frau kann keine Kinder mehr bekommen. Sie hat eine Stelle bei irgendeinem Sozialamt angenommen, aber etwas 19
nagt an ihr, Tscherny. Sie ist einfach nicht mehr die alte. Als ich die Kleine auf dem Platz sah, kam mir ein Gedanke. Sie könnte genau das Richtige sein.« »Eine vorzügliche Idee, Genosse, für alle Betroffenen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« »Gut«, sagte Maslowski, unversehens munterer. »Ich nehme sie mit nach Moskau und bereite meiner Suscha eine Überra schung.« Er trat an den Schreibtisch, entkorkte die Wodkaflasche mit den Zähnen und schenkte zwei Gläser ein. »Ein Trinkspruch«, sagte er. »Auf das irische Unternehmen und auf…« Er hielt inne, runzelte die Stirn, »wie lautete sein Deckname noch mal?« »Cuchulain«, sagte Tscherny. »Schön!« meinte Maslowski. »Auf Cuchulain.« Er kippte den Wodka und warf sein Glas ins Feuer.
20
1.Kapitel
1982 Als Major Tony Villiers die Offiziersmesse der Grenadier Guards in der Chelsea-Kaserne betrat, war niemand dort. Der Raum war dunkel; die einzige Beleuchtung kam von Kerzen, die im Leuchter auf dem langen, polierten Eßtisch flackerten und das Tafelsilber auffunkeln ließen. Am Ende des Tisches war nur ein Dinner-Gedeck aufgelegt, was ihn überraschte, aber in einem silbernen Eiseimer stand eine Flasche Champagner bereit, Krug 1972, seine Lieblings marke. Er hielt inne, schaute auf die Flasche hinab, hob sie dann heraus, löste behutsam den Korken, griff nach einem der hohen Kristallgläser auf dem Tisch und schenkte langsam ein. Dann ging er an den Kamin, blieb dort stehen und betrachtete sich im Spiegel überm Sims. Der scharlachrote Waffenrock stand ihm recht gut, und die Orden nahmen sich ansehnlich aus, insbesondere das lila und weiß gestreifte Band seines Military Cross mit der silbernen Rosette, die bedeutete, daß ihm die Auszeichnung ein zweites Mal verliehen worden war. Er war mittelgroß, hatte kräftige Schultern und trug sein schwarzes Haar länger, als man es bei einem aktiven Soldaten erwartet hätte. Obwohl er sich irgend wann einmal die Nase gebrochen hatte, sah er auf eine verwe gene Art attraktiv genug aus. Es war nun sehr still geworden. Nur die großen Männer der Vergangenheit schauten von ihren Porträts feierlich auf ihn herab, in Schatten eingehüllt. Das Ganze hatte etwas Unwirkli ches an sich, und aus einem unerfindlichen Grund schien er sein Abbild im Spiegel me hrere Male zu sehen, zurück in die 21
Unendlichkeit. Er ha tte solchen Durst. Als er das Glas hob, klang seine Stimme sehr heiser, schien einer ganz anderen Per son zu gehören. »Auf dich, Tony, alter Junge«, sagte er. »Ein glückliches neues Jahr.« Er hob das Kristallglas an die Lippen, und der Champagner war kälter als alles, was er bisher gekostet hatte. Er trank ihn gierig, und er schien sich in seinem Mund in flüssiges Feuer zu verwandeln, sich zu seinen Eingeweiden durchzubrennen. Er schrie vor Schmerzen auf, als der Spiegel zersplitterte. Dann schien sich der Boden zwischen seinen Füßen zu öffnen, und er stürzte ab. Natürlich ein Traum, in dem es keinen Durst gab. Er wachte nun auf und fand sich am gleichen Platz wieder, an dem er die letzte Woche verbracht hatte: in einer Ecke des kleinen Raums an die Wand gelehnt, unfähig, sich hinzulegen, weil er um den Hals ein mit einem Vorhängeschloß gesichertes Holzhalfter trug, das auch seine Handgelenke auf Schulterhöhe hielt. Er trug ein grünes Tuch, um den Kopf geschlungen im Stil der Männer des Baluschi-Stammes, die er im Hochland von Dhofar befehligt hatte, bis man ihn vor zehn Tagen gefange n nahm. Sein Buschhemd und seine Hosen aus Khaki waren nun dreckig und an vielen Stellen ze rrissen und seine Füße nackt, da ihm einer der Raschids seine Stiefel aus Wildleder gestohlen hatte. Und dann störte ihn der stachlige, juckende Bart. Er hatte die alte Guards-Angewohnheit einer täglichen scharfen Rasur, ganz gleich, in welcher Lage man sich auch befand, nie able gen können. Selbst der SAS hatte ihm diese Eige nheit nicht nehmen können. Nun rasselte ein Riegel, die Tür ging knarrend auf. Zwei Ra schids traten ein, kleine, drahtige Männer in schmutzigen wei ßen Gewändern, über denen sie über Kreuz Patronengurte tru gen. Ohne ein Wort nahmen sie ihn zwischen sich, hoben ihn auf, schleppten ihn hinaus, setzten ihn grob an der Wand ab und entfernten sich. 22
Erst nach wenigen Momenten gewöhnten sich seine Augen an die grelle Morgensonne. Bir el Gafani war ein armes Nest, kaum mehr als ein Dutzend flachdächiger Häuser, darunter die palmengesäumte Oase. Ein Junge trieb ein halbes Dutzend Kamele zum Wassertrog, wo Frauen in schwarzen Kleidern und mit verschleierten Gesichtern wuschen. Rechts erhob sich in der Ferne das Gebirge von Dhofar, Omans südlichster Provinz, in den blauen Himmel. Noch vor einer guten Woche hatte Villiers die Baluschis bei der Jagd auf marxistische Guerillas angeführt. Bir el Gafani lag allerdings auf feindlichem Territorium, dem der Volksrepublik Südjemen, die sich nach Norden bis hin zur saudiarabischen Wüste er streckte. Links von ihm stand ein großer Tonkrug mit Wasser und ei ner Kelle darin, doch er hütete sich zu trinken und wartete ge duldig. In der Ferne erschien auf einer Anhöhe ein Kamel, das rasch auf die Oase zuhielt und in der flimmernden Hitze leicht unwirklich aussah. Er schloß kurz die Augen, ließ den Kopf auf die Brust sinken, um den Druck auf seinen Hals zu mindern, und wurde dann Schritte gewahr. Als er aufsah, kam Salim bin al Kaman auf ihn zu. Er trug ein schwarzes Kopftuch, schwarze Gewänder, an der rechten Hüfte eine Browning-Automatic im Halfter, unterm Gürtel einen Krummdolch und in der Hand ein chinesi sches AK-Sturmgewehr, der Stolz seines Lebens. Er blieb ste hen und schaute auf Villiers hinab, ein liebenswürdig ausse hender Mann mit schmalem, graumeliertem Vollbart und einer Haut wie spanisches Leder. »Salaatn alaikum, Salim bin al Kaman«, sagte Villiers förm lich auf arabisch. »Alaikum salaatn. Good Morning, Villiers Sahib.« Weiter reichte sein Englisch nicht. Sie sprachen arabisch weiter. Salim lehnte das AK an die Wand, füllte die Kelle mit Was ser und hielt sie Villiers behutsam an den Mund. Der Englä n 23
der trank gierig. Das war ihr mo rgendliches Ritual. Salim füllte die Kelle aufs neue, Villiers hob den Kopf, um den kühlenden Strom entgegenzunehmen. »Besser?« fragte Salim. »Kann man wohl sagen.« Das Kamel war inzwischen nahe herangekommen, kaum mehr hundert Meter entfernt. Sein Reiter hatte um den Sattel knauf ein Seil geschlungen, an dessen anderem Ende ein Mann dahertorkelte. »Wen haben wir denn da?« erkundigte sich Villiers. »Hamid«, erwiderte Salim. »Mit einem Freund?« Salim lächelte. »Dieses Land gehört uns, Major Villiers, den Raschids. Hierher sollte nur kommen, wer eingeladen ist.« »Aber in Häuf erkennen die Kommissare der Volksrepublik die Rechte der Raschids nicht an. Noch nicht einmal an Allah glauben sie, nur an Marx.« »Daheim können sie so laut schwatzen, wie es ihnen beliebt, aber im Land der Raschids…« Salim zuckte die Achseln und holte ein flaches Blechetui hervor. »Genug davon. Lust auf eine Zigarette, mein Freund?« Der Araber knickte geschickt das Pappröhrchen am Ende der Zigarette ein, steckte sie Villiers in den Mund und gab ihm Feuer. »Russe?« merkte Villiers an. »Fünfzig Meilen von hier liegt bei Fasari in der Wüste ein Luftwaffenstützpunkt. Viele russische Flugzeuge, Laster, Sol daten – alles!« »Ich weiß«, gab Villiers zurück. »Das weißt du, aber dein berühmter SAS unternimmt trotz dem nichts.« »Mein Land steht nicht im Krieg mit dem Jemen«, sagte Vil 24
liers. »Man hat mich nur von der britischen Armee ausgelie hen, um die Truppen des Sultans von Oman im Kampf gege n die marxistischen Guerillas der D.L.F. zu führen und auszubil den.« »Wir sind keine Marxisten, Villiers Sahib. Wir Raschids ge hen, wohin es uns beliebt, und ein Major des britischen SAS ist ein guter Fang. Viele Kamele, viele Gewehre wert.« »Von wem?« fragte Villiers. Salim wies mit der Zigarette auf ihn. »Ich habe eine Nach richt nach Fasari gesandt. Die Russen kommen irgendwann heute. Sie werden eine Menge für dich bezahlen. Mit meinem Preis sind sie einverstanden.« »Was immer sie anbieten, meine Leute za hlen mehr«, versi cherte Villiers. »Wenn ihr mich unversehrt in Dhofar abliefert, bekommt ihr, was ihr wollt. Englische Sovereigns aus Gold, silberne Theresientaler.« »Aber bitte, Villiers Sahib, ich habe mein Wort gegeben.« Salim lächelte spöttisch. »Ich weiß«, entgegnete Villiers. »Brauchst du mir nicht zu sagen. Den Raschids ist ihr Wort heilig.« »Genau!« Salim erhob sich, als das Kamel herankam. Es ging in die Knie, und Hamid, ein junger Raschid-Krieger in ockerfarbe nem Gewand, trat vor. Er zerrte am Tau, und der Mann am anderen Ende fiel auf alle viere. »Was haben wir denn da?« herrschte Salim. »Wir griffen ihn auf, als er mitten in der Nacht durch die Wü ste marschierte.« Hamid ging zurück zum Kamel und holte eine Feldflasche und einen Tornister. »Das hatte er bei sich.« Der Tornister enthielt Brot und rechteckige Feldrationen. Die Etiketten waren russisch. Salim hielt Villiers eine hin und fragte dann den Mann auf arabisch: »Sie sind Russe?« 25
Der Mann war alt und weißhaarig, offensichtlich erschöpft, sein Khakihemd schweißgetränkt. Er schüttelte den Kopf. Sei ne Lippen waren auf die doppelte Größe aufgeschwollen. Salim hielt ihm die wassergefüllte Kelle hin. Der Mann trank. Villiers sprach annehmbar Russisch. »Er will wissen, wer Sie sind. Kommen Sie aus Fasari?« »Und wer sind Sie?« krächzte der Alte. »Ein britischer Offizier, der für die Streitkräfte des Sultans in Dhofar arbeitete. Diese Leute hier überfielen meine Patrouille aus dem Hinterhalt, töteten meine Männer und nahmen mich gefangen.« »Spricht er Englisch?« »Nur drei Worte. Sie können wahrscheinlich kein Arabisch?« »Nein, aber mein Englisch ist wahrscheinlich besser als Ihr Russisch. Mein Name ist Viktor Lewin. Ich komme aus Fasari und wollte mich nach Dhofar durchschlagen.« »Um überzulaufen?« fragte Villiers. »So ungefähr.« »Aha, er spricht also Englisch mit dir«, mischte sich Salim auf arabisch ein. »Er ist also kein Russe.« Zu Lewin gewandt, sagte Villiers leise: »Sinnlos, ihm etwas über Sie vorzumachen. Heute kommen Ihre Leute, um mich abzuholen.« Dann schaute er Salim an. »Ja, er ist Russe, von Fasari.« »Und was hatte er im Land der Raschids verloren?« »Er wollte nach Dhofar.« Salim starrte ihn mit schmalen Augen an. »Um vor seinen ei genen Leuten wegzulaufen?« Er lachte laut auf und schlug sich auf den Schenkel. »Vorzüglich! Die Russen werden wohl gut für ihn zahlen. Ein Bonus, mein Freund. Allah meint es gut mit mir.« Er nickte Hamid zu. »Bring sie rein und sieh zu, daß sie etwas zu essen bekommen. Dann kommst du zu mir.« Damit 26
entfernte er sich. Lewin wurde in ein Holzhalfter gelegt, ähnlich wie das von Villiers. Sie saßen nebeneinander an der Zellenwand. Nach einer Weile kam eine schwarz verschleierte Frau herein, ging in die Hocke und fütterte sie abwechselnd aus einer großen Holzschüssel, die einen Eintopf mit Ziegenfleisch enthielt. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie jung oder alt war. Sie wischte ihnen sorgfältig die Münder ab, ging und machte die Tür hinter sich zu. »Wozu die Masken?« fragte Lewin. »Das verstehe ich nicht.« »Zum Zeichen, daß sie ihren Ehemännern gehören. Kein an derer Mann darf sie sehen.« »Seltsames Land.« Lewin schloß die Augen. »Viel zu heiß.« »Wie alt sind Sie?« fragte Villiers. »Achtundsechzig.« »Sind Sie zum Überlaufen nicht ein bißchen zu alt? Haben recht lange damit gewartet.« Lewin schlug die Augen auf und lächelte milde. »Ganz ein fach. Letzte Woche starb meine Frau in Leningrad. Da ich kin derlos bin, kann mich niemand erpressen, wenn ich die Freiheit erreicht habe.« »Was sind Sie von Beruf?« »Professor für Konstruktionstechnik an der Universität Le ningrad. Mein Spezialgebiet ist der Flugzeugbau. Die sowjeti sche Luftwaffe hat in Fasari fünf MIG 23 stationiert, angeblich zur Pilotenausbildung. Es muß sich also um die TrainerVersion handeln.« »Mit Modifikationen?« schlug Villiers vor. »Genau, für den Einsatz als Erdkampfflugzeuge in gebirgi gem Gelände. Die Umbauten wurden in Rußland vorgeno m men, aber es kam zu Problemen, die zu lösen man mich rief.« »So, und Sie hatten endgültig die Nase voll? Wohin wollten 27
Sie dehn, nach Israel?« »Nicht unbedingt. Zuerst einmal bin ich kein überzeugter Zionist. Nein, England käme mir viel attraktiver vor. Neun zehnhundertneununddreißig war ich einmal mit einer Handels delegation dort, kurz vor Kriegsausbruch. Das waren die zwei schönsten Monate meines Lebens.« »Aha.« »Neunzehnhundertneunundfünfzig hoffte ich, aus Rußland herauszukommen. Führte einen heimlichen Briefwechsel mit Verwandten in Israel, die helfen wollten, wurde aber von je mandem verraten, den ich für einen echten Freund hielt. Eine alte Geschichte – ich bekam fünf Jahre.« »Im Gulag.« »Nein, an einem sehr viel interessanteren Ort. Ob Sie es glauben oder nicht, in einer nordirischen Kleinstadt namens Drumore.« Villiers wandte sich überrascht um. »Das verstehe ich nicht.« »Drumo re, eine nordirische Kleinstadt, mitten in der Ukrai ne.« Der Alte lächelte über Villiers verblüfftes Gesicht. »Das sollte ich wohl genauer erklären.« Als er geendet hatte, saß Villiers nachdenklich da. Subversive Techniken und Terrorismusbekämpfung waren schon seit Jah ren sein Geschäft, besonders in Irland, so daß er Lewins Ge schichte gelinde gesagt faszinierend fand. »Über Gatschina, wo das KGB Agenten für die Arbeit in England und so weiter aus bildet, wußte ich Bescheid, aber diese andere Sache ist mir neu.« »Und Ihren Geheimdienstleuten bestimmt auch!« »Im alten Rom wurden Sklaven und Kriegsgefangene als Gladiatoren für den Kampf in der Arena ausgebildet«, merkte Villiers an. »Bis auf den Tod«, fügte Lewin hinzu. »Mit einer Überlebenschance, wenn man besser als der Geg 28
ner war. Genau wie jene Dissidenten in Drumore, die Polizi sten spielten.« »Gegen Kelly hatten sie kaum eine Chance«, sagte Lewin. »Wohl kaum. Klingt, als wäre er etwas ganz Besonderes.« Der Alte schloß die Augen. Er atmete rauh und mü hsam, war aber binnen weniger Minuten eingeschlafen. Villiers lehnte sich in die Ecke zurück und fühlte sich erbärmlich unbehaglich. Immer wieder mußte er an Lewins seltsame Geschichte den ken. Er selbst hatte viele Marktflecken in Ulster kennengelernt, Crossmaglen zum Beispiel. Unangenehmer Ort. So gefährlich, daß die Truppen per Hubschrauber ein- und ausgeflogen wer den mußten. Doch Drumore in der Ukraine – das war eine an dere Geschichte. Nach einer Weile sank ihm das Kinn auf die Brust, und auch er döste ein. Er wurde von einem Raschid unsanft wachgerüttelt. Ein zweiter Araber weckte Lewin. Der Mann zerrte Villiers auf die Beine und gab ihm einen Stoß, daß er durch die Tür stolperte. Dem Sonnenstand nach war es inzwischen Nachmittag. Sehr viel interessanter war der Halbketten-Schützenpanzer. Ein um gebauter BTR, mit Wüsten-Tarnfarbe gestrichen. »Sandkreu zer« nannten die Russen das. Daneben stand ein halbes Dut zend Soldaten in Arbeitsanzügen aus Khaki, jeder mit schußbe reitem AK-Sturmgewehr. Zwei weitere standen im Sandkreu zer an einem schweren Maschinengewehr vom Kaliber 12.7 mm, mit dem sie das gute Dutzend Raschids, die mit ihrem Gewehr auf dem Arm zuschauten, bestreichen konnten. Salim drehte sich um, als Lewin hinter Villiers herausge bracht wurde. »So, Villiers Sahib, jetzt müssen wir uns tren nen. Wie schade. Ich habe unsere Gespräche geno ssen.« Der russische Offizier, der nun in Begleitung eines Feldwe bels auf sie zukam, trug einen Arbeitsanzug wie seine Männer, dazu Schildmütze und Wüstenbrille, die ihn auf unheimliche Art einem Offizier von Rommels Afrikakorps ähneln ließ. Er 29
blieb eine Zeitlang stehen und schaute sie an, schob dann die Schutzbrille hoch. Der Mann war jünger, als Villiers erwartet hätte, mit glattem, faltenlosem Gesicht und tiefblauen Augen. »Professor Lewin«, sagte er auf russisch. »Ich würde ja gerne glauben, daß Sie sich bei einem Spaziergang verlaufen haben, aber das KGB wird da wohl anderer Ansicht sein.« »Das ist gewöhnlich der Fall«, gab Lewin zurück. Der Offizier wandte sich an Villiers und erklärte gelassen: »Juri Kirow, Hauptmann, 21. Fallschirmjägerbrigade.« Sein Englisch war vorzüglich. »Und Sie sind Major Anthony Vil liers, Grenadier Guards, aber, wichtiger noch, vom 22. SASRegiment.« »Sie sind sehr gut informiert«, erwiderte Villiers. »Und ge statten Sie, daß ich Ihnen zu Ihrem Englisch ein Kompliment mache.« »Danke«, versetzte Kirow. »Wir benutzen eben jene Sprach labor-Techniken, für die der SAS in der Bradbury- LineKaserne in Hereford Pionierarbeit geleistet hat. Auch für Sie wird sich das KGB sehr interessieren.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Villiers liebenswürdig. »So.« Kirow wandte sich an Salim. »Zum Geschäft.« Sein Arabisch war nicht so gut wie sein Englisch, reic hte aber aus. Er schnippte mit den Fingern, der Feldwebel trat vor und reichte dem Araber einen Leinwandbeutel. Salim öffnete ihn, nahm eine Handvoll Münzen heraus, und Gold glitze rte in der Sonne. Er lächelte und gab den Beutel an Hamid weiter, der hinter ihm stand. »So«, meinte Kirow, »und wenn Sie jetzt so gut sein wollten, diese beiden loszuschließen, dann brächen wir wieder auf.« »Ah, aber Kirow Sahib hat etwas vergessen.« Salim lächelte. »Mir ist außerdem ein Maschinengewehr mit zwanzigtausend Patronen versprochen worden.« »Hm, tja, meine Vorgesetzten sind der Ans icht, daß wir da 30
mit die Raschids viel zu sehr in Versuchung führen würden«, erwiderte Kirow. Salims Lächeln verschwand. »Das war ein festes Verspre chen.« Die meisten seiner Männer witterten Ärger und hoben ihre Gewehre. Kirow schnalzte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, aus dem Maschinengewehr kam ein jäher Feuer stoß und bestrich die Wand über Salims Kopf. Als das Echo verhallt war, sagte Kirow geduldig: »Ich rate Ihnen ernsthaft, das Gold zu nehmen.« Salim lächelte und breitete die Arme aus. »Aber gewiß. Freundschaft ist alles. Nicht wert, sie wegen eines lächerlichen Mißverständnisses aufs Spiel zu setzen.« Er nahm einen Schlüssel aus einem Beutel an seinem Gürtel und öffnete die Vorhängeschlösser, erst an Lewins hölzernem Halfter. Dann trat er zu Villiers. »Manchmal schaut Allah durch die Wolken und straft den Betrüger«, murmelte er. »Steht das im Koran?« fragte Villiers, als Hamid ihm das Halfter abnahm und er seine schmerzenden Arme streckte. Salim hob die Schultern und hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen. »Wenn nicht, dann gehört es hinein.« Zwei Soldaten sprangen auf Befehl des Feldwebels vor, stell ten sich links und rechts von Lewin und Villiers auf und führ ten sie zum Sandkreuzer. Villiers und Lewin kle tterten hinein, gefolgt von Soldaten. Kirow bildete die Nachhut. Villiers und Lewin setzten sich, flankiert von bewaffneten Bewachern, und Kirow drehte sich um und salutierte, als der Motor grummelnd ansprang. »Angenehm, mit Ihnen Geschäfte zu machen«, rief er Salim zu. »Gleichfalls, Kirow Sahib!« Der Sandkreuzer entfernte sich in einer Staubwolke. Als sie über den Kamm der ersten Düne fuhren, schaute Villiers zu 31
rück und sah, daß der alte Raschid immer noch dastand und sie beobachtete. Seine Männer waren inzwischen hinter ihn getre ten. Es war eine seltsame Stille an ihnen, eine Art Drohung, doch dann war der Sandkreuzer über dem Kamm, und Bir al Gafani kam außer Sicht. Die Betonzelle am Ende des Verwaltungsgebäudes in Fasari stellte gegenüber ihrer bisherigen Unterkunft eine eindeutige Verbesserung dar: gekalkte Wände, eine Trockentoilette, zwei schmale Eisenbetten mit Matratze und Decken. Es war nur eine von sechs solchen Zellen, wie Villiers auf dem Weg hierher festgestellt ha tte, jede mit einer schweren Tür und Guckloch versehen, und es schienen dauernd drei bewaffnete Wärter Dienst zu haben. Durch die Eisengitter vorm Fenster schaute Villiers hinaus aufs Flugfeld. Es war längst nicht so groß, wie er erwartet hat te: drei vorfabrizierte Hangars, eine einzige geteerte Startbahn. Die fünf MIG 23 standen Flügelspitze an Flügelspitze vor den Hangars aufgereiht da und sahen in der Dämmerung aus wie sonderbare Urweltgeschöpfe, reglos, brütend. Etwas weiter weg standen zwei Mi-8-Hubschrauber, Truppentransporter, und Lkw und Fahrze uge aller Typen. »Sicherheitsvorkehrungen scheint es so gut wie keine zu ge ben«, murmelte er. Neben ihm nickte Lewin. »Werden auch kaum gebraucht. Immerhin befinden sie sich auf Freundesterritorium, ganz von offener Wüste umgeben. Ein solches Ziel könnten selbst ihre SAS-Leute nur unter Schwierigkeiten knacken.« Hinter ihnen rasselten die Riegel an der Tür. Sie ging auf, und ein junger Unteroffizier trat ein, gefolgt von einem Araber mit einem Eimer und zwei Emailleschüsseln. »Kaffee«, ver kündete der Unteroffizier. »Wann bekommen wir etwas zu essen?« fragte Villiers. »Um neun.« 32
Er winkte den Araber hinaus und schloß die Tür. Der Kaffee war überraschend gut und sehr heiß. »Man setzt also arabisches Personal ein?« merkte Villiers an. »Nur in den Küchen, zum Reinigungsdienst und ähnlichem. Es wird aber nicht von den Wüstenstämmen rekrutiert, sondern aus Häuf gebracht, glaube ich.« »Und was wird jetzt aus uns?« »Nun, morgen ist Donnerstag, da kommt ein Versorgungs flug. Die Maschine wird uns vermutlich mit nach Aden ne h men.« »Nächste Station Moskau?« Darauf kam natürlich keine Antwort, ebensowenig, wie es ei ne Antwort auf Betonwände, Stahltüren und Gitterstäbe gab. Villiers legte sich auf das eine Bett, Lewin auf das andere. »Mein Leben war eine permanente Enttäuschung«, sagte der alte Russe. »Als ich England besuchte, zeigte man mir auch Oxford.« Er seufzte. »Seither war es mein Traum, eines Tages dorthin zurückzukehren.« »Ja, Oxfords traumhafte Türme«, bemerkte Villiers. »Eine erstaunliche Stadt.« »Sie kennen sie also?« »Meine Frau studierte dort, am St. Hugh’s College, das sie nach der Sorbonne besuchte. Sie ist Halbfranzösin.« Lewin stützte sich auf einen Ellbogen. »Das überrascht mich. Verzeihen Sie die Bemerkung, aber Sie kommen mir nicht wie ein verheirateter Mann vor.« »Bin ich auch nicht«, gab Villiers zurück. »Nicht mehr. Wir haben uns vor ein paar Monaten scheiden lassen.« »Tut mir leid für Sie.« »Nicht nötig. Wie Sie sagten, ist das Leben eine permanente Enttäuschung. Jeder hat andere Erwartungen, das ist der Haken bei uns Menschen, besonders zwischen Mann und Frau. Die 33
Feministinnen mögen sagen, was sie wollen, aber es besteht halt doch ein Unterschied.« »Ich glaube, Sie lieben sie immer noch.« »Oh, sicher«, entgegnete Villiers. »Lieben ist einfach. Nur das Zusammenleben ist so verdammt schwer.« »Woran hat es dann gelegen?« »Ganz einfach: an meinem Beruf. Borneo, Oman, Irland; ich war sogar in Vietnam, wo wir eindeutig nichts zu suchen hat ten. Wie sie mir einmal sagte: wirklich gut bin ich nur auf ei nem Gebiet, dem Töten von Menschen nämlich, und dann kam ein Zeitpunkt, da hat sie das nicht mehr ausgehalten.« Lewin legte sich wortlos zurück, und Villiers starrte mit den Händen unterm Kopf an die Decke und gab sich Gedanken hin, die sich nicht vertreiben ließen, als die Nacht hereinbrach. Er wurde mit einem Schlag wach, hörte Schritte im Korridor, Stimmengemurmel. Die Deckenbeleuchtung mußte eingescha l tet worden sein, als er schlief. Er warf einen raschen Blick auf die Rolex, die man ihm gela ssen hatte, und merkte, wie sich Lewin auf dem anderen Bett zu rühren begann. »Was geht vor?« fragte der alte Russe. Villiers stand auf und ging ans Fenster. Ein Halbmond stand am sternklaren Himmel, und die Wüste war leuc htend, von harter Schönheit, die MIG 23 wie schwarze Scherenschnitte. Mein Gott, dachte er, ir gendwie muß es zu schaffen sein. Er drehte sich um, sein Magen kramp fte sich zusammen. »Was geht vor?« flüsterte Lewin, als der erste Riegel zurück gezogen wurde. »Ich habe mir nur gedacht«, sagte Villiers, »daß ein Flucht versuch, selbst wenn er eine Kugel in den Rücken bedeutet, Moskau und der Lubjanka eindeutig vorzuziehen wäre.« Die Tür wurde aufgerissen, und herein kam der Unteroffizier, gefolgt von einem Araber, der ein großes Holztablett mit zwei Schüsseln Eintopf, Schwarzbrot und Kaffee trug. Obwohl er 34
den Kopf gesenkt hielt, kam er Villiers irgendwie bekannt vor. »Los, beeilen Sie sich!« befahl der Unteroffizier in schlech tem Arabisch. Der Araber stellte das Tablett auf den kleinen Holztisch am Fußende von Lewins Bett und schaute auf, und in dem Auge nblick, in dem Villiers und Lewin erkannten, daß es Salim bin al Kaman war, wandte sich der Unteroffizier zur Tür. Salim zog einen Dolch aus dem linken Ärmel, hielt dem Mann den Mund zu, riß ein Knie hoch, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und ließ ihm den Dolch unter die Rippen gleiten. Sachte legte er den Unteroffizier aufs Bett und wischte den Dolch an dessen Uniform ab. Dann lächelte er. »Ich mußte immer wieder an dein Verspre chen denken, Villiers Sahib: daß deine Leute in Dhofar eine Menge zahlen würden, um dich zurückzubekommen.« »Das heißt also, daß du zweimal kassierst – bei beiden Sei ten. Gesunder Geschäftssinn«, bemerkte Villiers. »Gewiß, aber die Russen haben auch keinen ehrlichen Handel mit mir getrieben. Ich muß schließlich an meine Ehre denken.« »Und die anderen Wärter?« »Sitzen beim Abendessen. Das habe ich alles von Freunden in der Küche erfahren. Der Mann, dessen Stelle ich einnahm, trug auf dem Weg hierher eine dicke Beule am Schädel davon, natürlich alles arrangiert. Hamid wartet mit Kamelen am Rand des Stützpunkts.« Sie gingen hinaus. Salim schob die Riegel vor, sie folgten ihm rasch durch den Korridor und kamen ins Freie. Der Luft waffenstützpunkt Fasari lag still im Mondschein. »Seht euch das an«, meinte Salim. »Kein Mensch paßt auf. Selbst die Wachposten sitzen beim Essen. Bauern in Uniform.« Er langte hinter eine Blechtonne an der Wand und zog ein Bündel hervor. »Zieht das an und folgt mir.« Es waren zwei wollene Mäntel mit spitzen Kapuzen, wie sie 35
die Beduinen nachts zum Schutz vor der Wüstenkälte trugen. Sie schlüpften hinein und folgten Salim zu den Hangars. »Kein Zaun um die Anlage, keine Mauer«, flüsterte Villiers. »Die Wüste ist die wirksamste Mauer«, gab Lewin zurück. Hinter den Hangars erhoben sich die Dünen links und rechts und schienen den Anfang eines ausgetrockneten Flußbettes zu bilden. »Das Wadi al Hara«, erklärte Salim. »Es öffnet sich eine Viertelmeile entfernt zur Ebene. Dort wartet Hamid.« »Ist dir vielleicht eingefallen, daß Kirow seine Schlüsse zieht und auf Salim bin al Kaman kommt?« fragte Villiers. »Aber sicher. Inzwischen sind meine Leute schon auf halbem Weg zur Grenze und nach Dhofar.« »Gut«, meinte Villiers. »Mehr wollte ich nicht wissen. Jetzt möchte ich dir etwas sehr Interessantes vorfü hren.« Er ging zu dem in der Nähe geparkten Sandkreuzer und zwang sich hinein. Salim protestierte in einem heiseren Flü stern: »Villiers Sahib, das ist Wahnsinn.« Villiers ließ sich hinters Steuerrad fallen, der Raschid kletter te rasch auf das Fahrzeug, gefolgt von Lewin. »Ich habe das gräßliche Gefühl, daß das alles meine Schuld ist«, sagte der alte Russe. »Wir erleben jetzt den SAS in Aktion, nehme ich an?« »Im Zweiten Weltkrieg zerstörte der SAS unter David Stir ling in Nordafrika mehr Maschinen der Luftwaffe am Boden als RAF und Amis im Luftkampf. Ich will Ihnen zeigen, wie das gemacht wird«, sagte ihm Villiers. »Kann auf eine andere Version der Kugel im Rücken hinaus laufen, von der Sie sprachen.« Villiers betätigte die Zündung und sagte, als der Motor an sprang, auf arabisch zu Salim: »Kommst du mit dem MG zu recht?« Salim packte die Griffe der Degtjarow. »Allah sei uns gnädig. Dieser Mann hat Feuer im Hirn. Er ist nicht ganz normal.« 36
»Steht auch das im Koran?« fragte Villiers spöttisch und trat aufs Gaspedal. Das Dröhnen des 100-PS-Motors übertönte die Antwort des Arabers. Der Sandkreuzer donnerte davon. Villiers riß ihn hart herum und demolierte das Leitwerk der ersten MIG. Er beschleunigte noch und richtete am Rest der in einer Reihe aufgestellten Ma schinen ähnliche Verwüstungen an. Da die Heckpartien der beiden Hubschrauber zu hoch waren, konzentrierte er sich auf die Pilotenkanzeln, deren Acrylverglasung der acht Tonnen schwere, stahlgepanzerte Sandkreuzer mit Leichtigkeit eindrückte. Er fuhr einen weiten Kreis und rief Salim zu: »Die Hub schrauber! Versuch auf die Treibstofftanks zu ha lten!« Vom Hauptverwaltungsgebäude drang nun das Heulen einer Alarmsirene herüber, Stimmen hallten durch die Nacht, es wurde geschossen. Salim bestrich die beiden Hubschrauber mit Dauerfeuer, bis der Tank der linken Maschine explodierte, ei nen Feuerball in die Nacht aufsteigen ließ, brennende Trümmer in alle Ric htungen schleuderte. Einen Augenblick später ging der zweite Hubschrauber hoch, direkt neben der MIG, die ebenfalls in Brand geriet. »Das reicht!« rief Villiers. »Jetzt gehen sie alle in die Luft. Machen wir, daß wir hier rauskommen.« Als er das Steuer herumriß, schwenkte Salim das Maschinen gewehr und trieb die Soldaten zurück, die auf sie zugestürmt kamen. Villiers bemerkte, daß Kirow aufrecht stehenblieb und seine Pistole ruhig abfeuerte, während sich alle anderen Män ner auf der anderen Seite der Startbahn zu Boden warfen; eine tapfere, aber fruchtlose Geste. Und dann erklommen sie die steile Düne, Ketten wühlten den Sand auf, und erreichten den Anfang des wadi. Auf dem Boden des alten Flußbettes stellten Felsblöcke hier und dort Hindernisse dar, aber im Mondlicht war gute Sicht. Villiers hielt den Fuß auf dem Gaspedal und fuhr schnell. 37
»Alles in Ordnung?« rief er Lewin zu. »Ich glaube schon«, erwiderte der alte Russe. »Bin immer noch am Nachprüfen.« Salim tätschelte das Degtjarow-MG. »Was für eine Schö n heit. Besser als jede Frau. Die behalte ich, Villiers Sahib.« »Die hast du dir auch verdient«, gab Villiers zurück. »So, jetzt brauchen wir nur noch Hamid aufzulesen und auf Teufel komm raus zur Grenze rasen.« »Kein Hubschrauber, der uns jagen kann«, brüllte Lewin. »Eben.« »Du hättest es verdient, Raschid zu werden, Villiers Sahib«, sagte Salim. »So viel Spaß hatte ic h seit vielen Jahren nicht mehr.« Er hob einen Arm. »Ich hielt sie in meiner Hand, und siehe, sie waren wie Staub.« »Wieder aus dem Koran?« fragte Villiers. »Nein, mein Freund«, erklärte Salim bin al Kaman. »Diesmal aus deiner Bibel, Altes Testament.« Er lachte laut und trium phierend auf, als sie aus dem wadi herauskamen und zur Ebene hinunterfuhren, wo Hamid wartete.
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2.
DI 5, jene Abteilung des britischen Geheimdie nstes, die sich mit Gegenspionage, den Aktivitäten von Geheimagenten und Subversion innerhalb des Vereinigten Königreiches befaßt, existiert offiziell nicht, obwohl ihre Diensträume in einem weiß-roten Backsteingebäude nicht weit von Lo ndons Hilton Hotel zu finden sind. DI5 kann aber nur ermitteln, keine Ver haftungen vornehmen. Derlei Aufgaben sind Sache der Beam ten von Scotland Yards Special Branch, der Staatssicherheits polizei. Die Zunahme des internationalen Terrorismus und seine Auswirkungen in Großbritannien, besonders im Zusammen hang mit der irischen Frage, wuchs jedoch selbst Scotland Yard über den Kopf, so daß der Generaldirektor von DI5 mit Unter stützung des Premierministers 1972 eine als »Gruppe Vier« bekannte Abteilung einrichtete, die direkt dem jeweiligen Pre mier unterstand und Maßnahmen gegen alle Fälle von Terro rismus und Subversion koordinierte. Zehn Jahre später wurde DI5 noch immer von Brigadier Charles Ferguson geleitet, einem großen, täuschend freundlich aussehenden Mann, an dem nur die Guards-Krawatte dezent auf einen militärischen Hintergrund hinwies. Die knittrigen grauen Anzü ge, die er am liebsten trug, die Lesebrille mit den halbmondförmigen Gläsern und das struwwelige graue Haar verliehen ihm eher das Aussehen eines unbedeutenden Doze n ten an einer Provinzuniversität. Obwohl er ein Büro im Generaldirektorat hatte, zog er es vor, in seiner Wohnung am Cavendish Square zu arbeiten, die von seiner zweiten Tochter, Ellie, einer Innenarchitektin, für ihn hergerichtet worden war. Der Adam-Kamin war echt, das Feu er ebenso. Ferguson war ein Feuermensch. Auch der Rest des 39
Raumes war im georgianischen Stil gehalten, alles perfekt auf einander abgestimmt, einschließlich der schweren Vorhänge. Die Tür ging auf, und sein Diener Kim, naik aus einem Gurk ha-Regiment, trat mit einem Silbertablett ein, das er am Kamin abstellte. »Ah, der Tee«, sagte Ferguson. »Bitten Sie Captain Fox, mir Gesellschaft zu leisten.« Er goß Tee in eine Tasse aus feinem Porzellan und griff nach seiner Zeitung, der Times. Die Nachrichten von den FalklandInseln klangen nicht übel. Britische Streitkräfte waren auf Peb ble Island gelandet und hatten elf argentinische Flugzeuge und ein Munitionslager ze rstört. Zwei SEA-Harrier hatten Frachter im Falkland-Sund bombardiert. Die mit grünem Filz bezogene Tür zum Arbeitszimmer öffne te sich, und Fox kam herein, ein eleganter Mann in einem bla u en Flanellanzug von Huntsman of Savile Row, Prinz Charles’ Schneider. Auch er trug eine Guards-Krawatte, denn er hatte einmal bei den Blues and Royals als Captain gedient, bis ihn ein unglückseliger Bombenzwischenfall bei seinem dritten Ein satz in Belfast der linken Hand beraubt hatte. Nun trug er eine recht raffinierte Prothese, die ihm dank wundersamer Mikro elektronik fast ebensogut diente wie früher seine Hand. Ein adretter Lederhandschuh kaschierte den Unterschied vorzü g lich. »Tee, Harry?« »Gerne, Sir. Wie ich sehe, hat die Presse die Pebble-IslandStory.« »Ja, klingt alles sehr aufregend und schneidig«, bemerkte Ferguson, als er ihm eine Tasse einschenkte. »Aber offen ge sagt haben wir auch ohne die Falkland-Inseln genug auf dem Hals, und das weiß keiner besser als Sie. Irland wird sich nicht einfach in Luft auflösen, und dann steht uns der Papstbesuch bevor. Angesetzt für den achtundzwanzigsten. Es bleiben uns also nur noch elf Tage. Und er exponiert sich so. Nach dem Attentatsversuch auf dem Petersplatz sollte man doch anne h 40
men, daß er etwas vorsichtiger wäre.« »Ist wohl nicht sein Stil.« Fox trank einen Schluck Tee. »An dererseits ist es angesichts der derzeitigen Entwicklungen mö g lich, daß er doch nicht kommt. Südamerika ist für die katholi sche Kirche von entscheidender Bedeutung, und in ihren Au gen sind wir in dieser Falkland-Affäre der Bösewicht. Man will nicht, daß er uns besucht, und die Rede, die er gestern in Rom hielt, schien in diese Richtung zu deuten.« »Wäre mir durchaus recht«, versetzte Ferguson. »Das würde mich von der Verantwortung entlasten, dafür sorgen zu müs sen, daß nicht irgendein Irrer versucht, ihn in England zu er schießen. Andererseits wären einige Millionen britischer Ka tholiken bitter enttäuscht.« »Wie ich höre, sind die Erzbischöfe von Liverpool und Gla s gow zum Vatikan geflogen, um ihn zu einer Meinungsände rung zu bewegen«, sagte Fox. »Hoffen wir, daß sie kläglich versagen.« Das rote Telefon auf Fergusons Schreibtisch, das nur für hochgeheime Gespräche diente, piepte. »Hören Sie mal nach, was es gibt, Harry.« Fox hob ab. »Hier Fox.« Er lauschte kurz und gab dann mit ernster Miene den Hörer weiter. »Ulster, Sir. Armeehauptquar tier Lisburn. Klingt gar nicht gut!« Begonnen hatte es an diesem Morgen kurz vor sieben vor dem Dorf Kilgannon, rund zehn Meilen von Londonderry ent fernt. Patrick Leary stellt in der Gegend seit fünfzehn Jahren die Post zu, und sein Royal-Mail-Kombi war ein vertrauter Anblick. Seine Arbeit sah jeden Tag gleich aus. Um Punkt halb sechs trat er beim Hauptpostamt Londonderry seinen Dienst an, nahm die von der Nachtschicht bereits sortierte Frühpost ent gegen, tankte an der behördeneigenen Tankstelle und fuhr dann los nach Kilgannon. Um halb sieben hielt er regelmäßig auf 41
einem baumgesäumten Feldweg der Kilgannon-Brücke an, um die Morgenzeitung zu lesen, seine Frühstücksbrote zu verze h ren und eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken. Eine Routine, die zu Learys Pech nicht unbeachtet geblieben war. Cuchulain behielt ihn zehn Minuten im Auge, wartete gedul dig, bis er seine Brote aufgegessen hatte. Dann stieg Leary wie immer aus und ging ein Stückchen im Gehölz spazieren. Hinter ihm erklang ein leises Geräusch; ein Zweig knickte unter ei nem Fußtritt. Als er sich erschrocken umdrehte, glitt Cuchulain zwischen den Bäumen hervor. Er bot einen furchterregenden Anblick, und Leary bekam so fort entsetzliche Angst. Cuchulain trug einen schwarzen Ano rak und einen schwarzen Kopfschützer, der nur Augen, Nase und Mund freiließ. In der Linken hatte er eine halbautomati sche PPK-Pistole mit Carswell-Schalldämpfer. »Wenn Sie tun, was ich sage, bleiben Sie am Leben«, sprach Cuchulain mit einem weichen südirischen Akzent. »Was Sie wollen«, krächzte Leary. »Bitte – ich hab’ Fami lie.« »Legen Sie Mütze und Regenmantel auf den Boden.« Leary tat wie geheißen. Cuchulain streckte die rechte Hand aus, so daß Leary die große weiße Kapsel auf der Innenfläche des Handschuhs sehen konnte. »So, jetzt seien Sie brav und schlucken das.« »Wollen Sie mich vergiften?« Leary war ins Schwitzen gera ten. »Sie sind ungefähr vier Stunden lang weg, das ist alles«, ve r sicherte Cuchulain. »Ist besser so.« Er hob die Waffe. »Besser als das da.« Leary nahm mit zitternder Hand die Kapsel entgegen und schluckte sie. Er bekam Gummibeine, alles schien ihm unwirk lich, und dann packte ihn eine Hand an der Schulter und stieß 42
ihn zu Boden. Er spürte noch kühles Gras im Gesicht, dann wurde es schwarz um ihn. Dr. Hans Wolfgang Baum war ein außergewöhnlicher Mann. Er kam 1950 in Berlin als Sohn eines bekannten Industriellen zu Welt und erbte, als sein Vater 1970 starb, ein Vermögen im Gegenwert von zehn Millionen Dollar und weltweite Ge schäftsinteressen. Viele Leute in seiner Lage hätten sich nun ein vergnügliches Leben gemacht, was Baum auch tat. Der Unterschied war nur, daß er sein Vergnügen bei der Arbeit fand. Er war als Dr. Ing. von der Universität Berlin abgegangen, hatte an der London School of Economics Jura studiert und sich in Harvard einen Grad in Wirtschaftslehre erworben. Alle diese Meriten hatte er gut eingesetzt, seine zahlreichen Werke in Westdeutschland, Frankreich und den USA vergrößert und ausgebaut, so daß sein Privatvermögen inzwischen auf über hundert Millionen Dollar geschätzt wurde. Ein Projekt nun lag seinem Herzen am nächsten, der Aufbau einer Fabrik, die vor Londonderry bei Kilga nnon Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen herstellen sollte. Die Baum AG hätte sich auch anderswo niederlassen können, was übri gens der Wunsch des Vorstands gewesen war. Weder der Vor stand noch gesunder Geschäftsverstand richteten etwas aus, denn Baum war ein wahrhaft guter Mensch, in dieser Welt eine Seltenheit, und überzeugter Christ. Als deutscher Protestant hatte er alles Menschenmögliche unternommen, um in der Fa brik eine echte Partnerschaft zwischen Katholiken und Prote stanten zu erreichen. Er und seine Frau identifizierten sich un eingeschränkt mit der Gemeinde und schickten ihre drei Kinder auf Schulen am Ort. Daß er Kontakt mit der Provisorischen IRA aufgenommen hatte, galt als offenes Geheimnis; manche behaupteten sogar, er habe sich mit dem legendären Martin McGuiness persönlich getroffen. Ob dies nun zutraf oder nicht, die PIRA hatte das 43
Werk Kilgannon in Ruhe florieren und über tausend bisher arbeitslosen Protestanten und Katholiken Arbeit geben lassen. Baum hielt sich fit. Täglich wachte er um die gleiche Zeit auf, Punkt sechs, schlüpfte aus dem Bett, ohne seine Frau zu stören, und zog Trainingsanzug und Turnschuhe an. Eileen Docherty, das junge Dienstmädchen, war schon wach und machte in der Küche im Morgenrock Tee. »Frühstück um sieben, Eileen«, rief er. »Das übliche. Muß heute früh los. Um halb neun Betriebsratssitzung in London derry.« Er verließ das Haus durch die Küchentür, sprintete über den Rasen, setzte über einen niedrigen Zaun und hielt auf das Ge hölz zu. Er joggte nicht, sondern rannte eher, fast wie ein Mit telstreckenläufer, folgte einer Re ihe von Waldwegen und war ganz mit den geplanten Ereignissen des Tages beschäftigt. Um sechs Uhr fünfundvierzig hatte er sein Pensum absol viert, kam aus dem Wald und trabte auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen der Hauptstraße auf sein Haus zu. Wie gewöhn lich kam Pat Learys roter Post-Kombi ihm entgegen, fuhr an den Straßenrand und wartete. Durch die Windschutzscheibe sah Baum, wie Leary in Uniformmantel und - mütze die Briefe sortierte. Baum lehnte sich übers offene Seitenfenster. »Na, was haben Sie denn heute für mich, Patrick?« Das Gesicht war fremd; dunkle, ruhige Augen, knochig, ganz und gar keine Bedrohung, und doch war der Tod gekommen, ihn zu holen. »Tut mir ehrlich leid«, sagte Cuchulain. »Sie sind ein guter Mensch.« Die Walther in seiner Linken wurde plötzlich sicht bar, und schon setzte er die Mündung Zwischen Baums Augen. Die Waffe bellte einmal auf, und der Deutsche fiel rückwärts auf den Seitenstreifen, verspritzte Blut und Hirn übers Gras. Cuchulain fuhr sofort an und war innerhalb von fünf Minuten wieder auf dem Feldweg an der Brücke, wo er Leary zurückge 44
lassen hatte. Er riß sich die Mütze vom Kopf, zog den Mantel aus, warf beides neben den besinnungslosen Postbeamten, jagte durchs Gehölz und kletterte wenige Minuten später über einen Holzzaun neben einem schmalen, überwucherten Feldweg. Dort stand ein Motorrad bereit, eine alte 350er BSA mit Ge ländereifen. Maschinen dieser Art benutzten die Bauern auf beiden Seiten der Grenze oft, um ihre Schafe zusammenzutrei ben. Er setzte sich einen verbeulten alten Sturzhelm mit zer kratztem Visier auf, schwang sich auf die BSA und trat sie ge schickt an. Der Motor brüllte los, und er fuhr weg. Hinten an der Hauptstraße begann es zu regnen, und der Re gen fiel noch immer auf Hans Wolfgang Baums nach oben gewandtes Gesicht, als der Milchwagen neben ihm anhielt. Genau in diesem Augenblick und fünfzehn Meilen weiter bog Cuchulain auf der BSA in einen Feldweg südlich von Clady ein und fuhr über die Grenze in die Siche rheit der Republik Irland. Zehn Minuten später hielt er an einer Telefonzelle an, wählte die Nummer des Belfast Telegraph, verlangte die Nachrichten redaktion und bekannte sich im Namen der Provisorischen IRA zum Mord an Hans Wolf gang Baum. »Das verstehe ich einfach nicht«, sagte Ferguson. »Baum war überall beliebt, und die regionale katholische Gemeinde stand voll hinter ihm. Um den Standort Kilgannon für diese Fabrik mußte er mit seinem eigenen Vorstand einen zähen Kampf führen. Jetzt wird sie wahrscheinlich geschlossen, was bedeu tet, daß es über tausend neue Arbeitslose gibt und Katholiken und Protestanten sich wieder gegenseitig an die Kehle fahren.« »Ist das nicht genau die Absicht der Provisorischen IRA, Sir?« »Das würde ich bezweifeln, Harry. Zu diesem Zeitpunkt je denfalls nicht. Das war ein schmutziger Anschlag: kaltblütiger Mord an einem von Grund auf guten Mann, den die Katholiken respektierten. Das kann der PIRA bei ihrer eigenen Gefolg schaft nur schaden. Deswegen verstehe ich das Ganze nicht. 45
Eine Riesendummheit.« Er klopfte auf Baums Akte, die Fox mitgebracht hatte. »Baum traf sich heimlich mit McGuiness, der ihn des Goodwills der PIRA versicherte. Ganz gleich, was man sonst von ihm halten mag, McGuiness ist ein schlauer Mann. Viel zu schlau eigentlich, aber darauf kommt es jetzt nicht an.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das reimt sich einfach nicht.« Das rote Telefon piepte. Er hob ab. »Ferguson.« Er lauschte kurz. »Jawohl, Herr Minister.« Er legte den Hörer auf und er hob sich. »Der Minister für Nordirland, Harry. Will mich sofort sprechen. Setzen Sie sich wieder mit Lisburn in Verbindung, mit dem Militärnachrichtendienst, oder was Ihnen sonst noch einfällt. Besorgen Sie sich alle verfügbaren Informationen.« Eine gute Stunde später kam er zurück. Als er seinen Mantel ablegte, trat Fox ein. »Das hat aber nicht lange gedauert, Sir.« »Ja, er war kurz und bündig. Er ist sehr ungehalten, Harry, und die Premierministerin auch. Sie ist stinkwütend, und Sie wissen ja, was das bedeutet.« »Will sie Resultate sehen, Sir?« »Ja, und zwar gestern, Harry. In Ulster ist die Hölle los. Die protestantischen Politiker ziehen sich an der Sache hoch. ›Hab ich’s nicht gesagt?‹ tönt Paisley, wie üblich. Ja, und der deut sche Bundeskanzler war in Do wning Street. Offen gesagt, er könnte nicht finsterer aussehen.« »Da bin ich nicht so sicher, Sir. Dem Nachrichtendienst der Armee in Lisburn zufolge findet die PIRA diesen Fall mehr als ärgerlich und betont, nichts damit zu tun gehabt zu haben.« »Sie hat aber die Verantwortung übernommen.« »Seit der Reorganisation ihrer Befehlsstruktur wird sie sehr straff geführt, Sir. McGuiness ist unter anderem noch Chef des Oberkommandos Nord, und aus Dublin verlautet, daß er jede Beteiligung seiner Leute kategorisch abstreitet. Mehr noch, er 46
ist über die Nachricht so wütend wie alle anderen auch. Er scheint viel von Baum gehalten zu haben.« »Glauben Sie, daß es die INLA war?« Die Irische Nationale Befreiungsfront hatte in der Verga n genheit rücksichtsloser zugeschlagen als die Provisorische IRA, wenn sie der Ansicht war, daß es die Lage rechtfertigte. »Laut Nachrichtendienst nicht, Sir. Er hat eine gute Quelle nahe der Spitze der INLA.« Ferguson wärmte sich am Feuer. »Wollen Sie andeuten, daß die andere Seite verantwortlich ist? UVF oder die Rote Hand von Ulster?« »Auch bei diesen beiden Organisationen hat Lisburn gute Quellen, und die Antwort ist eindeutig negativ. Es war keine protestantische Organisation beteiligt.« »Jedenfalls nicht offiziell.« »Es hat nicht den Anschein, als sei überhaupt jemand offiziell beteiligt gewesen, Sir. Man muß natürlich immer mit den Cowboys rechnen, den Irren, die sich zu viele Filme im Spar programm ansehen und lieber den Nächstbesten umlegen als gar niemanden.« Ferguson steckte sich eine Zigarre an und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Glauben Sie das ernsthaft, Harry?« »Nein, Sir«, gab Fox ruhig zurück. »Ich ließ nur die nahelie genden Fragen los, die sich die Spinner von den Medien einfal len lassen werden.« Ferguson starrte ihn an und runzelte die Stirn. »Sie wissen etwas, nicht wahr?« »Nichts Genaues, Sir. Es könnte eine Erklärung geben, eine total absurde, die Ihnen überhaupt nicht gefallen wird.« »Schießen Sie los.« »Gut, Sir. Die Tatsache, daß der Belfast Telegraph einen Bekenneranruf im Namen der PIRA erhielt, läßt diese Organi sation sehr schlecht dastehen.« 47
»Und?« »Nehmen wir einmal an, das sei der Zweck der Übung gewe sen.« »Das heißt, es war eine protestantische Organisation, die die ses Ziel vor Augen hatte.« »Nicht notwendigerweise, wie Sie sehen werden, wenn ich mich näher auslassen darf. Kurz nachdem Sie gegangen waren, bekam ich den vollen Bericht über die Affäre aus Lisburn. Der Mörder ist ein Profi, darüber kann kein Zweifel bestehen. Kalt, rücksichtslos, sehr systematisch – aber er tötet nicht jeden, der ihm vor den Lauf kommt.« »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Leary, dem Postbo ten, gab er ein Betäubungsmittel.« »Um genau zu sein, Amplain, Sir, und da das meine Gedan ken ins Rollen brachte, gab ich es in den Comp uter ein. Die ersten fünf Morde auf der Liste haben eines gemeinsam: ein Zeuge wurde mit Waffengewalt gezwungen, eine AmplainKapsel zu schlucken. Der erste Vorfall ereignete sich 1975 in Omagh.« Ferguson prüfte die Liste und schaute auf. »In zwei Fällen waren die Opfer Katholiken. Ich akzeptiere Ihr Argument, daß es sich um den gleichen Täter handelt, aber das führt Ihre Theorie, der Mord an Baum sollte die PIRA in ein schlechtes Licht stellen, ad absurdum.« »Bitte haben Sie noch etwas Geduld, Sir. Die Täterbeschrei bung ist in jedem Fall identisch: schwarzer Kopfschützer, dunkler Anorak. Immer wurde eine Walther PPK benutzt. Dreimal floh der Mörder auf einem Motorrad vom Tatort.« »Und?« »Alle diese Details habe ich getrennt in den Computer einge geben, Sir. Morde, bei denen Motorräder benutzt wurden. Querverweis zum Einsatz einer Walther, nicht notwendiger weise derselben Waffe selbstverständlich. Dazu ein Querver 48
weis zur Täterbeschreibung.« »Und Sie sind zu einem Resultat gelangt?« »Jawohl, Sir.« Fox nahm zwei Blätter aus der Akte. »Seit 1975 mindestens dreißig Morde, die alle mit den erwähnten Kennzeichen in Verbindung gebracht werden können. Zehn weitere Fälle liegen im Bereich des Möglichen.« Ferguson überflog die Liste rasch. »Guter Gott!« flüsterte er. »Katholiken und Protestanten! Ist mir unverständlich.« »Nicht unbedingt, wenn man sich die Opfer genauer ansieht, Sir. Immer, wenn die PIRA die Verantwortung übernahm, lief das Resultat ihren Interessen zuwider und stellte sie in ein schlechtes Licht.« »Und wenn protestantische Extremisten verwickelt waren, traf das gleiche zu?« »Jawohl, Sir, obwohl die PIRA häufiger hineingezogen wur de als jede andere Organisation. Ein weiterer Aspekt: wenn Sie sich die Daten ansehen, werden Sie feststellen, daß die Morde gewöhnlich dann stattfanden, wenn die Lage entweder ruhig war oder sich besserte oder wenn eine politische Initiative im Gange war. Ein Fall, mit dem unser Mann womöglich zu tun gehabt hatte, ereignete sich schon im Juli 1972, als sich eine Delegation der IRA hier in London heimlich mit William Whi telaw traf.« »Stimmt«, meinte Ferguson. »Es wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Das war damals eine echte Friedenschance.« »Der Waffenstillstand wurde gebrochen, weil jemand in Be l fast in der Lenadoon-Siedlung zu schießen begann, und das reichte aus, das Faß wieder zum Überlaufen zu bringen.« Ferguson starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf die Listen. Nach einer Weile sagte er: »Sie wollen damit also andeuten, daß ein einziger Irrer entschlossen ist, die ganze Schweinerei immer wieder aufzurühren.« »Exakt, aber ich halte ihn nicht für geistesgestört. Mir scheint 49
eher, daß er marxistisch- leninistische Prinzipien der urbanen Revolution anwendet. Chaos, Unruhen, Furcht; alles Faktoren, die entscheidend zum Zusammenbruch jedes geordneten Staatswesens beitragen.« »Wobei die IRA Hauptziel der Schmutzkampagne ist?« »Und es zunehmend unwahrscheinlicher wird, daß die Prote stanten jemals ein politisches Abkommen mit ihr schließen, von unserer eigenen Regierung ganz zu schweigen.« »Und dafür sorgt, daß der bewaffnete Kampf Jahr für Jahr weitergeht und eine Lösung für uns immer weiter in die Ferne rückt.« Ferguson nickte langsam. »Interessante Theorie, Harry. Glauben Sie daran?« Er sah fragend auf. Fox zuckte die Achseln. »Die Fakten wa ren alle im Computer gespeichert. Wir haben halt bisher nie die richtige Frage gestellt. Hätten wir das getan, hätte sich das Ra ster schon früher ergeben. Die Daten liegen schon lange vor, Sir.« »Hm, kann gut sein, daß Sie recht haben.« Ferguson brütete noch eine Weile vor sich hin. »Er existiert, Sir«, sagte Fox vorsichtig. »Es gibt ihn wirk lich, davon bin ich überzeugt. Und da wäre noch ein Aspekt, der uns einer Erklärung sehr viel näherbringen könnte.« »Raus mit der Hiobsbotschaft.« Fox nahm einen weiteren Bogen aus der Akte. »Als Sie ve r gangene Woche in Washington waren, kam Tony Villiers aus Oman zurück.« »Ja, ich habe von seinen Abenteuern gehört.« »Bei der Nachbesprechung erzählte Tony die interessante Geschichte eines jüdischen Dissidenten aus der Sowjetunion namens Viktor Lewin, den er mitgebracht hatte. Er unterrichte te uns über ein angebliches, recht ungewöhnliches Ausbil dungszentrum des KGB in der Ukraine.« Er trat an den Kamin, zündete sich eine Zigarette an und war 50
tete, bis Ferguson die Akte durchgelesen hatte. Nach einer Weile bemerkte Ferguson: »Wußten Sie, daß Tony Villiers jetzt auf den Falkland-Inseln ist?« »Ja, mit dem SAS hinter feindlichen Linien.« »Und wer ist dieser Lewin?« »Ein hochbegabter Ingenieur. Wir haben dafür gesorgt, daß er an einem College in Oxford eine Stelle bekommt. Im Au genblick ist er in einem unserer Häuser in Hampstead. Ich habe mir erlaubt, ihn holen zu lassen, Sir.« »Wirklich, Harry? Was würde ich bloß ohne Sie anfangen?« »Sie kämen bestimmt sehr gut zurecht, Sir. Ah, und noch et was: Paul Tscherny, der in der Akte erwähnte Psychologe, lief 1975 zum Westen über.« »Etwa nach England?« fragte Ferguson heftig. »Nein, Sir – nach Irland. Besuchte dort im Juli dieses Jahres eine internationale Konferenz und bat um politisches Asyl. Inzwischen ist er Professor für Experimentalpsychologie am Trinity-College in Dublin.« Viktor Lewin sah fit und gesund aus und war von seinem Jemen-Aufenthalt noch immer tief gebräunt. Er trug einen grauen Tweedanzug, ein weißes Wollhemd mit blauer Krawatte und eine schwarze Lesebrille, die sein Aussehen sehr veränderte. Er redete lange und beantwortete Fergusons Fragen geduldig. Während einer kurzen Pause sagte er: »Kann ich davon aus gehen, daß Sie glauben, dieser Kelly oder Cuchulain, um ihn bei seinem Codenamen zu nennen, sei tatsächlich in Irland ak tiv? Es sind immerhin dreiundzwanzig Jahre vergangen.« »War das nicht der Zweck der Übung?« fragte Fox. »Ein Maulwurf, der sich tief einwühlt, um bereit zu sein, wenn Ir land explodiert. Vielleicht hat er sogar ein wenig nachgeho l fen.« »Und Sie wären, abgesehen von seinen Leuten, der einzige, der eine Vorstellung hat, wie er aussieht«, meinte Ferguson. 51
»Aus diesem Grund werden wir Sie bitten, sich einige Bilder anzusehen. Eine ganze Menge sogar.« »Wie ich schon sagte, es ist sehr lange her«, gab Lewin zu bedenken. »Gewiß, aber er hatte ein unverwechselbares Gesicht«, warf Fox ein. »Das ist allerdings wahr. Ein Gesicht wie der Leibha ftige, wenn er tötete, aber ich bin nicht der einzige, der sich an ihn erinnern kann. Da wäre noch Tanja. Tanja Woroninowa.« »Das kleine Mädchen, Tochter des Mannes, der den Polizei sergeanten spielte und von Kelly erschossen wurde«, erklärte Fox. »So klein ist sie inzwischen nicht mehr, sondern schon drei ßig. Eine reizende junge Frau. Sie sollten sie am Klavier hö ren«, sagte Lewin. »Haben Sie sie seither gesehen?« fragte Ferguson. »Immer wieder. Lassen Sie mich das erklären. Ich sorgte da für, daß man mich für reumütig hielt, entließ und an der Uni versität Moskau arbeiten ließ. Tanja wurde von Maslowski, dem KGB-Obersten, und seiner Frau adoptiert, die das Kind liebgewann.« »Inzwischen ist er General«, warf Fox ein. »Wie sich herausstellte, zeigte sie eine große Begabung am Klavier. Mit zwanzig gewann sie in Moskau den Tschaikows ky-Wettbewerb.« »Moment mal«, unterbrach Ferguson, der ganz besondere Freude an klassischer Musik hatte. »Tanja Woroninowa, die Konzertpianistin. Tat sich vor zwei Jahren beim Kla vierfestival in Leeds hervor.« »Stimmt. Ihre Mutter starb vor zwei Monaten. Tanja ist in zwischen dauernd auf Auslandstournee. Da ihr Pflegevater KGB-General ist, hält man sie für zuverlässig.« »Und Sie haben sie kürzlich gesehen?« 52
»Vor sechs Monaten.« »Und sie sprach von dem Vorfall in Drumore, den Sie er wähnten?« »Oh, gewiß. Sie ist hochintelligent und ausgeglichen, konnte diese Sache aber nie verwinden. Es hat den Anschein, als däch te sie unablässig darüber nach. Ich habe sie einmal nach dem Grund gefragt.« »Und was hat sie geantwortet?« »Daß es an Kelly liegt. Sie konnte ihn nie vergessen, weil er so lieb zu ihr war, was sie angesichts des Vorfalls nicht verste hen konnte. Sie träumt oft von ihm, sagt sie.« »Nun, da sie sich in Rußland aufhält, hilft uns das nicht viel.« Ferguson stand auf. »Würden Sie bitte einen Augenblick im Nebenzimmer warten, Mr. Lewin?« Fox öffnete die filzbezogene Tür und ließ den Russen hinaus. »Ein netter Mann. Ich mag ihn«, bemerkte Ferguson. Er trat ans Fenster und schaute hinunter auf den Platz. Nach einer Weile sagte er: »Harry, wir müssen ihn aufspüren. Ich bezwei fle, daß wir jemals ein entscheidenderes Problem zu knacken hatten.« »Da stimme ich Ihnen zu.« »Merkwürdige Sache. Cuchulains Enttarnung müßte der IRA ebenso wichtig sein wie uns.« »Ja, Sir, der Gedanke ist mir auc h schon gekommen.« »Glauben Sie, daß man dort ähnlicher Meinung ist?« »Mag sein, Sir.« Fox bekam vor Erregung ein hohles Gefühl im Magen, als wüßte er, was nun auf ihn zukam. »Gut«, meinte Ferguson. »Sie haben weiß Gott schon genug für Irland gegeben. Sind Sie bereit, auch die andere Hand zu riskieren?« »Wenn Sie es wünschen, Sir.« »Vorzüglich. Mal sehen, ob sie zur Abwechslung einmal be 53
reit sind, mit Vernunft zu reagieren. Ich möchte, daß Sie nach Dublin fliegen und sich mit dem Armeerat der PIRA oder je dem anderen treffen, der geschickt wird, Sie zu treffen. Ich werde das mit entsprechenden Telefonaten vorbereiten. Steigen Sie wie gewöhnlich im Westbourne ab. Und zwar heute noch. Um Lewin kümmere ich mich selbst.« »In Ordnung, Sir«, sagte Fox gelassen. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, mache ich mich auf den Weg.« Damit ging er hinaus. Ferguson ging zurück ans Fenster und schaute hinaus in den Regen. Verrückte Idee natürlich, daß britische Armee und IRA zusammenarbeiteten, aber in diesem Fall war das logisch. Die Frage war nur: Würden die wilden Männer in Dublin diese seine Auffassung teilen? Hinter ihm ging die Tür zum Arbeitszimmer auf, Lewin er schien, räusperte sich verlegen. »Brigadier, brauchen Sie mich noch?« »Aber gewiß, mein Bester«, erwiderte Charles Ferguson. »Ich nehme Sie jetzt mit in mein Hauptquartier. Dort gibt es Bilder zu betrachten – eine ganze Menge, fürchte ich.« Er griff nach Hut und Mantel und machte die Tür auf, um Lewin hin auszugeleiten. »Und wer weiß? Vielleicht erkennen Sie unse ren Mann.« Insgeheim glaubte er das keinen Moment lang, ließ es Lewin aber nicht merken, als sie gemeinsam im Aufzug nach unten fuhren. 3 In Dublin wurde der Regen wie ein weicher grauer Vorhang über den Fluß, den Liffey, getrieben, als das Taxi vom Flugha fen in eine Seitenstraße nahe beim St. George’s Quay einbog und Fox vor seinem Hotel absetzte. Das Westbourne war ein kleines, altmodisches Hotel mit nur 54
einem Bar-Restaurant; ein georgianisches Gebäude, das unter Denkmalschutz stand. Innen war es dezent und stilgetreu reno viert worden. Die Gäste, sofern man sie überhaupt zu Gesicht bekam, entstammten der oberen Mittelklasse, waren eindeutig fortgeschrittenen Alters und stiegen hier seit Jahren ab, wenn sie einmal für ein paar Tage Urlaub vom Land machen wollten. Fox hatte schon mehrmals hier gewohnt, immer unter dem Namen Charles Hunt, Beruf: Weingroßhändler, eine Legende, die dank ausreichender Fachkenntnisse vorzüglich auf ihn paß te. Die Empfangsdame, eine unscheinbare junge Frau in einem schwarzen Kostüm, begrüßte ihn herzlich. »Nett, Sie zu sehen, Mr. Hunt. Ich habe Ihnen Zimmer drei im ersten Stock be schafft. Das hatten Sie früher auch.« »Schön«, meinte Fox. »Irgendwelche Nachric hten?« »Nein, Sir. Wie lange wollen Sie bleiben?« »Eine Nacht, vielleicht auch zwei. Ich sage Ihnen Bescheid.« Der Portier war ein alter weißhaariger Mann mit einem trau rigen, faltigen Gesicht. Die grüne Uniform schlotterte an ihm, und es war Fox wie üblich ein wenig peinlich, als er die Koffer trug. »Wie geht’s, Mr. Ryan?« erkundigte er sich in dem kle inen Aufzug. »Gut, Sir. Nächsten Monat gehe ich in Pension. Man schickt mich alten Gaul auf die Weide.« Er ging voran durch den engen Korridor. Fox meinte: »Scha de, das Westbourne wird Ihnen fehlen.« »Bestimmt, Sir, nach achtunddreißig Jahren.« Er schloß die Zimmertür auf und ging voran. »Aber das blüht uns allen ein mal.« Es war ein freundlicher Raum mit grünen Damasttapeten, zwei Einzelbetten, einem imitierten Adam-Kamin und Maha gonimöbeln. Ryan legte die Reisetasche aufs Bett und zog die 55
Vorhänge gerade. »Seit Sie zuletzt hier waren, ist das Bad renoviert worden, Sir. Sehr hübsch. Soll ich Ihnen den Tee bringen?« »Im Augenblick noch nicht, Mr. Ryan.« Fox nahm eine Fünf Pfund-Note aus der Brieftasche und reichte sie ihm. »Falls eine Nachricht für mich eingeht, sagen Sie bitte sofort Bescheid. Wenn Sie mich hier nicht vorfinden, bin ich in der Bar.« In den Augen des Alten blitzte es kurz auf; dann lächelte er schwach. »Keine Angst, Sir, ich finde Sie schon.« Das war heutzutage typisch für Dublin, sagte sich Fox, als er seinen Mantel aufs Bett warf und ans Fenster trat. Man konnte mit niemandem sichergehen, und es gab natürlich überall Sym pathisanten; nicht unbedingt IRA-Leute, sondern Tausende von normalen, anständigen Leuten, die Gewalt und Bombena nschläge haßten, aber die politische Idee dahinter billigten. Das Telefon ging. Er hob ab und hörte Fergusons Stimme. »Alles klar. McGuiness wird sich mit Ihnen treffen.« »Wann?« »Sie bekommen Bescheid.« Es klickte, Fox legte den Hörer auf. Martin McGuiness war unter anderem Chef des Befehlsbereichs Nord der PIRA; we nigstens bekam er es mit einem der intelligent eren Mitgliedern des Armeerats zu tun. Am Ende der Straße konnte er den Liffey sehen; der Regen prasselte gegen das Fenster. Er fühlte sich aus unerfindlichen Gründen niedergeschlagen. Irland natürlich. Einen kurzen Au genblick lang spürte er wieder den Schmerz in der linken Hand, der Hand, die ihm nun fehlte. Alles Einbildung, sagte er sich und ging hinunter in die Bar. Sie war leer, abgesehen von einem jungen italienischen Ba r mann. Fox bestellte einen Scotch mit Wasser und setzte sich in eine Ecke am Fenster. Auf dem Tisch lag eine Auswahl von Tageszeitungen, und er las gerade die Times durch, als Ryan 56
wie ein Schatten neben ihm auftauc hte. »Ihr Taxi ist da, Sir.« Fox sah auf. »Mein Taxi? Ach ja, natürlich.« Er runzelte die Stirn, als ihm der blaue Regenmantel über Ryans Arm auffiel. »Ist das nicht meiner?« »Ich habe mir erlaubt, ihn von Ihrem Zimmer zu holen, Sir. Sie werden ihn brauche n. Es hat sich eingeregnet, fürchte ich.« Wieder funkelte es in seinen Augen, fast amüsiert. Fox ließ sich in den Mantel helfen und folgte Ryan nach draußen, wo ein schwarzes Taxi wartete. Ryan hielt ihm die Tür auf. »Angenehmen Nachmittag, Sir«, sagte er, als Fox einstieg. Das Taxi fuhr rasch an. Am Steuer saß ein junger Mann mit dunklem Kraushaar. Er trug eine Lederjacke mit weißem Hals tuch, sagte kein Wort, fädelte in den Verkehrsstrom ein und fuhr am St. George’s Quay entlang. Neben einer grünen Tele fonzelle stand ein Mann mit Stoffmütze und Seemannsjacke. Das Taxi hielt am Randstein, der Mann öffnete die Fondtür und glitt auf den Sitz neben Fox. »Auf geht’s, Billy«, sagte er zum Fahrer und wandte sich leutselig an Fox. »Maria und Josef, ich dachte schon, ich müßte da draußen ersaufen. Hände hoch, wenn’s beliebt, Captain. Nicht zu weit. Nur so, daß es reicht.« Er durchsuchte Fox gründlich und professionell, fand nichts. Er lehnte sich zurück, zündete eine Zigarette an, nahm dann eine Pistole aus der Ta sche und hielt sie sich übers Knie. »Wissen Sie, was das ist, Captain?« »Dem Aussehen nach eine Ceska«, erwiderte Fox. »Die schallgedämpfte Version, die die Tschechen vor einigen Jahren herstellten.« »Prächtig. Vergessen Sie die nicht, wenn Sie mit Mr. McGuiness reden. Wie es im Film heißt: ›Eine falsche Bewegung, und Sie sind ein toter Mann. ‹« 57
Im dichten Verkehr folgten sie weiter dem Flußlauf und hie l ten dann auf halber Länge des Victoria Quay an. »Aussteigen«, sagte der Mann in der Seemannsjacke, und Fox folgte ihm. Der Wind trieb den Regen über den Fluß; Fox stellte den Mantelkragen hoch. Der Mann in der Seemannsjak ke ging unter einem Baum hindurch und nickte in Richtung eines kleinen Wartehäuschens hinter der Kaima uer. »Er hat viel zu tun und wartet nicht gerne.« Er steckte sich eine neue Zigarette an, lehnte sich an den Baum, und Fox ging über den Gehsteig und die Stufen zum Wartehäuschen hoch. Dort saß auf einer Bank in der Ecke ein Mann und las Zeitung. Er war elegant gekleidet – offener brau ner Regenmantel, unter dem ein gutgeschnittener dunkelblauer Anzug, ein weißes Hemd und eine blaurot gestreifte Krawatte sichtbar wurden. Er sah sympathisch aus, hatte einen bewegli chen, intelligenten Mund und blaue Augen. Kaum zu glauben, daß dieser recht anziehend wirkende Mann seit fast dreizehn Jahren ganz oben auf der Fahndungsliste der britischen Armee stand. »Ah, Captain Fox«, sagte McGuiness freundlich. »Nett, Sie einmal wiederzusehen.« »Wir sind uns doch noch nie begegnet«, wandte Fox ein. »Oh, doch, 1972 in Londonderry. Sie waren ein Cornet – heißt ein Lieutenant bei den Blues and Royals nicht so? In ei nem Pub in der Prior Street ging eine Bombe hoch. Sie waren damals zur Militärpolizei abgestellt.« »Guter Gott!« Fox griff sich an die Stirn, »jetzt fällt es mir wieder ein.« »Die ganze Straße stand in Flammen. Sie rannten in ein Haus neben dem Lebensmittelgeschäft und holten eine Frau und zwei Kinder heraus. Ich lag auf dem Dach eines Hauses gege nüber, neben mir ein Mann mit einem Armalite-Gewehr, der Ihnen ein Loch in den Kopf schießen wollte. Ich ließ das ange sichts der Umstände nicht zu.« 58
Einen Augenblick lang fröstelte Fox. »Sie hatten also damals in Londonderry den Befehl über die IRA.« McGuiness grinste. »Wie das Leben so spielt, nicht? Eigent lich sollten Sie überhaupt nicht hier sitzen. So, und was hat die alte Schlange Ferguson mit mir zu bereden?« Fox weihte ihn ein. Als er geendet hatte, blieb McGuiness brütend sitzen, die Hände in den Taschen seines Regenmantels, und starrte über den Liffey. »Da drüben liegt das Wolfe-Tone-Quay, wußten Sie das?« »War Wolfe Tone nicht Protestant?« »War er wohl. Und einer der größten irischen Patrioten.« Er pfiff unmelodisch durch die Zähne. Fox fragte: »Glauben Sie mir?« »Ja, sicher«, gab McGuiness leise zurück. »Ihr Engländer seid ein heimtückischer Verein, aber ich glaube euch, und zwar aus einem ganz simplen Grund. Irgendwie paßt es nämlich zu sammen, Captain. Alle diese Morde im Lauf der Jahre, der Dreck, mit dem wir deswegen beworfen wurden, manchmal sogar aus dem Ausland. Ich weiß genau, wann wir nichts damit zu tun hatten, und der Armeerat auch. Der Haken ist nur, daß wir es immer den Idioten zuschrieben, den Cowboys, den Wil den.« Er grinste schief. »Oder dem britischen Geheimdienst natürlich. Daß es das Werk eines einzigen Mannes sein könnte, ein sorgfältig zurechtgelegter Plan, kam uns nie in den Sinn.« »Sie haben doch selbst ein paar Marxisten in Ihrer Organisa tion«, gab Fox zu bedenken. »Vom Typ, der in den Sowjets die Retter sieht.« »Das können Sie gleich vergessen.« McGuiness’ blaue Au gen funkelten einen Moment lang zornig. »Freiheit für Irland, Irland den Iren. Für marxistischen Quatsch haben wir hier nichts übrig.« »Und was geschieht nun? Wenden Sie sich an den Armee 59
rat?« »Ich glaube nicht. Ich werde mit dem Stabschef sprechen und sehen, was er davon hält. Immerhin ist er derjenige, der mich geschickt hat. Offen gesagt, je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser.« »Wie wahr.« Fox stand auf. »Immerhin kann Cuchulain jeder beliebige sein. Vielleicht sogar jemand, der dem Armeerat na hesteht.« »Auf diesen Gedanken bin ich auch schon gekommen.« McGuiness winkte, und der Mann in der Seemannsjacke kam un ter dem Baum hervor. »Murphy fährt Sie jetzt zurück zum Westbourne. Gehen Sie nicht aus. Ich melde mich wieder.« Fox tat ein paar Schritte, blieb stehen und drehte sich um. »Ach ja, das ist eine Guards-Krawatte, die Sie da tragen.« Martin McGuiness lächelte herzlich. »Hab’ ich’s nicht ge wußt? Ich wollte nur, daß Sie sich wie daheim fühlen, Captain Fox.« Fox wählte Fergusons Nummer von einer Telefonze lle aus, weil er die Vermittlung des Hotels nicht benutzen wollte. Da der Brigadier nicht in seiner Wohnung war, versuchte er den Privatanschluß in seinem Büro im Generaldirektorat und kam sofort durch. »Ich hatte meine Vorbesprechung, Sir.« »Das ging aber schnell. Wurde McGuiness geschickt?« »Ja, Sir.« »Hat er Ihnen die Geschichte abgenommen?« »Und ob, Sir. Er will wieder Kontakt aufnehmen, vie lleicht noch heute abend.« »Gut. In einer Stunde bin ich wieder in meiner Wohnung und habe auch nicht vor, auszugehen. Rufen Sie sofort an, wenn Sie weitere Nachrichten haben.« Fox duschte, zog sich um und ging wieder hinunter in die 60
Bar, wo er sich noch einen Scotch mit Wasser genehmigte und über dies und jenes und ganz besonders über McGuiness nach dachte. Zweifellos ein cleverer und gefährlicher Mann. Mehr als nur ein Revolverheld, obwohl er genug Morde auf dem Gewissen hatte, aber einer der wichtigsten Führer, die während der Unruhen hochgekommen waren. Zu seinem Ärger stellte Fox fest, daß ihm der Mann recht sympathisch war. Das ging nicht an. Er begab sich ins Restaurant und nahm allein ein frü hes Abendessen zu sich, dabei las er die Irish Press. Danach mußte er auf dem Weg zum Salon durch die Bar, die inzwischen von etwa zwei Dutzend Leuten bevölkert war, dem Aussehen nach vorwiegend Hotelgäste – abgesehen von dem Taxifahrer, der ihn vorhin zu dem Treff mit McGuiness ge bracht hatte. Er saß auf einem Hocker am Ende der Theke, hat te ein Glas Lager vor sich stehen und trug nun einen recht ele ganten grauen Anzug. Er ließ sich nicht anmerken, daß er Fox schon einmal begegnet war. Fox ging weiter in den Salon, wo Ryan auf ihn zukam. »Wenn ich mich recht entsinne, Sir, nehmen Sie nach dem Abendessen lieber Tee als Kaffee?« »Stimmt«, erwiderte Fox, der sich niedergelassen ha tte. »Ich habe mir erlaubt, das Tablett auf Ihr Zimmer zu bringen, Sir, weil ich dachte, Sie zögen etwas Ruhe und Frieden vor.« Er drehte sich wortlos um und ging voran zum Aufzug. Fox, der mit einer weiteren Nachricht rechnete, spielte mit, aber der alte Mann blieb schweigsam, führte ihn im ersten Stock durch den Korridor und machte ihm die Zimmertür auf. Martin McGuiness sah sich die Nachrichten im Fernsehen an. Murphy stand am Fenster. Wie der Mann in der Bar trug er nun einen verhältnismäßig konservativen Anzug, in seinem Fall aus marineblauem Kammgarn. McGuiness stellte den Fernseher ab. »Ah, da sind Sie ja. Ha ben Sie die Ente à l’orange probiert? Ist nicht übel hier.« 61
Auf dem Teetablett auf dem Tisch standen zwei Ta ssen. »Darf ich einschenken, Mr. McGuiness?« fragte Ryan. »Danke, das machen wir selbst.« McGuiness griff nach der Teekanne und sagte zu Fox, als Ryan sich entfernte: »Wie Sie sehen, ist der alte Patrick einer von uns. Du kannst draußen warten, Michael«, fügte er hinzu. Murphy ging wortlos hinaus. »Man erzählt mir, kein Gentle man gäbe zuerst die Milch in die Tasse, aber ein echter Gentleman würde sich um solchen Mumpitz wohl kaum sche ren. Bekommt man das nicht in Eton beigebracht?« »Ja, so etwas Ähnliches.« Fox nahm seine Tasse entgegen. »Ich hatte nicht erwartet, Sie so bald wiederzusehen.« »Viel zu tun und wenig Zeit dafür.« McGuiness trank einen Schluck Tee und seufzte vergnügt. »Hm, gut. Tja, ich habe mit dem Stabschef gesprochen, und der ist wie ich der Ans icht, daß Sie und Ihr Computer auf etwas gestoßen sind, dem man nach gehen sollte.« »Gemeinsam?« »Kommt drauf an. Zuerst einmal hat er entschieden, die An gelegenheit nicht mit dem Armeerat zu diskutieren, jedenfalls nicht in diesem Stadium. Sie bleibt also zwischen ihm und mir.« »Finde ich vernünftig.« »Außerdem wollen wir nicht, daß die Dubliner Polizei hi neingezogen wird. Halten Sie also die Staatssiche rheitspolizei heraus. Und der Nachrichtendienst der Armee soll auch nichts damit zu tun haben.« »Damit wird Brigadier Ferguson sicher einverstanden sein.« »Es wird ihm auch nichts anderes übrigbleiben, ebenso wie er akzeptieren muß, daß wir ihm unter keinen Umständen Infor mationen über ehemalige oder gegenwärtige IRA-Mitglieder liefern werden. Das könnte nä mlich anderweitig ausgenutzt werden.« 62
»Gut«, meinte Fox, »ich sehe das ein, aber es könnte knifflig werden. Wie sollen wir zusammenarbeiten, ohne Informationen auszutauschen?« »Da gibt es eine Möglichkeit.« McGuiness goß Tee nach. »Ich habe sie mit dem Stabschef besprochen, der einverstanden ist, sofern Sie mitmachen. Wir benutzen einen Mittelsmann.« »Einen Mittelsmann?« Fox runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht ganz.« »Jemanden, der für beide Seiten akzeptabel ist; gleicherma ßen vertrauenswürdig, wenn Sie wissen, was ich meine.« Fox lachte. »So was gibt’s nicht.« »O doch«, sagte McGuiness. »Da wäre Liam Devlin, und machen Sie mir bloß nicht vor, Sie wüßten nicht, wer das ist.« »Ich bin sehr gut mit Liam Devlin bekannt«, sagte Fox lang sam. »Sollten Sie auch. Ließen nicht Sie und Faulkner ihn 1979 vom SAS kidnappen, damit er Ihnen half, Martin Brosnan aus einem französischen Gefängnis zu holen und diesen tollwüti gen Hund Frank Barry zur Strecke zu bringen?« »Sie sind vorzüglich informiert.« »Nun ja, Liam ist nun in Dublin und Professor am TrinityCollege. Er hat ein kleines Haus in einem Dorf namens Kilrea, ungefähr eine Fahrstunde von hier. Suchen Sie ihn auf. Wenn er bereit ist mitzumachen, sprechen wir weiter darüber.« »Wann?« »Ich sage Ihnen Bescheid oder tauche einfach wieder una ngemeldet auf. Nur so blieb ich im Norden der britischen Armee immer einen Schritt voraus.« Er stand auf. »Unten an der The ke steht ein junger Mann. Vielleicht haben Sie ihn gesehen?« »Der Taxifahrer.« »Billy White. Ob mit der Rechten oder der Linken, er trifft immer noch eine Fliege an der Wand. Solange Sie hier sind, 63
steht er Ihnen zur Verfügung.« »Überflüssig.« »Durchaus nicht.« McGuiness zog seinen Mantel an. »Er stens wollen wir nicht, daß Ihnen etwas passiert, und zweitens ist es nützlich zu wissen, wo Sie sind.« Er machte die Tür auf, und Fox sah Murphy draußen warten. »Ich melde mich wieder, Captain.« McGuiness salutierte spöttisch, und dann schloß sich die Tür hinter ihm. »Hört sich vernünftig an«, meinte Ferguson, »aber ci h be zweifle, daß Devlin nach der Affäre Frank Barry noch einmal für uns arbeiten will. Er fand, daß wir Brosnan und ihn arg ausgenutzt haben.« »Wenn ich mich recht entsinne, stimmt das auch, Sir«, kom mentierte Fox. »Sehr übel sogar.« »Schon gut, Harry, bauschen wir das nicht auf. Rufen Sie bei ihm an und sehen Sie, ob er zu Hause ist. Wenn ja, besuchen Sie ihn.« »Sofort, Sir?« »Warum nicht? Es ist erst halb zehn. Wenn er daheim ist, la s sen Sie es mich wissen. Ich rufe ihn dann selbst an. Ach ja, hier seine Telefonnummer. Schreiben Sie sie auf.« Fox wechselte in der Bar einen Fünfer in Fünfzig-PenceStücke. Billy White saß immer noch da und las die Abendze itung. Das Glas Lager schien er nicht angerührt zu haben. »Darf ich Ihnen einen spendieren, Mr. White?« fragte Fox. »Ich rühre nie einen Tropfen an, Captain.« White läche lte munter und leerte das Glas in einem langen Zug. »Ein Bus h mills wäre jetzt fein zum Nachspülen.« Fox bestellte ihm einen. »Mag sein, daß ich nach Kilrea muß. Kennen Sie das Dorf?« »Sehr gut sogar«, erwiderte White. »Kein Problem.« 64
Fox ging zur Telefonzelle und machte die Tür hinter sich zu. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, wählte er die Nummer, die Ferguson ihm gegeben hatte. Die Stimme, die sich meldete, erkannte er sofort. Es war die Stimme des viel leicht erstaunlichsten Mannes, dem er je begegnet war. »Devlin.« »Liam? Hier Harry Fox.« »Mutter Gottes!« rief Liam Devlin. »Wo sind Sie?« »In Dublin – im Westbourne. Ich würde Sie gerne besuchen kommen.« »Jetzt gleich?« »Bedaure, wenn es Ihnen ungelegen ist.« Devlin lachte. »Um ganz ehrlich zu sein, bin ich im Auge nblick im Begriff, eine Schachpartie zu verlieren, was mir gar nicht lieb ist. Man könnte sagen, Ihre Unterbrechung kommt gerade zum rechten Zeitpunkt. Ist Ihr Anruf dienstlicher Na tur?« »Ja. Ich rufe bei Ferguson an und sage ihm, daß Sie daheim sind. Er möchte persönlich mit Ihnen sprechen.« »Der alte Geier ist also immer noch am Werk? Meinetwegen. Sie wissen, wo ich wohne?« »Ja.« »Wir sehen uns dann in einer Stunde. Kilrea Cottage, Kilrea. Sie können es nicht verfehlen. Neben dem Nonne nkloster.« Als Fox nach einem weiteren Gespräch mit Ferguson aus der Zelle trat, wartete White schon auf ihn. »Fahren wir also weg, Captain?« »Ja«, erwiderte Fox. »Kilrea Cottage, Kilrea. Offenbar gleich neben einem Nonnenkloster. Ich gehe nur meinen Mantel ho len.« White wartete, bis er im Aufzug verschwunden war, eilte dann in die Telefonzelle und wählte. Am anderen Ende der 65
Leitung wurde sofort abgehoben. »Wir fahren jetzt ab nach Kilrea«, sagte er. »Sieht so aus, als wollte er heute abend Dev lin besuchen.« Als sie durch die regengepeitschten Straßen fuhren, merkte White beiläufig an: »Nur damit wir wissen, wo wir stehen, Captain: In dem Jahr, in dem Sie Ihre Hand verloren, war ich Leutnant in der North-Tyrone-Brigade der Provisorischen IRA.« »Sie müssen noch sehr jung gewesen sein.« »Bin alt auf die Welt gekommen, dank den B-Specials, als ich noch klein war, und der verdammten Royal Ulster Constabulary.« Er steckte sich mit einer Hand eine Zigarette an. »Sie kennen Liam Dev lin also gut?« »Warum fragen Sie?« gab Fox argwöhnisch zurück. »Zu dem fahren wir doch, oder? Je, Captain, wer kennt Liam Devlins Adresse nicht?« »Er ist für Sie wohl so eine Art Legende?« »Eine Lege nde? Der Mann hat uns allen gezeigt, wo’s langgeht. Heute will er allerdings mit der Bewegung nichts mehr zu tun haben, weil er ein Moralist ist. Hat was gegen Bombenanschläge und Ge walt.« »Und wie stehen Sie dazu?« »Na, wir haben Krieg, oder? Ihr habt doch das Dritte Reich auf Teufel komm raus zerbombt. Und so zerbomben wir euch auch, wenn’s sein muß.« Logisch, aber deprimierend, dachte Fox. Wo sollte das en den? In einem Schlachthaus, in dem man nur über Le ichen ging. Er fröstelte, sein Gesicht sah freudlos aus. »Was Devlin angeht«, sagte White, als sie den Stadtrand er reicht hatten, »ich hab’ da mal eine Geschichte über ihn gehört. Wissen Sie vielleicht zufällig, ob die stimmt?« »Fragen Sie doch mal.« 66
»Dem Gerücht nach ging er in den Dreißigern nach Spanien, kämpfte gegen Franco und wurde gefangengenommen. Dann erwischten ihn die Deutschen und setzten ihn im Weltkrieg hier als Agenten ein.« »Stimmt.« »Wie ich höre, schickten sie ihn anschließend nach England. Hatte irgendwas mit dem Versuch deutscher Fallschirmjäger zu tun, im Jahr 1943 Churchill zu kidnappen. Ist da was Wahres dran?« »Klingt mir wie ein Taschenbuch-Thriller«, bemerkte Fox. White seufzte und meinte bedauernd: »Dachte ich mir auch. Trotz alledem, ein toller Mann.« Er lehnte sich zurück und konzentrierte sich aufs Fahren. Keine Beschreibung von Liam Devlin kann dem Mann ge recht werden, dachte Fox im dunklen Wagen: ein hochbegabter Schüler, der sich mit sechzehn beim Trinity-College in Dublin eingeschrieben und mit neunzehn summa cum laude die Schule verlassen hatte, Gelehrter, Autor, Lyriker, und schon als Stu dent in den Dreißigern ein hochgefährlicher bewaffneter IRAAktivist. Fast alles, was White gesagt hatte, beruhte auf Wahrheit. Er hatte tatsächlich in Spanien in den Reihen der Antifaschi sten gekämpft und in Irland für die Abwehr gearbeitet. Und die Churchill-Affäre? Darüber gab es viele Gerüchte, aber was war die Wahrheit? Nun, es würde Jahre dauern, bis die entspre chenden Geheimakten publik gemacht wurden. In der Nachkriegszeit war Devlin Professor am katholischen Seminar »Allerseelen« bei Boston gewesen. Er hatte sich an der erfolglosen IRA-Kampagne der späten Fünfziger beteiligt und war 1969 nach Ulster zurückgekehrt, als die gegenwärti gen Unruhen angefangen hatten. Als einer der Gründer der Provisorischen IRA hatte er angesichts der Bombenkampagnen zunehmend seine Illusionen verloren und der Bewegung seine 67
aktive Unterstützung entzogen. Seit 1976 gehörte er zum Lehr körper der Englisch-Fakultät des Trinity-College. Fox hatte ihn seit 1979 nicht mehr gesehen. Damals war er von Ferguson genötigt oder eher gepreßt worden, sich aktiv an der Jagd auf Frank Barry zu beteiligen, eines ehemaligen IRAAktivisten, der ein internationaler Terrorist geworden war, der gegen Bezahlung arbeitete. Bei diesem Unternehmen hatte Devlin aus mehreren Gründen mitgespielt, vorwiegend, weil er Fergusons Lügen glaubte. Wie würde er also jetzt reagieren? Sie waren in die lange Dorfstraße eingefahren. Fox riß sich jäh zusammen, als White sagte: »So, da wären wir. Kilrea. Dort ist das Kloster, und das ist Devlins Haus, hinter der Garten mauer.« Er bog in eine gekieste Einfahrt ein und stellte den Motor ab. »Ich warte hier auf Sie, Captain, klar?« Fox stieg aus und ging zwischen Rosenbüschen über einen Plattenweg auf das grüngestrichene Vo rdach zu. Ein hübsches viktorianisches Haus, und die meisten Schnitzereien an Tür und Giebeln waren noch erhalten. In einem Erkerfenster schimmerte hinter zugezogenen Vorhängen Licht. Er drückte auf den Klingelknopf. Drinnen erklangen Stimmen, Schritte, die Tür ging auf, und vor ihm stand Liam Devlin und scha ute ihn an. 4 Devlin trug ein dunkelblaues Flanellhemd mit offenem Kra gen, graue Hosen und sehr teuer aussehende italienische Schu he aus braunem Leder. Er war klein, maß kaum mehr als eins fünfundsechzig, und trotz seiner vierundsechzig Jahre zeigte sein dunkles, welliges Haar nur einen leichten Silberschimmer. An der rechten Schläfe zeugte eine blasse Narbe von einer al ten Schußverletzung, seine Haut war hell, seine Augen von 68
einem ungewöhnlich intensiven Blau. Ein leicht ironisches Lächeln schien permanent seine Mundwinkel zu heben – der Ausdruck eines Mannes, der das Leben als einen schlechten Witz erkannt und beschlossen hat, daß man darüber nur lachen kann. Das Lächeln war charmant und völlig aufrichtig. »Schö n, Sie zu sehen, Harry.« Er umarmte Fox leicht. »Freut mich auch, Liam.« Devlin schaute an ihm vorbei auf den Wagen und Billy White am Steuer. »Haben Sie jemanden dabei?« »Nur meinen Fahrer.« Devlin ging an ihm vorbei den Weg entlang und schaute ins Wageninnere. »Guten Abend, Mr. Devlin«, sagte Billy. Devlin wandte sich wortlos ab und kehrte zu Fox zurück. »Das ist also Ihr Fahrer, Harry? Der fährt nur auf ein Ziel zu – die Hölle.« »Haben Sie von Ferguson gehört?« »Ja, aber lassen wir das für den Augenblick. Kommen Sie rein.« Wie das Haus, war auch die Inneneinrichtung viktorianisch: Mahagonitäfelung und Tapeten von William Morris in der Hal le; an den Wänden mehrere Nachtbilder des viktorianischen Malers Atkinson Grimshaw. Fox betrachtete sie bewundernd, als er seinen Mantel auszog und ihn Devlin reichte. »Seltsam, diese Bilder hier zu sehen, Liam. Grimshaw war aus Yorkshire und sehr englisch.« »Nicht seine Schuld, Harry. Er war ein begnadeter Maler.« »Die Stücke sind wohl eine Kleinigkeit wert«, merkte Fox an, der wohl wußte, daß bei einer Auktion selbst ein kleiner Grimshaw mit zehntausend Pfund nicht überbewertet war. »Als ob ich das nicht wüßte«, meinte Devlin leichthin. Er 69
öffnete einen Flügel einer Mahagonitür und ging voran in den Wohnraum, der wie die Halle auch in viktorianischem Stil gehalten war: grüne, goldbedruckte Samttapete, weitere Grimshaws an den Wänden, Mahagonimöbel und ein munteres Feuer in einem Kamin, der wie ein Originalstück von William Langley aussah. Der Mann, der davorstand, war ein Priester in dunkler Souta ne, der sich vom Feuer abwandte, um Fox zu begrüßen. Er war ungefähr so groß wie Devlin und trug das eisengraue Haar straff über die Ohren zurückgekämmt. Ein ansehnlicher Mann, ganz besonders jetzt, als er zum Willkommen lächelte; es war ein Eifer an ihm, eine Energie, die etwas in Fox berührte. Es kam nicht oft vor, daß man einen Menschen so uneinge schränkt und instinktiv mochte. »Um Shakespeare zu mißbrauchen, zwei kleine Spuren Harry in der Nacht«, meinte Devlin. »Captain Harry Fox, darf ich Ihnen Pater Harry Cussane vorstellen?« Cussane drückte ihm warm die Hand. »Ist mir ein großes Vergnügen, Captain Fox. Liam hat mir nach Ihrem Anruf eini ges über Sie erzählt.« Devlin wies auf den Schachtisch vor dem Sofa. »Jeder Vo r wand reichte aus, um davon loszukommen. Er war im Begriff, mich gründlich zuschlagen.« »Wie üblich eine maßlose Übertreibung«, entgegnete Cussa ne. »Doch ich muß weiter, damit Sie sich ungestört Ihrem Ge schäft widmen können.« Seine Stimme klang angenehm und recht tief; sein Irisch hatte einen leichten amerikanischen Ak zent. »Hören Sie sich das an, Fox.« Devlin hatte drei Gläser und eine Flasche Bushmills aus dem Eckschrank geholt. »Setz dich, Harry. Ein Gläschen vor dem Zubettgehen bringt dich nicht um.« Und zu Fox gewandt sagte er: »Mir ist noch kein Mensch begegnet, der stets so auf Trab ist wie unser Pater hier.« »Schon gut, Liam, ich kapituliere«, meinte Cussane. »Nur 70
noch fünfzehn Minuten, dann muß ich aber wirklich fort. Wie du weißt, mache ich gerne eine Spätrunde im Hospiz, und dann ist da noch Danny Malone, bei dem man nicht weiß, ob er morgen noch am Leben ist.« »Trinken wir einen auf ihn. Das steht uns allen bevor«, sagte Devlin. »Hospiz, sagten Sie?« fragte Fox. »Nebenan ist das Kloster zum Heiligen Herzen. Die Barm herzigen Schwestern richteten dort vor einigen Jahren eine Sterbeklinik ein.« »Sind Sie dort tätig?« »Ja, als Verwalter und Geistlicher. Es heißt, Nonnen seien nicht weltgewandt genug für die Buchführung. Absoluter Mumpitz. Schwester Anne-Marie, die dort drüben die Leitung hat, weiß bis auf den letzten Penny Bescheid. Und da diese Gemeinde so klein ist, hat ihr Priester keinen Kurator. Ich nehme ihm deshalb einiges ab.« »Außerdem verbringt er drei Tage in der Woche mit der Le i tung der Presseabteilung des katholischen Sekretariats in Du blin«, warf Devlin ein. »Und daneben führt er den hiesigen Jugendclub durch fünf sehr durchschnittliche Aufführungen von Südpazifik, mit einer Starbesetzung von dreiundneunzig Schulkindern.« Cussane lächelte. »Raten Sie mal, wer das inszeniert hat. Als nächstes versuchen wir uns an der West Side Story. Liam fin det das zu hoch gegriffen, aber meiner Ansicht nach ist es bes ser, sich einer Herausforderung zu stellen, als den Weg des geringsten Widerstands zu wählen.« Er trank einen kleinen Schluck Bushmills. Fox sagte: »Ent schuldigen Sie die Frage, Pater, aber sind Sie Amerikaner oder Ire? Ich bin mir nicht ganz sicher.« »Das geht ihm die meiste Zeit selbst so«, wart Devlin lachend ein. 71
»Meine Mutter war irisch-amerikanisch und kam auf der Su che nach ihren Wurzeln nach dem Tod ihrer Eltern 1939 nach Connacht zurück. Außer mir fand sie nichts.« »Und Ihr Vater?« »Den habe ich nie gekannt. Meine Mutter hieß Cussane und war übrigens Protestantin. Von denen gibt es noch einige in Connacht, Abkömmlinge von Cromwells Schlächtern. In die sem Landesteil nennen sich die Cussanes oft Patterson; fälsch lich übersetzt von Casan, das auf irisch ›Pfad‹ bedeutet.« »Kurz, er weiß nicht genau, wer er ist«, merkte Devlin an. »Nur gelegentlich.« Cussane lächelte. »Meine Mutter kehrte nach Kriegsende 1946 nach Amerika zurück. Ein Jahr später starb sie an Grippe, und ich wurde von ihrem einzigen Ver wandten aufgenommen, einem alten Großonkel, der im Wei zenanbaugebiet von Ontario eine Farm ha tte. Ein prächtiger Mann und guter Katholik. Unter seinem Einfluß wurde ich auch Katholik.« »Und nun tritt von links der Teufel auf.« Devlin hob sein Glas. Fox schaute verwirrt drein. Cussane erklärte: »Das Seminar, das mich annahm, war ›Allerseelen‹ in Vine Landing bei Bo ston. Liam lehrte dort Englisch.« »Er machte mir allerhand zu schaffen«, meinte Devlin. »Sein Verstand war scharf wie ein Rasiermesser. Er stellte mich im mer wieder bloß, wenn ich im Hörsaal Eliot falsch zitierte.« »Ich arbeitete dann in zwei Gemeinden in Boston und später in einer in New York«, fuhr Cussane fort, »hegte aber immer die Hoffnung, eines Tages nach Irland zurückkehren zu kön nen. 1968 wurde ich endlich nach Belfast versetzt, in eine Kir che in der Falls Road.« »Die prompt im folgenden Jahr von einem protestant ischen Mob niedergebrannt wurde.« »Ich versuchte, die Gemeinde zusammenzuhalten, und hielt 72
die Gottesdienste in der Turnhalle einer Schule«, sagte Cussa ne. Fox warf Devlin einen Blick zu. »Während Sie in Belfast he rumrannten und die Flammen anfachten?« »Das möge Gott mir vergeben«, sagte Devlin demütig. »Denn ich kann es mir nicht verzeihen.« Cussane leerte sein Glas. »Ich muß mich jetzt verabschieden. Nett, Sie kennengelernt zu haben, Fox.« Er streckte die Hand aus. Fox schüttelte sie, und Cussane ging zur Terrassentür und öffnete sie. Jenseits der Gartenmauer sah Fox das Kloster aufragen. Cussane ging über den Rasen, öffnete ein Tor und ging hinaus. »Erstaunlicher Mann«, bemerkte Fox, als Devlin die Tür zu machte. »Kann man wohl sagen.« Devlin drehte sich um. Sein Lä cheln war verschwunden. »Na schön, Harry. Da Ferguson sich wie üblich mysteriös gibt, ist es wohl an dir, mir zu erläutern, was hier anliegt.« Im Hospiz war alles still. Es war grundverschieden von ei nem konventionellen Krankenhaus, und die Station war so entworfen worden, daß den Patienten die Wahl zwischen Ab geschiedenheit und Nähe zum Bettnachbarn blieb. Die Nacht schwester saß an ihrem Tisch, auf dem eine abgeschirmte Lampe das einzige Licht spendete. Sie hörte Cussane nicht herankommen, doch plötzlich stand er neben ihr, aus der Dun kelheit aufgetaucht. »Wie geht’s Malone?« »Unverändert, Pater. Nur geringe Schmerzen. Wir haben die Medikation so ungefähr ausbalanciert.« »Kann er klar denken?« »Hin und wieder.« »Ich werde zu ihm gehen.« 73
Danny Malones Bett, von den anderen durch Bücherregale und Schränke abgetrennt, stand schräg vor einem Fenster, das Ausblick auf das Gelände und den Nachthimmel bot. Die Nachtlampe an seinem Bett ließ seine Gesichtszüge scharf her vortreten. Er war nicht alt, kaum mehr als vierzig, das Haar vorzeitig weiß, das Gesicht wie ein Totenkopf unter straff ge spannter Haut, darin eingeätzt die Schmerzen des Krebses, der ihn langsam und unbarmherzig von diesem Leben ins nächste beförderte. Als Cussane sich setzte, schlug Malone die Augen auf. Erst schaute er ihn leer an, dann dämmerte es ihm. »Pater, ich hab’ schon gedacht, Sie kommen nicht mehr.« »Ich hatte es Ihnen doch versprochen, oder? Nahm nur einen kleinen Schlaftrunk mit Liam Devlin, mehr nicht.« »Oh, Pater, da haben Sie aber Glück gehabt, daß es nur bei einem blieb. Hat groß für unsere Sache gestanden, das muß ich Liam lassen. Keiner am Leben, der mehr für Irland getan hat.« »Und Sie selbst, Danny?« Cussane setzte sich auf die Bett kante. »Keiner hat tapferer für die Bewegung gekämpft als Sie.« »Aber wie viele habe ich getötet, Pater, und wofür? Da liegt der Hase im Pfeffer. Daniel O’Connel sagte einmal in einer Rede, das Ideal der Freiheit für Irland sei zwar eine gerechte Sache, aber kein einziges Menschenleben wert. Als ich noch jung war, stritt ich das ab. Jetzt, wo ich im Sterben liege, gla u be ich, daß ich weiß, was er meint.« Er verzog schmerzlich das Gesicht und schaute zu Cussane auf. »Können wir noch ein bißchen darüber reden, Pater? Das hilft mir, meine Gedanken dazu zu ordnen.« »Gut, noch ein Weilchen, aber dann brauchen Sie Ihren Schlaf«, meinte Cussane lächelnd. »Zuhören ist eine der größ ten Tugenden eines Priesters, Danny.« Malone lächelte zufrieden. »Gut, wo waren wir stehengeblie ben? Ach ja, ich erzählte Ihnen von den Vorbereitungen für die 74
Bombenkampagne in Mittelengland und Lo ndon 1972.« »Sie sagten, die Zeitungen hätten Ihnen den Spitznamen ›der Fuchs‹ gegeben«, sagte Cussane, »weil Sie scheinbar nach Be lieben zwischen England und Irland hin- und herpendelten. Alle Ihre Freunde wurden erwischt, nur Sie nicht. Wie kam das?« »Ganz einfach, Pater. Der ärgste Fluch, der auf diesem Land lastet, ist das Denunziantentum, und der zweitschlimmste die Wurstelei bei der IRA. Leute, die nur Revolution und Ideologie im Kopf haben, spucken große Töne, aber es fehlt ihnen oft völlig an gesundem Menschenverstand. Deshalb zog ich es vor, mich an die Profis zu halten.« »Profis?« »Das, was Sie als kriminelle Elemente bezeichnen würden. Zum Beispiel gab es in den Siebzigern in England kein einzi ges konspiratives Haus der IRA, das nicht früher oder später auf den Listen des Staatsschutzes bei Scotland Yard auftauchte. Deshalb wurden so viele erwischt.« »Und Sie?« »Kriminelle, die auf der Flucht sind oder eine Verschnauf pause brauchen, wenn es zu heiß wird, haben Häuser, in denen sie sich verstecken können, Pater. Zugestandenermaßen teure Verstecke, aber sichere, und die benutzte ich. Ein Platz zum Beispiel lag in Schottland südlich von Glasgow in Galloway und gehörte den Brüdern Mungo. Ein stiller Ort auf dem Land sozusagen. Die beiden sind allerdings miese Typen.« Die Schmerzen wurden plötzlich so stark, daß er nach Luft rang. »Ich hole die Schwester«, sagte Cussane besorgt. Malone packte ihn an der Soutane. »Nein, lassen Sie das. Keine Schmerzmittel mehr. Die Schwestern me inen es gut, aber genug ist genug. Reden wir weiter, Pater.« »Gut«, willigte Cussane ein. Malone legte sich zurück, schloß kurz die Augen, schlug sie dann wieder auf. »Auf jeden Fall, 75
wie ich sagte, waren diese Brüder Mungo, Hector und Angus, die miesesten Typen.« Devlin ging ruhelos im Zimmer auf und ab. »Glauben Sie das?« fragte Fox. »Klingt logisch und würde allerhand erklären«, erwiderte Devlin. »Sagen wir einfach, daß ich es im Prinzip akzeptiere.« »Und was wollen wir unternehmen?« »Wir!« Devlin funkelte ihn wütend an. »Die Unverschämt heit, die dieser Mann besitzt. Vergessen Sie nicht, Harry, als ich zuletzt einen Auftrag für Ferguson erledigte, legte er mich herein. Log mich schamlos an. Nutzte mich aus.« »Das war damals, Liam. Heute ist heute.« »Und was soll ich mit dieser Weisheitsperle anfa ngen?« Es klopfte leise an der Terrassentür. Devlin zog die Schreib tischschublade auf, nahm eine altmodische Mauser-Pistole mit birnenförmigem SS-Schalldämp fer heraus, spannte sie. Er nickte Fox zu und zog dann den Vorhang auf. Martin McGui ness schaute herein und hatte Murphy neben sich. »Guter Gott!« stöhnte Devlin. Er öffnete die Tür und ließ den lächelnden McGuiness ein. »Gott segne alle Anwesenden«, meinte McGuiness spöttisch und sagte zu Murphy: »Behalte die Glastür im Auge, Michael.« Er schloß sie, ging ans Feuer und wärmte sich die Hände. »Hm, ‘s wird kälter, wenn die Nacht hereinbricht.« »Was willst du?« fragte Devlin ungehalten. »Hat der Captain dir die Situation bereits dargelegt?« »Allerdings.« »Und was denkst du?« »Überhaupt nichts«, versetzte Devlin. »Ganz besonders nicht, was euren Verein angeht.« »Zweck des Terrorismus ist die Verbreitung von Te rror, das hat Mick Collins immer gesagt«, gab McGuiness scharf zu 76
rück. »Ich kämpfe für mein Land, Liam, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Es herrscht Krieg.« Er war nun zornig gewor den. »Ich brauche mich für nichts zu rechtfertigen.« »Darf ich vielleicht auch einmal etwas sagen?« warf Fox ein. »Wenn wir akzeptieren, daß Cuchulain existiert, geht es nicht darum, Partei zu ergreifen, sondern um die Tatsache, daß er die tragischen Vorfälle der vergangenen dreizehn Jahre mit seinen Taten unnötig in die Länge gezogen hat.« McGuiness schenkte sich unaufgefordert einen Whiskey ein. »Da hat er nicht unrecht. Als ich 1972 das Oberkommando in Londonderry hatte, wurde ich zusammen mit Daithi O’Connell, Seamus Twomey, Ivor Bell und anderen zu Friedensverhand lungen mit Willie Whitelaw nach Lo ndon geflogen.« »Und die Schießerei in der Lenadoon-Siedlung brach den Waffenstillstand«, ergänzte Fox und wandte sich an Devlin. »Partei ergreifen scheint mir hier nicht mehr die Frage zu sein. Cuchulain hat diese ganze Schweinerei mit voller Absicht in Gang gehalten. Man sollte doch meinen, jeder Versuch, dem Einhalt zu gebieten, wäre die Mühe wert.« »Moralische Argumente?« Devlin hob die Hand und grinste spöttisch. »Nun gut, kommen wir zur Sache. Da ist dieser Lewin, der Cuchulain oder Kelly, oder wie er sonst heißen mag, vor Jahren tatsächlich zu Gesicht bekam. Ich nehme an, daß Ferguson ihm Bilder von allen bekannten KGB-Agenten gezeigt hat.« »Und von allen bekannten Anhängern der IRA, UDA und UVF. Von allen Organisationen«, sagte Fox. »Dazu gehört, was beim Staatsschutz in Dublin vorliegt. Wir tauschen nä m lich Informationen aus.« »Trau ich den Schweinen auch zu«, sagte McGuiness bitter. »Trotzdem glaube ich, daß wir ein paar haben, die weder bei der Polizei in Dublin noch bei Ihnen in Lo ndon bekannt sind.« »Und wie führen wir das nun praktisch durch?« wollte Fox 77
wissen. »Sie fliegen Lewin rüber, und er schaut sich zusammen mit Devlin unser Material an – und sonst niemand. Einverstan den?« Fox warf Devlin einen Blick zu. Devlin nickte. »Okay«, er klärte Fox. »Ich rufe den Brigadier noch he ute abend an.« »Vorzüglich.« McGuiness wandte sich an Devlin. »Bist du auch sicher, daß dein Telefon nicht angezapft ist? Dabei denke ich an diese Brüder vom Staatsschutz.« Devlin zog eine Schreibtischschublade auf und entnahm ihr einen schwarzen Metallkasten, den er gleich einschaltete. Eine rote Kontrolleuchte flammte auf. Er ging ans Telefon und hielt das Gerät darüber. Keine Reaktion. »Ja, ja, die Wunder des elektronischen Zeitalters«, bemerkte er und legte das Gerät wieder weg. »Gut«, meinte McGuiness. »Es wissen also nur Ferguson, Sie, Captain, Liam, der Stabschef und ich selbst über diese Angelegenheit Bescheid.« »Und Professor Paul Tscherny«, warf Fox ein. McGuiness nickte. »Stimmt. Was den betrifft, müssen wir etwas unternehmen.« Er wandte sich an Devlin. »Kennst du ihn persönlich?« »Ich habe ihn bei Cocktailparties an der Universität kenne ngelernt und ein paar unverbindliche Worte mit ihm gewechselt, mehr nicht. Er ist recht beliebt. Witwer; seine Frau, starb, ehe er in den Westen floh. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß er in diese Sache verwickelt ist.« »Ja, und wenn Schweine Flügel hätten…«, warf McGuiness knapp hin. »Die Tatsache, daß er ausgerechnet nach Irland übergelaufen ist, riecht nur zu sehr nach Zufall. Wetten, daß er unseren Mann kennt? Warum schnappen wir ihn eigentlich nicht und quetschen es aus ihm heraus?« »Manche Männer lassen sich nicht ausquetschen«, entgegnete 78
Fox. »Da hat er recht«, meinte Devlin. »Versuchen wir es erst einmal auf die sanfte Tour.« »Meinetwegen«, sagte McGuiness. »Ich lasse ihn rund um die Uhr überwachen und Michael Murphy die Verantwortung übernehmen. Von nun an kann er nicht mal mehr aufs Klo, ohne daß wir Bescheid wissen.« Devlin warf Fox einen Blick zu. »Recht so?« »Ja«, gab Fox zurück. »Gut.« McGuiness knöpfte seinen Regenmantel zu. »Ich zie he wieder los. Billy bleibt zurück und paßt auf Sie auf, Cap tain.« Er öffnete die Terrassentür. »Halte deinen Rücken ge deckt, Liam.« Dann war er verschwunden. Ferguson saß im Bett, als Fox anrief, arbeitete sich durch ei nen Aktenberg, bereitete sich auf eine Sitzung des Verteidi gungskomitees am nächsten Tag vor. Was Fox zu sagen hatte, hörte er sich geduldig an. »So weit, so gut, Harry, soviel ich sehe. Lewin verbrachte den ganzen Tag im Direktorat und sah sich alles an, was dort vorliegt. Ergebnis: Null.« »Es ist lange her, Sir. Cuchulain hat sich seither vie lleicht sehr verändert, und nicht nur, weil er älter geworden ist. Zum Beispiel könnte er jetzt einen Bart tragen.« »Negatives Denken, Harry. Ich setze Lewin in die Morge nmaschine nach Dublin, aber Devlin wird ihn dort übernehmen müssen. Ich brauche Sie nämlich hier.« »Aus einem bestimmten Grund, Sir?« »Hat vorwiegend mit dem Vatikan zu tun. Es sieht in der Tat langsam so aus, als käme der Papst doch nicht. Er hat aller dings Kardinäle aus Argentinien und Großbritannien zu einer Besprechung eingeladen.« »Der Besuch könnte also immer noch stattfinden?« »Unter Umständen ja, aber von unserem Standpunkt aus ge sehen ist es interessanter, daß der Krieg weitergeht und die 79
Argentinier Gerüchten zufolge versuchen, sich diese verdamm ten Exocet- Raketen in Europa auf dem Schwarzmarkt zu be schaffen. Harry, ich brauche Sie. Nehmen Sie den nächstver fügbaren Flug. Ach ja, und eine hochinteressante Entwicklung. Erinnern Sie sich noch an Tanja Woroninowa?« »Selbstverständlich, Sir.« »Sie ist in Paris und gibt eine Reihe von Konzerten. Ist es nicht faszinierend, daß sie ausgerechnet in diesem Moment auftaucht?« »Meinen Sie das, was Jung als Synchronizität bezeichnet?« »Jung, Harry? Was schwatzen Sie da?« »C. G. Jung, Sir. Berühmter Schweizer Psychoanalytiker. Prägte den Begriff, um zeitgleiche Ereignisse zu bezeichnen, die auf eine tieferliegende Motivation zurückzuführen sind.« »Gut, Sie waren in Irland, Harry. Aber das ist kein Grund, sich zu benehmen, als wären Sie nicht ganz gescheit«, sagte Ferguson gereizt. Er legte auf, blieb nachdenklich sitzen, stand dann auf, zog seinen Schlafrock an und ging hinaus. Er klopfte an die Tür des Gästezimmers und trat ein. Lewin saß in einem von Fergusons Schlafanzügen im Bett und las ein Buch. Ferguson setzte sich auf die Bettkante. »Nachdem Sie sich so viele Bilder angesehen haben, dachte ich, Sie seien müde.« Lewin lächelte. »Wenn Sie erst einmal in meinem Alter sind, Brigadier, will der Schlaf nicht so leicht kommen, und die Er innerungen drängen sich auf. Man fragt sich, worum es eigent lich ging.« Ferguson erwärmte sich für den Mann. »Geht es uns nicht al len so? Sagen Sie, wie war’s mit einem kleinen Ausflug nach Dublin mit der Frühmaschine?« »Soll ich mich mit Captain Fox treffen?« »Nein, der kommt hierher zurück, aber ein Freund von mir, Professor Liam Devlin vom Trinity-College, wird sich um Sie 80
kümmern und Ihnen wahrscheinlich Bilder zeigen, die unsere Freunde von der IRA zur Verfü gung stellen. Aus naheliege nden Gründen darf ich die natürlich nicht sehen.« Der alte Russe schüttelte den Kopf. »Sagen Sie, Brigadier, fand der letzte aller Kriege 1945 ein Ende, oder befinde ich mich im Irrtum?« »Jawohl, und nicht nur Sie, mein Freund.« Ferguson stand auf und ging zur Tür. »Ich würde mich an Ihrer Stelle jetzt aufs Ohr legen. Wenn Sie die erste Maschine ab Heathrow erwi schen wollen, müssen Sie um sechs aufstehen. Ich lasse Ihnen von Kim das Frühstück ans Bett bringen.« Er schloß die Tür. Lewin saß noch eine Weile betrübt da, seufzte dann, klappte das Buch zu, löschte das Licht und schlief ein. In Kilrea legte Fox den Hörer auf und wandte sich an Devlin. »Alles arrangiert. Er kommt mit der ersten Maschine. Leider geht mein Flug kurz davor ab. Er wird sich am Informations stand in der Haupthalle melden. Sie können ihn dort abholen.« »Nicht nötig«, erwiderte Devlin. »Ihr Aufpasser, der junge White, wird Sie zum Flughafen bringen und kann dann gleich Lewin abholen und hierherfahren. Das ist am einfachsten. Mag sein, daß McGuiness früh Kontakt aufnimmt, um mir zu sagen, wohin ich ihn bringen soll.« »Gut«, erwiderte Fox. »Dann mach’ ich mich auf die Beine.« Devlin holte seinen Mantel und begleitete ihn hinaus zum Wagen, in dem Billy White geduldig wartete. »Zurück zum Westbourne, Billy«, sagte Fox. Devlin trat an die Fahrerseite. »Nehmen Sie sich für die Nacht ein Zimmer, und tun Sie am Morgen genau, was der Captain Ihnen sagt. Andernfalls bekommen Sie es mit mir zu tun, und was dann noch von Ihnen übrig ist, dreht McGuiness durch den Wolf.« Billy White grinste liebenswürdig. »Wird gemacht. Wenn ich 81
meinen guten Tag habe, schieße ich fast genausogut wie Sie, Mr. Devlin, sagen die Jungs.« »Los schon, ab mit Ihnen.« Der Wagen fuhr an. Devlin sah ihm nach, drehte sich dann um und ging hinein. Im Gebüsch rührte sich etwas, ein Schritt, ein winziges Geräusch nur, als jemand sich entfernte. Die Lauschgeräte, mit denen das KGB Cuchulain versorgt hatte, waren die modernsten der Welt, ursprünglich von einer japanischen Firma entwickelt. Die Konstruktionsdetails hatten Moskau wie üblich durch Ind ustriespionage schon vor vier Jahren erreicht. Das Richtmikrophon nahm über mehrere hun dert Meter jedes Wort auf, das in Devlins Haus fiel. Ein UHFGerät fing auch noch das leiseste Telefongespräch ab. Beide Einrichtungen waren mit einem empfindlichen Aufnahmegerät gekoppelt. Das Ganze befand sich in einem kleinen Speicher hinter den Wassertanks unter dem Ziegeldach des Hauses. Cuchulain hat te Liam Devlin nun schon lange auf diese Weise belauscht, so etwas Interessantes aber bisher noch nicht zu hören bekommen. Er saß auf dem Speicher, rauchte eine Zigarette, ließ das Band über leere und uninteressante Stellen rasch zurücklaufen und hörte sich das Telefongespräch mit Ferguson aufmerksam an. Danach blieb er eine Weile sitzen und dachte nach. Dann spulte er das Band zurück, ging nach unten und verließ das Haus. In der Telefonzelle am Ende der Dorfstraße beim Pub wählte er eine Nummer in Dublin. Es wurde fast sofort abge hoben. Er hörte Stimmen, ein jä hes Gelächter, leise MozartKlänge. »Tscherny.« »Ich bin’s. Bist du nicht allein?« Tscherny lachte locker. »Ich hab’ nur ein paar Freunde von der Fakultät zum Abendessen hier.« »Ich muß dich sprechen.« 82
»Gut«, erwiderte Tscherny. »Morgen nachmittag, übliche Zeit, üblicher Ort.« Cuchulain hängte den Hörer ein, verließ die Zelle, ging die Dorfstraße entlang zurück und pfiff leise vor sich hin, die Me lodie eines alten Volkslieds aus Connemara, die alle Verzweif lung, alle Trauer des Lebens in sich barg. 5 Fox verbrachte eine höchst unangenehme Nacht und fand so wenig Schlaf, daß er sich unruhig und nicht sehr wohl fühlte, als Billy White den Wagen geschickt durch den Frühverkehr zum Flughafen steuerte. Der junge Ire indes war heiter ge stimmt und klopfte im Takt der Musik aus dem Radio aufs Lenkrad. »Kommen Sie wieder, Captain?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht.« »Na, zuviel haben Sie für unser Land bestimmt nicht übrig«, meinte er mit einer Kopfbewegung zu Fox’ Handprothese hin. »Es hat Sie allerhand gekostet.« »So?« versetzte Fox. Billy steckte sich eine Zigarette an. »Das Dumme an euch Briten ist: Ihr stellt euch nie der Tatsache, daß Irland Ausland ist. Nur weil wir Englisch sprechen…« »Falls es Sie interessieren sollte, meine Mutter hieß mit Mäd chennamen Fitzgerald und kam aus der Grafschaft Mayo«, bemerkte Fox. »Sie arbeitete bei der Gälischen Liga mit, pfleg te eine lebenslange Freundschaft mit de Valera und sprach vor züglich Irisch, eine Sprache, die ich sehr schwer fand, als sie versuc hte, sie mir als Junge beizubringen. Können Sie Irisch, Billy?« »Der Herr sei uns gnädig, Captain, nein«, sagte White er 83
staunt. »Dann tun Sie mir bitte den Gefallen und sparen Sie sich das Gelaber über die Engländer, die die Iren nicht verstehen.« Er betrachtete mißmutig den Verkehr. Links von ihnen hielt ein Polizist auf einem Motorrad an, eine finstere Gestalt mit Schutzbrille, Sturzhelm und einem schweren Cape zum Schutz gegen den Wolkenbruch dieses frühen Morgens. Er warf Fox einen Seitenblick zu, anonym unter der dunklen Schutzbrille, und fiel zurück, als sie die Einfahrt zum Flughafen nahmen. Billy ließ den Wagen auf dem Platz für Kurzparker stehen. Als sie die Haupthalle betraten, wurde Fox’ Flug bereits ausge rufen. Cuchulain, der sie schon vom Hotel aus verfolgt hatte, stand neben der Tür, durch die sie eingetreten waren, und sah zu, wie Fox eincheckte. Fox und Billy gingen zum Abflug. »Noch eine Stunde, bis die British-Airways-Maschine landet.« »Genug Zeit für ein ordentliches Frühstück.« Billy grinste. »Hatten eine gute Zeit miteinander, Captain.« »Wir sehen uns wieder, Billy.« Fox streckte die gesunde Hand aus, die Billy leicht zögernd ergriff. »Sehen Sie aber zu, daß Sie nicht am falschen Ende irgendeiner Straße in Belfast stehen. Wäre schade, wenn ich Sie ins Visier bekäme, Captain.« Fox wandte sich zum Flugsteig, Billy durchquerte die Halle und ging die Treppe zur Restaurant-Terrasse hoch. Cuchulain schaute ihm nach, ging dann hinaus und über die Straße zum Parkplatz, wo er wartete. Eine Stunde später war er wieder in der Halle und sah sich die Anzeigetafel für eintreffende Flüge an. Die British Airways aus London war gerade gelandet. Er sah, wie White auf den Informationsstand zuging und mit einer Angestellten sprach. Kurz darauf kam eine Durchsage. »Mr. Viktor Lewin, Passagier aus London, bitte am Informa 84
tionsstand melden.« Wenige Augenblicke später löste sich die untersetzte Gestalt des Russen aus der Menge. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich und trug einen recht weiten, braunen Rege nmantel und einen weichen Filzhut. Cuchulain spürte, daß dies seine Beute war, noch ehe Lewin eine Angestellte ansprach, die auf White wies. Sie gaben sich die Hand. Cuchulain beobachtete sie noch kurz, als White zu reden begann, drehte sich dann um und ging. »Dies ist also Irland?« meinte Lewin auf der Fahrt in die Stadt. »Ihr erster Besuch?« »O ja. Ich stamme aus Rußland und war nicht oft im Aus land.« »Aus Rußland?« fragte Billy. »Mein Gott, da werden Sie es hier aber ganz anders finden.« »Und dies ist Dublin?« erkundigte sich Lewin, als sie im Verkehrsstrom in die Stadt rollten. »Ja. Kilrea, unser Ziel, liegt auf der anderen Seite.« »Eine Stadt mit bedeutender Vergangenheit«, bemerkte Le win. »So kann man es auch sehen«, kommentierte White. »Ich fahre Sie über den Parnell Square, der liegt auf dem Weg. Par nell war zwar Protestant, aber trotzdem ein großer Patriot. Und dann durch die O’Connell Street und vorbei am Hauptpostamt, wo die Jungs 1916 gegen die ganze verfluchte britische Armee aushielten.« »Gut. Das würde ich sehr gerne sehen.« Lewin lehnte sich in seinen Sitz zurück und nahm mit Interesse die vorbeigleitende Szenerie auf. In Kilrea ging Devlin über den Rasen hinter seinem Haus, schloß das Tor in der Mauer auf und rannte auf den Hinterein gang des Hospizes zu, denn aus dem Regen war unvermittelt ein Wolkenbruch geworden. Schwester Anne-Marie durchquer 85
te die Halle, begleitet von zwei weißgekleideten jungen Assi stenzärzten, die ihr von Dublins University College überstellt worden waren. Sie war eine kleine, schmächtige Frau, sehr rüstig für ihre siebzig Jahre, und trug einen weißen Kittel über ihrer Nonne ntracht. Sie hatte an der University of London Medizin studiert und war Mitglied des königlichen Ärztekollegiums. Eine Dame also, die man nicht unterschätzen durfte. Sie und Devlin waren alte Gegner. Sie war einmal Französin gewesen, doch vor Ur zeiten, wie Devlin ihr zu gerne in Erinnerung brachte. »Und was können wir für Sie tun, Professor?« fragte sie un freundlich. »Das sagen Sie, als wäre gerade der Leibhaftige durch die Tür gekommen«, versetzte Devlin. »Eine verblüffend akkurate Bemerkung.« Sie gingen die Treppe hoch. »Wie geht es Danny Malone?« fragte Devlin. »Er stirbt«, gab sie ruhig zurück. »In Frieden, hoffe ich. Er gehört zu den Patienten, die günstig auf unsere Medikation ansprechen, was bedeutet, daß er nur hin und wieder Schmer zen hat.« Sie erreichten den ersten großen Krankensaal. »Wann?« frag te Devlin. »Heute nachmittag, morgen – nächste Woche.« Sie hob die Schultern. »Er ist eine Kämpfernatur« »Wohl wahr«, meinte Devlin. »Hat sich sein Leben lang für die Bewegung eingesetzt, der Danny.« »Pater Cussane kommt jeden Abend vorbei«, sagte sie, »setzt sich zu ihm und läßt ihn von seiner gewalttätigen Vergange n heit reden. Nun, da das Ende nahe ist, bedrückt sie ihn, glaube ich. Die IRA, die Morde.« »Darf ich mich für eine Weile zu ihm setzen?« »Eine halbe Stunde«, erklärte sie fest und entfernte sich, ge 86
folgt von ihren Assistenzärzten. Malone schien zu schlafen: Augen geschlossen, Haut straff über die Gesichtsknochen gespannt, pergamentgelb. Seine Fin ger waren in die Kante der Bettdecke verkrallt. Devlin setzte sich. »Bist du wach, Danny?« »Ah, da sind Sie ja, Pater.« Malone schlug die Augen auf, blinzelte schwach, runzelte die Stirn. »Liam, bist du das?« »Kein anderer.« »Ich dachte, es sei Pater Cussane. Wir haben uns gerade un terhalten.« »Gestern abend, Danny. Du mußt eingeschlafen sein. Du weißt doch, daß er tagsüber in Dublin im Sekretariat arbeitet.« Malone leckte sich die trockenen Lippen. »Gott, hab’ ic h Lust auf eine Tasse Tee.« »Mal sehen, ob ich dir eine besorgen kann.« Devlin stand auf. In diesem Augenblick entstand im Erdgeschoß ein Aufruhr, laute Stimmen drangen nach oben. Devlin zog die Brauen zu sammen und eilte zur Treppe. Billy White bog von der Hauptstraße in die schmale Neben straße ab, die durch eine Kiefernschonung nach Kilrea führte. »Jetzt ist es nicht mehr weit.« Er wandte halb den Kopf, um mit Lewin auf dem Rücksitz zu sprechen, und stellte mit einem Blick durch die Heckscheibe fest, daß hinter ihnen ein Krad fahrer der Gardai von der Hauptstraße abgebogen war. »Gardai«, sagte Billy zu Lewin. »Bedeutet Polizei. Eine Meile Geschwindigkeitsüberschreitung, und die Kerle verpas sen einem einen Knollen.« Der Kradfahrer kam längsseits und winkte sie zum Straßen rand. Da er Sturzhelm und dunkle Schutzbrille trug, konnte White nichts an ihm erkennen. Ärgerlich kam er am Bankett zum Stehen. »Was der bloß von uns will? Ich bin keinen Strich über dreißig Meilen gefahren.« 87
Der Instinkt, der ihn über viele Jahre der Gewalt hinweg am Leben gehalten hatte, machte ihn nun argwö hnisch genug, die Hand auf den Knauf des Revolvers in der linken Tasche des Regenmantels zu legen, als er ausstieg. Der Polizist bockte sein Motorrad auf. Er zog die Handschuhe aus und drehte sich um. Sein Regenmantel war triefnaß. »Und was darf’s an diesem schönen Morgen sein?« fragte Billy aufsässig. Die Hand des Polizisten kam aus der rechten Tasche seines Regenmantels, hielt eine Walther, an deren Lauf ein CarswellSchalldämpfer befestigt war. All dies nahm White im letzten Augenblick seines von Gewalt bestimmten Lebens wahr, als er verzweifelt versuchte, den Revolver zu ziehen. Die Kugel durchschlug sein Herz und schleuderte ihn zurück gegen den Wagen. Er prallte ab und fiel mit dem Gesicht auf die Straße. Auf dem Rücksitz war Lewin vor Entsetzen wie gelähmt, empfand aber keine Angst, denn die Szene hatte etwas Unver meidliches an sich, als sei sie ihm vorbestimmt. Der Polizist machte die Tür auf und schaute hinein. Nach einer Pause schob er die Schutzbrille hoch. Lewin schaute ihn erstaunt an. »Guter Gott im Himmel«, sag te er auf russisch. »Sie!« »Ja«, gab Cuchulain in derselben Sprache zurück. »Bedaure«, und schoß ihm in den Kopf. Die Walther verursachte kaum mehr als ein Bellen. Er steckte die Waffe weg, ging zurück zum Motorrad, schob es vom Ständer und fuhr weg. Keine fünf Minuten später stieß ein Lieferwagen, der Brot fürs Dorf brachte, auf das Blutbad. Fahrer und Beifahrer stiegen aus und näherten sich furchtsam der Szene. Der Fahrer beugte sich vor und sah White an. Auf ein leises Stöhnen aus dem Wageninneren hin warf er rasch einen Blick hinein. »Mein Gott!« schrie er. »Da lebt noch einer. Los, fahr mit dem Lieferwagen ins Dorf, so schnell du kannst, und laß den 88
Krankenwagen vom Hospiz kommen.« Als Devlin gerade die Empfangshalle erreichte, schob man Viktor Lewin gerade in die Aufnahme. »Schwester Anne-Marie ist auf Station drei. Sie kommt gleich runter«, hörte er einen Mann vom Krankenwagen zu der jungen Schwester vom Dienst sagen. Der Fahrer des Brotwa gens stand hilflos da, Blut an einem Ärmel seines Overalls. Er zitterte heftig. Devlin zündete eine Zigarette an und reichte sie ihm. »Was ist passiert?« »Weiß der Himmel. Wir fanden zwei Meilen von hier an der Straße ein Auto. Einer lag tot daneben, er da auf dem Rücksitz. Den anderen bringen sie gerade herein.« Als sich Devlin, erfüllt von einer schrecklichen Vorahnung, zum Eingang umdrehte, kamen die Sanitäter mit Billy Whites Leiche, dessen Gesicht deutlich zu erkennen war, hereingeeilt. Die junge Schwester hastete aus der Aufnahme, um White zu untersuchen. Devlin trat rasch ein und näherte sich der Bahre, auf der Lewin noch lag, leise stöhnend. An seiner gräßlichen Kopfwunde begann das Blut zu gerinnen. Devlin beugte sich über ihn. »Professor Lewin, verstehen Sie mich?« Lewin schlug die Augen auf. »Ich bin Liam Devlin. Was ist passiert?« Lewin versuchte zu sprechen, streckte eine Hand aus und griff nach Devlins Jackenaufschlag. »Ich habe ihn erkannt. Es war Cuchulain. Er ist hier.« Er verdrehte die Augen, röchelte, und als sein Griff erschlaff te, kam Schwester Anne-Marie hereingeeilt. Sie stieß Devlin beiseite, beugte sich über Lewin, tastete nach dem Puls. »Ken nen Sie diesen Mann?« »Nein«, erwiderte Devlin einigermaßen aufrichtig. »Macht jetzt auch keinen Unterschied mehr«, sagte sie. »Er ist nämlich tot. Bei dieser Verletzung ein Wunder, daß er nicht auf der Stelle gestorben ist.« 89
Sie rauschte an ihm vorbei in den Nebenraum, in den man White gebracht hatte. Devlin blieb stehen und schaute sich Le win an, dachte an das, was Fox ihm über den alten Mann er zählt hatte, die langen Jahre des Wartens auf die Flucht. Und so hatte er enden müssen. Da überkam ihn eine Wut auf den bru talen schwarzen Humor des Lebens, der so etwas geschehen lassen konnte. Harry Fox war gerade erst am Cavendish Square eingetroffen und kaum aus dem Mantel geschlüpft, als das Telefon ging. Ferguson lauschte ernst und legte dann die Hand über die Sprechmuschel. »Liam Devlin. Es sieht so aus, als sei der Wa gen mit Ihrem Mann Billy White und Lewin kurz vor Kilrea überfallen worden. White war auf der Stelle tot, Lewin starb später in Kilreas Hospiz.« »Hat Liam ihn noch zu sehen bekommen?« fragte Fox. »Ja. Lewin sagte ihm, es sei Cuchulain gewesen, er habe ihn erkannt.« Fox warf seinen Mantel auf den nächstbesten Stuhl. »Das verstehe ich einfach nicht, Sir.« »Ich auch nicht, Harry.« Ferguson hob den Hörer. »Ich rufe zurück, Devlin.« Dann legte er auf, drehte sich um und hielt die Hände ans Feuer. Fox sagte: »Das ist unerklärlich. Wie kann er es erfa h ren haben?« »Über eine undichte Stelle irgendwo auf IRA-Seite. Diese Leute können nie den Mund halten.« »Die Frage ist jetzt, Sir: was unternehmen wir?« »Wichtiger noch: was tun wir in Sachen Cuchulain?« gab Ferguson zurück. »Dieser Herr reizt mich langsam.« »So gut wie nichts, seit Lewin ausgefallen ist. Immerhin war er der einzige, der eine Ahnung hatte, wie der Kerl aussieht.« »Das stimmt nicht ganz«, wandte Ferguson ein. »Sie verge s sen Tanja Woroninowa, die im Moment in Paris ist. Zehn Ta 90
ge, vier Konzerte. Das eröffnet uns eine sehr interessante Mög lichkeit.« Ungefähr um die gleiche Zeit saß Harry Cussane an seinem Schreibtisch im Pressebüro des katholischen Sekretariats in Dublin und besprach sich mit Monsignor Halloran, der für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich war. Aus seinem beque men Sessel erklärte Halloran: »Schrecklich, daß ein historisch so bedeutsames Ereignis wie der Papstbesuch in England so gefährdet ist. Es wäre der erste Papst, der in dieses Land kommt. Aber nun…« »Glauben Sie denn, daß abgesagt wird?« fragte Cussane. »Nun, in Rom wird weiterverhandelt, das ist zumindest der Eindruck, den ich habe. Wissen Sie mehr?« »Nein«, gab Cussane zurück und griff nach einem maschine beschriebenen Blatt. »Das bekam ich aus London. Sein Ter minplan. Man tut also noch so, als käme er.« Er überflog die Seite. »Ankunft am Morgen des 28. Mai, Flughafen Gatwick. Messe in der Westminster-Kathedrale in London. Nachmittags bei der Queen im Buckingham-Palast.« »Und Canterbury?« »Ist für den folgenden Tag angesetzt, Samstag. Früh ein Tref fen mit Ordensleuten in einem Londoner College. Vorwiegend Mönche und Nonnen aus geschlossenen Orden. Dann per Hub schrauber nach Canterbury mit Zwischenstopp in Stokely Hall. Dieser Besuch ist übrigens inoffiziell.« »Aus welchem Grund?« »Die Stokelys waren eine der bedeutenden katholischen Fa milien, die Heinrich VIII. überlebten und über die Jahrhunderte hinweg an ihrem Bekenntnis festhielten. Das Anwesen ist in zwischen vom National Trust übernommen worden und enthält ein Kleinod: die Privatkapelle der Familie. Seine Heiligkeit wünscht dort zu beten. Anschließend steht Canterbury auf dem Programm.« 91
»Alles im Moment aber nur auf dem Papier«, bemerkte Hal loran an. Das Telefon ging. Cussane hob ab. »Pressebüro, Cussane.« Seine Miene wurde ernst. »Kann ich irgend etwas tun?« fragte er. Eine Pause. »Gut, dann sehen wir uns später.« »Probleme?« fragte Halloran. Cussane legte den Hörer auf. »Das war ein Freund aus Kilrea, Liam Devlin vom Trinity-College. Sieht so aus, als hätte es vorm Dorf eine Schießerei gegeben. Zwei Männer wurden ins Hospiz eingeliefert. Beide tot.« Holloran bekreuzigte sich. »Bestimmt ein politisches Motiv.« »Einer der beiden war als IRA-Mitglied bekannt.« »Werden Sie gebraucht? Gehen Sie, wenn es sein muß.« »Überflüssig.« Cussane lächelte traurig. »Diese beiden brauchen jetzt einen Gerichtsarzt, Monsignore, und keinen Priester.« »Natürlich. Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten.« Hallo ran ging hinaus. Cussane steckte sich eine Zigarette an, stellte sich ans Fenster und schaute hinab auf die Straße. Schließlich drehte er sich um, setzte sich an seinen Schreibtisch und mach te sich wieder an die Arbeit. Paul Tscherny hatte Räumlichkeiten im Trinity-College, was ihm, da das College vielen als Zentrum von Dublin galt, sehr zupaß kam. Aber er fand an dieser außergewöhnlichen Stadt überhaupt alles anziehend. Übergelaufen war er auf Maslowskis ausdrücklichen Befehl hin. Einem KGB-General widersprach man nicht. Laut Plan hatte er in Irland um Asyl zu ersuchen. Es stand fest, daß ihm eine der Universitäten eine Stelle anbieten würde; sein interna tionaler Ruf garantierte das. Damit war er in einer perfekten Position, um als Cuchulains Agentenführer zu agieren. An fangs, als es in Dublin noch keine Sowjetbotschaft gab und immer über London gearbeitet werden mußte, war das schwie rig, doch seit man dieses Problem gelöst hatte, gaben ihm seine 92
KGB-Kontakte in der Dubliner Botschaft einen direkten Draht nach Moskau. Ja, es waren schöne Jahre gewesen, und Dublin war das Pa radies, von dem er immer schon geträumt hatte. Geistige Frei heit, anregende Gesellschaft und eine Stadt, die er liebengelernt hatte. Daran dachte er, als er am Nachmittag den College-Park durchquerte und auf den Fluß zuhielt. Michael Murphy fo lgte ihm in diskretem Abstand. Tscherny, der nicht merkte, daß er verfolgt wurde, ging flott am Liffey entlang, bis er Usher’s Quay erreichte. Dort stand eine recht häßliche viktorianische rote Backsteinkirche, die er betrat. Murphy blieb stehen und sah sich das Namensschild mit der abblätternden Goldfarbe an. »Unsere Liebe Frau, Königin des Universums«, stand darauf, darunter die Messezeiten. Beichten wurden wochentags um ein und fünf Uhr gehört. Murphy drückte die Tür auf und ging hinein. Es war der Typ Bau, den reiche Handelsleute während der Blütezeit des Hafens im neunzehnten Jahrhundert finanziert hatten: viktorianisches Buntglas und imitierte Wasserspeier in Mengen, dazu der übliche Geruch von Kerzen und Weihrauch. Vor zwei Beichtstühlen stand ein halbes Dutzend Menschen. Tscherny gesellte sich zu ihnen, nahm am Ende einer Bank Platz und wartete sehr geduldig. »Herrje!« murmelte Murphy überrascht. »Der Kerl muß eine Erleuchtung gehabt haben!« Er nahm hinter einer Säule Auf stellung und wartete. Tscherny kam erst nach fünfzehn oder zwanzig Minuten an die Reihe. Er schlüpfte in den eichenen Beichtstuhl, schloß die Tür, setzte sich und neigte das Haupt zum Gitter. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, sagte er auf russisch. »Sehr komisch, Paul«, kam die Antwort in derselben Sprache von jenseits des Gitters. »Mal sehen, ob dir das Grinsen ver geht, wenn du hörst, was ich zu erzä hlen habe.« 93
Als Cuchulain geendet hatte, sagte Tscherny: »Was willst du tun?« »Kein Grund zur Panik. Sie wissen nicht, wer ich bin, und da ich Lewin ausgeschaltet habe, werden sie es wahrscheinlich auch nicht erfahren.« »Und ich?« fragte Tscherny. »Wenn Lewin ihnen verraten hat, was vor Jahren in Drumore vorging, muß er auch gesagt haben, welchen Part ich dort spielte.« »Aber sicher. Du stehst jetzt unter Überwachung. IRA, nicht der britische Geheimdienst. Brauchst dir also vorerst noch kei ne Sorgen zu machen. Setz dich mit Moskau in Verbindung. Maslowski muß informiert werden. Mag sein, daß er uns her ausholen will. Ich rufe heute abend noch einmal an. Und über deinen Schatten brauchst du dich nicht aufzuregen. Den servie re ich ab.« Tscherny ging hinaus. Durch einen Türspalt sah Cuchulain, wie Murphy hinter der Säule hervorkam und ihm folgte. Die Tür zur Sakristei wurde geöffnet und laut hallend zuge schlagen, und eine alte Putzfrau kam durch den Mittelgang, als der Priester den Beichtstuhl verließ. »Sind Sie fertig, Pater?« »Ja, Ellie.« Harry Cussane wandte sich mit einem charman ten Lächeln ab, zog sich die Stola von den Schultern und be gann sie zusammenzufalten. Murphy, der keinen Grund zu der Annahme hatte, daß Tschernys Absicht nicht die Rückkehr zum College war, hielt sich ein Stück hinter ihm. Tscherny blieb stehen und betrat eine Telefonzelle. Dort blieb er nicht lange, und Murphy, der sich unter einen Baum stellte, als suchte er Schutz vor dem Regen, schlich wie der hinter ihm her. Vor ihm fuhr ein Wagen an den Straßenrand, und der Fahrer, ein Priester, stieg aus und betrachtete sich den rechten Vorder 94
reifen. Er schaute sich um, erblickte Murphy und fragte: »Ha ben Sie einen Augenblick Zeit?« Murphy verlangsamte seinen Schritt und sagte: »Entschuld i gung, Pater, aber ich habe eine Verabredung.« Da lag die Hand des Priesters auf seinem Arm, und der Lauf der Walther bohrte sich schme rzhaft in Murphys Seite. »Ganz sachte jetzt, so ist’s recht. Schön weitergehen.« Cussane schob ihn auf Steinstufen zu, die hinunter zu einem verrotteten hölzernen Landungssteg führten. Sie gingen über die rissigen Planken, ihre Schritte hallten hohl. Nun erreichten sie ein Bootshaus mit eingefallenem Dach und Löchern im Fußboden. Murphy hatte keine Angst, sondern war aktionsbe reit, wartete auf seine Chance. »Das genügt«, sagte Cussane. Murphy blieb stehen, kehrte ihm den Rücken zu, ha tte eine Hand am Griff der Automatic in der Tasche seines Regenma n tels. »Sind Sie wirklich Priester?« fragte er. »Gewiß«, gab Cussane zurück. »Leider kein besonders guter, aber ein echter.« Murphy drehte sich langsam um. Seine Hand kam aus der Tasche, aber schon zu spät. Die Walther bellte zweimal. Das erste Geschoß traf Murphy in die Schulter und wirbelte ihn herum. Die zweite Kugel schleuderte ihn kopfüber in ein Loch im Boden, und er stürzte hinab ins schwarze Wasser. Dimitri Lubow, offiziell Handelsattache an der Sowjetbot schaft, war in Wirklichkeit ein Hauptmann des KGB. Nachdem er Tschernys vorsichtig formulierte Botschaft erhalten hatte, verließ er sein Büro und ging in ein Kino im Stadtzentrum. Dort war es relativ dunkel, und man blieb einigermaßen unge stört, da sich nur wenige Leute nachmittags Filme ansahen. Er setzte sich in die letzte Reihe und wartete auf Tscherny, der zwanzig Minuten später eintraf. »Ist es dringend, Paul?« fragte Lubow. »Es kommt nicht oft 95
vor, daß wir uns zwischen unseren festgesetzten Tagen tref fen.« »Dringend genug«, versetzte Tscherny. »Cuchulain ist ent tarnt. Maslowski muß so rasch wie möglich informiert werden. Mag sein, daß er uns herausholen will.« »Selbstverständlich«, erwiderte Lubow besorgt. »Sowie ich zurück in der Botschaft bin, werde ich mich darum kümmern. Aber sollten Sie mir die Lage nicht etwas genauer erläutern?« Devlin sah zu Hause in seinem Arbeitszimmer die Dissertati on eines Studenten über T. S. Eliot durch, als das Telefon klin gelte. »Schöne Schweinerei«, sagte Ferguson. »Bei Ihnen muß je mand geschwatzt haben. Ihre sauberen Freunde von der IRA sind nicht gerade die verläßlichsten Leute.« »Mit verbalen Kraftakten richten Sie bei mir gar nichts aus«, gab Devlin zurück. »Was wollen Sie?« »Hat Harry Ihnen von Tanja Woroninowa erzählt?« fragte Ferguson. »Das kleine Mädchen aus Drumore, das von Maslowski ad optiert wurde. Was ist mir ihr?« »Sie gibt im Augenblick in Paris eine Reihe von Klavierkon zerten. Als Tochter eines KGB-Generals hat sie allerhand Spielraum; will sagen, man traut ihr. Ich dachte, Sie könnten sie vielleicht aufsuchen. Am Abend geht ein Direktflug von Dublin nach Paris. Dauert nur zweieinhalb Stunden. Air Fran ce.« »Und was soll ich mit ihr anfangen? Sie zum Überlaufen be wegen?« »Wer weiß? Wenn Sie die ganze Geschichte hört, bekommt sie vielleicht Lust. Nehmen Sie auf jeden Fall Kontakt mit ihr auf, Liam. Schaden kann das nichts.« »Meinetwegen«, entgegnete Devlin. »Ein Hauch von Pariser Luft tut mir bestimmt gut.« 96
»Dachte ich mir doch, daß Sie mit nur einiggehen«, sagte Ferguson. »Melden Sie sich im Dubliner Flughafen am Scha l ter der Air France. Wir haben Ihnen einen Sitz reserviert. Im Flughafen Charles de Gaulle werden Sie von einem meiner Leute in Paris abgeholt – Tony Hunter. Er wird sich um alles kümmern.« »Davon bin ich überzeugt«, versetzte Devlin und legte auf. Er packte rasch eine Reisetasche, bekam dabei unerklärli cherweise gute Laune und zog gerade seinen Trenchcoat an, als das Telefon erneut ging. Diesmal war es McGuiness. »Böse Geschichte, Liam. Was ist genau passiert?« Als Devlin seinen Bericht abgeschlossen hatte, rief McGui ness aus: »Der Kerl existiert also wirklich!« »Sieht so aus, aber was dir größere Sorgen machen sollte, ist die Frage, woher er wußte, daß Lewin eintraf. Lewin war der einzige Mensch, der ihn vielleicht hätte identifizieren können.« »Warum fragst du mich das?« »Weil Ferguson glaubt, daß die undichte Stelle bei euch ist.« »Scheiß auf Ferguson!« »Würde ich dir nicht raten, Martin. Paß auf, ich muß fort und eine Maschine nach Paris erwischen.« »Nach Paris? Wozu denn das?« »Dort ist eine junge Frau, Tanja Woroninowa, die Cuchulain vielleicht auch identifizieren kann. Ich melde mich wieder.« Er legte auf. Als er seine Reisetasche nahm, klopfte es an die Terrassentür. Ein Flügel wurde geöffnet, und Harry Cussane trat ein. »Bedaure, Harry, aber wenn ich jetzt nicht loszische, verpas se ich meine Maschine.« »Wo willst du denn hin?« fragte Cussane erstaunt. »Nach Paris.« Devlin grinste und machte die Haustür auf. »Champagner, lose Weiber, Schlemmerei. Findest du nicht, 97
daß du beim falschen Verein bist, Harry?« Die Haustür wurde zugeschlagen. Cussane hörte, wie Devlins Wagen ansprang, hastete durch die Terrassentür und hinüber zu seinem kleinen Haus hinterm Hospiz. Dort eilte er nach oben in seinen geheimen Raum unterm Dach hinter dem Wassertank, wo er seine Lauschapparate stehen hatte. Rasch ließ er das Band zurücklaufen und hörte sich die diversen Gespräche an, die Devlin an diesem Tag geführt hatte, bis er am Ende auf das wichtigste stieß. Da war es aber schon zu spät. Er stieß eine leise Verwü n schung aus, ging hinunter ans Telefon und wählte Paul Tscher nys Nummer. 6 In der Sakristei der Dorfkirche kleidete sich Cussane für die Abendmesse an und betrachtete sich im Spiegel. Wie ein Schauspieler, der sich auf seinen Auftritt vorbereitet, dachte er. Gleich greifst du nach der Schminke. Wer bin ich eigentlich wirklich? Cuchulain, der Massenmörder, oder Harry Cussane, Priester? Michail Kelly schien keine Rolle mehr zu spielen, war nur noch ein Echo seiner Persönlichkeit, ein halbvergesse ner Traum. Seit über zwanzig Jahren hatte er mehrere Leben geführt, doch keiner dieser Charaktere hatte je seinem Körper innege wohnt. Es waren nur Rollen gewesen, gespielt nach dem Diktat eines Drehbuchs, das dann weggeworfen wurde. Er legte sich die Stola um den Hals, flüsterte seinem Alter ego im Spiegel zu: »Im Haus des Herrn bin ich sein Diener«, wandte sich dann ab und ging hinaus. Später, am Altar, als Kerzen flackerten und die Orgel spielte, schwang echte Leidenschaft in seiner Stimme, als er rief: »Allmächtiger Gott, vor dir und meinen Brüdern und Schwe 98
stern gestehe ich, aus eigener Schuld gesündigt zu haben.« Und als er sich bekreuzigte und die Jungfrau Maria um Fürbitte an flehte, traten ihm plötzlich heiße Tränen in die Augen. Auf dem Flughafen Charles de Gaulle wartete Tony Hunter am Ausgang hinter Paßkontrolle und Zoll. Er war ein hochge wachsener Mann Mitte Dreißig. Sein weiches braunes Haar war zu lang, der braune Leinenanzug zerknittert, und er rauchte eine Gitane, die er nicht aus dem Mund nahm, während er den Paris Soir las und den Ausgang im Auge behielt. Nach einer Weile erschien Devlin. Er trug einen schwarzen BurberryTrenchcoat, einen schiefsitzenden alten Filzhut und eine einzi ge Reisetasche. Hunter, der Devlins Bild und Personenbeschreibung über Draht erhalten hatte, ging ihn begrüßen. »Professor Devlin? Ich bin Tony Hunter. Ein Wagen steht bereit.« Sie hielten auf den Ausgang zu. »Hatten Sie einen guten Flug?« »So etwas gibt’s nicht«, versetzte Devlin. »Vor tausend Jah ren flog ich einmal in einem Dornier-Bomber für Englands Gegner von Deutschland nach Irland und sprang aus sechstau send Fuß mit dem Fallschirm ab. Das habe ich nie verwinden können.« Sie erreichten Hunters Peugeot auf dem Parkplatz. Beim Lo sfahren meinte Hunter: »Übernachten können Sie bei mir. Ich habe eine Wohnung in der Avenue Foch.« »Da muß es Ihnen aber gut gehen, wenn Sie in so einer feinen Gegend wohnen. Ich wußte gar nicht, daß Ferguson mit Gold säcken um sich wirft.« »Kennen Sie Paris gut?« »Kann man wohl sagen.« »Die Wohnung gehört mir, nicht der Behörde. Mein Vater starb letztes Jahr und hinterließ mir ein ansehnliches Vermö gen.« »Wo ist die junge Frau? Wohnt sie in der sowjetischen Bo t 99
schaft?« »Himmel, nein. Man hat sie im Ritz untergebracht. Sie ist nämlich praktisch ein Star. Spielt vorzüglich. Gestern habe ich ein Mozart-Konzert mit ihr gehört. Welches, habe ich verges sen, aber sie war großartig.« »Wie ich höre, kann sie sich frei bewegen?« »Aber sicher. Die Tatsache, daß General Maslowski ihr Pfle gevater ist, stellt das sicher. Ich bin ihr heute früh durch ganz Paris gefolgt. Luxemburg-Gärten, dann Mittagessen auf einem Schiff auf der Seine. Wie ich höre, hat sie morgen nur einen Termin, und das ist eine Probe am Nachmittag im Konservato rium.« »Dann ist wohl der Vormittag die beste Zeit für eine Kon taktaufnahme.« »Sollte man meinen.« Sie waren inzwischen im Herzen von Paris und fuhren gerade an der Gare du Nord vorbei. »Mit der Frühmaschine kommt aus Lo ndon ein Kurier mit Dokumenten, die Ferguson in aller Eile ausstellen ließ«, sagte Hunter. »Fal scher Paß und so weiter.« Devlin lachte laut auf. »Meint er vielleicht, sie käme auf meine Bitte gleich mit?« Er schüttelte den Kopf. »Verrückte Idee.« »Kommt nur drauf an, wie man es ihr beibringt«, schlug Hunter vor. »Wohl wahr«, stimmte Devlin zu. »Andererseits wäre es wahrscheinlich einfacher, ihr etwas in den Tee zu tun.« Nun mußte Hunter lachen. »Wissen Sie was? Ich mag Sie, Professor, obwohl ich am Anfang etwas gegen Sie hatte.« »Wieso denn?« fragte Devlin verwundert und neugierig. »Ich war Captain der Rifle-Brigade. Diente in Belfast, Lo n donderry und South Armagh.« »Ah, jetzt verstehe ich.« 100
»Zwischen 1972 und 1978 wurde ich viermal dort einge setzt.« »Viermal zu oft.« »Genau. Offen gesagt, was mich betrifft, sollte man Ulster den Indianern zurückgeben.« »Der beste Vorschlag, den ich heute gehört habe«, meinte Devlin heiter, steckte sich eine Zigarette an und machte es sich mit dem Filzhut in der Stirn auf dem Beifahrersitz bequem. In diesem Augenblick saß Generalleutnant Iwan Maslowski im KGB-Hauptquartier am Dserschinski-Platz an seinem Schreibtisch und dachte über die Cuchulain- Affäre nach. Tschernys Nachricht war von Lubow weitergegeben worden und hatte Moskau erst vor zwei Stunden erreicht. Seltsamer weise erinnerte sie ihn an Drumore in der Ukraine und an Kelly im Regen mit der Waffe in der Hand, an den Mann, der nicht tun wollte, was man ihm befahl. Die Tür ging auf, und sein Assistent, Hauptmann Igor Kurbski, kam mit einer Tasse Kaffee für ihn herein. Maslowski trank langsam. »Nun, Igor, was halten Sie davon?« »Meiner Ansicht nach hat Cuchulain seine Aufgabe vorzü g lich erledigt, Genosse General, über so viele Jahre hinweg. Aber nun…« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Maslowski. »Da der briti sche Geheimdienst jetzt von seiner Existenz weiß, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er zur Strecke gebracht wird.« »Und Tscherny könnten die Briten jeden Augenblick fest nehmen.« Es klopfte, und eine Ordonnanz erschien mit einem Funk spruch. Kurbski nahm ihn entgegen und ließ den Mann abtre ten. »Für Sie, Genosse General. Von Lubow in Dublin.« Die Nachricht besagte im wesentlichen, daß Devlin in der Absicht, mit Tanja Woroninowa zusammenzutreffen, nach Pa ris unterwegs war. Als der Name seiner Pflegetochter fiel, 101
stand Maslowski auf und riß Kurbski den Funkspruch aus den Händen. Die tiefe Zuneigung, die der General für Tanja emp fand, ganz besonders nach dem Tod seiner Frau, war kein Ge heimnis. In manchen Kreisen war er zwar als Schlächter be kannt, aber seine Tanja liebte er innig. »Gut«, sagte er zu Kurbski. »Wer ist an der Pariser Bo tschaft unser bester Mann? Below, nicht wahr?« »Jawohl, Genosse.« »Senden Sie heute abend folgenden Spruch: Tanjas Konzert reise wird abgesagt. Keine Widerrede. Volle Sicherheitsmaß nahmen für ihre Person, bis sie heil zurück in Moskau ist.« »Und Cuchulain?« »Hat seinen Zweck erfüllt. Schade.« »Holen wir ihn heraus?« »Nein, dazu reicht die Zeit nicht. Die Lage erfordert soforti ges Handeln. Cuchulain muß eliminiert werden, Tscherny auch. Je früher, desto besser.« »Darf ich darauf hinweisen, daß Lubow auf diesem Gebiet nicht sehr erfahren ist?« »Hat er nicht die übliche Ausbildung hinter sich? Wie auch immer, da die beiden nicht damit rechnen, sollte es ihm nicht zu schwer fallen.« In der Sowjetbotschaft in Paris begann die Chiffriermaschine der Geheimdienstabteilung zu surren. Die Operatorin wartete ab, bis die Nachricht Zeile für Zeile über den Bildschirm gela u fen war. Dann nahm sie sorgfältig das Band, auf das der Spruch aufgezeichnet wo rden war, aus dem Gerät und brachte es zum Aufseher der Nachtschicht. »Ein Spruch vom KGB Moskau, nur für Oberst Below be stimmt.« »Der ist nicht in Paris«, sagte der Aufseher, »sondern in Ly on, glaube ich. Morgen nachmittag soll er wieder hier sein. Zurückhalten müssen Sie die Nachricht ohnehin. Sie kann nur 102
mit seiner persönlichen Kennziffer entschlüsselt werden.« Die Operatorin trug den Eingang des Bandes ein, legte es in ihre Datenschublade und ging wieder an die Arbeit. In Dublin hatte Dimitri Lubow einen angenehmen Abend im Theater verbracht und sich eine ausgezeichnete Aufführung von Brendan Behans »Geisel« angesehen. Ein Abendessen danach in einem bekannten Fischrestaurant an den Kais bedeu tete, daß er erst nach Mitternacht in die Botschaft zurückkehrte und den Funkspruch aus Moskau vorfand. Selbst als er ihn zum dritten Mal durchlas, wollte er den In halt nicht glauben. Er hatte sich nicht nur Tsche rnys, sondern auch Cuchulains zu entledigen, und zwar innerhalb der näch sten vierundzwanzig Stunden. Seine Hände waren schweißnaß und zitterten leicht, was kaum überraschend war, denn Dimitri Lubow hatte trotz seiner langen Jahre beim KGB und der in tensiven Ausbildung in seinem ganzen Leben noch keinen Menschen getötet. Tanja kam aus dem Bad ihrer Suite im Ritz, als der Zimmer kellner mit dem Frühstück erschien; Tee, Toast und Honig, genau, was sie bestellt hatte. Sie hatte einen olivgrünen Overall und Stiefel aus weichem braunem Leder an, und die Kombina tion verlieh ihr ein vages militärisches Aussehen. Tanja war eine zierliche, ernsthafte junge Frau mit widerspenstigem schwarzem Haar, das sie sich immer wieder aus den Augen streichen mußte. Nun betrachtete sie es mißbilligend in dem vergoldeten Spiegel überm Kamin und schlang es zu einem Knoten; dann setzte sie sich hin und genoß ihr Frühstück. Es klopfte an, und ihre Reisesekretärin Rubenowa, eine an genehme, grauhaarige Frau Mitte Vierzig, kam herein, »Guten Morgen. Wie geht’s?« »Prima. Ich habe vorzüglich geschlafen.« »Gut. Um halb drei wirst du im Konservatorium erwartet zur Generalprobe.« 103
»Kein Problem«, meinte Tanja. »Gehst du heute vormittag aus?« »Ja, ich möchte mich gerne im Louvre umsehen. Dieser Auf enthalt war so hektisch, daß heute vielleicht die letzte Gelege n heit dazu ist.« »Soll ich mitkommen?« »Nein danke, ich komme schon allein zurecht. Wir sehen uns um eins hier zum Mittagessen wieder.« Sie trat aus dem Hotel in einen angenehmen Pariser Morgen und ging die Stufen vorm Haupteingang hinunter. Devlin und Hunter warteten auf der gegenüberliegenden Seite des Boule vards im Peugeot. »Sieht aus, als machte sie einen Spaziergang«, meinte Hun ter. Devlin nickte. »Wir folgen ihr eine Weile und sehen dann weiter.« Tanja hatte eine Leinentasche über der linken Schulter hä ngen und schritt rasch aus, schien die Bewegung und die frische Luft zu genießen. Am Abend sollte sie Rachmaninows viertes Klavierkonzert spielen. Dies war ein ganz besonderes Lieb lingsstück von ihr, so daß die nervliche Anspannung, unter der sie wie so viele Künstler vor einem großen Konzert gewöhn lich litt, ausblieb. Inzwischen hatte sie allerdings auch ihre Erfahrungen ge sammelt. Seit ihren Erfolgen in Leeds und beim Tschaikows ky-Festival hatte sie sich stetig einen internationalen Ruf er worben. Für alles andere war nur wenig Zeit geblieben. Ver liebt hatte sie sich nur einmal; dummerweise in einen jungen Militärarzt, der bei einer Fallschirmbrigade diente und im ver gangenen Jahr in Afghanistan gefallen war. Diese Erfahrung, wenngleich quälend, hatte sie nicht gebro chen. An dem Abend, an dem die Todesnachricht eingetroffen war, hatte sie eine ihrer besten Vorstellungen gegeben, sich 104
aber anschließend von Männern ferngehalten. Mit solchen Be ziehungen war zu viel Pein verbunden, und für eine Erklärung bedurfte man keines besonders intelligenten Psychiaters: Trotz Ruhm und Erfolg, trotz der Privilegien, die sie deshalb genoß, trotz Maslowskis machtvollem Einfluß an ihrer Seite war sie noch immer in mancher Beziehung das kleine Mädchen, das im Regen neben dem Vater kniete, der ihr so grausam genommen worden war. Stetigen Schritts ging sie die Champs-Elysees entlang zur Place de la Concorde. »Scheint ein Fitness-Fan zu sein«, merkte Devlin an. Sie bog in den kühlen, friedlichen Jardin des Tuileries ein. Hunter nickte. »Dachte ich mir’s doch. Hatte so eine Ahnung, daß sie zum Louvre wollte. Folgen Sie ihr zu Fuß. Ich suche einen Parkplatz und warte am Haupteingang auf Sie.« Im Jardin des Tuileries waren Skulpturen von Henry Moore ausgestellt, die sie sich flüchtig ansah. Devlin hielt sich im Hintergrund, aber sie fand offenbar kein Stück besonders an ziehend und ging weiter durch den Park zum großen Palais du Louvre. Tanja Woroninowa war ausgesprochen wählerisch. Sie schlenderte von Saal zu Saal, schenkte nur den Werken großer Meister ihre Aufmerksamkeit, und Devlin folgte ihr in diskre tem Abstand. Einige Zeit verbrachte sie in der RembrandtGalerie im ersten Stock und blieb dann vor dem vermutlich berühmtesten Gemälde der Welt stehen – Leonardos »Mona Lisa«. Devlin näherte sich ihr. »Finden Sie, daß sie lächelt?« ve r suchte er es auf englisch. »Was meinen Sie damit?« gab sie in derselben Sprache zu rück. »Ach, im Louvre hält sich der alte Aberglaube, daß sie an manchen Vormittagen nicht lächelt.« 105
Sie schaute ihn an. »Das ist doch absurd.« »Sie lächeln aber auch nicht«, meinte Devlin. »Haben Sie Angst, es fiele Ihnen was aus der Krone?« »Was reden Sie denn da für einen Unsinn?« versetzte sie, lä chelte aber trotzdem. »Wenn Sie die Würdevolle spielen, ziehen Sie die Mundwin kel nach unten«, sagte er. »Das steht Ihnen nicht.« »Reden Sie von meinem Aussehen? Das ist mir gleichgültig.« Da stand er, Hände in den Taschen des BurberryTrenchcoats, schwarzer Filzhut verwegen schief auf dem Kopf, und seine Augen waren vom kräftigsten Blau, das sie je gese hen hatte. Er hatte eine gutmütige Unverschämtheit an sich und eine Selbstironie, die sie recht attraktiv fand, obwohl er minde stens doppelt so alt sein mußte wie sie. Sie empfand ein plötz liches Ziehen, eine Erregung, die schwer zu kontrollieren war, und mußte tief Luft holen, um sich wieder zu sammeln. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und lief weiter. Devlin gab ihr einen kleinen Vorsprung und folgte dann. Eine reizende junge Frau, aber aus irgendeinem Grunde verängstigt. Interessant, dem auf den Grund zu kommen. Sie ging zur Grande Galerie, hielt vor El Grecos »Christus am Kreuz« inne und blieb lange stehen, schaute sich die aus gemergelte, mystische Gestalt an, ohne von Devlin Kenntnis zu nehmen, als er neben sie trat. »Und was sagt Ihnen das?« fragte er sanft. »Sehen Sie dort Liebe?« »Nein«, erwiderte sie. »Eher ein Aufbegehren gegen den Tod. Warum verfolgen Sie mich?« »Tu ich das denn?« »Ja, seit dem Jardin des Tuileries.« »Wirklich? Wenn das stimmt, kann ich nicht sehr geschickt vorgegangen sein.« 106
»Nicht notwendigerweise. Nach Ihnen dreht man sich zwei mal um.« Sonderbar, am liebsten hätte sie auf einmal geweint, sich dieser unglaublich warmen Stimme geöffnet. Er nahm sie am Arm und sagte sanft: »Immer mit der Ruhe. Sie haben mir immer noch nicht verraten, was El Greco Ihnen sagt.« »Ich bin nicht katholisch erzogen worden«, erwiderte sie. »Ich sehe keinen Erlöser am Kreuz, sondern einen gefolterten großen Mann, vernichtet von kleinmütigen Menschen. Und Sie?« »Mir gefällt Ihr Akzent«, sagte Devlin. »Erinnert mich an Greta Garbo, die ich als kleiner Junge im Kino sah, aber das war hundert Jahre vor Ihrer Zeit.« »Die Garbo ist mir nicht unbekannt«, antwortete sie, »und ich fühle mich entsprechend geschmeichelt. Sie haben mir aber immer noch nicht gesagt, was Ihnen das Bild bedeutet.« »Angesichts des heutigen Tages eine tiefschürfende Frage«, sagte Devlin. »Heute früh um sieben wurde in St. Peter in Rom eine ganz besondere Messe abgehalten; vom Papst gemeinsam mit Kardinälen aus Großbritannien und Argentinien.« »Und wird das etwas bewirken?« »Es hat weder die Royal Navy an ihrem munteren Voran kommen noch die argentinischen Skyhawks an ihren Angriffen gehindert.« »Was bedeutet das?« »Daß sich der Allmächtige, sofern er existiert, einen Jux auf unsere Kosten macht.« Tanja runzelte die Stirn. »Ich kann Ihren Akzent nicht unter bringen. Sie sind bestimmt kein Engländer.« »Nein, ich bin Ire.« »Ich dachte, alle Iren seien tief religiös?« »Stimmt auch. Meine alte Tante Hannah hatte vom vielen Beten Hornhaut an den Knien. Als ic h noch ein kleiner Junge war, schleppte sie mich in Drumore dreimal am Tag zur Mes 107
se.« Tanja Woroninowa wurde stocksteif. »Was sagten Sie da ge rade?« »Ich sprach von Drumore, einem Marktflecken in Ulster. Die Kirche heißt Heiliggeistkirche. Am deutlichsten kann ich mich an meinen Onkel und seine Kumpane erinnern, wie sie aus der Messe kamen und gleich auf Murphy’s Select Bar zusteuer ten.« Sie wandte sich ihm zu und war nun sehr blaß geworden. »Wer sind Sie?« »Eins steht fest, mein Kind«, sagte er und strich ihr leise übers schwarze Haar, »Cuchulain, letzter der Schwarzen Hel den, bin ich nicht.« Ihre Augen weiteten sich und verrieten Zorn, als sie an sei nem Mantel zerrte. »Wer sind Sie?« »Sozusagen Viktor Lewin.« »Viktor?« Sie sah verwirrt aus. »Viktor ist doch tot. Kam vor einem Monat oder so in Arabien ums Leben. Das hat mir Vater gesagt.« »General Maslowski? Der würde Ihnen natürlich so etwas auf die Nase binden. Nein, Viktor gelang die Flucht. Er lief über, landete erst in London und dann in Dublin.« »Geht es ihm gut?« »Er ist tot«, stieß Devlin hervor. »Ermordet von Michail Kel ly oder Cuchulain oder dem Schwarzen Helden oder wie Sie ihn sonst nennen mögen. Eben jenem Mann, der vor dreiund zwanzig Jahren in der Ukraine Ihren Vater erschoß.« Sie sank gegen ihn. Er schlang stützend einen Arm um sie, stark, selbstsicher. »Halten Sie sich an mir fest, setzen Sie ei nen Fuß vor den anderen. Ich führe Sie hinaus an die frische Luft.« Sie setzten sich auf eine Bank im Jardin des Tuileries. Devlin nahm sein silbernes Etui heraus und bot ihr eine Zigarette an. 108
»Frönen Sie diesem Laster?« »Nein.« »Gut. Hemmt nur Ihr Wachstum. Und Sie haben Ihre besten Jahre noch vor sich.« Irgendwo hatte er einmal dieselben Worte gesagt, vor langer, langer Zeit. Zu einem Mädchen, das die ser jungen Frau sehr ähnlich gewesen war: keine Schönheit im herkömmlichen Sinn, aber attraktiv auf eine Art, die ihn zwang, noch einmal hinzu schauen. Bei der Erinnerung empfand er einen Schmerz, den selbst die Zeit nicht hatte auslöschen können. »Für eine n Geheimagenten sind Sie ein seltsamer Mann«, meinte sie. »Das sind Sie doch, nehme ich an?« Er lachte laut auf, so laut, daß Tony Hunter, der jenseits der Henry-Moore-Ausstellung auf einer Bank Zeitung las, ruckar tig aufschaute. »Gott behüte!« Devlin zog die Brieftasche heraus und ent nahm ihr eine kleine Karte. »Mein Ausweis. Ausschließlich für formelle Anlässe, das kann ich Ihnen versichern.« Sie las laut. »Professor Liam Devlin, Trinity-College, Du blin.« Sie sah auf. »Professor für was?« »Für englische Literatur. Wie die meisten Geisteswissen schaftler beackere ich ein weites Feld, das Oscar Wilde, G. B. Shaw, Brendan Behan, James Joyce und William Butler Yeats einschließt. Ein ziemliches Sammelsurium. Katholiken und Protestanten, aber alles Iren. Kann ich die Karte übrigens wie der zurückhaben? Sie gehen mir nämlich langsam aus…« Er steckte sie zurück in die Brieftasche. Sie fragte: »Wie ge rät ein Professor von einer so alten und berühmten Universität in eine solche Affäre hinein?« »Haben Sie von der Irish Republican Army gehört?« »Der IRA? Selbstverständlich.« »Ich war seit meinem sechzehnten Lebensjahr Mitglied dieser Organisation, bin aber nicht mehr aktiv, wie man so sagt, weil 109
ich ernsthafte Vorbehalte gegen einige Methoden habe, die die Provisorische IRA bei ihrer derzeitigen Kampagne anwendet.« »Reden Sie nicht weiter, lassen Sie mich mal raten.« Sie lä chelte. »Im Grunde Ihres Herzens sind Sie ein Romantiker, nicht wahr, Professor Devlin?« »Wirklich?« »Nur einem Romantiker käme es in den Sinn, einen so wun derbaren absurden schwarzen Filzhut zu tragen. Aber da steckt natürlich mehr dahinter. Bomben in Restaurants, die Frauen und Kinder töten – nein. Aber einen Mann wü rden Sie ohne Zögern erschießen, sich bereitwillig trotz winziger Chancen hochtrainierten Soldaten entgegenstellen.« Devlin begann sich eindeutig unbehaglich zu fühlen. »Das sagen Sie mir so auf den Kopf zu?« »Allerdings, Professor Devlin. Ich habe Sie nämlich durch schaut. Sie sind der echte Revolutionär, der verkrachte Roma n tiker, der sich dagegen sträubte, daß es ein Ende fand.« »›Es‹ – was meinen Sie damit genau?« »Das Spiel natürlich, Professor, das wahnsinnige, gefährli che, herrliche Spiel, das das Leben für einen Mann wie Sie erst lebenswert macht. Gut, das abgekapselte Leben im Vorle sungssaal mag Ihnen gefallen, oder Sie reden sich das ein, aber bei der ersten Gelegenheit, Pulverdampf zu schnuppern…« »Darf ich vielleicht mal Luft holen?« fragte Devlin. »Und das schlimmste daran«, fuhr sie unbarmherzig fort, »ist Ihr Bedürfnis, beides zu haben. Einerseits den Spaß am Ba llern, andererseits eine hübsche, saubere Revolution, bei der Unbeteiligte nicht zu Schaden kommen.« Sie saß mit verschränkten Armen da; eine unnachahmliche Geste, als hielte sie sich an sich selbst fest. »So, haben Sie viel leicht noch etwas ausgelassen?« fragte Devlin. Sie lächelte verkniffen. »Manchmal ziehe ich mich selbst auf wie eine Uhrfeder und bleibe dann so, bis die Feder bricht.« 110
»Und dann birst alles in einer Art Freud-Imitation aus. Ihnen heraus«, ergänzte er. »Das kommt bei Wodka und Erdbeeren nach dem Abendessen in Maslowskis Datscha bestimmt groß an.« Ihr Gesicht wurde verschlossen. »Ich lasse nicht zu, daß Sie sich über ihn lustig machen. Er war sehr gut zu mir und der einzige Vater, den ich wirklich gekannt habe.« »Mag sein«, räumte Devlin ein. »Das war aber nicht immer so.« Sie schaute ihn zornig an. »Gut, Professor Devlin, wir haben nun lange genug die Klingen gekreuzt. Vielleicht ist es an der Zeit, daß Sie mir sagen, weshalb Sie hier sind.« Er ließ nichts aus, begann mit Viktor Lewin und Tony Vil liers im Jemen und endete mit dem Mord an Billy White und Lewin bei Kilrea. Als er geendet hatte, blieb sie lange schwei gend sitzen. »Lewin sagte, Sie erinnerten sich an Drumore und die Be gleitumstände des Todes Ihres Vaters«, sagte Devlin sanft. »Ja, hin und wieder taucht es wie ein Alptraum an der Ober fläche des Bewußtseins auf, als stieße es jemand anderem zu. Ich sehe auf das kleine Mädchen hinab, das im Regen neben der Leiche seines Vaters kniet.« »Und Michail Kelly oder Cuchulain, wie man ihn nennt? Er innern Sie sich an ihn?« »Den vergesse ich mein Lebtag nicht«, sagte sie tonlos. »So ein seltsames Gesicht, das Antlitz eines zerquälten jungen Hei ligen. Am merkwürdigsten aber fand ich, daß er so sanft, so zärtlich zu mir war.« Devlin nahm sie am Arm. »Gehen wir ein Stück spazieren.« Auf dem Parkweg fragte er: »Hat Maslowski jemals mit Ihnen über den Vorfall gesprochen?« »Nein.« Ihr Arm unter seiner Hand versteifte sich. »Langsam«, sagte 111
er leise. »Und nun die wicht igste Frage: Haben Sie jemals ver sucht, mit ihm darüber zu reden?« »Verdammt, nein!« Sie riß sich los, wandte sich ab. »Aber daran sollte Ihnen doch auch nicht gelegen haben«, beharrte er. »Sie hätten in ein Wespennest gestochen.« Sie blieb stehen, schaute ihn an, hielt sich wieder an sich selbst fest. »Was wollen Sie von mir, Professor Devlin? Soll ich überlaufen wie Viktor? Mir Tausende von Bildern ansehen in der Hoffnung, ihn vielleicht zu erkennen?« »Jetzt haben Sie eine ursprünglich hirnrissige Idee ve rnünftig formuliert. Die IRA in Dublin würde das Material, über das sie selbst verfügt, nie aus den Händen geben.« »Und warum sollte ich das tun?« Sie setzte sich auf eine nahe Bank und zog ihn neben sich. »Ich will Ihnen etwas verraten. Sie im Westen irren sich gewaltig, wenn Sie annehmen, daß alle Russen an der Leine zerren und nur auf eine Gelegenheit warten, das Land zu ve rlassen. Ich liebe mein Land. Es gefällt mir dort. Ich bin eine respektierte Künstlerin. Ich kann mich frei bewegen, selbst in Paris. Kein KGB – keine Männer in schwarzen Mänteln, die mich auf Schritt und Tritt überwachen. Ich gehe, wohin es mir beliebt«, erklärte sie dem Professor mit fester Stimme. »Da Ihr Pflegevater Generalleutnant beim KGB ist und unter anderem die Abteilung V leitet, würde es mich auch wundern, wenn das nicht so wäre. Früher hieß die Abteilung übrigens 13. Für viele Menschen eine Unglückszahl, aber dann organisierte Maslowski die Behörde 1968 um. Am treffendsten ließe sie sich als Attentats-Büro umschreiben, aber so etwas braucht halt jede straff geführte Organisation.« »Wie zum Beispiel die IRA?« Sie beugte sich vor. »Wie viele Menschen haben Sie wegen einer Sache, an die Sie glaubten, getötet, Professor?« Er lächelte sanft und faßte ihr mit einer eigenartig ve rtrauten 112
Geste an die Wange. »Verstanden, aber wie ich sehe, vergeude ich nur Ihre Zeit. Ich möchte Ihnen aber trotzdem etwas ge ben.« Er zog einen großen braunen Umschlag aus der Tasche, der am Morgen von Fergusons Kurier abgeliefert worden war, und legte ihn ihr in den Schoß. »Was soll das?« fragte sie mißtrauisch. »London hat Ihnen in einem Anfall von Optimismus einen britischen Reisepaß mit einer neuen Identität zum Geschenk gemacht. Ihr Paßbild sieht umwerfend aus. Es liegt auch Bar geld bei, französische Francs und Hinweise auf Alternativrou ten nach London.« »Das brauche ich nicht.« »Wie auch immer, Sie haben es jetzt. Und das hier auch.« Er nahm seine Karte aus der Brieftasche und reichte sie ihr. »Ich fliege heute nachmittag nach Dublin zurück. Sinnlos, mich noch länger hier herumzutreiben.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn der Kurier aus London war mit mehr als nur dem falschen Paß eingeflogen. Er hatte auch eine persönliche Nachricht von Ferguson an Devlin mitgebracht. McGuiness und der Stabschef waren stinkwütend. Ihrer Ansicht nach hatten sie mit der undichten Stelle nichts zu tun und wollten aussteigen. Devlin sollte die Vertrauensbasis wiederherstellen. Zögernd steckte sie Umschlag und Karte in ihre Umhängeta sche. »Tut mir leid. Sie haben sich umsonst einen la ngen Weg gemacht.« »Sie haben meine Nummer«, sagte er. »Und können mich je derzeit anrufen.« Er stand auf. »Wer weiß, vielleicht bekom men Sie Lust, ein paar Fragen zu stellen.« »Das bezweifle ich, Professor Devlin.« Sie streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen.« Er hielt sie kurz fest, wandte sich dann ab und ging durch den 113
Park zu der Bank, auf der Hunter saß. »Los«, sagte er, »setzen wir uns in Bewegung!« Hunter kam hastig auf die Beine und lief hinter ihm her. »Was hat sich getan?« »Nichts«, versetzte Devlin, als sie den Wagen erreicht hatten. »Totale Fehlanzeige. Sie wollte nichts damit zu tun haben. So, fahren Sie mich jetzt zu Ihrer Wohnung, damit ich meine Ta sche holen kann. Dann dürfen Sie mich zum Flughafen brin gen. Mit etwas Glück erwische ich noch die Nachmittagsma schine nach Dublin.« »Fliegen Sie zurück?« »Allerdings.« Liam Devlin ließ sich in den Sitz fallen und zog sich den schwarzen Filzhut ins Gesicht. Tanja Woroninowa sah sie anfahren und sich in den Verkehr auf der Rue de Rivoli einfädeln. Sie blieb stehen, dachte einen Moment lang über die Sache nach, verließ dann den Park, schritt den Gehsteig entlang, ging die außergewöhnlichen Erei gnisse des Vormittags in Gedanken durch. Liam Devlin war ein gefährlich attraktiver Mann, da konnte kein Zweifel bestehen, aber vor allem hatte seine Geschichte sie sehr aufgewühlt, und Vorfälle aus der Vergangenheit, die besser vergessen geblieben wären, schienen sie nun wie über eine große Entfernung hin weg rufen zu wollen. Sie wurde ein Auto gewahr, das vor ihr an den Randstein fuhr ein schwarzer Mercedes. Als sie herankam, ging die Fondtür auf, und Natascha Rubenowa schaute heraus. Sie sah erregt, sogar verängstigt aus. »Tanja!« Tanja ging auf sie zu. »Natascha, was willst du denn hier? Ist etwas passiert?« »Bitte, Tanja. Einsteigen!« Neben ihr saß ein junger Mann mir einem harten, unnachgie bigen Gesicht. Er trug einen blauen Anzug mit weißem Hemd 114
und dunkelblauer Krawatte. Außerdem hatte er schwarze Le derhandschuhe an. Der Mann auf dem Beifahrersitz hätte sein Zwillingsbruder sein können. Die beiden sahen aus, als kämen sie von einem feinen Beerdigungsinstitut. Tanja fühlte sich auf einmal unbehaglich. »Was hat das zu bedeuten?« Im Nu war der junge Mann neben Natascha ausgestiegen, ei ne Hand umfaßte leicht, aber entschieden Tanjas Arm knapp überm Ellbogen. »Mein Name ist Türkin, Genossin – Peter Türkin. Und mein Kollege ist Leutnant Iwan Schepilow. Wir sind Offiziere des GRU. Kommen Sie bitte mit.« Nachrichtendienst der sowjetischen Streitkräfte. Aus ihrem Unbehagen wurde nun Angst. Sie versuchte sich loszureißen. »Bitte, Genossin.« Sein Griff wurde fester. »Wehren Sie sich nicht, Sie könnten sich verletzen. Heute abend haben Sie ein Konzert. Wir wollen doch Ihre Fans nicht enttäuschen.« In seinen Augen war etwas Grausames, Perverses, das sie sehr beunruhigend fand. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Sie ver suchte ihm einen Schlag zu versetzen, den er mit Leic htigkeit abblockte. »Dafür werden Sie sich zu verantworten haben. Wissen Sie denn nicht, wer mein Vater ist?« »Generalleutnant Iwan Maslowski vom KGB, auf dessen di rekten Befehl ich handle. Seien Sie also brav und tun Sie, was ich sage.« Der Schock war so heftig, daß sie keinen Willen zum Wider stand mehr aufbrachte und plötzlich neben Natascha saß, die den Tränen nahe war. Türkin stieg auf der anderen Seite ein. »Zurück zur Botschaft!« befahl er dem Chauffeur. Als der Mercedes anfuhr, umklammerte Tanja fest Nataschas Hand. Zum ersten Mal seit ihrer frühen Kindheit empfand sie echte Angst.
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Nikolai Be low war ein ansehnlicher Fünfziger mit dem etwas fleischigen Gesicht eines Menschen, der den Genüssen des Lebens mehr frönte, als seiner Gesundheit guttat; der Typ des guten Marxisten, dessen dunkler Anzug und Mantel in Lo n dons Savile Row maßgeschneidert worden war. Mit seinem silbernen Haar und der dekadent attraktiven Physiognomie erinnerte er eher an einen alternden, recht distinguierten Scha uspieler als an einen Obersten des KGB. Als dringende Dienstreise ließ sich die Fahrt nach Lyon kaum bezeichnen, aber sie hatte ihm die Gelegenheit geboten, Irana Wronski, seine Sekretärin, mitzunehmen. Da sie seit einigen Jahren auch seine Geliebte war, hatten die beiden zwei höchst angenehme Tage verbracht, doch die Erinnerung daran war rasch verblaßt, als er in die Botschaft zurückkehrte und fest stellte, was ihn dort erwartete. Kaum hatte er es sich in seinem Dienstzimmer bequem ge macht, kam Irana herein. »Dringender Spruch vom KGB Mos kau, für dich persönlich.« »Von wem?« »General Maslowski.« Der Name allein schon brachte ihn auf die Beine. Gefolgt von Irana ging er hinunter zur Nachrichtenabteilung, wo die Opera torin das entsprechende Band holte. Below tippte seine Ken nummer ein, die Maschine surrte, die Operatorin riß das Blatt aus dem Drucker und reichte es ihm. Below las es durch und fluchte leise vor sich hin. Dann nahm er Irana am Ellbogen und zog sie aus dem Raum. »Schick mir sofort Leutnant Schepilow und Hauptmann Türkin. Sie sollen alles stehen- und liegenlas sen.« Below saß an seinem Schreibtisch beim Aktenstudium, als die Tür aufging und Tanja, Natascha Rubenowa, Schepilow 116
und Türkin von Irana Wronski hereingeführt wurden. Below, der offiziell Erster Kulturattache der Botschaft war, kannte Tanja gut, da er sie in seiner Tarnrolle oft zu Gesellschaften begleitet hatte. Er stand auf. »Nett, Sie einmal wiederzusehen.« »Ich will wissen, was hier vorgeht!« fuhr sie ihn an. »Ich muß mich von diesen Rüpeln da vom Gehsteig zerren lassen und…« »Ich bin sicher, daß Hauptmann Türkin so handelte, wie er es für richtig hielt.« Below nickte Irana zu. »Stellen Sie jetzt die Verbindung mit Moskau her.« Dann wandte er sich wieder an Tanja. »Bitte beruhigen Sie sich und ne hmen Sie Platz.« Sie blieb trotzig stehen und warf dann einen Blick zu Türkin und Schepilow hinüber, die mit gefalteten Händen in schwarzen Lederhandschuhen an der Wand standen. »Ich bitte Sie«, sagte Below. Sie setzte sich und bekam von Below eine Zigarette angebo ten. Sie war so aufgeregt, daß sie sie annahm. Türkin trat ge schmeidig vor und gab ihr Feuer. Sein Feuerzeug war nicht nur von Cartier, sondern auch aus Gold. Sie mußte husten, als der Rauch sie im Hals kratzte. »So, nun sagen Sie mir bitte, was Sie heute vormittag getan haben«, begann Below. »Ich bin in die Jardins des Tuileries gegangen.« Die Zigarette half, beruhigte sie. Sie hatte sich nun wieder unter Kontrolle, was bedeutete, daß sie sich wehren konnte. »Und dann?« »In den Louvre.« »Mit wem haben Sie gesprochen?« Diese Fangfrage forderte eine automatische Antwort gerade zu heraus. Zu ihrer eigenen Überraschung erwiderte sie ruhig: »Ich war allein und ging mit niemandem. Mag sein, daß ich das nicht deutlich gemacht habe.« 117
»Ja, ich weiß«, sagte er geduldig. »Aber haben Sie im Louvre mit jemandem gesprochen? Hat sich Ihnen jemand genähert?« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ach so, Sie wollen wis sen, ob jemand versucht hat, sich an mich heranzumachen? Leider nicht. Trotz seines Rufs kann Paris sehr enttäuschend sein.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Bitte, Nikolai, würden Sie mir jetzt vielleicht sagen, worum es hier geht?« Below hatte keinen Grund, ihr zu mißtrauen. Im Gegenteil, er wollte ihr glauben. Immerhin war er am Vorabend nicht im Dienst gewesen. Hätte er sich vorschriftsmäßig in der Bot schaft aufgehalten und Maslowskis Anweisung gleich bei Ein gang zu Gesicht bekommen, wäre Tanja Woroninowa an die sem Vormittag nicht aus dem Ritz gelassen worden, auf jeden Fall nicht unbegleitet. Irana trat ein. »General Maslowski auf Leitung eins.« Below nahm ab, und Tanja versuchte, ihm den Hörer aus der Hand zu reißen. »Ich will mit ihm sprechen.« Below wich zurück. »Hier Below, General.« »Tag, Nikolai. Haben Sie sie bei sich?« »Jawohl, General.« Auf ihre langjährige Freundschaft wies hin, daß Below sich den »Genossen« sparte. »Steht sie unter Bewachung? Hat sie mit niemandem gespro chen?« »Antwort auf beide Fragen positiv, General.« »Dieser Devlin hat also doch nicht versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen?« »Es sieht nicht so aus. Wir haben seine Akte aus dem Com puter geholt; Bilder, alle Einzelheiten. Wenn er sich heran macht, merken wir das.« »Gut. Geben Sie mir jetzt Tanja.« Below hielt ihr den Hörer hin. Sie riß ihn ihm fast aus der Hand. »Papa?« 118
So hatte sie schon seit Jahren zu ihm gesagt, und seine Stim me klang wie immer gütig und freundlich. »Wie geht es dir? Gut?« »Ich bin total durcheinander«, sagte sie. »Kein Mensch will mir sagen, was hier vorgeht.« »Es genügt, wenn ich dir sage, daß du aus Gründen, die jetzt unwichtig sind, in eine Angelegenheit verwickelt wo rden bist, die die Staatssicherheit betrifft. Ein überaus ernster Fall. Du mußt so schnell wie möglich zurück nach Moskau.« »Und meine Tournee?« Die Stimme des Mannes am anderen Ende war plötzlich kalt, unversöhnlich, distanziert. »Wird abgesagt. Du trittst heute abend im Konservatorium auf und erfüllst diese Verpflichtung noch. Der erste Direktflug nach Moskau geht ohnehin erst morgen früh. Es wird eine entsprechende Presseerklärung he rausgehen, derzufolge dir deine alte Handgelenkverletzung wieder zu schaffen macht und behandelt werden muß. Das soll te genügen.« Ihr ganzes Leben lang, oder so kam es ihr vor, hatte sie sich gefügt und zugelassen, daß er ihre Karriere bestimmte, weil sie sich seiner aufrichtigen Liebe und Fürsorge bewußt gewesen war. Dies aber waren ganz neue Töne. »Aber Papa!« versuchte sie es noch einmal. »Keine Widerrede. Du tust wie geheißen und folgst Oberst Below aufs Wort. Gib ihn mir wieder.« Sie reichte Below mit zitternder Hand stumm den Hörer. So hatte er noch nie zu ihr gesprochen. War sie denn nicht mehr seine Tochter, sondern nur noch irgendeine Sowjetbürgerin, die man nach Belieben herumkommandierte? »Hier Below, General.« Er lauschte kurz. »Kein Problem. Sie können sich auf mich verlassen.« Er legte auf und öffnete eine Akte auf seinem Schreibtisch. Die Photographie, die er herausnahm und ihr zeigte, stellte 119
Liam Devlin dar. Ein paar Jahre jünger vielleicht, aber unzwei felhaft Devlin. »Dieser Mann ist Ire und heißt Liam Devlin. Er ist Professor an der Universität Dublin und steht in dem Ruf, einen gewissen irischen Charme zu haben. Es wäre jedoch ein Fehler, ihn zu unterschätzen. Dieser Mann war sein ganzes Erwachsenenle ben lang Mitglied der IRA und früher einmal sogar einer ihrer bedeutenden Führer. Außerdem ist er ein fähiger und rück sichtsloser Schütze, der oft getötet hat. Als junger Mann voll streckte er im Auftrag seiner Gruppe Todesurteile.« Tanja holte tief Luft. »Und was hat er denn mit mir zu tun?« »Das braucht Sie nichts anzugehen. Es genügt, wenn Sie wis sen, daß er unbedingt mit Ihnen reden will, und das können wir einfach nicht zulassen, nicht wahr, Hauptmann?« Türkin verzog keine Miene. »Nein, Oberst.« »So«, wandte sich Below wieder an Tanja, »und Sie kehren jetzt mit Genossin Rubenowa ins Ritz zurück, begleitet von Leutnant Schepilow und Hauptmann Türkin. Bis zur Abend vorstellung, zu der sie von den beiden eskortiert werden, ver lassen Sie das Hotel nicht. Ich werde am Abend selbst anwe send sein, da später ein Empfang stattfindet, zu dem auch der Botschafter und Präsident Mitterrand kommen werden. Nur seinetwegen haben wir das heutige Konzert nicht abgesagt. Ist Ihnen noch irgend etwas unklar?« »Nein«, sagte sie kalt. Ihr Gesicht war blaß und verkniffen geworden. »Ich sehe nur zu klar.« »Gut«, meinte er. »Dann gehen Sie zurück ins Hotel und ru hen Sie sich aus.« Sie drehte sich um, und Türkin hielt ihr mit einem leic hten, schiefen Lächeln die Tür auf. Sie rauschte an ihm vorbei, ge folgt von einer völlig verängstigten Natascha Rubenowa und Schepilow. Türkin bildete die Nachhut. In Kilrea war Devlin gerade erst heimgekommen. Er hielt 120
sich keine Haushälterin, sondern nur eine alte Zugehfrau, die zweimal in der Woche vorbeikam, Ordnung schaffte und wusch, und das war ihm auch recht so. Er stellte in der Küche den Wasserkessel auf, ging ins Wohnzimmer und baute behe nde ein Kaminfeuer auf. Gerade, als er ein Streichholz daran gehalten hatte, klopfte es an die Terrassentür. Devlin drehte sich um und sah McGuiness. Devlin öffnete rasch. »Das ging aber schnell! Ich bin gerade erst zurückgekommen.« »Was ich fünf Minuten nach Ihrer Landung erfuhr.« McGui ness war wütend. »Was ist los, Liam? Was wird hier gespielt?« »Wovon redest du?« »Von Lewin und Billy; und inzwischen ist Mike Murphy mit zwei Kugeln im Leib aus dem Liffey gefischt worden. Das muß Cuchulain gewesen sein. Darüber sind wir uns beide klar. Die Frage ist nur: woher wußte er Bescheid?« »Darauf habe ich auch keine Antwort parat.« Devlin ho lte zwei Gläser und die Flasche Bushmills und schenkte ein. »Ver such das mal und beruhige dich.« McGuiness trank einen kleinen Schluck. »Ich halte das für ein Leck, und zwar in London. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der britische Geheimdienst schon seit Jahren gründlich infiltriert worden ist.« »Leicht übertrieben, aber etwas Wahres ist schon dran«, meinte Devlin. »Wie ich schon früher sagte, glaubt Ferguson, daß die undichte Stelle bei euch ist.« »Quatsch! Schnappen wir uns Tscherny und quetschen ihn aus.« »Denkbar«, sagte Devlin. »Aber das müßte ich erst mit Fer guson abklären. Lassen wir uns noch einen Tag Zeit.« »Na schön«, versetzte McGuiness mit offenkundigem Wi derwillen. »Ich bleibe in sehr engem Kontakt, Liam.« Dann verschwand er durch die Terrassentür. 121
Devlin goß sich noch einen Whiskey ein, ließ sich nieder, ge noß ihn, dachte nach und griff dann nach dem Telefon. Er wollte schon wählen, zögerte aber, legte den Hörer wieder auf, holte das schwarze Gerät aus der Schublade und schaltete es ein. Keine Reaktion; weder vom Telefon noch irgendwo sonst im Zimmer. »Hm«, meinte er. »Also entweder Ferguson oder McGuiness. An einem von beiden hängt es.« Er wählte Fergusons Nummer am Cavendish Square. Es wur de sofort abgehoben. »Hier Fox.« »Ist er da, Harry?« »Im Augenblick nicht. Wie war’s in Paris?« »Nettes Mädchen. Hab’ sie gemocht. Kam mir sehr verwirrt vor. Ich konnte ihr nur die Fakten präsentieren, mehr war nicht drin. Sie nahm das Material, das euer Kurier rüberbrachte, an, aber ich würde da nicht zu optimistisch sein.« »War ich nie«, versetzte Fox. »Können Sie diese Geschichte in Dublin ausbügeln?« »McGuiness war schon bei mir. Er will sich Tscherny schnappen und ein bißchen altmodischen Druck machen.« »Ist vielleicht die beste Lösung.« »Aber Harry, Belfast hat wirklich bei dir seine Spuren hinter lassen. Trotzdem kannst du recht haben. Ich habe ihn für einen Tag hingehalten. Wenn Sie mich brauchen, erreichen Sie mich hier. Ich habe dem Mädchen übrigens meine Karte gegeben. Sie hielt mich für einen verkrachten Romantiker, Harry. Stellen Sie sich das mal vor!« »Sie spielen die Rolle überzeugend, aber ich habe sie Ihnen nie ganz abgenommen.« Fox lachte und legte auf. Devlin blieb eine Weile mit gerunzelter Stirn sitzen, und dann wurde wieder an die Terrassentür geklopft. Sie ging auf, Harry Cussane trat ein. »Harry!« rief Devlin, »dich schickt der Himmel. Du machst 122
das beste Rührei der Welt.« »Mit Schmeichelei kommst du bei mir nicht durch.« Cussane goß sich einen Whiskey ein. »Wie war’s in Paris?« »In Paris?« meinte Devlin. »Ach, das war nur ein Witz. Ich war im Auftrag der Universität in Cork an einem Filmfestival. Habe dort übernachtet, bin gerade mit dem Auto zurückge kommen und total ausgehungert.« »Na schön«, sagte Harry Cussane. »Du deckst den Tisch, ich mache Rührei.« »Bist ein guter Kumpel, Harry«, sagte Devlin. Cussane blieb in der Tür stehen. »Und warum auch nicht, Liam? Schließlich kennen wir uns schon lange genug.« Er läche l te leicht und verschwand in der Küche. Tanja nahm ein heißes Bad und hoffte, es würde sie entspan nen. Es klopfte, und Natascha Rubenowa trat ein. »Kaffee?« »Hm, danke.« Tanja legte sich ins warme Schaumbad zurück und schlürfte dankbar den Kaffee. Natascha zog einen kleinen Hocker heran und setzte sich. »Du mußt sehr vorsichtig sein, mein Herz. Verstehst du mich?« »Sonderbar«, erwiderte Tanja. »So bin ich noch nie gewarnt worden.« Nun ging ihr auf, daß sie seit dem Alptraum von Drumore, der sie nur manchmal noch nachts plagte, immer ein behütetes Leben geführt hatte. Maslowski und seine Frau waren gute Eltern gewesen. Es hatte ihr an nichts gefehlt. In einer soziali stischen Gesellschaft, die zu Lenins Zeiten unter der Vision »Alle Macht dem Volke« entstanden war, hatte sich die Macht rasch zum Vorrecht der wenigen entwickelt. Sowjetrußland war zu einer Elitegesellschaft gewo rden, in der es darauf ankam, was man war, nicht wer; und Tanja war halt Iwan Maslowskis Tochter. Das bedeutete die komfortabel ste Wohnung, die besten Schulen, sorgsame Förderung ihres Talents. Wenn sie auf dem Weg zum Landhaus der Familie 123
durch Moskau fuhr, dann in einer Limousine mit Chauffeur und auf einer Spur, die nur für die Oberen der Hierarchie reser viert war. Die Delikatessen, die ihren Tisch zierten, die Kle ider, die sie trug, stammten aus dem Kaufhaus GUM, waren aber nur mit spezieller Bezugskarte erhältlich. Alles das hatte sie ignoriert, ebenso wie die politischen Pro zesse und den Gulag. Auf ähnliche Weise hatte sie die noch harschere Realität von Drumore verdrängt, wo ihr Vater tot auf der Straße gelegen und Maslowski das Kommando gehabt hat te. »Geht es dir auch gut?« fragte Natascha. »Aber sicher. Reichst du mir bitte mal ein Badetuch?« Tanja wickelte es um. »Hast du das Feuerzeug gesehen, mit dem Türkin mir die Zigarette ansteckte?« »Genau nicht.« »Es war von Cartier und aus Massivgold. Wie sagte Orwell in der ›Farm der Tiere‹? Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als die anderen.« »Ich bitte dich, mein Herz«, sagte Natascha Rubenowa sicht lich erregt. »So etwas darfst du nicht sagen.« »Da hast du recht.« Tanja lächelte. »Ich bin bloß sauer. So, und nun würde ich mich gerne hinlegen, damit ich für heute abend frisch bin.« Sie gingen ins Schlafzimmer, wo Tanja ins Badetuch gehüllt ins Bett kroch. »Stehen sie noch draußen?« »Ja.« »Ich will jetzt schlafen.« Natascha zog die Vorhänge zu und ging hinaus. Ta nja lag im Dunkeln und dachte nach. Die Ereignisse der letzten Stunden stellten an sich schon einen Schock dar, aber am bedeutsamsten fand sie seltsamerweise die Art, auf die man mit ihr umge sprungen war. Tanja Woroninowa, international gefeierte Künstlerin, der von Breschnew persönlich die Kulturmedaille überreicht worden war, hatte die ganze Härte des Staates zu 124
spüren bekommen. Für den Großteil ihres Lebens war sie je mand gewesen, dank Maslowski. Nun hatte man ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß auch sie nur eine Nummer war, wenn es darauf ankam. Das reichte. Sie knipste die Nachttischlampe an, griff nach ihrer Tasche und nahm den Umschlag heraus, den sie von Dev lin bekommen hatte. Der britische Paß war ein Prachtstück; laut Datum vor drei Jahren ausgestellt. Er enthielt ein amerika nisches Visum. Die USA hatte sie zweimal besucht, ebenso Westdeutschland, Italien und Spanien. Der letzte Stempel war von der französischen Paßkontrolle und eine Woche alt. Nette Idee. Sie hieß Joanna Frank, Geburtsort London, Beruf: Jour nalistin. Das Paßbild sah ihr, wie Devlin gesagt hatte, täu schend ähnlich. Der Umschlag enthielt sogar zwei an ihre Lo n doner Adresse in Chelsea gerichtete Privatbriefe, eine Ameri can-Express-Karte und einen britischen Führerschein. Man hatte wirklich an alles gedacht. Die Alternativrouten waren klar dargestellt. Es bestand die Möglichkeit eines Direktfluges von Paris nach Lo ndon, aber die schied aus. Erstaunlich, wie kühl und berechnend sie nun war. Es ging ein Zug von Paris nach Rennes, wo sie Anschluß nach St. Malo, einer Küstenstadt in der Bretagne, hatte. Von dort gab es eine Tragflügelboot-Verbindung zur Kanalinsel Jersey. Und von Jersey starteten mehrmals täglich Maschinen nach London. Sie stand leise auf, ging auf Zehenspitzen ins Bad und machte die Tür hinter sich zu. Dann hob sie den Hörer des Wandtele fons ab und rief den Empfang an. Dort war man höchst effi zient. Jawohl, es ging ein Nachtzug nach Rennes, um dreiund zwanzig Uhr ab Gare du Nord. In Rennes ein kurzer Aufent halt, aber sie sollte St. Male zur Frühstückszeit erreichen. Ge nug Zeit also, das Tragflügelboot zu nehmen. Sie betätigte die Toilettenspülung und ging zurück ins Zim mer, recht zufrieden mit sich selbst, weil sie weder ihren Na 125
men noch ihre Zimmernummer genannt hatte. Die Anfrage hätte von jedem der Hunderten von Gästen kommen können. »Tanja, sie zwingen dir einen Dschungel-Instinkt auf«, sagte sie leise vor sich hin. Aus dem Kleiderschrank holte sie ihre Reisetasche, in der sie alle ihre Utensilien zu Konzerten mitnahm. Viel konnte sie darin nicht verstecken; das würde auffallen. Sie dachte eine Weile nach, holte dann ein Paar Stiefel aus weichem Wildleder und rollte sie so auf, daß sie sich säuberlich auf dem Boden der Tasche verstauen ließen. Anschließend nahm sie einen schwar zen einteiligen Hosena nzug vom Bügel, faltete ihn und legte ihn dazu. Obendrauf kamen ihre Noten und die Orchesterparti tur, die sie studiert hatte. Mehr war nicht zu tun. Sie ging ans Fenster und spähte hin aus. Es regnete wieder, und sie fröstelte, fühlte sich auf einmal einsam, dachte an Devlin und seine innere Stärke. Kurz erwog sie, ihn anzurufen, aber das kam nicht in Frage, nicht von hier aus. Sie legte sich wieder ins Bett und knipste die Lampe aus. Wenn sie nun doch nur eine oder zwei Stunden schlafen könn te! In ihrem Bewußtsein tauchte ein Gesicht deutlich auf: Cu chulains kalkweißes Antlitz und seine dunklen Augen ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Zum Konzert trug sie ein schwarzes Samtkleid von Baimain mit passender Jacke. Die Perlen, die sie am Hals und an den Ohren trug, sollten Glück bringen; die Maslowskis hatten sie ihr vor der Endrunde des Tscha ikowsky-Wettbewerbs, ihres größten Triumphes, zum Geschenk gemacht. Natascha kam herein und blieb an der Frisierkommode hinter ihr stehen. »Bist du soweit? Die Zeit wird knapp.« Sie legte Tanja eine Hand auf die Schulter. »Du siehst bezaubernd aus.« »Oh, danke. Meine Tasche habe ich schon gepackt.« Natascha hob sie auf. »Hast du auch ein Handtuch hineinge tan? Das vergißt du sonst immer.« Ehe Tanja Einspruch erhe ben konnte, hatte sie den Reißverschluß aufgezogen und er 126
starrte, schaute das Mädchen mit großen Augen an. »Bitte, Natascha«, sagte Tanja leise. »Wenn ich dir je etwas bedeutet habe…« Die ältere Frau holte tief Luft, ging ins Bad und kam mit ei nem Handtuch zurück, das sie zusammenfaltete und in die Ta sche legte. Dann zog sie den Reißve rschluß zu. »So«, sagte sie. »Wir sind fertig.« »Regnet es noch?« »Ja.« »Dann lasse ich das Samtcape hier und nehme lieber den Trenchcoat mit.« Natascha holte ihn aus dem Kleiderschrank und legte ihn ihr über die Schultern. Tanja spürte kurz den Druck ihrer Hände. »So, jetzt müssen wir gehen.« Tanja nahm die Tasche, öffnete die Tür und ging ins Neben zimmer, wo Schepilow und Türkin warteten. Für den Empfang nach der Vorstellung hatten sich beide in Smokings geworfen. »Genossin, Sie sehen großartig aus«, sagte Türkin. »Sie wer den Ihrem Land Ehre machen.« »Sparen Sie sich die Komplimente, Hauptmann«, gab sie fro stig zurück. »Wenn Sie sich nützlich machen wo llen, können Sie meine Tasche tragen.« Sie reichte ihm das Gepäckstück und rauschte hinaus. Der Konzertsaal des Konservatoriums war bis auf den letzten Platz besetzt, und als sie die Bühne betrat, erhob sich das Or chester zur Begrüßung. Beifall rauschte auf, und das Publikum folgte Präsident Mitterrands Beispiel und erhob sich ebenfalls. Sie nahm am Flügel Platz, aller Lärm verstummte. Es herrschte totale Stille, als der Dirigent mit erhobenem Takt stock wartete. Dann senkte er ihn, das Orchester begann zu spielen, und Tanja Woroninowas Hände glitten über die Ta sten. Sie war von Freude, ja fast Ekstase erfüllt und spielte wie nie 127
zuvor in ihrem Leben, mit einer dynamischen Energie, als sei etwas seit Jahren in ihr Eingeschlossenes nun befreit worden. Das Orchester reagierte, als ve rsuchte es, mit ihr Schritt zu halten, so daß sie am Ende, beim dramatischen Finale von Rachmaninows süperbem Konzert, zu einem Ganzen ver schmolzen; ein Erlebnis, das nur wenige der an diesem Abend Anwesenden je vergessen sollten. Vom Publikum kam ein Aufschrei, wie sie ihn noch nie ge hört hatte. Sie wandte sich ihren Zuhörern zu, hinter ihr war das Orchester auf den Beinen, applaudie rte, jemand warf eine Blume auf die Bühne. Sie trat seitlich hinter den Vorhang, wo Natascha tränenüber strömt wartete und die Arme um sie warf. »Liebling, du warst wunderbar. Besser, als ich dich je gehört habe.« Tanja umarmte sie fest. »Ich weiß. Das ist meine Nacht, Na tascha, die eine Nacht, in der ich es mit der ganzen Welt auf nehmen kann, wenn’s sein muß, und am Ende gewinne.« Dann ging sie wieder hinaus auf die Bühne und stellte sich ihrem Publikum, dessen Be ifall nicht enden wollte. Francois Mitterrand, Präsident der Republik, ergriff ihre bei den Hände und küßte sie herzlich. »Mademoiselle, meine Be wunderung. Eine außergewöhnliche Darbietung.« »Wie liebenswürdig von Ihnen, Monsieur le President«, er widerte sie in seiner Sprache. Die Menge umdrängte sie, als Champagner ausgeschenkt wurde, und die Blitzlichter der Presse flammten auf, als der Präsident ihr zutrank und sie dann dem Kultusminister und anderen vorstellte. Sie erspähte Schepilow und Türkin, die an der Tür standen und mit Nikolai Below sprachen, der in seinem Smoking aus Samt mit Rüschenhemd sehr attraktiv aussah. Er hob sein Glas und kam auf sie zu. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach zehn. Wenn sie verschwinden wollte, mußte sie das bald tun. Below griff nach ihrer Rechten und küßte sie. »Pha ntastisch 128
gespielt. Sie sollten öfter wütend werden.« »Ansichtssache.« Sie nahm einem Kellner noch ein Glas Champagner vom Tablett. »Das gesamte diplomatische Korps ist hier. Sie müssen sehr zufrieden sein. Ein Triumph.« »Sicher, aber wir Russen hatten schon immer eine Seele für Musik, die gewissen anderen Völkern fehlt.« Sie sah sich um. »Wo ist Natascha?« »Dort drüben bei der Presse. Soll ich sie holen?« »Das ist nicht nötig. Ich muß mal kurz in meine Garderobe, komme aber gut allein zurecht.« »Aber sicher.« Er nickte Türkin zu, der herüberkam. »Begle i ten Sie die Genossin Woroninowa zu ihrer Garderobe, Türkin. Warten Sie dort auf sie und eskortieren Sie sie zurück.« Er lä chelte Tanja zu. »Wir wollen ja nicht, daß Ihnen in dem Ge dränge etwas zustößt.« Die Menge machte ihr Platz, man lächelte ihr zu und hob die Gläser. Türkin folgte ihr durch den engen Korridor, bis sie an der Garderobe angelangt war. Sie öffnete die Tür. »Ich darf doch wohl allein auf die Toilet te gehen?« Er lächelte spöttisch. »Wenn Sie darauf bestehen, Genossin.« Er nahm eine Zigarette heraus und steckte sie an, als Tanja die Tür zumachte. Sie schloß nicht ab, kickte einfach ihre Schuhe weg, zog die Jacke aus, öffnete den Reißverschluß des reizenden Kleides und ließ es zu Boden fallen. Im Nu hatte sie den Hosenanzug aus der Tasche geholt, war hineingeschlüpft, zog den Reißverschluß zu und die Wildlederstiefel an. Sie nahm Trenc hcoat und Handtasche, betrat die Toilette, machte die Tür zu und verriegelte sie. Das Fenster hatte sie sich schon zuvor angesehen. Es war groß genug zum Durchschlüpfen und öffnete sich auf einen kleinen Hof vorm Erdgeschoß des Konservatoriums. Sie stieg auf den Toilettensitz und schlängelte sich hinaus. Es regnete 129
nun heftig. Sie zog ihren Trenchcoat an, griff nach ihrer Um hängetasche und lief zum Tor, das von innen verriegelt war und sich leicht öffnen ließ. Einen Augenblick später eilte sie auf der Suche nach einem Taxi die Rue de Madrid entlang. 8 Devlin betrachtete sich im Spätprogramm einen Spielfilm, als das Telefon ging. Die Verbindung war so klar, daß er glaubte, es müsse sich um ein Ortsgespräch ha ndeln. »Professor Devlin?« »Am Apparat.« »Ich bin Tanja – Tanja Woroninowa.« »Wo sind Sie?« fragte Devlin erregt. »In Paris, im Bahnhof Gare du Nord. Ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Ich nehme den Nachtzug nach Rennes.« »Nach Rennes?« fragte Devlin verwundert. »Was in aller Welt wollen Sie denn dort?« »Dort steige ich in einen Zug nach St. Malo um. Zum Früh stück bin ich dort. Dann geht ein Tragflügelboot nach Jersey, wo ich praktisch in England bin und in Sicherheit. Da mir nur ein paar Minuten zum Entwischen blieben, fand ich es wahr scheinlich, daß die anderen von Ihren Leuten vorgeschlagenen Routen blockiert sind.« »Sie haben es sich also anders überlegt. Warum?« »Sagen wir einfach, mir ist klargeworden, daß ich Sie mag und die anderen nicht. Was nicht bedeutet, daß ich mein Land hasse. Nur einige Leute dort. So, jetzt muß ich Schluß ma chen.« »Ich verständige London«, sagte Devlin. »Rufen Sie mich aus Rennes an. Viel Glück.« 130
Es wurde aufgelegt. Er blieb mit dem Hörer in der Hand ste hen, ein leicht ironisches, verwundertes Lächeln im Gesicht. »Was sagst du jetzt?« meinte er leise. »Die Art Mädchen, die man seiner Mutter vorstellt.« Er rief Cavendish Square an und bekam sofort Antwort. »Hier Ferguson.« Er klang übellaunig. »Sitzen Sie vielleicht im Bett und gucken sich im Fernsehen den alten Bogart-Film an?« erkundigte sich Devlin. »Guter Gott, sind Sie unter die Hellseher gegangen?« »Na, dann können Sie jetzt abschalten und aus dem Bett stei gen. Das Spiel läuft, und zwar mit Volldampf.« Fergusons Tonfall änderte sich. »Was sagen Sie da?« »Daß Tanja Woroninowa durchgebrannt ist und mich gerade aus der Gare du Nord angerufen hat. Sie nimmt den Nachtzug nach Rennes, steigt dort nach St. Malo um und will morgen früh mit dem Tragflügelboot nach Jersey. Die anderen Routen könnten blockiert sein, meint sie.« »Kluges Mädchen«, entgegnete Ferguson. »Die Russen wer den jeden verfügbaren Trick anwenden, um sie zurückzuho len.« »Wenn Sie in Rennes ist, ruft sie mich wieder an. Über den Daumen gepeilt wäre das um halb vier oder vier.« »Großartig«, meinte Ferguson. »Bleiben Sie am Apparat sit zen. Ich melde mich wieder.« Harry Fox wollte in seiner Wohnung vorm Zubettgehen ge rade unter die Dusche, als das Telefon ging. Er hob fluchend ab. Es war ein langer Tag gewesen, und er hatte seinen Schlaf bitter nötig. »Harry?« Beim Klang von Fergusons Stimme wurde er sofort hellwach. »Ja, Sir?« »Kommen Sie sofort rüber. Es gibt Arbeit.« 131
Cussane arbeitete in seinem Zimmer an der Sonntagspredigt, als der mit den Lauschgeräten auf dem Speicher verbundene Sensor ansprach. Ehe er oben angelangt war, hatte Devlin schon aufgelegt. Er ließ das Band ablaufen und lauschte ange strengt. Als die Passage zu Ende war, blieb er sitzen und dachte über die Implikationen nach, die allesamt ungünstig waren. Dann ging er hinunter in sein Arbeitszimmer und rief bei Tscherny an. Der Professor meldete sich. »Ich bin’s«, sagte Cussane. »Bist du allein?« »Ja, ich wollte gerade ins Bett gehen. Von wo rufst du an?« »Von zu Hause. Wir haben ein übles Problem. Hör jetzt mal genau zu.« Als er geendet hatte, meinte Tscherny: »Das wird ja im mer schlimmer. Was soll ich tun?« »Sprich sofort mit Lubow. Er soll auf der Stelle Kontakt mit Below in Paris aufnehmen. Mag sein, daß sie sie noch aufhal ten können.« »Und wenn nicht?« »Dann werde ich die Sache selbst erledigen müssen, wenn sie hier auftaucht. Ich melde mich wieder. Bleib also am Apparat.« Er schenkte sich einen Whiskey ein und stellte sich vors Feu er. Sonderbar, er sah in ihr immer noch das dürre kleine Mäd chen im Regen. Er hob sein Glas und sagte leise: »Auf dein Wohl, Tanja Wo roninowa. Mal sehen, wie gut du den Dreckskerlen einheizen kannst.« Binnen fünf Minuten hatte Türkin festgestellt, daß etwas nicht stimmte, die Garderobe betreten und die verriegelte To ilettentür entdeckt. Als sein Klopfen nur mit Schweigen beant wortet wurde, brach er die Tür auf. Die leere Toilette, das offe ne Fenster erklärten alles. Er kletterte hinaus, ließ sich in den Hof fallen und ging zur Rue de Madrid. Keine Spur von ihr. Er lief schnell um das Konservatorium herum und betrat es durch 132
den Haup teingang wieder, schwarzen Haß in seine m Herzen. Seine Karriere war ruiniert, sein Leben verpfuscht, und nur wegen diesem verdammten Frauenzimmer. Below hatte ein frisches Glas Champagner in der Hand und war in ein Gespräch mit dem Kultusminister vertieft, als Türkin ihm auf die Schulter klopfte. »Tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Oberst, aber darf ich Sie kurz sprechen?« Er führte ihn in die nächste Ecke und brachte ihm die Hiobsbotschaft bei. Nikolai Below hatte schon immer festgestellt, daß er unter widrigen Umständen sein Bestes zu geben imstande war. Über flüssiges Lamentieren lag ihm nicht. Nun saß er in der Bot schaft an seinem Schreibtisch, Natascha Rubenowa stand ihm gegenüber. Schepilow und Türkin waren an der Tür. »Ich möchte Sie noch einmal fragen, Genossin«, sagte er, »hat sie bei Ihnen irgend etwas verlauten lassen? Von allen mußten Sie doch am ehesten eine Vorstellung von ihren Ab sichten gehabt haben.« Sie war erschüttert und heiter zugleich, was ihr das Lügen er leichterte. »Ich bin genauso ratlos wie Sie, Genosse Oberst.« Er seufzte und nickte Türkin zu, der hinter sie trat und sie auf einen Stuhl stieß. Er zog den rechten Handschuh aus und faßte nach ihrem Hals, quetschte einen Nerv, so daß sie von einer Welle entsetzlicher Schmerzen durchzuckt wurde. »Ich frage Sie noch einmal«, sagte Below sanft. »Seien Sie bitte vernünftig. Ich kann so etwas nicht ausstehen.« Natascha, erfüllt von Schmerz, Wut und einem Gefühl der Erniedrigung, war so tapfer wie noch nie in ihrem Leben. »Bit te, Genosse! Ich schwöre, sie hat mir nichts gesagt. Nichts!« Sie schrie aufs neue auf, als Türkins Finger den Nerv traf. Below winkte ab. »Das reicht. Ich bin überzeugt, daß sie die Wahrheit spricht. Warum sollte sie auch lügen?« Sie saß zusammengesunken da und weinte. »Was nun, Ge nosse?« fragte Türkin. 133
»Wir überwachen alle Flughäfen. Ausgeschlossen, daß sie bisher eine Maschine erwischt hat.« »Und Calais und Boulogne?« »Dorthin sind unsere Leute bereits mit dem Wagen unter wegs. Beide Häfen kann sie frühestens mit einer Morgenfähre verlassen, und ehe die auslaufen, sind unsere Männer da.« Schepilow, der sich selten zu Wort meldete, sagte leise: »Verzeihung, Genosse Oberst, aber haben Sie die Möglichkeit erwogen, daß sie in der britischen Botschaft um Asyl ersucht hat?« »Aber sicher«, gab Below zurück. »Zufällig haben wir aus naheliegenden Gründen seit dem vergangenen Juni am Bot schaftseingang ein Überwachungssystem, das nachts einge schaltet wird. Dort ist sie noch nicht aufgetaucht, aber wenn sie das tut…« Er zuckte die Achseln. Die Tür ging auf, Irana Wronski kam hereingeeilt. »Lubow direkt aus Dublin für Sie, Genosse. Sehr dringend. Der Funk raum hat das Gespräch für Sie auf Leitung eins durchgestellt.« Below hob ab und lauschte. Als er wieder auflegte, lächelte er. »So weit, so gut. Sie sitzt im Nachtzug nach Re nnes. Sehen wir uns einmal die Karte an.« Er machte eine Kopfbewegung zu Natascha hin. »Bringen Sie sie raus, Irana.« »Warum nach Rennes?« fragte Türkin. Below fand die Stadt auf der Wandkarte. »Um dort nach St. Malo umzusteigen. Anschließend will sie ein Tragflügelboot zur Kanalinsel Jersey nehmen.« »Ist das britisches Territorium?« »Ja. Jersey, bester Türkin, mag klein sein, aber mögliche r weise ist es das bedeutendste Offshore-Finanzzentrum der Welt. Die Insel verfügt über einen vorzüglichen Flughafen, von dem aus täglich mehrere Flüge nach London und vielen ande ren Städten abgehen.« »Gut«, meinte Türkin. »Wir müssen also nach St. Malo fah 134
ren und vor ihr dort ankommen.« »Moment. Sehen wir einmal in den Michelin.« Below fand den roten Führer in der linken oberen Schreibtischschublade und blätterte. »Da haben wir es – St. Malo. Gut sechshundert Kilometer von Paris entfernt, ein Gutteil der Strecke über Landstraßen in der Bretagne. Mit dem Auto kommen wir da nie rechtzeitig hin. Gehen Sie mal rüber zu Büro fünf, Türkin, und stellen Sie fest, ob die in St. Malo je manden haben, den wir einsetzen können. Richten Sie Irana aus, ich benötige alle verfügbaren Informationen über Jersey; Flughafen, Hafen, wann Flugzeuge und Schiffe gehen, und so weiter. Beeilen Sie sich.« Am Cavendish Square legte Kim im Wohnzimmer fr ische Scheite aufs Feuer, während Ferguson in einem alten Bade mantel am Schreibtisch saß und sich durch einen Wust von Papieren kämpfte. Der Gurkha erhob sich. »Kaffee, Sahib?« »Himmel, nein, Kim. Schöner frischer Tee am laufe nden Band, dazu irgendwelche belegten Brote. Das überlasse ich Ihnen.« Kim ging hinaus, und Harry Fox kam aus dem Arbeitszim mer geeilt. »So, Sir, hier die Lage. In Rennes hat sie fast zwei Stunden Aufenthalt. Von dort bis nach St. Malo sind es siebzig Meilen. Ankommen wird sie um halb acht.« »Wann geht das Tragflügelboot?« »Um acht Uhr fünfzehn. Die Überfahrt dauert ungefähr ein einviertel Stunden. Jersey hat wie wir Greenwich-Zeit, was bedeutet, daß sie um halb neun eintrifft. Um zehn nach zehn startet eine Maschine nach London, Flughafen Heathrow. Die kann sie mit Leichtigkeit erreichen. Die Insel ist klein, Sir. Nur fünfzehn Taximinuten vom Hafen zum Flugplatz.« »Sie darf aber nicht allein bleiben, Harry. Ich will, daß je mand sie abholt. Sie müssen so bald wie möglich rüberfliegen. 135
Es muß doch eine Frühmaschine geben.« »Die landet erst um neun Uhr zwanzig in Jersey.« »Verflucht!« rief Ferguson und hieb auf den Tisch, als Kim mit dem Tee und einem Teller voller Sandwiches hereinkam, die den unverkennbaren Duft von gegrilltem Frühstücksspeck ausströmten. »Es gibt aber eine Möglichkeit, Sir.« »Und die wäre?« »Mein Vetter Alex, Sir. Alexander Martin. Eigentlich ein Vetter zweiten Grades. Hat mit Finanzen zu tun und ist mit einer Einheimischen verheiratet.« »Martin?« Ferguson runzelte die Stirn. »Der Name kommt mir bekannt vor.« »Denkbar, Sir. Wir haben ihn auch schon eingesetzt. Als er hier bei einer Handelsbank arbeitete, war er viel unterwegs – Genf, Zürich, Berlin, Rom.« »Steht er auf der Aktivliste?« »Nein, Sir. Er diente uns meist als Kurier, aber vor drei Jah ren geriet in Berlin eine Situation außer Kontrolle, in der er sich beachtlich hielt.« »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Ferguson. »Er sollte von einem weiblichen Kontakt Dokumente entgegennehmen, und als er feststellte, daß die Frau enttarnt war, schleuste er sie im Kofferraum durch den Checkpoint Charlie.« »Das ist unser Alex, Sir. War eine Zeitlang Offizier bei den Welsh Guards, diente dreimal in Irland. Musikalisch begabt und ein Spinner, selbst wenn er einen guten Tag hat. Typischer Waliser.« »Ziehen Sie den ran!« sagte Ferguson. »Und zwar sofort, Harry.« Er hatte eine Ahnung, daß auf Martin Verlaß war, und seine Laune besserte sich plötzlich. Er nahm sich ein Sand wich. »Hm, die sind aber lecker.« 136
Alexander Martin war siebenunddreißig, ein hochgewachse ner, gutaussehender Mann, der einen täuschend trägen Ein druck machte und gerne ein duldsames Lächeln aufsetzte, das er in seinem Beruf als Anlageberater auch brauchte. Der einzige Nachteil dieser Tätigkeit, die er seit achtzehn Monaten auf Jersey ausübte, war, wie er seiner Frau Joan mehr als einmal gesagt hatte, die Notwendigkeit, sich mit sehr rei chen Leuten abzugeben, die er als Gruppe aus tiefstem Herzen verabscheute. Doch sein Leben hatte auch seine positiven Seiten. Er war ein vorzüglicher, wenn nicht gar hochbegabter Pianist. Wäre sein Talent größer gewesen, hätte sein Leben ganz anders verlaufen können. Nun saß er im Wohnzimmer seines hübschen Hauses mit Seeblick in St. Aubin und spielte Bach, eine brillante Komposition, die totale Konzentration erforderte. Er trug noch seinen Smoking und hatte sich die schwarze Fliege am Hals gelockert. Das Telefon klingelte einige Male, bis das Geräusch zu seinem Bewußtsein durchdrang. Er runzelte die Stirn, als er merkte, wie spät es war, und nahm ab. »Martin.« »Alex? Hier Harry. Harry Fox.« »Himmel noch mal! Du?« fragte Martin. »Wie geht’s Joan und den Kindern?« »Die sind für eine Woche in Deutschland bei Joans Schwe ster. Ihr Mann ist in Detmold bei deinem alten Verein Major.« »Du bist also Strohwitwer? Ich dachte, du lägst schon im Bett.« »Kam gerade von einer Gesellschaft zurück.« Inzw ischen war Martin hellwach geworden, denn von früheren Erfahrun gen her wußte er, daß dies kein Privatanruf war. »Okay, Harry. Was gibt’s?« »Alex, wir brauchen dich, und zwar dringend, aber in einer anderen Rolle als früher. Auf deiner Insel.« 137
Alexander Martin lachte vor Erstaunen auf. »Hier auf Jersey? Soll das ein Witz sein?« »Hast du mal von einer jungen Frau namens Tanja Woroni nowa gehört?« »Aber klar«, gab Martin zurück. »Eine der besten Konzert pianistinnen, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind. Ich war in einem Konzert von ihr in der Royal Albert Hall. Mein Büro hält sich die Pariser Tageszeitungen. Wie ich lese, gibt sie dort eine Reihe von Konzerten.« »Falsch«, sagte Fox. »Im Augenblick sitzt sie im Nachtzug nach Rennes. Sie will überlaufen, Alex.« »Wie bitte?« »Wenn sie Glück hat, erwischt sie in St. Malo das Tragflü gelboot und kommt um acht Uhr zwanzig in Jersey an. Sie hat einen britischen Paß, ausgestellt auf den Namen Joanna Frank.« Martin sah inzwischen klar. »Und du willst, daß ich sie in Empfang nehme?« »Genau. Und dann sofort zum Flughafen bringst. Dort setzt du sie in die Zehn-Uhr-Maschine nach Heathrow, und das war’s. Wir holen sie dann hier ab. Wirft das irgendwelche Pro bleme für dich auf?« »Natürlich nicht. Ich weiß, wie Sie aussieht. Ich glaube, ich habe sogar noch das Programmheft mit Bild von ihrem Konzert in der Albert Hall.« »Ausgezeichnet«, meinte Fox. »Sobald sie in Rennes ist, ruft sie einen Kontaktmann von uns an. Wir richten ihr aus, daß du sie erwartest.« Ferguson mischte sich ein. »Geben Sie mir mal den Hörer. Hier Ferguson.« »Hallo, Sir.« »Wir sind Ihnen sehr dankbar.« 138
»Nicht der Rede wert, Sir. Nur eins: Was tut die Gegensei te?« »Höchst unwahrscheinlich, daß die sich sehen läßt. Das KGB wird an allen naheliegenden Schlupflöchern sitzen: Charles de Gaulle, Calais, Boulogne. Kaum denkbar, daß ihm dieses hier eingefallen ist. So, ich gebe Sie jetzt an Harry zurück.« »Wir bleiben in Verbindung, Alex«, sagte Fox. »Hier meine Nummer, falls es Probleme geben sollte.« Martin schrieb sie sich auf. »Ist doch nur ein Klacks. Nette Abwechslung von meinem öden Leben als Anlageberater. Ich melde mich wieder.« Er war nun völlig wach und bester Laune. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er goß sich einen Wodka mit Tonic ein, setzte sich ans Klavier und spielte weiter Bach. Büro 5 war jene Abteilung der sowjetischen Botschaft in Pa ris, die sich mit der französischen KP, der Infiltrierung von Gewerkschaften und ähnlichem befaßte. Türkin sah sich dort eine halbe Stunde lang die Akten über St. Malo und Umgebung an, kehrte aber mit leeren Händen zu Below zurück. »Der Haken, Genosse«, sagte er zu Below, »ist die Unzuve r lässigkeit der französischen KP. Wenn es darauf ankommt, stellen die Franzosen die Interessen ihres Landes vor die Par tei.« »Ich weiß«, gab Below zurück. »Das liegt an ihrem angebo renen Glauben an ihre Überlegenheit.« Er wies auf Papiere, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte. »Ich habe mir Jersey gründlich angesehen. Die Lösung ist einfach genug. Kennen Sie den kleinen Flugplatz außerhalb von Paris? Wir haben ihn auch schon benutzt.« »Croix?« fragte Türkin. »Mit Lebels Air-Taxis?« »Genau. Jerseys Flughafen wird früh geöffnet. Sie könnten um sieben dort landen und hätten genug Zeit, zum Hafen zu fahren und sie abzufangen. Ihnen steht die übliche Auswahl an 139
Pässen zur Verfügung. Sie können als französische Geschäfts leute reisen.« »Und wie bringen wir sie zurück?« wollte Türkin wissen. »Auf der Rückreise müssen wir am Flughafen Jersey durch Zoll- und Paßkontrolle. Das geht unmöglich. Sie könnte viel zu leicht Aufsehen erregen.« »Verzeihung, Genosse Oberst«, warf Schepilow ein, »aber ist es denn wirklich nötig, daß wir sie überhaupt mit zurückbrin gen? Schließlich kommt es doch nur darauf an, daß sie zum Schweigen gebracht wird, oder habe ich da den falschen Ein druck gewonnen?« »Das kann man wohl sagen«, versetzte Below kalt. »Ganz gleich, wie heikel die Begleitumstände auch sein mögen, Gene ral Maslowski will sie lebendig zurückhaben. Und ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, Schepilow, wenn Sie melden müs sen, sie erschossen zu haben. Nein, da gibt es eine einfache Lösung. Den Prospekten nach gibt es in St. Helier einen Jacht hafen, wo man auch Boote mieten kann. Türkin, waren Sie nicht früher mal Hobbysegler?« »Jawohl, Genosse.« »Na, also, dann reichen Ihre Kenntnisse doch bestimmt aus, ein Motorboot von Jersey nach St. Malo zu steue rn. Dort kön nen Sie einen Wagen mieten und sie mit dem Auto zurückbrin gen.« »Sehr wohl, Genosse.« Irana brachte ein Tablett mit Kaffee herein. »Prächtig«, mein te Below. »Nun brauchen wir nur noch jemanden, der Monsi eur Lebel aus dem Bett holt. Der Zeitplan sollte hübsch klap pen.« Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Tanja es fertiggebracht, den größten Teil der Zugfahrt zu verschlafen, und mußte von zwei Studenten, die ihr seit Paris Gesellschaft geleistet hatten, erst wachgerüttelt werden. Es war halb vier und eiskalt auf dem 140
Bahnsteig in Rennes, obwohl es zu regnen aufgehört hatte. Die Studenten kannten ein Cafe vorm Bahnhof am Boulevard Beaumont, das die ganze Nacht geöffnet war, und zeigten ihr den Weg. Sie bestellte sich Kaffee und ein Omelett und ging an einen Münzapparat, um Devlin anzurufen. Devlin, der besorgt gewartet hatte, fragte sofort: »Alles in Ordnung?« »Bestens«, gab sie zurück. »Im Zug habe ich sogar geschla fen. Keine Angst, die können keine Ahnung haben, wo ich bin. Wann sehen wir uns wieder?« »Bald«, sagte Devlin. »Aber erst müssen wir Sie sicher nach London schaffen. Jetzt passen Sie auf. Wenn das Tragflüge l boot in Jersey eintrifft, werden Sie von einem Mr. Martin emp fangen, Alexander Martin. Offenbar ein Fan von Ihnen, denn er weiß, wie Sie aussehen.« »Aha. Sonst noch etwas?« »Eigentlich nicht.« »Gut, Professor, dann mache ich mich jetzt über mein Ome lett her.« Sie hängte ein; Devlin legte auf. Donnerwetter, was für ein Mädchen, sagte er sich auf dem Weg in die Küche. Im Haus beim Hospiz telefonierte Harry Cussane bereits mit Paul Tscherny. Croix war ein kleiner Flugplatz mit Kontrollturm, zwei Han gars und drei Nissenhütten. Er war auch das Hauptquartier ei nes Aero-Clubs, wurde aber auch von Pierre Lebel benutzt, der hier seinen Air-Taxi-Service betrieb. Lebel war ein dunkelhä u tiger, schweigsamer Mann, der niemals Fragen stellte, wenn der Preis stimmte. Lebel war schon mehrmals für Below geflo gen und kannte Türkin und Schepilow gut. Daß sie Russen waren, ahnte er nicht. Die beiden hatten ihm schon immer ei nen illegalen Eindruck gemacht, aber solange keine Drogen im 141
Spiel waren und gutes Geld dabei herauskam, störte ihn das nicht. Er wartete schon auf die beiden, als sie eintrafen, und zog das Tor des Haup thangars auf, damit sie hineinfahren konnten. »Welche Maschine nehmen wir?« fragte Türkin. »Die Chieftain, weil sie schneller ist als die Cessna. Wir ha ben bis St. Malo Gegenwind.« »Wann fliegen wir los?« »Sobald Sie wollen.« »Ich dachte, der Flughafen in Jersey würde erst um sieben geöffnet?« »Da hat Ihnen jemand was Falsches erzählt. Offiziell wird für Lufttaxis um halb acht aufgemacht. Inoffiziell aber ist der Flughafen ab halb sechs offen, für den Papierflieger.« »Papierflieger?« »Eine Maschine, die Zeitungen und Post aus England bringt. Die Luftlotsen dort haben gewöhnlich Verständnis, wenn man um eine frühe Landeerlaubnis bittet, besonders, wenn man be kannt ist. Hatte ich nicht den Eindruck, dieser Flug sei ziemlich dringend?« »Das kann man wohl sagen«, versetzte Türkin. »Gut, dann gehen wir ins Büro und regeln die geschäftliche Seite.« Das Büro, das man über eine wacklige Treppe erreic hte, war klein und vollgestopft, der Schreibtisch unordentlich, das Gan ze nur von einer nackten Glühbirne erhellt. Türkin reichte Le bel einen Umschlag. »Zählen Sie das lieber«, meinte er. »Und ob«, gab der Franzose zurück. In diesem Augenblick ging das Telefon. Er hob sofort ab und gab dann den Hörer an Türkin weiter. »Für Sie.« »Sie hat von Rennes aus Devlin kontaktiert«, sagte Below. »In Jersey wird sie von einem Alexander Martin vom Tragflü 142
gelboot abgeholt.« »Ist das ein Professioneller?« fragte Türkin. »Über ihn liegen überhaupt keine Informationen vor. Wir ha t ten nicht erwartet, daß die Gegenseite ausgerechnet auf Jersey jemanden sitzen hat.« »Kein Problem«, meinte Türkin. »Damit werden wir fe rtig.« »Viel Glück.« Es wurde aufgelegt. Türkin wandte sich an Lebel. »Gut, wir sind bereit.« Es war gerade sechs, als sie auf dem Flughafen Jersey lande ten, an einem klaren, windigen Morgen. Im Osten wurde es schon hell; ein oranges Glühen am Horizont kündigte den Son nenaufgang an. Der Beamte an Zoll- und Paßkontrolle war nett und höflich. Warum auch nicht, denn ihre Papiere waren in Ordnung, und auf Jersey wurden jährlich französische Besu cher zu Tausenden abgefertigt. »Bleiben Sie hier?« fragte er Lebel. »Nein, ich fliege sofort zurück nach Paris« erwiderte der Franzose. »Und Sie, Gentlemen?« »Wir sind auf einer drei- oder viertägigen Geschäfts- und Vergnügungsreise«, erklärte Türkin. »Nichts zu deklarieren? Haben Sie das Hinweisschild gele sen?« »Kein Stück.« Türkin hielt ihm seine Reisetasche hin. Der Beamte schüttelte den Kopf. »Schon gut, Gentlemen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Sie verabschiedeten sich mit Handschlag von Lebel und gin gen hinaus in die Ankunftshalle, die zu dieser frühen Stunde menschenleer war. Draußen parkten zwei Wagen, aber der Ta xistand war leer. Türkin ging auf einen Münzfernsprecher zu, aber Schepilow berührte ihn am Arm und wies nach draußen. 143
Dort fuhr gerade ein Taxi am Eingang vor. Zwei Stewardes sen stiegen aus und betraten das Terminal. Die beiden Russen warteten, bis das Taxi neben ihnen hielt. »Sie sind aber früh dran, Gentlemen«, bemerkte der Fahrer. »Ja, frisch aus Paris eingetroffen«, erwiderte Türkin. »Priva t flug.« »Aha. Wohin darf ich Sie bringen?« Türkin, der während des Fluges den von Irana besorgten Re i seführer von Jersey und ganz besonders den Stadtplan von St. Helier studiert hatte, sagte: »Zur Brückenwaage am Hafen, bitte.« Das Taxi fuhr an. »Ein Hotel brauchen Sie also nicht?« »Wir treffen uns später mit Freunden, die sich um solche Sa chen kümmern werden. In der Zwischenzeit wollten wir etwas frühstücken.« »Da sind Sie in der richtigen Gegend. Dicht bei der Brük kenwaage gibt es ein Café, das früh aufmacht. Ich werde es Ihnen zeigen.« Auf den Straßen herrschte um diese Zeit kaum Verkehr, und die Fahrt nach Bei Royal und durch die vierspurige Victoria Avenue nahm kaum mehr als zehn Minuten in Anspruch. In zwischen ging die Sonne auf, und der Blick über die St.-AubinBucht war spektakulär. Da Flut war, stand das Elizabeth Castle auf seinem Felsen vom Wasser umgeben. Vor ihnen lag die Stadt mit dem Wellenbrecher des Hafens, im Hintergrund rag ten Kräne auf. Am Ende der Strandpromenade bog der Fahrer auf einen Parkplatz ein. »So, da wären wir, an der Brückenwaage. Dort ist das Fremdenverkehrsbüro, das später offen ist, falls Sie Auskünfte brauchen. Das Café finden Sie auf der anderen Stra ßenseite gleich um die Ecke. Und das macht drei Pfund.« Türkin, der von Irana mehrere hundert Pfund Sterling erha l ten hatte, nahm einen Fünfer aus der Brieftasche. »Behalten Sie 144
den Rest. Vielen Dank für die Auskünfte. Wie kommt man von hier zum Jachthafen?« Der Fahrer wies ihnen den Weg. »Er liegt am anderen Ende des Hafens. Da kommen Sie zu Fuß hin.« Türkin machte eine Kopfbewegung zum Wellenbrecher, der in die Bucht hinauslief. »Kommen die Fähren dort an?« »Ja, am Albert-Kai. Von hier aus können Sie die Rampe für die Autofähre sehen. Die Tragflügelboote legen weiter draußen an.« »Gut«, meinte Türkin. »Vielen Dank.« Sie stiegen aus, und das Taxi fuhr weg. Nur wenige Meter entfernt war eine öffentliche Bedürfnisanstalt, auf die Türkin wortlos zuhielt, gefolgt von Schepilow. Drinnen öffnete Türkin seine Reisetasche, wühlte unter der Kleidung, hob den doppel ten Boden und legte zwei Faustfeuerwaffen frei. Eine steckte er sich in die Tasche, die andere gab er Schepilow. Es waren au tomatische Pistolen mit Schalldämpfer. Türkin zog den Reißverschluß seiner Reisetasche zu. »So weit, so gut. Sehen wir uns einmal im Jachthafen um.« Es waren mehrere hundert Boote aller Arten und Größen ve r täut: Jachten, Motorkreuzer, Schnellboote. Eine Bootsvermie tung fanden sie leicht genug, aber sie war noch geschlossen. »Zu früh«, meinte Türkin. »Gehen wir mal runter und scha u en uns um.« Sie schritten auf einem der schwankenden Pontons entlang, zu deren beiden Seiten Boote vertäut waren, blieben stehen, machten kehrt, betraten einen anderen. Bei Türkin war immer alles glatt gelaufen. Er vertraute auf sein Glück. Dieser Zirkus wegen Tanja Woroninowa bedeutete nur einen kleinen Karrie reknick, den er bald wieder geradebiegen würde, davon war er unterdessen fest überzeugt. Und nun griff das Schicksal ins Spiel ein. Am Ende des Pontons lag ein blendend weißer Motorkreuzer 145
mit einem blauen Streifen über der Wasserlinie. Auf dem Heck stand Alouette, und registriert war das Boot in Granville, einem Hafen nicht weit von St. Malo, wie Türkin wußte. Ein Paar, das sich auf französisch unterhielt, kam an Deck. Der Mann war groß, bärtig und trug eine Brille und eine Matrosenjacke. Die Frau hatte Jeans und eine blaue Jacke an und trug ein Kopf tuch. Als der Mann ihr über die Reling half, hörte Türkin ihn sa gen: »Wir gehen zur Bushaltestelle und nehmen von dort ein Taxi zum Flughafen. Die Maschine nach Guernsey startet um acht.« »Für wann ist unser Rückflug gebucht?« fragte sie. »Vier Uhr. Noch Zeit für ein Frühstück auf dem Flughafen.« Sie entfernten sich. »Wo liegt Guernsey?« fragte Schepilow. »Das ist die nächstgelegene Insel«, erklärte Türkin. »Habe ich im Reiseführer gelesen. Zwischen den Inseln verkehren mehrmals täglich Flugzeuge. Der Flug dauert nur fünfzehn Minuten. Ein Tagesausflug für Touristen.« »Denkst du, was ich denke?« erkundigte sich Schepilow. »Hübsches Boot«, meinte Türkin. »Wenn die beiden heute nachmittag zurückkommen, sind wir längst in St. Malo und schon Stunden unterwegs.« Er nahm eine Packung französi scher Zigaretten heraus und bot seinem Begleiter eine an. »Warten wir ab, bis sie fort sind, dann sehen wir genauer nach.« Sie machten einen kurzen Spaziergang auf den Pontons, kehr ten nach zehn Minuten zurück und gingen an Bord. Die Tür zum Niedergang war abgeschlossen. Schepilow holte ein Klappmesser aus der Tasche und brach sie geschickt auf. Unter Deck fanden sie zwei adrett möblierte Kabinen, einen Salon und eine Kombüse. Sie gingen zurück an Deck und zum Steu erhaus. Dessen Tür war unve rschlossen. »Der Zündschlüssel fehlt«, sagte Schepilow. 146
»Kein Problem. Gib mir mal dein Messer.« Türkin hantierte hinterm Armaturenbrett und zog mehrere Kabel heraus. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er den richtigen Kontakt hergestellt hatte, und als er auf den Anlasserknopf drückte, sprang der Motor sofort an. Er warf einen Blick auf den Kraft stoffanzeiger. »Tank dreiviertel voll.« Er löste die Kabelver bindung wieder. »Iwan, heute ist unser Glückstag«, sagte er zu Schepilow. Sie gingen zurück zum anderen Ende des Hafens, bogen auf den Albert-Kai ein, blieben an dessen Spitze stehen und be trachteten sich die Anlegestelle für das Tragflügelboot. »Vorzüglich.« Türkin sah auf die Armbanduhr. »Jetzt brau chen wir nur noch abzuwarten. Suchen wir uns dieses Café und frühstücken etwas.« In St. Malo glitt das Tragflügelboot aus dem Hafen. Es war fast vollbesetzt, vorwiegend mit französischen Tagesausflüg lern, wie Tanja den Gesprächen, die sie mithörte, entnahm. Nachdem es den Hafen verlassen hatte, beschleunigte das Boot, hob sich aus dem Wasser und Tanja schaute in Hochstimmung hinaus in den Morgen. Sie hatte es geschafft, allen ein Schnippchen zu schlagen. Wenn Sie erst einmal Jersey erreicht hatte, war sie so gut wie in London. Sie legte sich in ihren be quemen Sitz zurück und schloß die Augen. Alex Martin bog in seinem großen Peugeot-Kombi auf den Albert-Kai ein und suchte einen günstigen Parkplatz, was nicht einfach war, da gerade die Autofähre aus Weymouth angelegt hatte und viel Betrieb herrschte. Er hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen und begann nun die Nachwirkungen zu fü h len, obwohl ihn eine kalte Dusche und ein kräftiges Frühstück am Morgen schön erfrischt hatten. Er trug marineblaue Hosen, einen Rollkragenpullover gleicher Farbe und einen blaßblauen Sportsakko aus Tweed von Yves St. Laurent; unter anderem, um bei Tanja Woroninowa Eindruck zu machen. Seine Musik bedeutete ihm ungeheuer viel, und die Chance, eine Interpretin 147
kennenzulernen, die er so bewunderte, war ihm wichtiger, als Ferguson oder Fox ahnen konnten. Er fuhr sich mit den Fingern durch das noch ein wenig feuc h te Haar, plötzlich unruhig. Aus dem Handschuhfach des Peu geots nahm er seine Waffe, einen Smith & Wesson Special vom Kaliber 38, das von der CIA bevorzugte extraleichte Airweight-Modell. Vor sechs Jahren hatte er den Revolver in Be lfast einem protestant ischen Terroristen abgenommen, einem Mitglied der illegalen UVF. Der Mann hatte versucht, Martin zu töten, und fast Erfolg gehabt. Nur fast; er war von Martin erschossen worden. Merkwürdig nur, daß das nie auf ihm laste te. Keine Gewissensbisse, keine bösen Träume. »Jetzt mach mal langsam, Alex«, wies er sich leise zurecht. »Wir sind hier auf Jersey!« Doch das Gefühl, auf einmal wieder in Belfast zu sein, die Unruhe, wollte nicht weichen. Er entsann sich eines alten Tricks aus seiner Zeit als Agent und schob sich den Smith & Wesson im Rücken unter den Hosenbund. Eine dort verborge ne Waffe wurde häufig selbst bei Leibesvis itationen übersehen. Er saß wartend da, rauchte eine Zigarette und hörte im Auto radio den Sender Jersey, bis das Tragflügelboot in den Hafen einlief. Auch jetzt stieg er noch nicht aus. Erst mußten die übli chen Formalitäten erledigt werden. Als die ersten Passagiere im Ausgang des Terminals erschienen, stieg er aus und lief los. Tanja erkannte er sofort an ihrem schwarzen Hosena nzug und dem Trenchcoat, den sie über den Schultern hä ngen hatte. Er ging ihr entgegen, um sie zu begrüßen. »Miss Woronino wa?« Sie musterte ihn argwöhnisch. »Oder soll ich lieber sa gen, Miss Frank?« »Wer sind Sie?« »Alexander Martin. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, daß Sie sicher in Ihre Maschine kommen. Ihr Flug geht um zehn Uhr zehn nach London ab. Wir haben also mehr als genug Zeit.« 148
Sie legte eine Hand auf seinen Arm, entspannte sich völlig und wurde Türkin und Schepilow, die auf der anderen Straßen seite halb abgewandt vor der Mauer standen, überhaupt nicht gewahr. »Sie ahnen ja nicht, wie wohl es tut, ein freundliches Gesicht zu sehen.« »Hier entlang.« Er führte sie zu seinem Peugeot. »Letztes Jahr habe ich Sie in der Albert Hall gehört. Sie waren umwer fend gut.« Er ließ sie auf der Beifahrerseite einsteigen, ging dann um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. »Spielen Sie auch Klavier?« fragte sie wie auf eine Einge bung hin. »Schon, aber längst nicht so gut wie Sie.« Er drehte den Zündschlüssel um. Hinter ihnen wurden die Fondtüren geöffnet, und die beiden Russen stiegen ein, Türkin hinter Tanja. »Kein Wort, auf Ihr Rückgrat und Ihres ist je eine Pistole mit Schalldämpfer geric h tet, und die Rücklehnen sind nicht gerade kugelsicher. Wir können Sie lautlos töten und einfach verschwinden.« Tanja versteifte sich und stieß einen kleinen Schrei aus. Alex Martin fragte gelassen: »Kennen Sie diese Männer?« »Sie sind vom Militärgeheimdienst GRU.« »Ah, so ist das«, meinte Martin. »Und was passiert jetzt?« fragte er Türkin. »Sie kommt mit uns, falls wir sie mitnehmen können. Wenn nicht, stirbt sie. Wichtig ist nur, daß sie nicht mit den falschen Leuten redet. Eine dumme Bewegung von Ihnen, und sie kommt als erster dran.« »Davon bin ich überzeugt.« »Jawohl, weil wir stark sind und Sie schwach, Sie Schö n ling«, knurrte Türkin. »Deshalb werden wir siegen und in den Buckingham-Palast marschieren.« »Falsche Jahreszeit, mein Bester«, versetzte Alex. »Die 149
Queen ist in Sandringham.« Türkin guckte finster. »Sehr witzig. Los jetzt, fahren Sie die Kiste rüber zum Jachthafen.« Sie gingen über den Ponton auf die Alouette zu, Martin mit einer Hand an Tanjas Ellbogen, die beiden Russen hinter ihnen. Martin spürte, daß Tanja zitterte, als er ihr über die Reling half. Türkin machte die Tür zum Niedergang auf. »Runter mit euch beiden.« Er folgte dicht hinter ihnen und hatte nun die Waffe in der Hand. »Halt!« befahl er Martin, als sie im Salon waren. »Auf den Tisch stützen, Beine gespreizt. Und Sie setzen sich hin!« fuhr er Tanja an. Schepilow stand mit der Pistole in der Hand seitlich von ih nen. Tanja war den Tränen nahe. »Lächeln Sie«, sagte Alex sanft. »Zahlt sich immer aus.« »Ihr Engländer seid doch wirklich der Gipfel!« merkte Tü r kin an, der ihn fachmännisch abtastete. »Ihr seid erledigt, alte Kamellen. Wartet mir, bis euch die Arge ntinier im Südatla ntik auf den Grund schicken.« Er hob die Rückseite von Martins Sakko an und fand den Smith & Wessen. »Jetzt guck dir das mal an«, sagte er zu Schepilow. »Typisch Amateur, in der Kombüse habe ich ein Knäuel Bindfaden gesehen. Hol das mal.« Schepilow war bald zurück. »Und nach dem Auslaufen gibt’s ein Seebegräbnis für mich?« fragte Martin. »So ungefähr.« Türkin wandte sich an Schepilow. »Fessle ihn. Sehen wir zu, daß wir hier rauskommen. Ich lasse den Mo tor an.« Er ging zum Niedergang. Tanja zitterte nun nicht mehr, war aber blaß und hatte Wut und Verzweiflung im Blick. Martin schüttelte fast unmerklich den Kopf und bekam vbn Schepilow ein Knie ins Gesäß. »Los, geradestellen, Hände auf den Rük ken.« Martin spürte den Druck des Schalldämpfers im Kreuz. Der Russe sagte zu Tanja: »Fesseln Sie ihm die Hände.« 150
»Hat man euch denn gar nichts beigebracht?« fragte Martin. »So dicht rückt man keinem auf die Pelle.« Er fuhr herum, machte eine Linksbewegung, weg vom Lauf der Pistole, die einmal aufbellte und ein Loch ins Schott bohrte. Seine Rechte packte das Handgelenk des Russen, verdrehte es und riß es herum, bis es angespannt war, steif wie ein Stahl stab. Schepilow grunzte und ließ die Waffe fallen. Martins ge ballte linke Faust kam herabgesaust wie ein Hammer und brach ihm den Unterarm. Schepilow schrie auf und fiel auf ein Knie. Martin bückte sich, hob die Waffe auf, aber da kam erstaunlicherweise die andere Hand des Russen hoch, und die Klinge des Klappmes sers blitzte auf. Martin blockte ab, empfand jähen Schmerz, als die Klinge seinen Ärmel durchtrennte und ins Fleisch schnitt. Mit ausgestreckten Fingerknöcheln versetzte er Schepilow ei nen Schlag an den Unterkiefer und kickte das Messer unter die Sitzbank. Tanja war aufgesprungen, aber an Deck erklangen schon ha stige Schritte. »Iwan?« rief Türkin. Martin legte einen Finger auf die Lippen, drängte sich an Tanja vorbei in die Kombüse. Von dort aus führte eine schmale Leiter zur vorderen Luke. Er öffnete sie und kletterte hinaus, als er Türkin unter Deck gehen hörte. Es hatte zu regnen begonnen, und feiner Dunst kam vom Meer hereingetrieben, als er leise übers Deck zur Öffnung des Niedergangs lief. Türkin war inzwischen unten angekommen, stand mit der Pistole in der rechten Hand da und spähte vor sichtig in den Salon. Martin machte kein Geräusch und gab ihm nicht die geringste Chance; streckte einfach den Arm mit der Pistole aus und schoß ihm sauber durch den rechten Arm. Türkin schrie auf, ließ die Waffe fallen und taumelte in den Salon. Martin hastete den Niedergang hinunter. Tanja floh zu ihm. Martin hob Turkins Pistole auf und steckte 151
sie in die Tasche. Türkin lehnte sich an den Tisch, hielt sich den Arm und starrte ihn haßerfüllt an. Schepilow rappelte sich gerade auf und sank stöhnend auf die Sitzbank. Martin drehte Türkin um und durchsuchte seine Taschen, bis er seine Waffe fand. Dann sprach er Türkin an. »Ich habe Sie absichtlich so in den Arm geschossen, daß Sie am Leben bleiben – vorerst zumindest. Wem dieses Boot ge hört, weiß ich nicht, aber Sie und Ihr Kumpel da wollten sich offenbar damit davonmachen. An Ihrer Stelle würde ich das jetzt auch tun. Wenn man Sie hier erwischt, bringen Sie nur Ihren Verein in Verlegenheit, und außerdem will man Sie be stimmt in Moskau haben. Zu zweit sollten Sie schon zurechtkommen.« »Scheißkerl!« zischte Peter Türkin verzweifelt. »Nicht in Damengesellschaft!« wies Alex Martin ihn zurecht, schob Tanja Woroninowa zum Niedergang und drehte sich dann um. »Ihr beiden würdet übrigens in Belfast keinen einzi gen heißen Samstagabend durchstehen«, bemerkte er und folg te dann Tanja an Deck. Am Peugeot zog er sich vorsichtig den Sakko aus. Da Blut an seinem Hemdsärmel war, fischte er sein Taschentuch heraus. »Können Sie mich damit verbinden, so gut es geht?« Sie wickelte das Taschentuch fest um die Schnittwunde. »Was für ein Mann sind Sie eigentlich?« »Im Grunde ist mir Mozart lieber«, versetzte Alex Martin und schlüpfte wieder in den Sakko. »Sehen Sie sich das mal an.« Am Ende des Jachthafens lief die Alouette aus. »Arme Schweine«, meinte Martin. »Werden jetzt bestimmt ins Straflager abkommandiert.« Er ließ sie einsteigen und lä chelte heiter, als er sich ans Steuer setzte. »So, und jetzt nichts wie ab zum Flughafen.« Im Terminal I des Flughafens Heathrow saß Harry Fox in der 152
Sicherheitsabteilung, trank eine Tasse Tee und gönnte sich mit dem Sergeanten vom Dienst eine Zigarette. Das Telefon ging, der Sergeant nahm ab und reic hte den Hörer hinüber. »Harry?« sagte Ferguson. »Ja, Sir.« »Sie hat’s geschafft. Sitzt in der Maschine, die gerade von Jersey gestartet ist.« »Keine Probleme, Sir?« »Nein, abgesehen von zwei Butzemännern vom GRU, die sie und Martin auf dem Albert-Kai schnappten.« »Und was geschah?« fragte Harry Fox. »Er wurde mit ihnen fertig, das ist alles. Harry, diesen jungen Mann müssen wir wieder mal einsetzen. Sagten Sie nicht, er sei bei den Guards gewesen?« »Ja, Sir. Bei den Welsh Guards.« »Dachte ich mir’s doch. Das merkt man gleich«, meinte Fer guson heiter und legte auf. »Nein, Madame, zu bezahlen brauchen Sie nicht«, sagte der Steward zu Tanja, als die BAC-111 über Jersey an Höhe ge wann. »Getränke sind kostenlos. Was darf es sein? Wodka und Tonic, Gin mit Orangensaft? Wir haben auch Champagner.« Champagner umsonst! Tanja nickte und nahm das eisge kühlte Glas entgegen. Auf ein neues Leben, dachte sie und sag te dann leise: »Auf Alexander Martin.« Dann leerte sie das Glas in einem langen Zug. Zum Glück hatte die Haushälterin ihren freien Tag. Nachdem Alex Martin sein Hemd zuunterst im Abfalleimer versteckt hatte, ging er ins Bad und reinigte die Wunde. Eigentlich muß te sie genäht werden, aber das bedeutete einen Besuch in der Poliklinik, wo man Fragen stellen würde, und das ging nicht an. Er zog die Wundränder mit sorgfältig über Kreuz gekleb tem Leukoplast zusammen – ein alter Soldatentrick – und ver band sich dann. Er zog einen Bademantel an, goß sich einen 153
kräftigen Scotch ein und ging ins Wohnzimmer. Als er sich setzte, läutete das Telefon. Seine Frau sagte: »Liebling, ich habe in der Firma angerufen und gehört, daß du dir heute freigenommen hast. Fehlt dir was?« Von den Aufträgen, die er früher für Ferguson erledigt hatte, wußte sie nichts. Kein Grund, sie jetzt in Aufregung zu verset zen. Er lächelte bedauernd, als er den Schnitt im Ärmel seines Yves-St.-Laurent-Sakkos auf dem Sessel sah. »Selbstverständlich nicht«, sagte er. »Du kennst mich doch. Mir geht nichts über ein ruhiges Leben. Ich arbeite heute nur daheim, das ist alles. So, und was macht die Ba nde?« 9 Am Cavendish Square saß Ferguson mit ernstem Gesicht und dem Hörer in der Hand am Schreibtisch, als Harry Fox ein Femschreiben aus dem Arbeitszimmer brachte. Ferguson machte eine rasche Handbewegung, sagte dann: »Vielen Dank, Minister«, und legte auf. »Ärger, Sir?« »Meiner Meinung nach ja. Vom Außenministerium erfahre ich gerade, daß der Papstbesuch definitiv stattfindet. Der Vati kan wird innerhalb der nächsten Stunden die Verlautbarung herausgeben. Und was haben Sie da?« »Ein Telex, Sir, Informationen über das Vorankommen der Task Force. Die schlechte Nachricht: HMS Antelope ist schließlich doch gesunken, nachdem sie gestern von Skyhawks bombardiert worden ist. Die gute Nachricht: sieben argentini sche Kampfflugzeuge abgeschossen.« »Es wäre mir lieber, wenn ich die Trümmer mit eigenen Au gen sehen könnte. In Wirklichkeit sind es wahrscheinlich nur 154
halb so viele. Eine Neuinszenierung der Luftschlacht um Eng land.« »Mag sein, Sir. In der Hitze des Gefechts behauptet jeder, ei nen Treffer gelandet zu haben. Etwas undurchsic htig.« Ferguson stand auf und steckte sich eine Zigarre an. »Ich weiß nicht, manchmal habe ich das Gefühl, als fiele mir das Dach auf den Kopf. Jetzt steht mir der Papstbesuch ins Haus, ohne den ich gut hätte auskommen können. Cuchulain ist da drüben immer noch auf freiem Fuß, und jetzt dieser Mumpitz über die Argentinier, die auf dem Schwarzmarkt in Paris Exo cet-Raketen kaufen wollen. Ist der Befehl, Tony Villiers von seinem Posten hinter den feindlichen Linien auf den Falklands zu holen, herausgegangen?« »Ja, Sir, kein Problem. Er wird von einem U-Boot in Urugu ay abgesetzt und fliegt dann von Montevideo mit Air France direkt nach Paris. Sollte morgen dort sein.« »Gut. Sie müßten auch rüberfliegen. Informieren Sie ihn gründlich und kommen Sie dann sofort hierher zurück.« »Reicht das denn aus, Sir?« »Aber sicher. Sie kennen Tony ja, wenn er erst einmal lo slegt. Stößt teuflisch zu. Keine Angst, der wird’s der Opposition da drüben schon zeigen. Ich brauche Sie hier, Harry. Was macht die kleine Woroninowa?« »Wie ich schon sagte, Sir, wir hielten auf dem Weg vom Flughafen bei Harrods an, damit sie sich ein paar Sachen be sorgen konnte. Sie hatte ja nichts als die Kleider am Le ibe.« »Dann hat sie jetzt natürlich keinen Penny mehr«, murrte Ferguson. »Wir werden den Eventualfonds anzapfen mü ssen.« »Nicht notwendig, Sir. Sie scheint hier über ein beträchtli ches Bankguthaben zu verfügen, Schallplattentantiemen und so weiter. Ihren Lebensunterhalt wird sie sich mit Leichtigkeit verdienen können. Alle Impresarios werden sich um sie reißen, sobald bekannt wird, daß sie verfügbar ist.« 155
»Damit wird noch gewartet. Ihre Anwesenheit bleibt streng geheim, bis ich das Signal gebe. Wie ist sie denn so?« »Wirklich sehr nett, Sir. Ich habe sie im Gästezimmer unter gebracht, und sie hat erst mal ein Bad geno mmen.« »Machen wir es ihr nicht zu gemütlich, Harry. Wir müssen in diesem Fall weiterkommen. Von Devlin hörte ich, daß noch einer von McGuiness’ Killern, der Mann, der Tscherny im Au ge behalten sollte, im Liffey gefunden worden ist. Unser Freund vergeudet keine Zeit.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Fox. »Was schlagen Sie vor?« »Wir schaffen Sie noch heute nachmittag nach Dublin. Sie können Sie begleiten, Harry. Übergeben Sie sie Devlin auf dem Flughafen und kommen Sie gleich zurück. Morgen früh fliegen Sie mit der ersten Maschine nach Paris.« »Vielleicht will sie erst einmal ein bißchen zu sich kommen«, gab Fox zu bedenken. »Mal tief Luft holen.« »Geht uns das nicht allen so, Harry? Und wenn Sie mir damit auf subtile Weise zu verstehen geben wollen, wie Sie sich fü h len, kann ich Ihnen nur eins sagen: Sie hätten den Posten an nehmen sollen, den man Ihnen in der Handelsbank Ihres On kels anbot. Von zehn bis vier eine ruhige Kugel schieben.« »Unerträglich langweilig, Sir.« In diesem Augenblick brachte Kim Tanja Woroninowa he r ein. Sie hatte zwar leichte Ringe unter den Augen, sah aber erstaunlich gut aus, was nicht zuletzt auf den blauen Kaschmir pullover und den adretten Tweedrock von Harrods zurückzu führen war. Fox übernahm die Vorstellung. »Sehr erfreut, Miss Woroninowa«, sagte Ferguson. »Sie haben ja einiges hinter sich. Bitte ne hmen Sie Platz.« Sie setzte sich auf die Couch am Kamin. »Haben Sie eine Ahnung, was in Paris los ist?« fragte sie. »Noch nicht«, erwiderte Fox. »Wir finden das schon noch heraus, aber meiner Vermutung nach hat das KGB selbst unter 156
günstigen Umständen nicht viel für Versager übrig, und wenn wir das persönliche Interesse Ihres Pflegevaters für diesen Fall berücksichtigen…« Er hob die Schultern. »Ich jedenfalls möchte nicht in Schepilows oder Turkins Haut stecken.« »Selbst einem gewitzten alten Kämpen wie Below wird es schwerfallen, diese Affäre heil zu überstehen«, warf Ferguson ein. »Und was wird jetzt?« fragte sie. »Sehe ich Professor Devlin wieder?« »Ja, aber dafür müssen Sie nach Dublin fliegen. Ich weiß, Sie sind eben erst hier gelandet, aber der Zeitfaktor ist entsche i dend. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Sie bitten, die Maschine am späteren Nachmittag zu nehmen. Captain Fox wird Sie begleiten, und wir sorgen dafür, daß Devlin Sie in Dublin am Flughafen abholt.« Da sie noch immer in einem Zustand der Erregung war, kam ihr der Vorschlag nur wie ein weiteres Glied in der Kette der Ereignisse vor. »Gut. Wann brechen wir auf?« »Am frühen Abend also«, sagte Devlin. »Sicher, ich hole sie ab. Kein Problem.« »Werden Sie selbst das nötige Treffen mit McGuiness arran gieren, damit sie sich die Bilder oder das andere Material anse hen kann, das bei der IRA vorliegt?« »Darum kümmere ich mich.« »Und zwar so bald wie möglich«, setzte Ferguson fest hinzu. »Ich höre und gehorche, großer Geist aus der Flasche«, gab Devlin zurück. »Lassen Sie mich einmal mit ihr reden.« Ferguson reichte ihr den Hörer. Tanja sagte: »Professor Dev lin? Was ist?« »Ich habe gerade aus Paris gehört, daß die Mona Lisa bis über beide Ohren grinst. Bis bald.« Auch in Moskau hatte sich an diesem Vormittag Bedeutendes ereignet, das die ganze Sowjetunion und die Weltpolitik allge 157
mein betreffen sollte, denn Juri Andropow, seit 1976 Chef des KGB, war Generalsekretär des Zentralkomitees geworden. Er residierte aber noch in seinem bisherigen Büro in der KGBZentrale am Dserschinski-Platz, und dorthin ließ er Maslowski kurz nach Mittag kommen. Der General stand vor dem Schreibtisch und hatte ein ungutes Gefühl, denn Andropow war vermutlich der einzige Mann, vor dem er wirklich Angst hatte. Andropow schrieb, sein Füllfederhalter kratzte auf dem Papier. Er ignorierte Maslowski eine Zeitlang und sprach dann, ohne aufzusehen. »Es geht um eine Kleinigkeit, die krasse Inkompetenz Ihrer Abteilung im Fall Cuchulain.« »Genosse.« Maslowski unternahm keine n Versuch, sich zu verteidigen. »Gaben Sie den Befehl, ihn zusammen mit Tscherny zu li quidieren?« »Jawohl, Genosse.« »Je früher, desto besser.« Andropow machte eine Pause, setz te die Brille ab und fuhr sich über die Stirn. »Und dann wäre da die Angelegenhe it Ihrer Pflegetochter. Dank der Stümperei Ihrer Leute sitzt sie nun sicher in London.« »Jawohl, Genosse.« »Von dort aus läßt Brigadier Ferguson sie nach Dublin flie gen, wo die IRA beabsichtigt, ihr bei der Identifizierung von Cuchulain zu helfen.« »Das scheint der Fall zu sein«, erklärte Maslowski schwach. »Die Provisorische IRA ist in meinen Augen eine faschisti sche Organisation, durch ihre enge Beziehung zur katholischen Kirche hoffnungslos belastet. Tanja Woroninowa hat ihr Land, ihre Partei und ihre Klasse verraten. Sie werden sofort eine Nachricht an Lubow in Dublin senden und ihn anweisen, sie zusammen mit Tscherny und Cuchulain liquidieren zu lassen.« Er setzte die Brille wieder auf, griff nach dem Federhalter 158
und begann zu schreiben. »Bitte, Genosse, vielleicht…«, sagte Maslowski heiser. Andropow sah überrascht auf. »Bereitet Ihnen meine Anwei sung irgendwelche Schwierigkeiten, Genosse General?« Maslowski, der unter dem kalten Blick zu schrumpfen schien, schüttelte hastig den Kopf. »Nein, selbstverständlich nicht, Genosse.« Er drehte sich um und ging auf zittrigen Beinen hin aus. Lubow in der sowjetischen Botschaft in Dublin hatte bereits aus Paris erfahren, daß Tanja Woroninowa durchs Netz ge schlüpft war. Er stand noch im Funkraum und verdaute diese bestürzende Nachricht, als ein zweiter Spruch einging, diesmal von Maslowski in Moskau. Die Operatorin nahm es auf, legte das Band in die Maschine, und Lubow tippte seine persönliche Kennziffer ein. Als er den Klartext las, wurde ihm übel. Er ging in sein Dienstzimmer, schloß hinter sich ab und holte eine Flasche Scotch aus dem Schrank, goß sich ein Glas ein, dann noch eines. Schließlich rief er Tscherny an. »Hier Costello.« Das war der Tarnname, den er bei solchen Anlässen benutzte. »Sind Sie beschäftigt?« »Nicht sonderlich«, erwiderte Tscherny. »Wir müssen uns treffen.« »Am üblichen Ort?« »Ja, aber ich muß erst mit Ihnen reden. Es ist sehr wic htig. Außerdem müssen wir für heute abend einen Treff mit unserem gemeinsamen Freund ausmachen. Am besten in der Dun Street. Können Sie das arrangieren?« »Das ist aber sehr ungewöhnlich.« »Wie ich sagte, hochwichtig. Rufen Sie zurück und bestäti gen sie die Verabredung.« Tscherny war eindeutig besorgt. Dun Street war der Codena me für ein leerstehendes Lagerhaus am City-Kai, das er vor Jahren unter dem Namen einer Firma gepachtet hatte, aber dar 159
um ging es nicht. Wirklich wichtig war die Tatsache, daß er, Cussane und Lubow sich bisher noch nie gemeinsam am selben Ort getroffen hatten. Er wählte erfolglos Cussanes Privatnum mer und versuchte es dann beim katholischen Sekretariat in Dublin. Cussane meldete sich sofort. »Was für ein Glück, daß ich Sie erwischt habe«, sagte Tscherny. »Bei Ihnen zu Hause meldete sich niemand.« »Ich bin gerade erst hereingekommen«, gab Cussane zurück. »Liegt ein Problem an?« »Ich bin nicht ganz sicher, mache mir aber Sorgen. Kann ich frei sprechen?« »Auf dieser Leitung tun Sie das gewöhnlich.« »Unser Freund Costello hat sich gemeldet und will sich um halb vier mit mir treffen.« »Am üblichen Ort?« »Ja, aber er hat mich außerdem gebeten, zu arrangieren, daß wir uns alle drei heute abend in der Dun Street treffen.« »Das ist allerdings ungewöhnlich.« »Ich weiß. Gefällt mir gar nicht.« »Vielleicht hat er Anweisung, uns herauszuholen«, meinte Cussane. »Sagte er etwas über das Mädchen?« »Nein. Hätte er sie erwähnen sollen?« »Ich habe mich nur gefragt, was sich an dieser Front tut, das ist alles. Richten Sie ihm aus, wir träfen uns um halb acht in der Dun Street. Ich regle das schon.« Er legte auf. Tscherny rief sofort bei Lubow an. »Ist Ihnen halb acht recht?« »Aber sicher«, gab Lubow zurück. »Er hat sich erkundigt, ob Sie etwas über das Mädchen in Pa ris gehört hätten.« »Kein Wort«, log Lubow. »Wir sehen uns dann um halb vier.« Er legte auf, schenkte sich noch ein Glas ein, schloß die 160
obere Schreibtischschublade auf, entnahm ihr ein Etui und öff nete es. Es enthielt eine halbautomatische Pistole des Typs Stetschkin und einen Schalldämpfer. Zaghaft begann er die Waffe zusammenzusetzen. Harry Cussane stand in seinem Büro im Sekretariat am Fen ster und schaute hinab auf die Straße. Vor Verlassen seines Hauses hatte er Devlins Gespräche mit Ferguson abgehört und wußte, daß Tanja Woroninowa an diesem Abend eintreffen würde. Unvorstellbar, daß Lubow nichts davon erfahren hatte, aus Moskau oder Paris. Warum hatte er es dann nicht erwähnt? Der Dun-Street-Treff war an sich schon ungewöhnlich genug, aber warum wollte Lubow angesichts dieser Begegnung vorher noch wie üblich in der letzten Sitzreihe des Kinos mit Tscherny allein sprechen? Nichts an dem Ganzen will zueinanderpassen, sagte sich Cussane, dessen von Jahren im Untergrund geschärf te Instinkte ihn warnten. Aus welchen Gründen Lubow sie auch sehen wollte, Konversation wollte er bestimmt nicht machen. Paul Tscherny griff gerade nach seinem Regenma ntel, als es anklopfte. Er ging an die Tür, und draußen stand Harry Cussa ne im Filzhut und der Art Regenmantel, die Geistliche bevor zugen. Er sah aufgeregt aus. »Gott sei Dank, Paul, daß ich Sie noch angetroffen habe.« »Warum, was ist denn los?« fragte Tscherny. »Sie wissen doch, ich habe Ihnen einen IRA-Mann vom Hals geschafft. Jetzt haben sie noch einen auf Sie angesetzt. Hier entlang.« Tschernys Wohnung lag im ersten Stock des CollegeGebäudes aus grauem Bruchstein. Cussane ging rasch zur nächsten Etage und wandte sich dort sofort zur nächsten Trep penflucht. »Wohin gehen wir?« rief Tscherny hinter ihm her. »Das zeige ich Ihnen gleich.« Auf dem obersten Treppenabsatz war die untere Hälfte eines 161
hohen georgianischen Fensters hochgeschoben worden. Cussa ne spähte hinaus. »Da drüben«, sagte er, »auf der anderen Sei te.« Tscherny schaute auf den Plattenweg und den grünen Rasen des Innenhofes. »Wo denn?« Da war eine Hand in seinem Kreuz, ein jäher, heftiger Stoß. Er brachte gerade noch einen Schrei heraus, als er das Gleic hgewicht verlor und über die niedrige Fensterbank kopfüber auf den fünfundzwanzig Meter tiefer liegenden Plattenweg zustürz te. Cussane hastete durch den Korridor und floh über die Hinter treppe. In gewisser Hinsicht hatte er die Wahrheit gesagt. McGuiness hatte Murphy in der Tat durch einen neuen Wachhund ersetzt, diesmal sogar zwei, die in der Nähe des Haupteingangs in einem grünen Ford Escort saßen, ohne jetzt noch etwas aus richten zu können. Lubow hatte die letzte Sitzreihe für sich allein. Mehr noch, soweit er bei der schwachen Beleuchtung erkennen konnte, saßen nur fünf oder sechs Menschen im Kino. Er war zu früh gekommen, aber mit Absicht, und befingerte nun die schallge dämpfte Stetschkin in der Tasche. Seine Handflächen waren schweißnaß. Aus der mitgebrachten Taschenflasche nahm er einen tiefen Schluck Scotch, der ihm den Mut verleihen sollte, den er brauchen würde. Erst Tscherny, dann Cussane; doch letzterer sollte eine leichte Beute sein, wenn er als erster das Lagerhaus erreichte und im Hinterhalt wartete. Er setzte noch einmal die Flasche an und hatte sie gerade wieder in die Tasche gesteckt, als sich im Dunkeln etwas bewegte und jemand neben ihm Platz nahm. »Tscherny?« Er wandte den Kopf. Ein Arm schlang sich um seinen Hals, eine Hand preßte sich auf seinen Mund. Im Lauf der Sekunde, in der er Cussanes bleiches Gesicht unter der Krempe des schwarzen Huts erkann 162
te, bohrte sich das nadelspitze Stilett, das der andere in der Rechten hielt, unter dem Brustkorb in seinen Leib und wurde nach oben ins Herz gestoßen. Es blieb ihm noch nicht einmal Zeit für einen Kampf. Ein grelles Licht, kein Schmerz, dann nur Finsternis. Cussane wischte die Klinge sorgfältig an Lubows Jakett ab und legte ihn behutsam so auf den Sitz, daß er aussah wie ein Schlafender. In der Tasche des Toten fand er die Stetschkin und steckte sie ein. Der endgültige Beweis. Er stand auf, huschte den Mittelgang entlang, in seinem schwarzen Mantel nur ein Schatten, und verschwand durch einen Ausgang. Binnen einer halben Stunde war er zurück in seinem Büro im Sekretariat und hatte sich kaum hingesetzt, als Monsignor Hal loran hereinkam. Halloran war bester Laune und offenbar sehr erregt. »Wissen Sie schon das Neueste? Gerade ging die Bestätigung vom Vatikan ein. Der Papstbesuch findet statt.« »Man hat sich also endlich entschieden. Fliegen Sie nach England?« »Aber gewiß. Ich habe mir schon einen Platz in der Kathedra le von Canterbury reservieren lassen. Das ist ein historisches Ereignis, Harry, von dem man seinen Enkeln noch erzählen kann.« »Sofern man welche hat«, merkte Cussane lächelnd an. Hal loran lachte. »Genau, in diese Kategorie gehören wir wohl kaum. So, ich muß weiter. Es gibt eine Menge zu organisie ren.« Cussane dachte über die Nachricht nach, griff dann nach sei nem Mantel, den er über einen Stuhl geworfen hatte, holte den Dolch in der Lederscheide heraus und legte ihn in eine Schreib tischschublade. Dann griff er nach der Stetschkin. Wie stüm perhaft und unprofessionell von Lubow, eine in Rußland her gestellte Waffe zu benutzen. Doch sie stellte den Beweis dar, den er gebraucht hatte. Er bedeutete, daß er seinen Herren nicht 163
nur entbehrlich, sondern inzwischen auch eine Belastung war. »Und was nun, Harry Cussane?« fragte er sich le ise. »Wohin jetzt?« Seltsam, diese Angewohnheit, sich bei Selbstgesprächen mit dem vollen Namen anzureden, als wäre Harry Cussane eine ganz andere Person, was in gewisser Hinsicht auch zutraf. Das Telefon ging. Als er abhob, war Devlin an der Leitung. »Ah, da bist du also.« »Und wo bist du?« »Auf dem Flughafen Dublin, um einen Hausgast abzuholen, eine sehr hübsche junge Frau. Sie wird dir bestimmt gefallen. Ich dachte mir, wir könnten heute gemeinsam zu Abend es sen.« »Klingt gut«, sagte Cussane gelassen. »Ich habe mich aber bereit erklärt, heute abend in der Dorfkirche die Messe zu le sen. Die endet um acht. Geht das in Ordnung?« »Sicher. Wir freuen uns schon auf dich.« Cussane legte auf. Natürlich konnte er fliehen, aber wohin und zu welchem Zweck? Auf jeden Fall, sagte ihm sein In stinkt, war in diesem Drama noch mindestens ein weiterer Akt durchzustehen. »Und nirgendwo Zuflucht für dich, Harry Cussane«, sagte er leise. Als Harry Fox und Tanja in die Ankunftshalle kamen, warte te Devlin dort, stand an eine Säule gelehnt, rauchte eine Ziga rette, trug den schwarzen Filzhut und den Trenc hcoat. Er kam lächelnd auf sie zu. »Cead mile failte«, sagte er und ergriff die Hände der jungen Frau. »Das heißt auf irisch ›hunderttausendmal Willkommen! ‹« »Go raibh maith agat.« Fox sprach die traditionelle Dankes formel. 164
»Geben Sie doch nicht so an.« Devlin nahm Tanjas Reiseta sche. »Gott sei gedankt, seine Mutter war eine anständige Irin.« Tanja strahlte. »Ich bin ja so aufgeregt. Das ist alles unfaß bar.« »Nun, Sie sind jetzt in guten Händen«, meinte Fox. »Und ich muß fort. Mein Rückflug geht in einer halben Stunde. Ich bu che lieber gleich. Wir bleiben in Kontakt, Liam.« Er verschwand in der Menge. Devlin nahm Tanja am Ellbo gen und führte sie zum Hauptausgang. »Ein netter Mann«, sag te sie. »Wie hat er die Hand verloren?« »Er hob eines schönen Abends in Belfast eine Tasche auf, die eine Bombe enthielt, und warf sie nicht rasch genug weg. Mit dem elektronischen Wunderwerk, das sie ihm verpaßt haben, kommt er aber sehr gut zurecht.« »Sie sagen das so seelenruhig«, bemerkte sie, als sie auf dem Weg zum Parkplatz die Straße überque rten. »Für übertriebenes Mitleid hat er nichts übrig. Das liegt an seinem Werdegang. Erst Eton, später die Guards. Dort be kommt man beigebracht, weiterzumachen und sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden.« Er ließ sie in seinen alten Alfa Romeo steigen. »Harry gehört wie dieses alte Ekel Ferguson zu der ganz besonderen Gattung ›englischer Gentleman‹.« »Und Sie nicht?« »Gott gewahre, meine selige Mutter würde sich bei der blo ßen Frage schon im Grab umdrehen«, sagte er beim Anfahren. »So, und Sie haben nach meiner Abreise aus Paris beschlossen, sich die Sache eingehender zu überlegen. Was ist passiert?« Sie berichtete von allem: Below, dem Telefongespräch mit Maslowski, Schepilow und Türkin und schließlich von Ale x ander Martin auf Jersey. Devlin runzelte nachdenklich die Stirn, als sie geendet hatte. »Man war Ihnen also auf der Spur und hat Ihnen tatsächlich auf Jersey aufgelauert? Wie konnten sie das erfa hren?« 165
»Ich erkundigte mich beim Ho telempfang nach Zügen«, ant wortete sie, »nannte aber weder Namen noch Zimmernummer und glaubte, damit wäre ich gedeckt. Vielleicht gelang es Be low und seinen Leuten, an der richtigen Stelle zu ermitteln.« »Mag sein. Auf jeden Fall sind Sie jetzt aber hier. Ich bringe Sie in meinem Haus in Kilrea unter. Das ist nicht weit. Wenn wir angekommen sind, muß ich sofort einen Anruf erledigen. Mit etwas Glück ließe sich morgen für Sie eine Besprechung arrangieren, bei der Sie sich eine Menge Bilder ansehen müs sen.« »Hoffentlich kommt dabei etwas heraus«, meinte sie. »Hoffen wir das nicht alle? Auf jeden Fall steht uns ein ruhi ger Abend bevor. Ich mache das Essen, und ein guter Freund von mir wird uns Gesellschaft leisten.« »Ein interessanter Mann?« »Ein Typ Mann, der in Ihrer Heimat dünn gesät ist. Pater Harry Cussane, ein katholischer Priester. Sie werden ihn be stimmt mögen.« Aus seinem Arbeitszimmer rief er McGuiness an. »Sie ist da und bekommt mein Gästezimmer. Wie schnell kannst du einen entsprechenden Termin ansetzen?« »Mach dir darum keine Sorgen«, versetzte McGuiness. »Hast du gehört, was mit Tscherny passiert ist?« Devlin war augenblicklich auf Draht. »Nein.« »Tat heute nachmittag einen tiefen Fall aus einem hohen Fen ster im Trinity-College. Die Frage ist: Stürzte er, oder wurde nachgeholfen?« »Man könnte sagen, daß sein Ende ein Glücksfall war«, be merkte Devlin. »Ja, aber nur für eine Person«, erwiderte McGuiness. »Wenn ich diesen Kerl nur in die Finger bekäme!« »Richte halt einen Termin für das Mädchen ein«, sagte Dev 166
lin. »Vielleicht erkennt sie ihn.« »Wenn das garantiert wäre, ginge ich wieder zur Beichte. Gut, überlaß das mir. Ich melde mich wieder.« Cussane kleidete sich in der Sakristei zur Messe, sehr gela s sen, sehr kalt. Inzwischen lebte er kein Drama mehr, sondern eher eine Improvisation, bei der die Schauspieler selbst die Handlung erfanden. Er hatte keine Ahnung, was sich nun er eignen würde. Die vier Meßdiener, die ihn erwarteten, waren Dorfjungen, die in ihren scharlachroten Soutanen und weißen Chorhemden sauber, adrett und engelhaft aussahen. Er griff nach seinem Gebetbuch und wandte sich an sie. »Lassen wir diesen Abend zu einem ganz besonderen Anlaß werden, ja?« Er drückte auf den Klingelknopf an der Tür. Einen Auge nblick später begann die Orgel zu spielen. Ein Junge öffnete die Tür, und die Prozession zog in die kleine Kirche ein. Devlin war in der Küche mit dem Zubereiten von Steaks be schäftigt. Tanja öffnete die Terrassentür und hörte sofort die Orgelmusik, die von jenseits der Gartenmauer herüberklang. Sie ging hinein und fragte Devlin: »Was ist das?« »Dort drüben liegt ein Nonnenkloster mit Hospiz, dessen Ka pelle als Dorfkirche dient. Harry Cussane liest jetzt dort die Messe und wird bald hier sein.« Sie lief zurück ins Wohnzimmer und blieb lauschend in der Terrassentür stehen. Die Musik gefiel ihr, und nicht nur, weil sie so friedvoll klang; wer da an der Orgel saß, spielte recht gut. Sie überquerte den Rasen und öffnete die Tür in der Mau er. Die Kapelle am Ende des Klosters, aus deren Fenstern wei ches Licht fiel, sah pittoresk und einladend aus. Sie folgte dem Pfad und drückte die Eichentür auf. Anwesend waren nur eine Handvoll Dorfbewohner, zwei Menschen in Rollstühlen, offenbar Patienten aus dem Hospiz, 167
und einige Nonnen. Schwester Anne-Marie saß an der Orgel. Es war kein besonderes Instrument, und die Luftfeuchtigkeit hatte seinen Pfeifen übel zugesetzt, aber die Schwester, die als junges Mädchen vor dem Eintritt ins Kloster ein Jahr lang in Paris am Konservatorium studiert hatte, war eine gute Organi stin. Die Kirche, vorwiegend von Kerzen schwach beleuchtet, war schattig und friedlich. Hell und lieblich klangen die Stimmen der Nonnen, als sie den Opfergesang anstimmten: »Domine Jesu Christi, Rex Floriae…« Am Altar betete Harry Cussane für alle Sünder der Welt, die sich mit ihren Taten Gottes un endlicher Liebe und Barmherzigkeit beraubten. Tanja nahm seitlich für sich allein Platz, von der Atmosphäre bewegt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einem solchen Gottesdienst bei gewohnt. Cussanes Gesicht konnte sie kaum sehen. Er war lediglich die Hauptfigur dort am Altar im schwachen Licht, und sie fand ihn in seinen Gewändern ebenso faszinierend wie die ganze Zeremonie. Die Messe ging weiter. Fast alle Andächtigen traten vor ans Geländer, um Christi Leib und Blut zu empfangen. Sie beo bachtete, wie er von einem zum ändern trat, den Kopf neigte und die rituelle Formel murmelte, und auf einmal wurde sie von einer seltsamen Unruhe erfüllt. Ihr war, als sähe sie diesen Mann nicht zum ersten Mal, etwas an seine r Körpersprache kam ihr bekannt vor. Als die Messe vorbei, die Absolution erteilt worden war, blieb er auf den Altarstufen stehen und sprach zur Gemeinde: »Und ich möchte jeden einzelnen bitten, in den nächsten Tagen den Heiligen Vater, der zu einer schwierigen Zeit bald England besuchen wird, in seine Gebete aufzunehmen.« Er trat einen Schritt vor, Kerze nlicht fiel auf sein Gesicht. »Bittet darum, daß seine Gebete ihm im Verein mit euren die Kraft verleihen, seinen Auftrag zu erfüllen.« Sein Blick schweifte über die ganze Gemeinde, und für einen 168
Moment hatte Tanja das Gefühl, als sähe er sie direkt an. Dann ging er weiter. Tanja blieb vor Entsetzen wie erstarrt, hatte den ärgsten Schock ihres Lebens erlitten. Als er die Benediktion sprach, war es ihr, als bewegte er stumm die Lippen. Dieses Gesicht – das Gesicht, das sie seit ihrer Kindheit in ihren Träumen verfolgt hatte. Gewiß, es sah älter aus, gütiger gar, doch es war zweifellos das Gesicht von Michail Kelly, dem man den Namen Cuchulain gegeben hatte. Was sich nun ereignete, war sonderbar, doch angesichts der Umstände vielleicht doch nicht zu merkwürdig. Der Schock war so heftig, daß er ihr alle Kräfte zu nehmen schien. Sie blieb hinten in der Kirche im Halbdunkel sitzen, während die Ge meinde hinausging und Cussane mit seinen Ministranten in der Sakristei ve rschwand. Es war nun sehr still in der Kirche, und sie saß da und versuchte sich einen Reim zu machen. Cuchu lain war also Pater Harry Cussane, Devlins Freund, und damit war so vieles erklärt. Gott, dachte sie, was soll ich nur tun? Da ging die Tür zur Sakristei auf, und Cussane trat heraus. In der Küche war die Mahlzeit fast fertig. Devlin schaute in den Backofen, pfiff leise vor sich hin und rief: »Haben Sie schon den Tisch gedeckt?« Keine Antwort. Er ging ins Wohnzimmer. Kein Tisch ge deckt, keine Spur von Tanja. Dann fiel ihm auf, daß die Terras sentür nicht ganz geschlossen war, legte die Schürze ab und lief los. »Tanja?« rief er in den Garten und sah in diesem Auge nblick, daß die Tür in der Mauer offenstand. Cussane trug einen schwarzen Anzug und einen weißen Stehkragen. Er verharrte kurz, war sich ihrer Gegenwart be wußt, ließ sich aber nichts anmerken. Während der Messe hatte er sie fast sofort bemerkt. Sie fiel schon auf, weil sie eine Fremde in diesem Gotteshaus war, und unter den gegebenen Umständen hatte auf der Hand gelegen, wer sie sein mußte. Mit dieser Erkenntnis war wie ein Gespenst das Kind in diesem 169
Gesicht aufgetaucht, die Kleine, die sich wehrte, als er sie vor all den Jahren in Drumore in den Arm geno mmen hatte. Augen veränderten sich nicht, und ihren Blick hatte er nie vergessen. Am Geländer vor dem Altar drehte er sich um und machte ei ne Kniebeuge. Tanja, die nun in Panik geraten war und entsetz liche Angst hatte, zwang sich zum Aufstehen und lief durch den Mittelgang. Die Tür eines Beichtstuhls stand ein wenig offen, und sie schlüpfte hinein. Als sie sie zuzog, knarrte es leise. Tanja hörte ihn durch den Mittelgang kommen, seine Schritte bedächtig, auf den Steinplatten deutlich zu hören. Sie kamen näher, verstummten. Leise sagte er auf russisch: »Ich weiß, wo Sie sind, Tanja Woroninowa. Sie können jetzt herauskommen.« Da stand sie, zitterte, fror. Er war recht ruhig, sein Gesicht ernst. Er sprach russisch weiter: »Es ist lange her.« »Und Sie töten mich jetzt, wie Sie meinen Vater getötet ha ben? Und so viele andere?« »Das ist hoffentlich nicht notwendig.« Er stand mit den Hän den in den Jackentaschen da, Schaute sie an, lächelte dann sanft und irgendwie traurig. »Ich habe Sie auf Schallplatten gehört. Sie haben ein erstaunliches Talent.« »Sie auch.« Sie fühlte sich nun stärker. »Für Tod und Vernichtung. Man hat mit Ihnen eine gute Wahl getroffen. Mein Pflegevater wußte, was er tat.« »Nicht unbedingt«, sagte er. »So einfach ist das nie. Ich war halt aus Zufall verfügbar, das richtige Werkzeug zur rechten Zeit.« Sie holte tief Luft. »Und was wird nun?« »Ich dachte, wir sollten gemeinsam zu Abend essen, Sie, Liam und ich.« Die Kirchentür ging geräuschvoll auf, und Devlin kam he r ein. »Tanja?« rief er und blieb dann stehen. »Ah, da sind Sie ja. Dir zwei habt euch also schon miteinander bekannt gemacht?« 170
»Ja, Liam, vor langer, langer Zeit«, sagte Harry Cussane und zog die Hand aus der rechten Jackentasche. Sie hielt die Stetschkin, die er Lubow abgenommen hatte. In Devlins Haus fand er in der Küchenschublade Schnur. »Die Steaks riechen gut, Liam. Stellst besser den Ofen ab.« »Hören Sie sich das an!« sagte Devlin zu Tanja. »Er denkt an alles.« »Nur aus diesem Grund bin ich soweit gekommen«, ve rsetzte Cussane gelassen. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo er sie nicht fesselte, sondern mit einer Handbewegung anwies, sich auf das Sofa am Kamin zu setzen. Er trat auf die Kamineinfassung, langte in den Rauchfang und fand die Walther, die Devlin dort für Notfälle an einem Nagel hängen hatte. »Ich will dich nicht in Versuchung führen, Liam.« »Er kennt alle meine kleinen Geheimnisse«, sagte Devlin zu Tanja. »Ist ja auch kein Wunder. Schließlich sind wir seit zwanzig Jahren befreundet.« Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören, das Beben ungezügelter Wut. Er nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Beistelltisch, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, und steckte sie an. Cussane saß in einiger Entfernung am Eßtisch und hob die Stetschkin. »Diese Dinger machen kaum Krach, alter Freund, das weißt du selbst am besten. Also bitte keine Tricks, keine dummen Heldentaten à la Devlin. Es täte mir leid, dich er schießen zu müssen.« Er legte die Stetschkin auf den Tisch und zündete sich selbst eine Zigarette an. »Ein Freund willst du sein?« sagte Devlin. »Als Freund bist du ungefähr so echt wie als Priester.« »Doch, ich war ein Freund«, beharrte Cussane, »und ein gu ter Priester. Da kannst du jeden fragen, der mich 1969 in der Falls Road in Belfast erlebt hat.« 171
»Na schön«, meinte Devlin, »aber selbst ein Idiot wie ich bringt es gelegentlich fertig, seine Schlüsse zu ziehen. Deine Herren haben dich in der Tiefe angesetzt. Die Ausbildung zum Priester war nur Teil der Legende. Gehe ich recht in der An nahme, daß du das Priesterseminar bei Boston ausgewählt hast, weil ich dort Englischprofessor war?« »Natürlich. Du warst damals in der IRA ein wichtiger Mann, Liam. Die Vorteile, die diese Beziehung im Hinblick auf die Zukunft bot, Jagen auf der Hand, aber wir wurden und blieben Freunde. Um diese Tatsache kommst du nicht herum.« »Heiliger Himmel!« Devlin schüttelte den Kopf. »Wer bist du, Harry? Wer bist du eigentlich wirklich?« »Scan Kelly war mein Vater.« Devlin starrte ihn verblüfft an. »Den habe ich doch gut ge kannt! Wir kämpften im Spanischen Bürgerkrieg gemeinsam in der Lincoln-Washington-Brigade. Moment mal, Sean heiratete eine Russin, die er in Madrid kennengelernt hatte.« »Ja, meine Mutter. Meine Eltern gingen zurück nach Irland, wo ich auf die Welt kam. Neunzehnhundertvie rzig wurde mein Vater in England wegen Teilnahme an der damaligen IRABombenkampagne gehängt. Meine Mutter blieb mit mir bis 1953 in Dublin und nahm mich dann mit nach Rußland.« »Die Leute vom KGB müssen sich an dich gehängt haben wie die Blutegel«, sagte Devlin. »So ungefähr.« »Sie entdeckten seine besonderen Begabungen«, warf Tanja ein. »Für Morden, zum Beispiel.« »Nein«, gab Cussane milde zurück. »Nach der ersten Unter suchung durch die Psychologen deutete Tscherny an, meinem Talent nach gehörte ich auf die Bühne.« »Ein Schauspieler also?« meinte Devlin. »Na, dann hast du ja den richtigen Beruf.« »Im Grunde nicht. Es fehlt nämlich das Publikum.« Cussane 172
konzentrierte sich auf Tanja. »Ich bezweifle, daß ich mehr Menschen getötet habe als Liam. Worin untersche iden wir uns?« »Er kämpfte für eine Sache, an die er glaubte«, gab sie le i denschaftlich zurück. »Genau. Tanja, ich bin Soldat und kämpfe für mein Land – unser Land. Übrigens bin ich nicht beim KGB, sondern Oberst leutnant des Militärnachrichtendie nstes.« Er lächelte Devlin abwehrend zu. »Man hat mich halt immer wieder befördert.« »Aber die Taten, die Morde, die Sie begangen haben«, fuhr sie dazwischen. »An unschuldigen Menschen.« »Unschuld kann es auf dieser Welt nicht geben, solange Menschen auf ihr leben. Das lehrt uns die Kirche. Im Leben wird es immer ungerecht zugehen, weil es eben unfair ist. Wir müssen die Welt so sehen, wie sie ist, und nicht, wie sie gewe sen sein könnte.« »Mein Gott!« rief Devlin. »Erst bist du Cuchulain, und dann im Handumdrehen wieder Priester. Hast du eigentlich eine Ah nung, wer du in Wirklichkeit bist?« »Als Priester bin ich auch wirklich Priester«, sagte Cussane fest. »Dem kann ich mich nicht entziehen. Das bekäme ich auch trotz meiner Vergangenheit als erstes von der Kirche zu hören. Mein anderes Ich aber kämpft für sein Land. Ich habe mich für nichts zu rechtfertigen. Ich stehe im Krieg.« »Sehr praktisch«, spottete Devlin. »Du orientierst dich also entweder an der Kirche oder am KGB. Besteht da überhaupt ein Unterschied?« »Kommt es denn darauf an?« »Verdammt noch mal, Harry, verrate mir mal eins: Woher hast du gewußt, daß wir dir auf der Spur waren? Wie hast du erfahren, daß Tanja kommt? War ich die Quelle?« explodierte er. »Wie konnte das möglich sein?« »Du willst sagen, daß du wie üblich dein Telefon überprüft hast?« Cussane stand nun 173
mit der Stetschkin in der Hand an der Hausbar. Er goß Bus h mills in drei Gläser, brachte sie auf einem Tablett an den Tisch vorm Sofa, nahm eines und trat zurück. »Ich benutzte eine Spezialanlage auf dem Speicher meines Hauses, mit Richtmi krophon und anderen Einric htungen. Von dem, was sich hier tat, entging mir kaum etwas.« Devlin holte tief Luft, doch als er sein Glas hob, blieb seine Hand ruhig. »Schöne Freundschaft.« Er kippte den Whiskey. »Und was wird jetzt?« »Aus dir?« »Nein, aus dir, du Idiot! Wo willst du hin, Harry? Zurück zu Mütterchen Rußland?« Er schüttelte den Kopf und wandte sich an Tanja. »Wenn ich es mir recht überlege, ist Rußland ja auch nicht seine Heimat.« Cussane empfand nun keinen Zorn, keine Verzweiflung. Sein ganzes Leben lang hatte er jede gewünschte Rolle gespielt, jene professionelle Gelassenheit kultiviert, die für eine wohlberech nete Leistung als Darsteller unabdingbar war. Für echte Gefü h le war in seinem Leben nur wenig Raum gewesen. Jede Tat, auch die guten, war lediglich Reaktion auf eine gegebene Si tuation gewesen, essentieller Bestandteil der Darbietung. Das redete er sich jedenfalls ein. Und doch hatte er Devlin aufric h tig gern, und das war schon immer so gewesen. Und das Mäd chen? Er schaute Tanja an. Ihr wollte er nichts zuleide tun. Devlin, als hätte er viel von dem gespürt, was in Cussane vorging, fragte leise: »Wohin willst du fliehen, Harry? Gibt es irgendwo einen Platz für dich?« »Nein«, erwiderte Harry Cussane ruhig. »Nirgends. Und auch kein Versteck. Nach allem, was ich getan habe, würden sich deine Freunde von der IRA meiner ohne Zögern entledigen. Ferguson will mich bestimmt nicht lebendig fangen. Was hätte er dabei zu gewinnen? Ich wäre ihm nur eine Belastung.« »Und deine Leute? Wenn du erst wieder in Moskau bist, kommst du mit Sicherheit ins Lager. Letzten Endes hast du 174
versagt, und für so etwas hat man nicht viel übrig.« »Stimmt.« Cussane nickte. »Abgesehen von einem Aspekt: man will mich gar nicht wiederhaben, sondern nur tot wissen. Sie haben schon versucht, mich auszuschalten. Auch die Russen brächte ich nur in Verlege nheit.« Auf diese Erklärung hin entstand ein Schweigen. Dann fragte Tanja: »Und was geschieht jetzt? Was wo llen Sie tun?« »Weiß der Himmel«, gab er zurück. »Ich bin eine wandelnde Leiche, mein Kind. Liam versteht das. Er hat recht. Für mich gibt es keinen Fluchtort, heute nicht, morgen nicht, nächste Woche nicht. Wenn ich in Irland bleibe, machen mir McGui ness und seine Männer den Garaus, meinst du nicht auch, Liam?« »Wohl wahr.« Cussane erhob sich, ging auf und ab, hielt die Stetschkin auf Kniehöhe. Dann wandte er sich an Tanja. »Finden Sie, daß in Drumore im Regen das Leben grausam mit einem kleinen Mädchen umsprang? Wissen Sie, wie alt ich damals war? Ge rade zwanzig. Das Leben war grausam, als sie meinen Vater hängten; als sich meine Mutter bereit erklärte, mit mir zurück nach Rußland zu gehen. Als Paul Tscherny mich mit fünfzehn als Exemplar mit interessantem Potential fürs KGB aussuchte.« Er setzte sich wieder. »Hätte man meine Mutter und mich in Dublin in Frieden gelassen, wer weiß, was ich dann aus meiner einzigen großen Begabung gemacht hätte? Vielleicht wäre ich ans Abbey Theatre gekommen, ans Old Vic, nach Stratford?« Er zuckte die Achseln. »Statt dessen…« Devlin empfand tiefe Traurigkeit und vergaß für den Auge nblick alles andere außer der Tatsache, daß er diesen Mann über Jahre hinweg mehr gemocht hatte als die meisten anderen. »So geht’s im Leben«, meinte er. »Immer irgendein Arsch, der einem Vorschriften macht.« »Unser Leben bestimmt, meinst du?« fragte Cussane. »Le h 175
rer, die Polizei, Gewerkschaftsführer, Politiker, Eltern?« »Selbst Priester«, fügte Devlin sanft hinzu. »Ja, ich glaube, ich verstehe jetzt, was die Anarchisten mei nen, wenn sie sagen: ›Erschießt eine Autoritätsperson – heu te.‹« Auf einem Stuhl lag die Abendzeitung mit einer Schla g zeile über den Papstbesuch. Cussane griff nach ihr. »Den Papst, zum Beispiel.« »Ein schlechter Scherz«, entgegnete Devlin. »Warum sollte ich scherzen?« fragte Cussane. »Weißt du, was über die Jahre hinweg mein Auftrag war? Was Maslowski mir einschärfte? Chaos zu erzeugen, Unruhe, Angst und Unsi cherheit im Westen. Ich habe mitgeholfen, den irischen Kon flikt am Leben zu halten, indem ich kontraproduktive Ziele wählte und oft der katholischen und protestantischen Sache schweren Schaden zufügte; IRA, UVF, und ich habe sie alle mit hineingezogen. Aber hier«, er hob die Zeitung mit Joha n nes Pauls Bild auf der Titelseite, »wäre das nicht das kontra produktivste Ziel aller Zeiten? Was würde man in Moskau da zu sagen?« Er nickte Tanja zu. »Sie müssen Maslowski inzwi schen gut genug kennen. Gefiele ihm das?« »Sie sind ja wahnsinnig«, flüsterte sie. »Mag sein.« Er warf ihr ein Stück Schnur zu. »Fesseln Sie ihm die Handgelenke auf dem Rücken. Keine Tricks, Liam.« Er blieb in sicherer Entfernung und richtete die Stetschkin auf sie. Devlin blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Das Mädchen band ihm ungeschickt die Hände. Cussane stieß ihn mit dem Gesicht nach unten neben den Kamin. »Legen Sie sich neben ihn«, befahl er Tanja. Er zog ihr die Arme auf den Rücken und fesselte ihr erst Hand-, dann Fußgelenke. Dann zog er die Schnur an Devlins Händen fest und band auch ihm die Füße zusammen. »Du willst uns also nicht umbringen?« fragte Devlin. »Wozu?« 176
Cussane erhob sich, ging durchs Zimmer und riß mit einem Ruck die Telefonleitung aus der Wand. »Wo willst du hin?« »Nach Canterbury«, sagte Cussane. »Will sagen, dort ist Endstation.« »Warum Canterbury?« »Dort macht der Papst am Samstag einen Besuch. Alle Wür denträger werden da sein; die Kardinale, der Erzb ischof von Canterbury, Prinz Charles. Ich weiß da genau Bescheid, Liam. Vergiß nicht, daß ich im Sekretariat das Pressebüro leite.« »Laß uns doch einmal vernü nftig reden«, meinte Devlin. »Du kommst nie an ihn heran. Das Letzte, was die Briten wollen, ist, mit einem toten Papst dazustehen. Die Sicherheitsvorkeh rungen in Canterbury werden so scharf sein, daß selbst der Kreml aufmerken würde.« »Eine echte Herausforderung«, versetzte Cussane gela ssen. »Um Himmels willen, Harry, du willst den Papst erschießen. Zu welchem Zweck?« »Warum nicht?« Cussane zuckte die Achseln. »Weil er dort ist. Weil ich nirgendwohin kann. Wenn ich schon sterben muß, dann wenigstens unter spektakulären Umständen.« Er lächelte hinab. »Und du kannst ja immer noch versuchen, mich daran zu hindern, Liam, du und McGuiness und Ferguson und seine Leute in London. Selbst das KGB würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mir Einhalt zu gebieten, wenn das mö g lich wäre. Es hätte nämlich allerhand zu erklären.« Devlin explodierte. »Und mehr bedeutet dir das nicht, Harry? Ist das nur ein Spiel?« »Das einzige, das den Einsatz wert ist«, sagte Cussane. »Seit Jahren bin ich von anderen Leuten manipuliert worden, war nichts als eine Marionette. Diesmal bestimme ich selbst. Sollte eine interessante Abwechslung werden.« Er entfernte sich. Devlin hörte, wie die Terrassentür geöffnet 177
und geschlossen wurde. Dann herrschte Stille. »Er ist fort«, sagte Tanja. Devlin nickte und setzte sich mühsam auf, zerrte an der Schnur um sein Handgelenk, wußte aber, daß das reine Zeit verschwendung war. »Liam, glauben Sie, daß er es ernst meint?« fragte Tanja. »Das mit dem Papst?« »Ja«, erwiderte Devlin grimmig. »Das nehme ich ihm ab.« In sein Haus zurückgekehrt, ging Cussane rasch und systema tisch an die Arbeit. Aus einem hinter dem Bücherregal im Ar beitszimmer versteckten kleinen Safe nahm er den irischen Paß mit seiner üblichen Identität und zwei britische, auf andere Namen ausgestellte Pässe. Laut einem war er noch Priester, im anderen Journalist. Der Safe enthielt auch zweitausend Pfund Sterling. Seinem Kleiderschrank entnahm er eine Reisetasche wie sie gerne von Offizieren des Heeres benutzt wird, und öffnete sie. Der Boden bestand aus einer Preßplatte, die er anhob. In den Raum darunter legte er den größten Teil des Geldes, die ge fälschten Pässe, eine Walther PPK mit CarswellSchalldämpfer, mehrere Ersatzmagazine, einen Block Plastik sprengstoff und zwei bleistiftförmige Zeitzünder. Nachträglich fiel ihm ein, aus dem Wandschrank im Bad zwei Feldver bandspäckchen und einige Ampullen Morphium zu holen, die ebenfalls in die Tasche kamen. Da er sich für einen Soldaten hielt, mußte er auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Er setzte den doppelten Boden wieder ein, rollte eine seiner schwarzen Soutanen zusammen und legte sie zuunterst in die Tasche. Nun folgte »Zivilkleidung«: zwei Hemden, eine Krawatte, Socken, dazu Toilettenartikel. Sein Gebetbuch packte er ebenso auto matisch ein wie die Hostie in ihrer silbernen Pyxis und das Salböl. Als Priester war es ihm in Fleisch und Blut übergega ngen, nie ohne diese Gegenstände zu reisen. Er ging nach unten in die Diele, zog seinen schwarzen Re 178
genmantel an, nahm einen der beiden schwarzen Filzhüte vom Schrank und trug ihn ins Arbeitszimmer. In die Krone des Hu tes hatte er zwei Kunststoffschlaufen eingenäht. Aus der Schreibtischschublade nahm er einen kurzläufigen Smith & Wesson-Revolver vom Kaliber 38, der genau in die beiden Schlaufen paßte. Der Hut kam in die Reisetasche. Die Stetsch kin steckte er in die Manteltasche. Nun war er bereit. Noch einmal schaute er sich im Arbeitszimmer des Hauses, das so lange sein Heim gewesen war, um, machte dann kehrt und ging hinaus. Er überquerte den Hof zur Garage, öffnete die Tür und zündete das Licht an. Neben dem Auto stand sein Motorrad, eine alte 359er BSA in Bestzustand. Er schnallte die Reiseta sche auf dem Gepäckträger fest, nahm den Sturzhelm vom Wandhaken und setzte ihn auf. Als er auf den Kickstarter trat, sprang der Motor sofort an. Er ließ ihn kurz warmlaufen, schob den Choke zurück, bekreuzig te sich dann und fuhr los. Das Motorengeräusch verlor sich in der Ferne, und nach einer Weile herrschte Stille. In diesem Augenblick sah Martin McGuiness in Dublin mit an, wie einer seiner Männer den Telefonhörer auf die Gabel legte. »Der Anschluß ist tot, das steht fest.« »Das kommt mir sehr merkwürdig vor, Sohn«, meinte McGuiness. »Fahren wir Liam mal besuchen, und zwar schle u nigst.« McGuiness und zwei seiner Leute brauchten vierzig Minuten, um Kilrea zu erreichen. McGuiness stand da, sah zu, wie seine Männer Devlin und Tanja befreiten, und schüttelte den Kopf. »Könnte ja ein Witz sein, Liam, den großen Devlin so brat fertig dressiert daliegen zu sehen wie ein Huhn, wenn es nicht so verdammt tragisch wäre. Erzähl mir das noch einmal. Gut, dann sag mir, worum es geht.« Sie gingen zusammen in die Küche, wo Devlin berichtete, was geschehen war. Als er geendet hatte, explodierte McGui 179
ness. »Dieser gerissene Hund! In der Falls Road spricht man von ihm wie von einem Heiligen, und dabei ist er ein russischer Agent, der den Priester nur mimte.« »Der Vatikan wird auch nicht gerade überglücklich sein«, merkte Devlin an. »Und weißt du, was am schlimmsten ist? Was mir am ärgsten gegen den Strich geht? Daß er noch nicht mal ein Russe ist. Mein Gott, Liam, sein Vater starb an einem englischen Galgen für die Bewegung.« McGuiness bebte nun vor Zorn. »Dem drehe ich den Hals um.« »Und wie willst du das bewerkstelligen?« »Überlaß das mir. Er will zum Papst nach Canterbury, nicht wahr? Gut, ich werde Irland so dicht abschotten, daß nicht einmal eine Ratte ein Schlupfloch findet.« Er ging eilig hinaus, rief seine Männer und war verschwun den. Tanja kam in die Küche und sah blaß und müde aus. »Was wird jetzt?« »Jetzt stellen Sie mal den Kessel auf, und dann trinken wir gemütlich eine Tasse Tee. Früher wurde ein Bote, der schlechte Nachrichten brachte, gewöhnlich hingerichtet. Zum Glück gibt es heute das Telefon. Entschuldigen Sie mich für ein paar Mi nuten – ich gehe nur über die Straße und rufe Ferguson an.« 10 Als einen Hafen konnte man Ballywalter gleich südlich der Dundalk-Bay bei Clogher Head kaum beschreiben. Er verfügte über ein Pub, ein paar Häuser, ein ha lbes Dutzend Fischerboote und ein winziges Hafenbecken. Gut anderthalb Stunden nach Devlins Anruf bei Ferguson bog Cussane auf dem Motorrad in ein Waldstück auf einer Anhöhe über der Ortschaft ab. Er bockte die Maschine auf, schaute auf das im Mondschein klar zu erkennende Ballywalter hinab, schnallte seine Reisetasche 180
los und vertauschte den Sturzhelm mit dem Filzhut. Mit der Tasche in der Hand machte er sich auf der Straße auf den Weg. Was er vorhatte, war knifflig, aber raffiniert, sofern es funktionierte. Im Grunde war es wie beim Schach: man be mühte sich, nicht über einen, sondern über die nächsten drei Züge nachzudenken. Nun würde sich erweisen, ob alle die In formationen, die er dem sterbenden Danny Malone so ge schickt entlockt hatte, auch von Wert waren. Sean Deegan war seit elf Jahren Pubwirt in Ballywalter; kei ne Ganztagsbeschäftigung in einem Dorf, das sich rühmen konnte, nur gerade einundvierzig laut Gaststättengesetz zum Alkoholkonsum berechtigte Männer zu haben. Daneben war er Skipper eines dreizehn Meter langen Fischerbootes namens Mary Murphy. Auf der illegalen Seite kam hinzu, daß er hoch oben auf der Aktivliste der ERA stand und erst im Februar aus der Strafanstalt Long Kesh nach Verbüßung einer dreijährigen Haftstrafe wegen illegalen Waffenbesitzes entlassen worden war. Daß er in Londonderry persönlich zwei britische Soldaten er schossen hatte, konnte ihm die Polizei aber nie nachweisen. Seine Frau war mit den beiden Kindern zu Besuch bei ihrer Mutter in Galway, und er hatte das Lokal um elf geschlossen, da er früh zum Fischen hinausfahren wollte. Er war noch wach, als Cussane die Straße entlangkam, denn einer von McGuiness’ Männern hatte ihn mit einem Anruf aus dem Bett geholt. Dee gan bot einen illegalen Weg aus Irland zur Isle of Man, einer nützlichen Zwischenstation auf der Überfahrt nach England. Die Personenbeschreibung Cussanes, die er erhalten hatte, war knapp und präzise gewesen. Deegan hatte kaum aufgelegt, als es anklopfte. Er ging an die Tür, öffnete sie und wußte sofort, wer der nächtliche Besucher war. »Was kann ich für Sie tun, Pater?« fragte Deegan und wich zurück, damit Cussane eintreten konnte. 181
Sie gingen in das kleine Lokal, wo Deegan das Feuer schürte. »Ein Gemeindemitglied, Danny Malone, gab mir Ihren Na men«, erklärte Cussane. »Ich heiße übrigens Daly.« »Aha, Danny«, meinte Deegan. »Wie ich höre, geht es ihm gar nicht gut.« »Er liegt im Sterben, der Ärmste. Von ihm erfuhr ich, Sie könnten mich zur Isle of Man bringen, sofern Preis oder Anlaß stimmen.« Deegan trat hinter die Theke und schenkte einen Whiskey ein. »Leisten Sie mir Gesellschaft, Pater?« »Nein, danke.« »Haben Sie Ärger? Politisch oder mit der Polizei?« »Von beidem ein bißchen.« Cussane nahm zehn englische Fünfzig-Pfund-Noten aus der Tasche und legte sie auf die The ke. »Wäre es damit getan?« Deegan hob das Bündel auf und wog es bedächtig in der Hand. »Warum nicht, Pater? So, setzen Sie sich jetzt ans Feuer und wärmen sich auf, und ich erledige noch schnell einen Anruf.« »Wozu das?« »Weil ich das Boot nicht allein bedienen kann. Ich brauche mindestens noch einen Mann, besser zwei.« Er ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Cussane trat hinter die Theke ans Telefon und wartete. Die Schelle klin gelte leise mit, als am anderen Apparat gewählt wurde. Er hob behutsam den Hörer ab. Der Mann sprach hastig: »Hier Deegan in Ballywalter. Ist Mr. McGuiness da?« »Der ist gerade ins Bett gegangen.« »Himmel noch mal, dann holen Sie ihn! Ich habe ihn hier bei mir, diesen Cussane, wegen dem eure Leute angerufen haben.« »Bleiben Sie dran.« Eine Verzögerung, dann meldete sich ei 182
ne andere Stimme. »McGuiness. Bist du das, Sean?« »Und kein anderer. Cussane ist hier in meinem Pub und nennt sich Daly. Hat mir gerade fünfhundert Pfund gegeben und will zur Isle of Man gebracht werden. Was soll ich tun? Ihn hier festhalten?« »Nichts wäre mir lieber, als ihn selbst in die Finger zu krie gen, aber das wäre kindisch«, sagte McGuiness. »Hast du ein paar gute Männer?« »Phil Egan und Tadgh McAteer. « »Gut, Sean – der verschwindet. Du würdest mir nicht glau ben, wenn ich dir erzähle, welchen Schaden dieser Kerl schon seit Jahren der Bewegung zugefügt hat. Nimm ihn in deinem Boot mit, ganz nett und freundlich, keine Umstände, und drei Meilen vor der Küste verpaßt du ihm eine Kugel in den Hinter kopf und wirfst ihn über Bord.« »So gut wie gemacht«, erwiderte Deegan. Er legte auf, verließ das Wohnzimmer, ging nach oben und zog sich wieder völlig an. Dann kehrte er ins Lokal zurück und schlüpfte in eine alte Lotsenjacke. »Ich lasse Sie nun eine Wei le allein, Pater, weil ich me ine Jungs holen muß. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen.« »Das ist aber nett von Ihnen«, meinte Cussane. Er zündete sich eine Zigarette an und las zum Zeitvertreib die Abendzeitung. Eine halbe Stunde später kam Deegan mit zwei Männern zurück. »Phil Egan, Pater, und Tadgh McAteer. « Sie gaben sich reihum die Hände. Egan war klein und drah tig, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. McAteer war ein mas siger Mann in einer alten Matrosenjacke, dem der Bierbauch weit über den Gürtel hing. Er war älter als Deegan. Cussane schätzte ihn auf mindestens fünfundfünfzig. »Na, dann mal los, Pater.« Cussane nahm seine Tasche, aber Deegan sagte: »Moment, nicht so schnell, Pater. Ich wüßte 183
gerne, was ich transportiere.« Er stellte Cussanes Tasche auf die Theke, öffnete sie und durchstöberte sie rasch. Dann zog er den Reißverschluß zu, drehte sich um und bedachte McAteer mit einem Kopfnicken. McAteer tastete den Priester grob ab, fand die Stetschkin, nahm sie heraus und legte sie wortlos auf die Theke. »Wozu Sie die brauchen, ist Ihre Angelegenheit«, sagte Dee gan. »Die bekommen Sie zurück, wenn wir Sie auf der Isle of Man absetzen.« Er steckte die Waffe ein. »Ich verstehe«, meinte Cussane. »Gut, dann ziehen wir los.« Deegan ging voraus nach drau ßen. Devlin lag schon im Bett, als McGuiness anrief. »Sie haben ihn«, sagte er. »Und wo?« »In Ballywalter. Einer unserer Leute, Sean Deegan, hat ihn erkannt. Cussane tauchte dort auf, sagte, er sei ein Freund von Danny Malone, und wollte unter der Hand zur Isle of Man ge bracht werden. Vermutlich erzählte ihm Danny einiges, über das er besser hätte schweigen sollen.« »Danny liegt im Sterben«, erinnerte Devlin. »Die me iste Zeit weiß er wohl kaum, was er sagt.« »Wie auch immer, Cussane oder Pater Daly, wie er sich in zwischen nennt, steht eine unangenehme Überraschung bevor. Drei Meilen vor der Küste verpassen ihm Deegan und seine Jungs einen Sargnagel und schmeißen ihn über Bord. Hab’ ich dir nicht gesagt, daß wir den Kerl kriegen?« »Allerdings.« »Ich melde mich wieder, Liam.« Devlin blieb nachdenklich sitzen. Zu schön, um wahr zu sein. Offensichtlich hatte Cussane von Danny Malone erfahren, wel che Dienste Deegan zu bieten hatte. Gut, aber dort so einfach aufzutauchen, außer einem Namenswechsel keinen Verklei 184
dungsversuch zu unternehmen… Er mochte angenommen ha ben, Devlin und Tanja würden erst am Morgen aufgefunden werden, aber trotzdem… Das Ganze ergab einfach keinen Sinn – oder vielleicht doch? Vom Meer her trieb ein leichter Dunst herein, als sie auslie fen, aber der Himmel war klar, und der Mond bestrahlte alles mit einer Helligkeit, die etwas vage Unwirkliches hatte. McA teer beschäftigte sich an Deck. Egan hatte die Luke des kleinen Maschinenraums abgenommen und war die Leiter hinunterge stiegen, und Deegan stand am Steuer. Cussane stellte sich ne ben ihn und spähte durchs Fenster. »Herrliche Nacht«, bemerkte Deegan. »In der Tat. Wie lange dauert es?« »Vier Stunden, wenn wir es gemütlich nehmen. Das bedeutet, daß wir uns den Isle-of-Man-Fischern anschließen können, die mit ihrem Nachtfang zurückkehren. Wir setzen Sie an der Westküste ab, in einer kle inen Bucht bei Pell. Sie können dann mit dem Bus rüber nach Douglas, der Hauptstadt, fahren. Der Flughafen heißt Ronaldsway. Von dort nehmen Sie entweder eine Maschine nach London oder fliegen über die Irische See nach Blackpool an der englischen Küste.« »Ich weiß«, erwiderte Cussane. »Gehen Sie ruhig nach unten und machen Sie sich’s be quem«, schlug Deegan vor. Die Kabine war mit vier Kojen, einem in der Mitte am Boden verschraubten Tisch und einer kleinen Kombüse an einem En de ausgestattet. Sie war unordentlich, aber trotz des Gestanks nach Dieselöl warm und behaglich. Cussane machte sich einen Becher Tee, setzte sich an den Tisch und rauchte eine Zigaret te. Dann streckte er sich auf einer der unteren Kojen aus, legte den Hut neben sich und schloß die Augen. Nach einer Weile kamen McAteer und Egan den Niedergang herunter. 185
»Alles klar, Pater?« wollte McAteer wissen. »Haben Sie Lust auf eine Tasse Tee?« »Danke, ich habe mir schon eine gemacht«, sagte Cussane. »Ich lege mich jetzt ein bißchen aufs Ohr.« So lag er mit fast geschlossenen Augen da, langte mit einer Hand lässig unter den Hut. McAteer grinste und zwinkerte Egan zu, als er Pulverkaffee in drei Becher gab und kochendes Wasser und Büchsenmilch hinzufügte. Dann gingen sie hinaus. Cussane konnte ihre Schritte an Deck hören, gedämpfte Unter haltung, einen Ausbruch von Heiterkeit. Er blieb liegen, warte te ab, was nun geschehen würde. Vielleicht eine halbe Stunde später wurde der Motor abge stellt, und sie begannen zu treiben. Cussane setzte sich auf und schwang die Beine aus der Koje. Deegan rief durch den Niedergang: »Würden Sie bitte mal an Deck kommen, Pater?« Cussane rückte sich den Hut auf dem Kopf zurecht und er klomm die Leiter. Egan saß auf der Luke des Maschinenraums, McAteer lehnte sich aus dem offenen Fenster des Ruderhauses, und Deegan stand an der Heckreling, rauchte eine Zigarette und schaute zurück zur nur zwei oder drei Meilen entfernten irischen Küste. »Was wollen Sie? Was ist los?« fragte Cussane. »Das Spiel ist aus!« Deegan drehte sich um, hatte die Stetschkin in der Rechten. »Wir wissen nämlich, wer Sie sind und was Sie angestellt haben.« »Und wie verderbt Sie sind«, rief McAteer dazwischen. Egan rasselte mit einer schweren Kette. Cussane schaute kurz zu ihm hinüber, wandte sich dann Deegan zu, nahm den Hut ab und hielt ihn sich vor die Brust. »Über die Sache läßt sich wohl nicht reden, nehme ich an?« »Keine Chance.« Cussane schoß ihm durch den Hut in die Brust, und Deegan 186
wurde zurück gegen die Reling geschleudert. Er ließ die Stetschkin aufs Deck fallen, verlor das Gleic hgewicht, faßte vergeblich nach der Reling und stürzte ins Meer. Cussane war schon herumgefahren und schoß auf McAteer oben im Ruder haus, der gerade zurückweichen wollte. Die Kugel traf den Dicken knapp überm rechten Auge. Egan ging mit der Kette auf ihn los. Cussane wich dem ungeschickten Schlag mit Leichtigkeit aus. »Scheißkerl!« schrie Egan. Cussane zielte sorgfältig und schoß ihn ins Herz. Nun handelte er rasch. Er steckte die Stetschkin, die Deegan aus der Hand gefallen war, in die Tasche und ließ das mitt schiffs verstaute Schlauchboot mit Außenbordmotor ins Was ser gleiten. Nachdem er es an der Reling vertäut hatte, ging er zum Ruderhaus, wo er über McAteers Leiche steigen mußte, um an seine Reisetasche zu kommen. Er hob den doppelten Boden, nahm den Plastiksprengstoff heraus und schnitt mit dem Taschenmesser ein Stück ab. In diese Scheibe drückte er einen Zeitzünder, stellte ihn auf fünfzehn Minuten ein, warf das Ganze in den Maschine nraum, stieg dann ins Schlauchboot, startete den Motor und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. Scan Deegan, der trotz der Kugel in der Brust noch am Leben war, sah, wie er sich entfernte, und trat langsam Wasser, um nicht unterzugehen. Cussane hatte schon ein gutes Stück zurückgelegt, als die Explosion die Nacht zerriß, rote und orange Fla mmen in den Himmel stiegen. Er war nur einen kurzen Blick zurück. Besser hätten sich die Dinge gar nicht entwickeln können. Nun war er tot, und McGuiness und Ferguson würden ihre Bluthunde zu rückpfeifen. Er fragte sich, was Devlin wohl empfinden würde, wenn er am Ende die Wahrheit erfuhr. Er landete an einem kleinen Strand bei Ballywalter und zog das Boot hoch in den Schutz eines Stechginstergebüschs. Dann lief er zurück zu dem Gehölz, in dem er sein Motorrad stehe n 187
gelassen hatte. Er schnallte die Reisetasche auf den Gepäckträ ger, setzte sich den Sturzhelm auf und fuhr weg. Die Dublin Town, ein ebenfalls aus Ballywalter stammendes Fischerboot, erreichte den Anschlagsort zuerst. Ihre Mann schaft, ungefähr eine Meile entfernt an Deck mit den Netzen beschäftigt, hatte die Explosion gesehen. Als sie die Stelle, an der die Mary Murphy untergegangen war, erreicht hatte, war ungefähr eine halbe Stunde verstrichen. An der Oberfläche trieben allerhand Wrackteile, und eine Schwimmweste, auf der in Schablone nschrift der Name des Bootes stand, bedeutete den Männern der Dublin Town, daß das Schlimmste befürchtet werden mußte. Der Skipper verständigte über Funk die Kü stenwache von der Explosion und suchte nach Überlebenden oder wenigstens den Leichen der Besatzung, blieb aber erfolg los, und dichter werdender Dunst überm Meer erschwerte das Unternehmen noch. Um fünf Uhr traf ein Küstenwachkutter aus Dundalk ein. Dazu kamen me hrere andere kleine Fischer boote. Bei Tagesanbruch setzten sie die Suche gemeinsam fort. Die Nachricht von der Tragödie erreichte McGuiness um vier Uhr früh, und er rief sogleich Devlin an. »Weiß Gott, was passiert ist«, sagte McGuiness. »Sie explo dierte und sank wie ein Stein.« »Und es sind keine Leichen gefunden worden, sagst du?« »Die liegen vermutlich im Boot oder in seinen Überresten auf dem Grund. Wie ich höre, ist dort die Strömung sehr stark und könnte eine Leiche über eine gute Entfernung mitreißen. Ich wüßte zu gerne, was geschehen ist. Scan Deegan war ein tapfe rer Mann.« »Ich bin auch neugierig«, sagte Devlin. »Auf jeden Fall sind wir Cussane los. Endlich ist es mit die sem Kerl zu Ende. Sagst du Ferguson Bescheid?« »Natürlich.« Devlin zog einen Morgenrock an, ging nach unten und mach 188
te sich Tee. Cussane war tot, aber das schmerzte ihn nicht, ob wohl der Mann, was er auch sonst gewesen sein mochte, seit zwanzig Jahren sein Freund gewesen war. Er empfand keine Trauer, sondern eher eine Unr uhe. Er wählte Fergusons Nummer am Cavendish Square. Es wur de mit leichter Verzögerung abgehoben, und Ferguson meldete sich verschlafen. Als ihm Devlin die Nachricht mitteilte, wurde er hellwach. »Sind Sie da ganz sicher?« »So sieht es zumindest aus. Weiß der Himmel, was auf dem Boot schiefging.« »Nun ja«, meinte Ferguson, »wenigstens sind wir Cussane ein für allemal los. Hätte mir gerade noch gefehlt, daß dieser Irre bei uns im Land wütet.« Er schnaubte. »Den Papst erschie ßen! Also wirklich!« »Was wird aus Tanja?« »Die kann morgen wieder zurück. Setzen Sie sie in eine Ma schine; ich hole sie selbst ab. Harry wird mo rgen in Paris sein, um Tony Villiers Instruktionen zu dieser Exocet-Geschichte zu geben.« »Gut«, sagte Devlin. »Das war’s dann wohl.« »Sehr begeistert klingen Sie nicht. Wieso?« »Lassen Sie mich es einmal so ausdrücken: Bei einem Mann wie diesem bin ich erst überzeugt, wenn ich seine Leiche se he«, sagte Devlin und legte auf. Die Grenze zwischen Ulster und der Republik Irland stand trotz Straßensperren, erheblicher Polizeipräsenz und der briti schen Armee schon immer jedem weit offen, der sich dort aus kannte. In vielen Fällen gehört zu Bauernhöfen auf beiden Sei ten Land, das von der Grenzlinie durchschnitten wird, und kreuz und quer durch das Gebiet verlaufen Hunderte schmaler Sträßchen, Feldwege und Trampelpfade. Um vier Uhr hatte Cussane Ulster sicher erreicht. Zu dieser 189
frühen Stunde war jeglicher Verkehr so selten, daß er unbe dingt für eine Weile untertauchen mußte, was er jenseits von Newry auch tat, indem er in einer ungenutzten Scheune in ei nem Gehölz nahe der Straße Unterschlupf suchte. Er schlief nicht, sondern machte es sich mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden bequem und rauchte, hatte die Stetschkin für alle Fälle griffbereit. Kurz nach sechs, als scho n so viele Früharbeiter auf der Straße waren, daß er nicht weiter auffiel, brach er auf und fuhr auf der A1 über Branbridge nach Lisburn. Um sieben Uhr fünfzehn rollte er auf den Parkplatz des Flug platzes Aldergrove und stellte sein Motorrad ab. Die Stetschkin kam zur Walther unter den doppelten Boden der Reisetasche. Da die Urlaubszeit begonnen hatte, ging schon um acht Uhr fünfzehn ein Flug zur Isle of Man, und falls er in dieser Ma schine keinen Sitz ergattern sollte, starteten innerhalb einer Stunde Flugzeuge nach Glasgow, Edinburgh und Newcastle. Der Isle of Man gab er den Vorzug, weil es sich um eine »wei che« Route handelte, auf der überwiegend Urlauber flogen. Wie sich herausstellte, waren noch Plätze frei, und er erstand ohne Schwierigkeiten ein Ticket. Alles Handgepäck würde zwar geröntgt werden, aber das tat man heutzutage auf den meisten internationalen Flughäfen. In Belfast ging auch alles für den Laderaum bestimmte Gepäck durch den Detektor, doch während der Urlaubszeit wurde diese Vorkehrung auf weichen Routen nicht immer getroffen. Auf jeden Fall war das nur fünfzehn Zentimeter tiefe Geheimfach seiner Tasche mit Blei ausgekleidet, das den Inhalt gegen Röntge nstrahlen abschirmte. Probleme konnte es nur beim Zoll auf der Isle of Man geben. Um halb neun herum, Cussane war bereits seit gut zehn Mi nuten in der Luft, gab die Dublin Town, der der Treibstoff knapp wurde, die fruchtlose Suche nach Überlebenden von der Mary Murphy auf und drehte in Richtung Ballywalter ab. Das jüngste Besatzungsmitglied, ein Fünfzehnjähriger, der auf dem 190
Bug Tau aufwickelte, entdeckte plötzlich ein Wrackteil und verständigte mit einem Ruf den Skipper, der sofort den Kurs änderte. Wenige Minuten später stoppte er die Maschine und trieb längsseits einer Luke von der Mary Murphy. Auf ihr lag rücklings mit ausgestreckten Armen und Be inen Sean Deegan. Er wandte langsam den Kopf und rang sich ein gespenstisches Grinsen ab. »Habt euch aber schön Zeit gelas sen!« rief er heiser. Auf dem Flughafen Ronaldsway machte der Zoll Cussane keine Schwierigkeiten. Er nahm seine Tasche vom Band und gesellte sich zu der Menge, die durch die Kontrolle ging: Nie mand unternahm den Versuch, ihn aufzuhalten. Wie in allen Ferienorten war man bemüht, die Urlauber so reibungslos wie möglich abzufertigen. Maschinen der Insellinie legten mehr mals am Tag die kurze Strecke nach Blackpool an der engli schen Küste zurück, waren für diesen Vormittag aber schon ausgebucht. Platz gab es erst in einer Maschine, die um die Mittagszeit startete. Nun, es hätte schlimmer ausfallen können. Er kaufte einen Flugschein und ging in die Cafeteria, um etwas zu sich zu nehmen. Um halb zwölf ging bei Ferguson das Telefon. Devlin war an der Leitung. Ferguson lauschte und verzog entsetzt das Ge sicht. »Steht das auch fest?« »Eindeutig. Dieser Deegan überlebte die Explosion nur, weil er vorher von Cussanes Kugel ins Wasser geschleudert wurde. Ausgelöst wurde die Explosion von Cussane, der sich dann mit dem Schlauchboot der Mary Murphy zur Küste davonmachte und Deegan dabei beinahe überfuhr.« »Wozu das Ganze?« fragte Ferguson verzweifelt. »Er ist schlau und hat mich seit Jahren beim Schach geschla gen. Ich kenne seinen Stil. In Gedanken ist er einem immer um drei Züge voraus. Indem er letzte Nacht seinen scheinbaren Tod inszenierte, schaffte er sich die Bluthunde von den Fersen. Niemand fahndete mehr nach ihm. Das war nicht mehr nötig. « 191
Ferguson wurde von einer schrecklichen Vorahnung erfüllt. »Wollen Sie damit sagen…?« »Was denn sonst? Inzwischen ist er an Ihrem Ufer, nicht mehr an unserem, Brigadier.« Ferguson fluchte leise. »Gut, ich bitte die Sicherheitspolizei in Dublin um Amtshilfe. Sie kann für uns sein Haus auf den Kopf stellen und nach Fingerabdrücken, Bildern und anderen nützlichen Hinweisen suchen.« »Sie müssen das katholische Sekretariat informieren«, sagte Devlin. »Im Vatikan wird man von dieser Bo tschaft begeistert sein. « »Und die Dame in der Downing Street wird auch nicht gera de frohlocken. Welchen Flug haben Sie für die kleine Woroni nowa gebucht?« »Die Maschine geht um zwei.« »Kommen Sie mit. Ich brauche Sie.« »Da gibt es nur noch eine nebensächliche, aber erwähnens werte Angelegenheit«, meinte Devlin. »In England stehe ich schon seit Urzeiten auf der Fahndungsliste. Und Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation ist noch der harmloseste Grund.« »Himmel noch mal, das bring’ ich in Ordnung«, bellte Fergu son. »Sehen Sie bloß zu, daß Sie die Maschine erwischen.« Damit legte er auf. Tanja Woroninowa kam mit Tee aus der Küche. »Was wird jetzt?« »Ich fliege mit Ihnen nach London«, sagte Devlin. »Und dann sehen wir weiter.« »Und Cussane? Wo ist er Ihrer Meinung nach?« »Überall und nirgends.« Er trank einen Schluck Tee. »Er hat allerdings ein Problem. In der Morgenzeitung steht, daß der Papst am Freitag eintrifft und Canterbury tags darauf besucht.«. 192
»Am Samstag, dem neunundzwanzigsten?« »Genau. Cussane muß also Zeit totschlagen. Die Frage ist: wohin will er, und was hat er vor?« Das Telefon ging. McGuiness war am andern Ende. »Hast du mit Ferguson gesprochen?« »Jawohl.« »Was plant er?« »Weiß der Himmel. Er holt mich rüber.« »Machst du mit?« »Ja.« »Liam, du weißt, daß man Lubow, diesen Russen da, tot im Kino gefunden hat? Hält eine höllische Predigt, dein Priester.« »Er hat eine etwas andere Arbeitsauffassung entwickelt, seit er herausfand, daß seine eigenen Leute versuchten, ihn umzu legen«, kommentierte Delin. »Interessant zu sehen, wohin sie ihn führen wird.« »Nach Canterbury; da will dieser Spinner hin«, sagte McGui ness, »und dort können wir nichts unternehmen. Jetzt muß der britische Geheimdienst mit ihm fertig werden. Die IRA kann nichts mehr für ihn tun. Halt dir den Rücken frei, Liam.« Er legte auf. Devlin blieb sitzen und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann stand er auf. »Ich muß mal kurz fort«, sagte er zu Tanja, »bin bald wieder da« – und verschwand durch die Terrassentür. In Glasgow war der Zoll ebenso zuvorkommend wie in Ro naldsway. Cussane blieb sogar stehen und hielt seine Tasche hoch, während die anderen Passagiere durchströmten. »Haben Sie etwas zu verzollen, Pater?« fragte der Beamte. Cussane zog den Reißverschluß auf. »Eine Flasche Scotch und zweihundert Zigaretten.« Der Zollbeamte grinste. »Sie hätten auch noch einen Liter Wein mitbringen können. Pech gehabt, Pater.« 193
»Sieht wohl so aus.« Cussane schloß seine Tasche und schritt weiter. Vor dem Ausgang des kleinen Flughafengebäudes zögerte er. Es warteten zwar mehrere Taxis, aber er beschloß, zu Fuß zur Hauptstraße zu gehen. Immerhin hatte er eine Menge Zeit. Er überquerte die Straße und kaufte sich bei einem Zeitungshänd ler eine Tageszeitung. Als er den Laden wieder verließ, kam nur wenige Schritte entfernt ein Bus an einer Haltestelle zum Stehen, der laut Anzeigetafel nach Morecambe fuhr, einem einige Meilen weiter nördlich gelegenen Badeort, wie Cussane wußte. Auf eine Eingebung hin spurtete er los und sprang auf das anrollende Fahrzeug auf. Er löste eine Fahrkarte und ging aufs Oberdeck. Dort war es sehr angenehm, und er fühlte sich entspannt und energiegela den zugleich. Er schlug die Zeitung auf und stellte fest, daß es schlechte Nachrichten aus dem Südatlantik gab. Die HMS Co ventry war von einer Bombe, das von der Reederei Cunard ausgeliehene Containerschiff Atlantik Conveyor von einer Exo cet-Rakete getroffen worden. Er steckte sich eine Zigarette an und machte es sich bequem, um mehr darüber zu lesen. Als Devlin den Krankensaal im Hospiz betrat, war Schwester Anne-Marie an Danny Malones Bett. Devlin wartete ab, bis sie endlich der Krankenschwester etwas zuflüsterte, sich dann umwandte und ihn bemerkte. »Und was wollen Sie?« »Ich wollte mit Danny sprechen.« »Gesprächen ist er heute vormittag eigentlich nicht gewach sen.« »Es ist aber sehr wichtig.« Sie zog verzweifelt die Augenbrauen hoch. »Das ist bei Ihnen immer so. Meinetwegen, zehn Minuten.« Sie begann sich zu entfernen, blieb dann aber stehen und drehte sich um. »Pater Cussane kam gestern abend nicht. Wissen Sie, weshalb?« 194
»Nein«, log Devlin. »Ich habe ihn nicht gesehen.« Sie ging. Er zog einen Stuhl heran. »Danny, wie geht’s?« Malone schlug die Augen auf und sagte he iser: »Bist du das, Liam? Pater Cussane war nicht da.« »Sag mal, Danny, hast du ihm von Scan Deegan aus Bally walter erzählt, der Leute zur Isle of Man bringt?« Malone zog die Stirn kraus. »Sicher, ich habe über vieles mit ihm geredet.« »Aber hauptsächlich über IRA-Angelegenheiten.« »Sicher. Er wollte von mir hören, wie ich mich in den alten Zeiten so durchgeschlagen habe.« »Ganz besonders in England?« fragte Devlin. »Ja. Du weißt ja, wie lange ich durchgehalten habe, ohne er wischt zu werden. Er wollte wissen, wie ich das schaffte.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt was nicht?« »Danny, du warst immer unser Stärkster. Sei jetzt bitte stark. Cussane gehörte nicht zu uns.« Malones Augen weiteten sich. »Willst du mich auf die Schippe nehmen, Liam?« »Sean Deegan liegt mit einer Kugel im Leib im Krankenhaus, und zwei gute Männer sind tot.« Danny starrte ihn an. »Erzähl mal.« Devlin berichtete. Als er geendet hatte, fluchte Malone leise. »Erzähl mir alles, an das du dich noch erinnern kannst, Dan ny. Alles, für das er sich besonders interessierte.« Malone zog die Brauen zusammen, versuchte nachzudenken. »Ach ja, zum Beispiel, wie ich es schaffte, der Sicherheitspoli zei und den Knaben vom Geheimdienst so lange vorauszublei ben. Ich machte ihm klar, daß ich in England nie das IRA-Netz benutzte, weil es total unzuverlässig ist. Das weißt du selbst, Liam.« »Allerdings.« 195
»Ich selbst habe mich immer an die Unterwelt geha lten. Ein ehrlicher Gauner ist mir jederzeit lieber, oder auch ein unehrli cher, wenn der Preis stimmt. Ich kannte eine Menge solcher Leute.« »Erzähl mir von ihnen«, bat Devlin. Cussane mochte Küstenstädte, besonders jene, die für den Massentourismus eingerichtet waren, für ehrliche Leute aus der Arbeiterschicht, die sich erholen und amüsieren wollten. Über all Cafes, Spielsalons und Vergnügungsparks, dazu eine Brise, die das dunkle Wasser der Bucht aufpeitschte, bis sich Schaumkronen bildeten. Im Norden konnte er die Berge des Lake District sehen. Er überquerte die Straße. Obwohl noch nicht Hochsaison war, drängten sich die Touristen schon in Mengen. Er schlä n gelte sich durch die engen Straßen, bis er den Weg zum Bus bahnhof gefunden hatte. Die meisten größeren Provinzstädte konnte man mit schne l len Reisebussen erreichen, größtenteils per Autobahn. Er be trachtete dich die Fahrpläne und fand, was er suchte: eine Bus verbindung nach Glasgow über Carlisle und Dumfries. Abfahrt war in einer Stunde. Er buc hte eine Fahrkarte und ging auf die Suche nach einem Imbiß. 11
Georgi Romanow war Oberattaché für den Bereich Öffent lichkeitsarbeit an der sowjetischen Botschaft in London; ein hochgewachsener, umgänglich aussehe nder Mann von fünfzig, der auf seinen Aristokratennamen insgeheim recht stolz war. Er arbeitete seit elf Jahren in London für das KGB und war im vergangenen Jahr zum Generalleutnant befördert worden. Fer guson fand ihn sympathisch, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Als Ferguson ihn kurz nach seinem letzten 196
Telefongespräch mit Devlin anrief und ein Treffen vo rschlug, erklärte sich Romanow sofort einverstanden. Sie trafen sich in den Kensington Gardens beim runden Teich, einer Stelle, die Romanow von der Botschaft aus be quem zu Fuß erreichen konnte. Ferguson wartete auf einer Bank und las die Times. Romanow setzte sich zu ihm. »Hallo, Georgi«, sagte Ferguson. »Tag, Charles. Was verschafft mir die Ehre?« »Wir müssen ganz offen miteinander reden, über einen Fall, wie er schlimmer nicht sein könnte. Was wissen Sie über einen KGB-Agenten, Codename Cuchulain, der vor gut zwanzig Jah ren als Maulwurf in Irland untergebracht wurde?« »Ausnahmsweise kann ich einmal eine ganz aufrichtige Ant wort geben«, erwiderte Romanow. »Absolut nichts.« »Dann will ich Sie einweihen.« Als Ferguson geendet hatte, war Romanows Miene ernst. »Das ist sehr kritisch.« »Kann man wohl sagen. Ausschlaggebend ist, daß er sich ir gendwo im Land aufhält und damit gebrüstet hat, er wolle am Samstag in Canterbury den Papst erschießen. Angesichts seiner bisherigen Taten müssen wir ihn ernst nehmen. Dieser Mann ist kein Spinner.« »Was erwarten Sie von mir?« »Daß Sie sich mit Moskau in Verbindung setzen, und zwar auf höchster Ebene. Ich kann mir kaum vorstellen, daß Ihrer Regierung daran liegt, den Papst von einem erwiesenen KGBAgenten erschossen zu sehen, und schon gar nicht nach dem mißglückten Anschlag in Rom. Und es ist Cussanes Absicht, die Sowjetunion bloßzustellen. Warnen Sie Ihre Leute, daß wir in diesem Fall keine Einmischung dulden. Und sollte er sich wider alle Erwartungen mit Ihnen in Verbindung setzen, Geor gi, möchte ich unterrichtet werden. Wir erwischen diesen Kerl, darauf können Sie sich verlassen, und das wird sein Ende sein. 197
Kein Prozeß oder ähnlicher Mumpitz. Ich bin überzeugt, daß Ihre Leute in Moskau das gerne hören werden.« »Da bin ich sicher.« Romanow erhob sich. »Ich gehe jetzt besser zurück in die Botschaft und mache mich an die Arbeit.« »Lassen Sie sich von einem alten Kumpel einen Rat geben«, sagte Ferguson. »Wenden Sie sich an eine Instanz über Mas lowski.« Angesichts der Bedeutung der Angelegenheit war Ferguson zum Generaldirektor gegangen, der seinerseits mit dem Inne nminister gesprochen hatte. Das Resultat war, daß Ferguson während seiner Mittagsmahlzeit in die Downing Street zitiert wurde. Er ließ sofort seinen Wagen kommen und war binnen zehn Minuten zur Stelle. Am Ende der Straße stand hinter Ab sperrgittern die übliche kleine Menschenmenge. Der Polizist an der Tür salutierte. Kaum hatte Ferguson die Hand zum Tür klopfer erhoben, als auch schon geöffnet wurde. Drinnen summte es geschäftig, was angesichts der sich zu spitzenden Lage auf den Falklands kein Wunder war. Zu seiner Überraschung wurde er von der Premierministerin persönlich empfangen. Sein Führer geleitete ihn über die Haupttreppe in den ersten Stock. Oben klopfte der junge Mann an eine Tür und trat vor Ferguson ein. »Brigadier Ferguson, Premierministerin.« Sie sah von ihrem Schreibtisch auf, wie immer makellos in einem grauen Tweedkleid und mit perfekter blonder Dauerwel le, und legte ihren Füller hin. »Meine Zeit ist beschränkt, Bri gadier. Das verstehen Sie sicherlich. Also, der Innenminister hat mich über die wichtigsten Fakten informiert. Von Ihnen erwarte ich lediglich die Zusicherung, daß diesem Mann Ein halt geboten wird.« »Die kann ich Ihnen ohne den geringsten Vorbehalt geben.« »Ein Anschlag auf den Papst, auch ein erfolgloser, hätte für uns katastrophale politische Konsequenzen.« 198
»Ich verstehe.« »Als Chef von Gruppe Vier haben Sie Sonderbefugnisse, und zwar direkt von mir. Nutzen Sie sie, Brigadier. Und falls Sie sonst noch etwas brauchen, zögern Sie nicht, es mich wissen zu lassen.« »Jawohl, Premierministerin.« Sie griff nach ihrem Füller und machte sich wieder an die Arbeit. Ferguson ging hinaus, wo der junge Mann auf ihn war tete. Auf dem Weg nach unten wurde Ferguson nicht zum er sten Mal in seiner Karriere klar, daß es nicht nur um Cussanes, sondern auch um seinen eigenen Kopf ging. In Moskau wurde Iwan Maslowski erneut ins Staatssiche r heitsministerium bestellt, wo Juri Andropow noch immer in seinem alten Büro saß und einen maschinengeschriebenen Be richt prüfte. Er schob ihn über den Schreibtisch. »Lesen Sie das, Geno s se.« Maslowski gehorchte und hatte das Gefühl, das Herz stünde ihm still. Als er fertig gelesen hatte und den Bericht zurückgab, zitterten seine Hände. »Ihr Mann, Maslowski, befindet sich inzwischen in England auf freiem Fuß und beabsichtigt, ein Attentat auf den Papst zu verüben, und offenbar ist seine Absicht einzig und allein, uns ernsthaft in Verlegenheit zu bringen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen, daß der britische Gehe im dienst diese Angelegenheit mit hundertprozentiger Effizienz erledigt.« »Genosse, was soll ich sagen?« »Nichts, Maslowski. Diese ganze traurige Affäre war nicht nur unklug, sondern Abenteuertum der übelsten Sorte.« An dropow drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch, hin ter Maslowski öffnete sich eine Tür, und zwei junge KGBHauptleute in Uniform traten ein. »Sie räumen Ihr Dienstzim 199
mer und übergeben alle Ihre dienstlichen Schlüssel, Codes und Akten einer Person, die ich benennen werde. Anschließend kommen Sie in die Lubjanka in Untersuchungshaft, bis Ihnen der Prozeß wegen Verbrechen gegen den Staat gemacht wird.« Die Lubjanka – wie viele Menschen hatte er selbst dorthin geschickt? Plötzlich litt Maslowski unter Atemnot und Schmerzen in Brust und beiden Armen. Er begann zusammen zubrechen und griff nach der Schreibtischkante. Andropow sprang beunruhigt zurück, die beiden KGB-Offiziere stürzten vor und packten Maslowskis Arme. Er wehrte sich nicht, weil ihm die Kraft fehlte, versuchte aber etwas zu sagen, als die Schmerzen schlimmer wurden, wollte Andropow sagen, daß ihm keine Zelle, kein Staatsprozeß bevorstand. Seltsamerweise galt sein letzter Gedanke Tanja, seiner geliebten Tanja, wie sie am Klavier saß und sein Lieblingsstück spielte, Debussys La Mer. Dann verklang die Musik, und es wurde dunkel um ihn. Ferguson war in einer Sitzung mit dem Innenminister, dem Kommandanten von C 13, Scotland Yards Anti- Terror-Einheit, und dem Generaldirektor der Sicherheitskräfte gewesen. Er war abgespannt, als er zurück in seine Wohnung kam und dort Devlin vorfand, der am Kamin saß und die Times las. »Im Augenblick scheint der Papst der Falkland-Affäre die Schlagzeilen zu stehlen«, meinte Devlin und faltete die Ze i tung. »Mag sein«, sagte Ferguson. »Was mich angeht, kann er nicht bald genug wieder heimfliegen. Sie hätten diese Sitzung miterleben sollen, an der ich gerade teilnahm, Devlin. Der In nenminister höchstpersönlich, Scotland Yard und der Direktor. Und wissen Sie was?« Er stellte sich mit dem Rücken zum Feuer und wärmte sich auf. »Die nehmen das gar nicht so ernst.« »Cussane, meinen Sie?« »Verstehen Sie mich nicht falsch. Man nimmt seine Existenz zur Kenntnis, Wenn Sie mir folgen können. Ich legte seine Ak 200
te vor, und seine Aktivitäten in Dublin in den letzten Tagen waren weiß Gott schlimm genug: Lewin, Lubow, Tscherny, zwei IRA-Leute. Dieser Mann ist ein Schlächter.« »Da bin ich anderer Ansicht«, entgegnete Devlin. »Für ihn ist das nur Teil seines Vorhabens, etwas, das einfach erledigt wer den muß, und zwar sauber und flott. Er hat im Lauf der Jahre häufig Menschen verschont. Tanja und ich wären ein gutes Beispiel. Er hat es nur auf ein Ziel abgesehen, das ist alles.« »Erinnern Sie mich bloß nicht daran.« Ferguson schüttelte sich. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Harry Fox trat ein. »Hallo, Sir. Tag, Liam. Wie ich höre, hat sich während me i ner Abwesenheit einiges ereignet.« »Das kann man wohl sagen«, versetzte Ferguson. »Ging in Paris alles glatt?« »Ja, ich sprach mit Tony. Er hat die Sache in der Hand.« »Darüber können Sie später berichten. Ich informiere Sie besser erst über die letzten Entwicklungen.« Was er so rasch wie möglich tat, gelegentlich von Devlins Zwischenbemerkungen unterbrochen. Als Ferguson geendet hatte, meinte Harry Fox: »Was für ein Mann! Seltsam.« Er schüttelte den Kopf. »Was ist an ihm so seltsam?« »Als ich ihn kürzlich traf, fand ich ihn recht sympathisch, Sir.« »Das fällt einem nicht schwer«, ließ sich Devlin vernehmen. Ferguson runzelte die Stirn. »Schluß jetzt mit diesem Unsinn.« Kim trug ein Tablett mit Teegeschirr und einem Teller Schin kentoasts herein. »Vorzüglich«, meinte Ferguson. »Ich habe einen Bärenhunger.« »Und Tanja Woroninowa?« fragte Fox. »Die habe ich für den Augenblick sicher untergebracht.« 201
»Wo,Sir?« »In unserer Wohnung in Chelsea. Das Direktorat hat zu ih rem Schutz eine Agentin abgestellt bis hier alles geklärt ist.« Er reichte jedem eine Tasse Tee. »Und was wäre jetzt der nächste Schritt?« fragte Devlin. »Innenminister und Direktor, mit denen ich übrigens einig bin, finden, daß wir diese Angelegenheit vorerst nicht zu pu blik machen sollen. Zweck der Übung beim Papstbesuch sind Liebe und Brüderlichkeit; ein ernstgemeinter Versuch, zur Ein stellung der Feindseligkeiten im Südatlantik beizutragen. Stel len Sie sich einmal vor, wie sich das auf den Titelseiten der Zeitungen machen würde: ›Erster Papstbesuch in England – tollwütiger Killer los.‹« »Und dazu noch ein Priester, Sir.« »Das können wir unberücksichtigt lassen. Immerhin wissen wir, wer er in Wirklichkeit ist.« »Lassen wir nichts unberücksichtigt«, wandte Devlin ein. »Gestatten Sie, daß ich Sie als nicht besonders guter Katholik über einige Dinge informiere. In den Augen der Kirche wurde Harry Cussane vor einundzwanzig Jahren in Vine Landung, Connecticut, zum Priester geweiht und ist noch immer Geistli cher. Haben Sie denn in letzter Zeit keinen Graham Greene gelesen?« »Na schön«, versetzte Ferguson gereizt. »Das mag meine t wegen so sein, aber die Premierministerin wünscht nicht, daß Cussane Schlagzeilen macht. Das nützte niemandem.« »Er könnte schneller gefaßt werden«, gab Fox milde zu be denken. »Das erwartet man ohnehin von uns. Die Sicherheitspolizei Dublin hat auf unsere Bitte hin in seinem Haus Fingerabdrücke sichergestellt und in ihren Computer eingegeben, der, wie Sie wissen, mit dem der Siche rheitsabteilung in Lisburn verbunden ist, und über diesen mit unserer Datenverarbeitungsanlage und 202
der des Zentralarchivs von Scotland Yard.« »Ich wußte gar nicht, daß eine solche Vernetzung existierte«, sagte Devlin. »Tja, das kleine Wunder Mikro-Chip«, meinte Ferguson. »Elf Millionen Personen erfaßt: Strafregister, Bildungsgrad, Beruf, sexuelle Neigungen, persönliche Angewohnheiten – zum Bei spiel, wo jemand seine Möbel kauft.« »Das meinen Sie doch nicht ernst?« »Oh doch. Einen von Ihrem Verein, der letztes Jahr aus Ul ster hierherkam, erwischten wir, weil er immer im Coop ein kaufte. Er hatte zwar eine vorzügliche zweite Identität, konnte aber von einer lebenslangen Angewohnheit nicht lassen. Cus sane ist jetzt im Computer, und zwar nicht nur seine Fingerab drücke, sondern alles, was wir über ihn wissen, und da die mei sten größeren Polizeidienststellen im Land über Computer mit Bildschirm verfügen, können sie unsere zentrale Datenbank anzapfen und bekommen auf Knopfdruck sein Foto auf den Bildschirm.« »Allmächtiger!« »Das gilt für Sie übrigens auch. Und was Cussane angeht, habe ich Anweisung erteilt, ein absichtlich gekürztes Profil einzugeben, in dem jeglicher Hinweis auf das KGB fehlt. Es lautet lediglich: Gibt sich als Priester aus, hat bekannte Verbin dungen zur IRA. Vorsicht! Bewaffnet und gefährlich. Ka piert?« »Allerdings.« »Zu diesem Zweck übergeben wir der Presse sein Bild und mehr oder weniger Einzelheiten, die ich Ihnen gerade genannt habe. Einige Abendzeitungen werden sie heute noch bringen können, aber in den überregionalen Blättern steht es erst mor gen.« »Und Sie finden, daß das ausreicht, Sir?« fragte Fox. »Sehr wahrscheinlich. Wir müssen nun abwarten. Eines steht 203
aber fest«, Ferguson trat ans Fenster und schaute hinaus, »er ist irgendwo da draußen.« »Und der Haken ist«, warf Devlin ein, »daß niemand etwas unternehmen kann, ehe er auftaucht.« »Genau.« Ferguson ging zurück ans Tablett und griff nach der Teekanne. »Hm, köstliches Getränk. Hätte noch jemand Lust auf eine Tasse?« Etwas später am Nachmittag saß Johannes Paul II. an einem Schreibtisch in dem an sein Schlafgemach angrenzenden klei nen Arbeitszimmer und studierte den Bericht, der ihm gerade überbracht worden war. Der Mann, der vor ihm stand, trug eine schlichte schwarze Soutanelle und hätte dem Aussehen nach ein einfacher Priester sein können. In Wirklichkeit war er Ge neral des Jesuitenordens, des erlauchtesten Ordens der katholi schen Kirche. Die Jesuiten waren stolz auf ihren Beinamen »Soldaten Christi« und schon seit Jahrhunderten hinter den Kulissen für die Sicherheit des Papstes verantwortlich gewe sen. Aus diesem Grund war denn auch der General aus seinem Büro in der Via del Seminario zum Vatikan geeilt und hatte den Heiligen Vater um eine dringende Audienz ersucht. Papst Johannes Paul legte den Bericht hin und sah auf. Er sprach ein vorzügliches Italienisch, in dem nur der Anflug ei nes Akzents verriet, daß seine Muttersprache Polnisch war. »Wann erhielten Sie das?« »Der erste Bericht vom Sekretariat in Dublin ging vor drei Stunden ein, die Nachricht aus London kurz darauf. Ich habe persönlich mit dem britischen Innenminister gesprochen, der mir garantierte, es würde alles für Eure Sicherheit getan, und mich an den im Bericht als direkt verantwortlich erwähnten Mann verwies, Brigadier Ferguson.« »Sind Sie besorgt?« »Euer Heiligkeit, es ist so gut wie unmöglich, einen isolierten Attentäter von seinem Ziel abzuhalten, besonders, wenn ihm seine eigene Sicherheit gleichgültig ist. Dieser Cussane hat 204
seine Fähigkeiten in der Vergangenheit schon zu oft unter Be weis gestellt.« »Pater Cussane.« Der Papst stand auf und schritt zum Fen ster. »Er war ein Mörder und ist es vielleicht auch jetzt noch, aber er ist auch ein Priester, und der Herr wird nicht zulassen, daß er das vergißt.« »Euer Heiligkeit werden also nach England reisen?« »Nach Canterbury, mein Freund, wo der heilige Thomas Becket für den Herrn starb.« Der General beugte sich vor und küßte den Ring an der aus gestreckten Hand. »Dann bitte ich Euer Heiligkeit, mich zu entschuldigen. Es gibt viel zu tun.« Er verließ den Raum. Johannes Paul blieb eine Weile am Fenster stehen, schritt dann durch das Arbeitszimmer und betrat seine Privatkapelle. Er kniete sich vor den Altar, faltete die Hände und verspürte eine gewisse Angst, als er sich der Kugel des Attentäters entsann, die seinem Leben fast ein Ende gesetzt hätte, der monatelangen Schmerzen. Doch er schob diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Wichtiges: seine Gebete für die unsterbliche Seele von Pater Harry Cussa ne und aller Sünder auf der Welt, die sich mit ihren Taten Got tes unendlicher Liebe und Barmherzigkeit beraubten. Ferguson legte den Hörer auf und wandte sich an Devlin und Fox. »Das war der Generaldirektor. Seine Heiligkeit ist über Cussane und die Bedrohung, die er darstellt, informiert. Auf seine Pläne hat das keinen Einfluß.« »Stand doch wohl zu erwarten«, meinte Devlin. »Immerhin hat der Mann jahrelang im polnischen Untergrund gegen die Nazis gearbeitet.« »Schon gut«, entgegnete Ferguson, »verstanden. So, und jetzt lassen Sie sich besser ausrüsten. Harry, ne hmen Sie ihn mit zum Direktorat und besorgen Sie ihm einen Sicherheitsaus weis, Stufe A. Das ist nicht bloß ein Fetzen Kunststoff mit Ih 205
rem Bild«, sagte er dann zu Devlin, »sondern ein Dokument, das nur sehr wenige Leute erhalten. Damit kommen Sie überall durch.« Er ging an seinen Schreibtisch, und Devlin fragte: »Berech tigt mich das auch zum Tragen einer Waffe? Eine Walther wä re nicht überflüssig. Wie Sie wissen, bin ich von Natur aus Pessimist.« »Die ist bei den meisten unserer Leute nicht mehr beliebt, seit dieser Idiot versuchte, Prinzessin Anne zu erschießen, und die Walther ihres Leibwächters eine Ladehemmung hatte. Hören sie auf meinen Rat und lassen Sie die Finger von Revolvern.« Er griff nach einigen Akten, und sie gingen gemeinsam ins Arbeitszimmer, um ihre Mäntel zu holen. »Ich ziehe trotzdem eine Walther vor«, meinte Devlin. »Eins steht fest«, merkte Fox an. »Was immer Sie auch tra gen, darf nicht klemmen, wenn Sie Harry Cussane gegenüber stehen.« Damit öffnete er die Tür, und sie gingen hinaus zum Aufzug. Harry Cussane hatte sich eine Art Plan zurechtgelegt. Er wußte, was er am Samstag in Canterbury erreichen wollte, aber das bedeutete, daß ihm fast drei Tage und drei Nächte bevor standen, in denen er sich verstecken mußte. Danny Malone hatte eine Reihe von Leuten aus Verbrecherkreisen erwähnt, die für einen saftigen Preis die nötige Unterstützung bieten konnten. Zahlreiche Adressen natürlich in London, Leeds oder Manchester, aber er entschied sich für die Brüder Mungo auf ihrem abgelegenen Hof in Galloway. In Schottland würde man zuletzt nach ihm suchen, und der Pendelflug der British Air ways von Glasgow nach London dauerte nur eineinviertel Stunden. Zeit totschlagen, darum ging es jetzt. In Canterbury brauchte er erst im letzten Augenblick aufzutauchen. Zu organisieren gab es nichts. Das amüsierte ihn, als er in dem Bus saß, der auf der Autobahn nach Carlisle sauste. Man konnte sich die Si 206
cherheitsmaßnahmen in Canterbury vorstellen: jeder mögliche Zugang bewacht, überall Scharfschützen der Polizei, vermut lich sogar SAS-Männer in Zivil unter die Menge gemischt. Alles umsonst. Wie beim Schach, wie er oft zu Devlin, dem weltschlechtesten Spieler, gesagt hatte; es zählte nicht der ge genwärtige Zug, sondern der letzte. Die Technik ließ sich mit der eines Zauberkünstlers vergleichen: was er mit der rechten Hand tat, glaubte man ihm, aber entscheidend war, was die Linke trieb. Er schlief eine Weile und sah beim Erwachen links von sich das Meer in der Nachmittagssonne schimmern. Er beugte sich vor und sprach die Frau auf dem Vordersitz an. »Wo sind wir?« »Gerade an Annan vorbeigekommen.« Sie sprach mit einem breiten Glasgower Akzent. »Nächste Haltestelle Dumfries. Sind Sie katholisch?« »Ich fürchte, ja«, gab er vorsichtig zurück. Das scho ttische Tiefland war schon immer protestantisch gewesen. »Wie schön. Ich bin auch Katholikin, aus Glasgow und ir i scher Abstammung, Pater.« Sie ergriff seine Hand und küßte sie. »Gute Güte, Pater, Sie sind aus der alten Heimat.« »Das stimmt.« Er befürchtete, sie könne ihm zur Last fallen, doch seltsa merweise wandte sie einfach den Kopf ab und machte es sich wieder auf ihrem Platz bequem. Draußen war der Himmel plötzlich pechschwarz, es donnerte unheilverkündend und be gann zu regnen. Bald ging ein Wolkenbruch von monsunähnli chen Ausmaßen nieder, der laut auf das Dach des Reisebusses trommelte. Sie hielten in Dumfries an, um zwei Fahrgäste aus steigen zu lassen, und rollten dann durch vom Wetter me n schenleer gefegte Straßen wieder hinaus ins freie Land. Nicht mehr weit zum Ziel; kaum mehr als fünfzehn Meilen bis Dunhill, wo er sich absetzen lassen wollte. Von dort aus 207
waren es ein paar Meilen auf einer Nebenstraße zu einem Wei ler namens Larwick und dem in den Hügeln liegenden Hof der Mungos. Der Busfahrer hatte ins Mikrophon seines Funkgeräts gespro chen und schaltete nun auf die Lautsprecheranlage um. »Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Leider ist die Straße kurz vor Dunhill wegen Überschwem mung gesperrt. Eine Menge Fahrzeuge sitzen bereits fest.« »Und was sollen wir machen?« rief die alte Frau, die vor Cussane saß. »Die Nacht im Bus verbringen?« »Noch ein paar Minuten, dann sind wir in Corbridge. Das ist zwar nur ein Nest, liegt aber an der Bahnlinie und hat eine Be darfshaltestelle. Man hat veranlaßt, daß der nächste Zug nach Glasgow angehalten wird.« »Die Bahn ist dreimal so teuer wie der Bus!« rief die alte Frau. »Keine Sorge, Muttchen«, gab der Fahrer gutgelaunt zurück. »Die Busgesellschaft zahlt.« »Hält der Zug in Dunhill?« fragte Cussane. »Kann sein. Genau weiß ich das nicht. Wir müssen abwar ten.« Knackis Pech nannte man das in Sträflingskreisen, wie er von Danny Malone erfahren hatte. Ganz gleich, wie sorgfältig man auch plante, es kam immer etwas völlig Unvorhergesehenes dazwischen und führte zu Schwierigkeiten. Sinnlos, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen und Energie zu verschwenden. Nun kam es darauf an, Alternativen zu prüfen. Links tauchte ein weißes Schild auf, schwarz »Corbridge« beschriftet, und dann ragten im dichten Regen die ersten Häu ser auf. Es gab einen Pub, eine Gemischtwarenhandlung, ein Zeitschriftengeschäft und gegenüber einen winzigen Bahnhof, vor dem der Fahrer anhielt. »Ich gehe mich erkundigen. Sie warten am besten hier.« Er 208
sprang ab und ging in den Bahnhof. Es goß unaufhörlich in Strömen. Zwischen Pub und Ge mischtwarenhandlung klaffte eine Lücke, und beide Gebäude waren mit Balken abgestützt. Das Haus zwischen ihnen war offenbar gerade erst abgerissen worden. Eine kleine Men schenmenge hatte sich angesammelt. Cussane beobachtete sie müßig, griff in die Tasche und stellte fest, daß seine Zigaret tenpackung leer war. Er zögerte, nahm dann seine Reisetasche, stieg aus dem Bus und rannte über die Straße zum Zeitschrif tengeschäft. Die junge Frau in der Tür bat er um zwei Packun gen Zigaretten und eine Wanderkarte der Gegend, sofern eine vorrätig sei. Er bekam das Gewünschte. »Was ist hier los?« fragte Cussane. »Sie sind jetzt seit einer Woche dabei, den alten Getreide speicher abzureißen. Es ging auch alles glatt, bis dieser Wol kenbruch kam. Jetzt ist im Keller irgend etwas passiert, ein Deckeneinbruch oder so was.« Sie traten wieder in die Ladentür und schauten hinaus. In die sem Augenblick kam vom anderen Ende der Dorf Straße her ein Polizeiwagen und hielt an. Aus stieg ein dicker, kräftig ge bauter Mann, der einen marineblauen Anorak mit den drei Streifen eines Sergeanten trug. Er drängte sich durch die Men ge und verschwand. »Ah, die Kavallerie ist da«, meinte die junge Frau. »Ist er nicht von hier?« fragte Cussane. »In Corbridge gibt es keine Polizeiwache. Er kommt aus Dunhill und heißt Brodie – Sergeant Lachlan Brodie.« Ihr To nfall sprach Bände. »Sehr beliebt scheint er ja nicht zu sein.« »Lachlans größtes Vergnügen ist es, am Samstagabend drei Betrunkene zu erwischen und zusammenzuschlagen. Er ist ge baut wie ein Schrank und beweist das nur zu gerne. Sie sind doch nicht etwa Katholik?« 209
»Ich fürchte doch.« »Dann sind Sie für Lachlan ein Antichrist. Er gehört zu den Baptisten, die schon Mus ik sündhaft finden, und ist obendrein Laienprediger.« Ein Arbeiter mit Schutzhelm und orangefarbener Jacke kam aus der Menge. Sein Gesicht war naß und schlammverschmiert. Er lehnte sich an die Hauswand und sagte: »Böse Sauerei da unten.« »Ist es so schlimm?« fragte die Frau. »Einer meiner Männer ist eingeklemmt. Eine Wand brach ein. Wir tun, was wir können, haben aber nicht genug Platz zum Arbeiten. Außerdem steigt das Wasser.« Er runzelte die Stirn und sprach Cussane an. »Sind Sie vielleicht zufällig Ka tholik?« »Ja.« Der Mann packte ihn am Arm. »Mein Name ist Hardy. Ich bin der Vorarbeiter. Der Mann da unten kommt wie ich aus Glasgow, ist aber Italiener, heißt Gi no Tisini. Er glaubt, daß er sterben muß, und hat mich ange fleht, einen Priester zu holen. Komme n Sie mit, Pater?« »Selbstverständlich«, erwiderte Cussane ohne Zögern und händigte der jungen Frau seine Tasche aus. »Würden Sie die bitte verwahren.« »Aber sicher, Pater.« Er folgte Hardy durch die Menge und in die Baugrube, ein gähnendes Loch, in das eine Kellertreppe führte. Brodie, der Polizeisergeant, hielt die Schaulustigen zurück. Hardy betrat die Stufen, und als Cussane ihm fo lgen wollte, hielt Brodie ihn am Arm fest. »Was soll denn das?« »Lassen Sie ihn durch!« rief Hardy. »Er ist Priester.« Brodies Blick war sofort feindselig, die Abneigung nicht zu verkennen. Für Cussane war das eine alte Le ier: wie damals in Belfast. »Sie kenne ich nicht«, sagte Brodie. 210
»Mein Name ist Fallen. Ich saß im Bus nach Glasgow«, er widerte Cussane ruhig. Er packte das Handgelenk des Polizisten und lockerte dessen Griff an seinem Arm. Brodie verzog schmerzlich das Gesicht, und Cussane stieß ihn beiseite und ging die Stufen hinunter. Im Nu stand er knietief im Wasser und mußte sich ducken, als er Hardy durch einen niedrigen Gang folgte. Eine Grubenlampe beleuchtete no tdürftig ein Chaos aus eingestürztem Mauerwerk und Bohlen. Als sie sich einer schmalen Öffnung näherten, kamen zwei Männer herausgetaumelt, beide bis auf die Haut durchnäßt und offensichtlich am Rande der Erschöpfung. »Wir schaffen’s nicht«, schnaufte einer. »Noch ein paar Mi nuten, dann ist sein Kopf unter Wasser.« Hardy drängte sich an ihnen vorbei, Cussane folgte ihm. Aus der Dunkelheit tauchte Gino Tisinis blasses Gesicht auf, als sie geduckt vordrangen. Cussane stützte sich an der Wand ab, und eine Bohle und mehrere Ziegelsteine lösten sich. »Vorsicht!« rief Hardy. »Das ganze Gerumpel kann zusam menfallen wie ein Kartenhaus.« Wasser strömte stetig gluckernd ein. Tisini rang sich ein ge quältes Lächeln ab. »Nehmen Sie mir die Beichte ab, Pater. Lange wird’s nicht dauern.« »Dazu ist keine Zeit. Sehen wir lieber zu, daß wir Sie rausho len«, sagte Cussane. Jäh schien sich der Zustrom zu verstärken; Wasser überspülte Tisinis Gesicht und versetzte ihn in Panik. Cussane kroch hin ter ihn, hob ihm den Kopf übers Wasser, beugte sich schützend über ihn. Hardy langte ins Wasser und tastete. »Hier hat sich allerhand gelockert«, meinte er. »Da hat der Wassereinbruch geholfen. Nun klemmt ihn nur noch ein Balken ein, aber der steckt in der Mauer. Wenn ich dort Gewalt anwende, fällt uns das Ganze auf den Kopf.« 211
»Und wenn Sie nichts tun, muß er innerhalb der nächsten zwei Minuten ertrinken«, gab Cussane zurück. »Das könnte auch für Sie gefährlich werden, Pater«, warnte Hardy. »Und für Sie auch. Also nichts wie ran.« »Pater!« schrie Tisini. »Erteilen Sie mir die Absolut ion!« Cussane sagte mit fester Stimme: »Möge unser Herr Jesus Christus dir deine Sünde vergeben. Kraft meines Amtes erteile ich dir die Absolution im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Er nickte Hardy zu. »Los!« Der Vorarbeiter holte tief Luft, tauchte unter und packte die Kanten des Balkens. Seine Schultern schienen anzuschwellen, er erschien mit dem Balken an der Oberfläche, und Tisini schrie auf und schwamm frei in Cussanes Händen. Die Mauer begann sich zu wölben. Hardy hob Tisini hoch und zerrte ihn zum Ausgang, Cussane half von hinten nach, als ringsum die Wände einstürzten. Er hob einen Arm, um Kopf und Schultern zu schützen, merkte, daß sie nun die Stufen erreicht hatten, daß helfende Hände ausgestreckt wurden, aber dann streifte ihn ein Backstein am Schädel. Er versuchte noch, die Stufen hochzu kommen, fiel aber auf die Knie, und dann wurde ihm schwarz vor den Augen. 12
Er kam langsam zu sich und stellte fest, daß die junge Frau aus dem Laden neben ihm hockte und sich über ihn beugte. Er lag auf einem Läufer vor einem Kohlenfeuer. Sie wischte ihm das Gesicht ab. »Immer langsam«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin Moira McGregor. Sie sind in mei nem Laden.« 212
»Und der Italiener und Hardy?« »Sind im ersten Stock. Wir haben einen Arzt gerufen.« Er war noch immer verwirrt und fand es schwer, klar zu den ken. »Meine Tasche?« fragte er langsam. »Wo ist die?« Nun ragte Brodie, der massige Polizist, über ihnen auf. »Aha, wir sind also wieder im Land der Lebenden«, sagte er mit ei nem unangenehm scharfen Unterton. »Das ist bestimmt zwei Dutzend Kerzen für die Jungfrau Maria wert.« Er ging hinaus. Moira McGregor lächelte Cussane an. »Nicht drum kümmern. Sie haben diesem Mann das Leben gerettet, Sie und Hardy. Ich hole Ihnen eine Ta sse Tee.« Sie betrat die Küche und fand Brodie am Tisch vor. »Ich könnte etwas Stärkeres vertragen«, meinte er. Sie holte eine Flasche Scotch und ein Glas aus dem Schrank und stellte beides wortlos auf den Tisch. Er griff nach einem Stuhl, zog ihn heran und merkte nicht, daß Cussanes Reiseta sche darauf gestanden hatte, die nun zu Boden fiel. Da der Reißverschluß offen gewesen war, fielen nun mehrere Gege nstände heraus, darunter zwei Hemden, die Pyxis und die violet te Stola. »Ist das seine Tasche?« fragte Brodie. / Sie stand mit dem Kessel in der Hand am Herd. »Ja.« Er ging auf die Knie, stopfte die Sachen zurück in die Tasche und zog dann die Brauen zusammen. »He, was ist denn das?« Durch einen unglücklichen Zufall hatte sich der doppelte Bo den der Tasche beim Hinfallen gelöst. Als erstes bekam Brodie einen britischen Paß zu Gesicht. Er schlug ihn auf. »Hm, mir hat er erzählt, er hieße Fallon.« »Na und?« sagte Moira. »Wie kommt es dann, daß er einen Paß auf den Namen Pater Sean Daly hat? Das Paßbild sieht ihm auch ähnlich.« Er tastete weiter und zog die Stetschkin hervor. »Allmächtiger!« 213
Moira wurde blaß. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das werden wir bald herausfinden.«
Brodie ging zurück ins Nebenzimmer und stellte die Tasche
auf einen Stuhl. Cussane lag mit geschlossenen Augen still da. Brodie kniete sich neben ihn, nahm ein Paar Handschellen her aus und legte Cussane ganz behutsam einen Armreifen ums linke Handgelenk. Cussane schlug die Augen auf, Brodie pack te das andere Handgelenk und ließ den Stahlring zuschnappen. Dann zerrte er den Priester auf die Beine und warf ihn in einen Sessel. »Was hat das alles zu bedeuten?« Brodie hatte den doppelten Boden ganz abgehoben und stocherte im Geheimfach. »Drei Faustwaffen, diverse Pässe und eine beträchtliche Summe Bar geld. Schöner Priester! Was soll das?« »Sie sind der Polizist, nicht ich«, bemerkte Cussane. Brodie gab ihm eine Ohrfeige. »Bloß nicht frech werden, Hochwürden. Ich sehe schon, daß ich Sie kasteien muß.« »Bitte nicht!« rief Moira McGregor, die von der Tür aus zu sah. Brodie grinste verächtlich. »Die Weiber sind doch alle gleich. Hast dich wohl in ihn verguckt, weil er den Helden gespielt hat.« Er ging hinaus. »Wer sind Sie?« fragte sie Cussane verzwei felt. Er lächelte. »Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle lieber nicht den Kopf zerbrechen. Aber auf eine Zigarette hätte ich schon Lust, ehe dieser Gorilla wiederkommt.« Nach fünf Jahren als Militärpolizist war Brodie nun seit zwanzig Jahren Polizeibeamter und hatte eine sehr durch schnittliche Karriere hinter sich. Er war ein säuerlicher und brutaler Mann, der Autorität nur aus der Ta tsache bezog, daß er eine Uniform trug, und mit seiner Religion hielt er es ähnlich: Eifern verschaffte ihm Scheinautorität. Er hätte das Präsidium 214
in Dumfries verständigen können, aber da er in den Knochen spürte, daß hier etwas Besonderes vorlag, rief er gleich das Präsid ium in Glasgow an. Glasgow hatte vor einer Stunde Cussanes Foto und detaillier te Personenbeschreibung erhalten. Der Fall erhielt die Dring lichkeitsstufe 1; jede Entwicklung war sofort an Gruppe Vier in London zu melden. Brodies Anruf wurde sofort zur Sicher heitspolizei durchgestellt. Binnen zwei Minuten hatte er einen Chefinspektor Trent am Apparat. »Berichten Sie noch einmal von vorne«, befahl Trent. Brodie gehorchte. Als er geendet hatte, sagte Trent: »Ich weiß nicht, wie lange Sie schon bei uns sind, aber Sie haben gerade den größten Fang Ihrer Karriere gemacht. Dieser Mann heißt Cus sane und ist ein IRA-Terrorist. Sagten Sie, die Fahrgäste des Busses, mit dem er kam, stiegen in einen Zug um?« »Jawohl, Sir. Die Straße ist überschwemmt. Wir haben hier zwar nur eine Bedarfshaltestelle, aber der Schnellzug nach Glasgow soll gestoppt werden.« »Wann trifft er ein?« »In ungefähr zehn Minuten, Sir.« »Nehmen Sie den, Brodie, und bringen Sie unseren Freund mit. Wir erwarten Sie in Glasgow.« Atemlos vor Erregung legte Brodie auf. Dann ging er zurück in den Wohnraum. Brodie führte Cussane den Bahnsteig entlang, hielt mit einer Hand seinen Arm, mit der anderen die Reisetasche fest. Die Leute drehten sich neugierig um, als der Priester in Handsche l len vorbeikam. Sie erreichten den Wagen des Zugführers am Ende des Zuges. Der Zugführer stand an der offenen Tür auf dem Bahnsteig. »Wer ist denn das?« »Sondertransport – ein Festgenommener für Glasgow.« Bro die stieß Cussane in den Wagen. In der Ecke lagen einige Post 215
säcke, auf die er ihn warf. »So, und jetzt seien Sie schön still und brav.« Es gab einen Aufruhr, und Hardy erschien an der Tür, hinter ihm Moira McGregor. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte«, erklärte der Vorarbeiter. »Habe es gerade erst erfa h ren.« »Sie können hier nicht rein!« rief Brodie barsch. Hardy ignorierte ihn. »Ich weiß nicht, worum es hier geht, aber kann ich irgend etwas für Sie tun?« Auf dem Bahnsteig pfiff der Zugführer. Cussane sagte: »Nein, nichts. Was macht Tisini?« »Sieht aus, als hätte er ein gebrochenes Bein.« »Richten Sie ihm aus, er hätte noch mal Glück gehabt.« Der Zug fuhr mit einem Ruck an. »Sie lägen jetzt nicht hier, wenn ich Sie nicht hineingezogen hätte«, sagte Hardy. Er stieg aus und stellte sich zu Moira auf den Bahnsteig. Der Zugführer sprang auf. »Man muß es halt nehmen, wie’s kommt«, rief Cussane. »Keine Sorge!« Der Zugführer schloß die Schiebetür, und der Zug beschleu nigte in Richtung Glasgow. Trent konnte der Versuchung, Ferguson in London anzuru fen, nicht widerstehen, und sein Gespräch wurde vom General direktorat zu dem Anschluß am Cave ndish Square umgestellt. Fox und Devlin waren außer- Haus. Ferguson hob selbst ab. »Hier Chefinspektor Trent, Sir, Sicherheitspolizei Glasgow. Ich glaube, wir haben den Mann, nach dem Sie fahnden – Cus sane.« »Bei Gott, wirklich?« rief Ferguson. »In welcher Verfassung ist er?« »Selbst habe ich ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, Sir. Er wurde in einem Dorf weiter südlich festgeno mmen und soll im Lauf der nächsten Stunde mit dem Zug hier in Glasgow 216
eintreffen. Ich werde ihn persönlich in Empfang nehmen.« »Schade, daß der Kerl nicht als Leiche aufgetaucht ist«, knurrte Ferguson. »Na, man kann halt nicht alles haben. Che f inspektor, ich wünsche, daß er morgen früh mit der ersten ver fügbaren Maschine nach London gebracht wird. Begleiten Sie ihn persönlich. Dieser Fall ist so wichtig, daß nichts daneben gehen darf.« »Wird gemacht, Sir«, erwiderte Trent beflissen. Ferguson legte auf und griff nach dem roten Telefon, doch seine angeborene Vorsicht gebot ihm Einhalt. Den Innenmini ster rief er besser erst an, wenn der Fisch tatsächlich im Netz war. Brodie saß in die Ecke gelehnt auf einem Hocker, behielt Cussane im Auge und rauchte eine Zigarette. Der Zugführer ging an seinem kleinen Schreibtisch eine Liste durch, addierte Beträge auf und legte den Kuge lschreiber weg. »So, ich mache jetzt meine Runde. Bis später.« Nachdem der Mann gegangen war, zog Brodie seinen Hocker durch den Gepäckwagen und setzte sich dicht vor Cussane hin. »Ich hab’ nie kapiert, weshalb Männer in Röcken rumlaufen. So was setzt sich doch nie durch.« Er beugte sich vor. »Was bringt euch Pfaffen das?« »Wovon reden Sie?« fragte Cussane. »Das wissen Sie doch ganz genau. Spielchen mit Chorkna ben?« Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn. »Ihr Schnauzer ist aber riesengroß. Tragen sie den, um einen weibischen Mund zu verstecken?« gab Cussane zurück. Nun wurde Brodie wütend. »Unverschämter Patron! Dir werd’ ich’s zeigen.« Er streckte den Arm aus und drückte die Glut der brennenden Zigarette auf Cussanes Handrücken. Cussane schrie auf und fiel rückwärts auf die Postsäcke. Brodie lachte und lehnte sich über ihn. »Dacht’ ich mir doch, 217
daß dir das gefällt«, meinte er und streckte erneut die Hand, mit der brennenden Zigarette aus. Cussane trat ihm in die Ho den. Brodie taumelte zurück, hielt sich die Hände zwische n die Beine, und Cussane sprang auf. Er trat geschickt aus, traf die rechte Kniescheibe, und als Brodie nach vorn umkippte, ramm te er ihm sein Knie ins Gesicht. Der Polizeisergeant lag stöhnend auf dem Rücken. Cussane durchsuchte ihm die Taschen, fand den Schlüssel und löste die Handschellen. Er holte seine Reisetasche, stellte sicher, daß der Inhalt intakt war, steckte sich die Stetschkin in die Tasche und zog die Schiebetür des Waggons auf. Regen strömte herein. Der Zugführer, der den Gepäckwagen einen Augenblick spä ter betrat, bekam gerade noch mit, wie Cussane neben dem Schienenstrang im Heidekraut landete, einen Purzelbaum schlug und den Bahndamm hinunterrollte. Dann sah er nur noch Dunst und Regen. Als der Zug langsam in Glasgows Hauptbahnhof einfuhr, wartete Trent mit einem halben Dutzend Beamten in Uniform auf Bahnsteig 1. Die Schiebetür des Gepäckwagens glitt auf, und der Zugführer erschien. »Hier drin.« Trent blieb im Eingang stehen. Da war nur Lachlan Brodie, der auf dem Hocker des Zugführers saß und sich das blutige und verschwollene Gesicht hielt. Trent rutschte das Herz in die Hose. »Raus damit«, sagte er resigniert. Brodie berichtete, so gut er konnte. Als er geendet hatte, fragte Trent: »Sie ließen sich also von ihm überrumpeln, obwohl er in Handschellen war?« »Das war nicht so einfach, wie es sich anhört, Sir«, sagte Brodie kläglich. »Sie Blödmann!« fuhr Trent ihn an. »Wenn ich mit Ihnen fe r tig bin, können Sie von Glück sagen, wenn Sie in einer Be dürfnisanstalt Anstellung finden.« 218
Er drehte sic h angewidert um und ging über den Bahnsteig zurück, um Ferguson anzurufen. Cussane machte in diesem Augenblick im Schutz einiger Felsblöcke auf einer Hügelkuppe nördlich von Dunhill Rast. Auf der Wanderkarte, die er bei Moira McGregor gekauft hat te, fand er ohne Schwierigkeiten Larwick, an dessen Rand der Hof der Mungos lag. Noch gut fünfzehn Meilen also, und vor wiegend durch Hüge lland, aber er war trotzdem guten Mutes, als er aufbrach. Dunst, der sich von links und rechts herankräu selte, und heftiger Regen gaben ihm ein Sicheres Gefühl der Eingeschlossenheit, Losgelöstheit von der Außenwelt, eine Art Freiheit. Er schritt durch einen Birkenwald und nassen Farn, der ihm die Hosenbeine durchweichte. Hin und wieder scheuchte er beim Vorbeigehen Waldhü hner und Regenpfeifer aus dem Heidekraut auf. Er blieb in Bewegung, denn inzwi schen war sein Regenmantel durchweicht, und er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wie gefährlich es in dieser Bergland schaft sein konnte, wenn man unzulänglich gekleidet war. Vielleicht eine Stunde nach dem Sprung aus dem Zug er reichte er die Kante eines Steilhangs und schaute in ein Tal hinab. Es dämmerte schon, aber ein von Menschen angelegter Pfad, der an einer Pyramide aus Feldsteinen endete, war weni ge Meter weiter deutlich zu erkennen. Das genü gte; er eilte mit frischen Kräften weiter und hangabwärts. Ferguson betrachtete sich eine große Wanderkarte des scho t tischen Hochlands. »Offenbar bestieg er den Bus in Morecam be«, sagte er. »Das haben wir festgestellt.« »Eine geschickte Art, nach Glasgow zu gelangen, Sir«, be merkte Fox. »Kaum«, wandte Ferguson ein. »Er löste eine Fahrkarte nach einem Nest namens Dunhill. Was, zum Te ufel, wollte er dort?« »Kennen Sie sich in der Gegend aus?« fragte Devlin. »Vor zwanzig Jahren habe ich einmal auf dem Gut eines Be kannten eine Woche läng gejagt. Komische Landschaft, diese 219
Galloway-Berge. Hochwälder, scharfe Kämme, überall ver steckt liegende kleine Lochs.« »Sagten Sie Galloway?« Devlin schaute sich die Karte ge nauer an. »Das ist also Galloway?« Ferguson runzelte die Stirn. »Na und?« »Dort, glaube ich, ist er«, sagte Devlin. »Das war die ganze Zeit sein Ziel.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Fox. Devlin berichtete von Danny Malone, und als er geendet ha t te, meinte Ferguson: »Da mögen Sie recht haben.« Devlin nickte. »Danny erwähnte eine Reihe konspirativer Häuser in verschiedenen Landesteilen, die von der Unterwelt benutzt werden. Cussanes Auftauchen in der Nähe von Gallo way muß im Zusammenhang mit dem Hof der Brüder Mungo stehen.« »Was unternehmen wir jetzt, Sir?« fragte Fox Ferguson. »Lassen wir die Sicherheitspolizei Glasgow bei den Mungos Razzia machen?« »Kommt nicht in Frage«, versetzte Ferguson. »Die Polizei dort hat uns gerade einen klassischen Beweis ihrer Tüchtigkeit geliefert; man hatte ihn, ließ ihn aber wieder entwischen.« Er warf einen Blick durchs Fenster in die Nacht. »Heute ist es sowieso zu spät. Auch für ihn. Er ist bestimmt noch zu Fuß in den Bergen unterwegs.« »Zweifellos«, nickte Devlin. »Sie fliegen morgen mit Harry nach Glasgow und sehen sich diesen Mungo-Hof persönlich an. Ich nehme Sondervollmacht in Anspruch. In diesem Fall wird die Sicherheitspolizei tun, was Sie sagen.« Ferguson ging hinaus. Fox bot Devlin eine Zigarette an. »Was meinen Sie?« »Man hatte ihn in Handschellen«, erwiderte Devlin, »aber er entkam. Das spricht für sich.« 220
Cussane lief bergab durch einen Birkenwald und folgte dem Lauf eines hübschen kleinen Baches, der zw ischen verstreuten Granitblöcken dahinsprang. Obwohl es bergab ging, begann er zu ermüden. Der Bach verschwand über eine Felskante und stürzte wie schon mehrmals zuvor in ein tiefes Becken. Cussane schlitterte rascher als beabsichtigt in der Dämmerung den Hang hinunter und landete unsanft am Boden, behielt seine Tasche aber fest im Griff. Jemand stieß eine n Ruf der Überraschung aus, und Cussane, der gerade auf ein Knie kam, sah zwei Kinder am Ufer des Beckens hocken. Auf den zweiten Blick hin war das Mädchen älter, als er angenommen hatte, sechzehn vielleicht. Sie trug Gummistiefel, Jeans und eine viel zu große alte Matrosenjacke. Sie hatte ein spitzes Gesicht, große dunkle Augen und üppiges schwarzes Haar, das unter einer gestrickten Schottenmütze hervorquoll. Der Knabe war jünger, zehn vielleicht, trug einen ausgefran sten Pullover, abgeschnittene Tweedhosen und Turnschuhe, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Er war gerade im Begriff, einen Fischhaken aus dem Wasser zu ziehen, auf dem ein Lachs aufgespießt war. Cussane lächelte. »Wo ich herkomme, gilt so etwas als nicht sehr sportlich.« »Lauf, Morag!« schrie der Junge und stürzte mit dem Fisch haken, an dessen Ende noch der Lachs zappelte, auf Cussane los. Ein Uferabschnitt bröckelte unter seinem Fuß ab, und er fiel in das Becken. Zwar kam er gleich wieder an die Oberfläche, den Spieß noch immer in der Hand, doch die rasche Strömung des vom Regen angeschwollenen Baches hatte ihn erfaßt und trug ihn fort. »Donal!« schrie das Mädchen und rannte auf die Böschung zu. 221
Cussane packte sie an der Schulter und zog sie zurück; gera de noch rechtzeitig, denn ein weiteres Stück Ufer brökkelte ab. »Sei doch nicht dumm. Dir würde es wie ihm ergehen.« Sie wehrte sich, wollte sich losreißen. Er ließ seine Tasche fallen, stieß sie aus dem Weg und rannte am Ufer entlang, brach durch die Birkenzweige. An dieser Stelle schoß das Was ser mit einer Macht durch eine schmale Rinne zwischen den Felsen und riß den Jungen mit. Cussane hastete weiter, spürte das Mädchen hinter sich. Er zog seinen Regenmantel aus und warf ihn beiseite. Er sprang über die Felsen, versuchte das Ende der Rinne vor dem Jungen zu erreichen, langte nach dem Ende des Fischhakens, den der Junge noch in der Hand hielt, obwohl der Lachs inzwischen fehlte. Er packte zu, spürte die enorme Gewalt der Strömung und stürzte, was nicht zu vermeiden war, kopfüber ins Wasser. Im nächsten Becken kam er an die Oberfläche, sah den Jungen nur einen Meter weit entfernt vor sich, streckte den Arm aus und bekam den Pullover fest in den Griff. Einen Augenblick später trug sie die Strömung an ein Kieselufer. Als das Mädchen die Böschung hinuntereilte, war der Junge schon auf den Beinen, schüttelte sich wie ein Terrier und kletterte ihr dann entgegen. Ein jäher Strudel ließ Cussanes schwarzen Hut herantreiben. Er holte ihn aus dem Wasser, untersuchte ihn und lachte. »Na, der ist wohl erledigt«, meinte er und warf ihn ins Becken. Er drehte sich um, um die Böschung zu erklimmen, und schaute in die Mündung einer abgesägten Schrotflinte in der Hand eines mindestens Siebzigjährigen, der am Rand des Bir kenwalds stand, das Mädchen, Morag, und der junge Donal links und rechts von ihm. Er hatte einen abgetragenen Tweed anzug an, das Gegenstück zur Schottenmütze des Mädchens auf und bedurfte dringend einer Rasur. »Wer ist das, Opa?« fragte das Mädchen. »Doch kein Was serschütz?« 222
»Mit einem Kragen, wie ihn die Geistlichen tragen? Unwahr scheinlich.« Die Sprache des Alten war von den weichen Vo kalen des Hochlanddialekts gefärbt. »Sind Sie ein geistlicher Herr?« »Mein Name ist Fallon«, erwiderte Cussane. »Pater Michael Fallon.« Er entsann sich eines Dorfnamens, der ihm beim Stu dium der Wanderkarte aufgefallen war. »Ich war unterwegs nach Whitechapel, verpaßte den Bus und dachte mir, nimmst die Abkürzung über den Berg.« Das Mädchen war zurückgelaufen, um seinen Rege nmantel zu holen. Als sie ihn brachte, nahm ihn der Alte ihr ab. »Auf, Donal, geh die Tasche des Herrn holen.« Er mußte also den Vorfall von Anfang an mit angesehen ha ben. Der Junge huschte fort, der Alte wog den Rege nmantel mit der Hand. Er langte in eine Tasche und zog die Stetschkin hervor. »Jetzt schau dir das mal an! Nein, Morag, ein Wasser schütz ist er bestimmt nicht, aber ein sehr seltsamer Priester.« »Er hat aber Donal gerettet, Opa.« Das Mädchen berührte seinen Ärmel. Er lächelte langsam auf sie hinab. »Allerdings. Ab ins Lager, Kleine. Sag, daß wir Gesellschaft haben, und sieh zu, daß der Kessel aufs Feuer kommt.« Er steckte die Stetschkin zurück in den Regenmantel und reichte ihn Cussane. Das Mädchen drehte sich um und flitzte in den Wald. Der Junge kam mit der Reisetasche zurück. »Mein Name ist Hamish Finlay, und ich stehe in Ihrer Schuld.« Er fuhr dem Knaben durchs Haar. »Sie sind will kommen, das zu teilen, was wir haben.« Sie gingen bergauf unter den Bäumen hindurch und drangen in eine Schonung ein. »Sonderbare Gegend«, meinte Cussane. Der Alte holte eine Pfeife hervor und stopfte sie aus einem abgewetzten Tabaksbeutel, behielt dabei die Schrotflinte un term Arm. »Ja, das ist der Galloway. Ein Mann kann hier ver 223
schwinden, vor anderen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Sicher«, meinte Cussane. »Hin und wieder haben wir das al le mal nötig.« Vor ihnen erklang ein Angstschrei, die schrille Stimme des Mädchens. Finlay hatte im Nu die Flinte in der Hand, und als sie loshasteten, sahen sie Morag, die sich im Griff eines gro ßen, kräftig gebauten Mannes wand. Er trug wie Finlay eine Schrotflinte und einen alten, flickenbesetzten Tweedanzug. Sein Gesicht war brutal und unrasiert; unter seiner Mütze hing zottiges gelbes Haar hervor. Er starrte auf das Mädchen hinab, als ergötzte er sich an seiner Angst, lächelte schwach. Cussane empfand echten Zorn, aber es war Finlay, der die Lage klärte. »Laß sie in Ruhe, Murray!« Der andere Mann guckte finster, hielt sie noch fest, stieß sie dann aber mit einem gezwungenen Lächeln von sich. »Wir haben nur ein bißchen gebalgt.« Morag drehte sich um und rannte hinter ihm weg. »Wer ist denn das?« »Murray, du stehst als Sohn meines verstorbenen Bruders un ter meiner Obhut, aber habe ich dir eigentlich schon mal ge sagt, daß du stinkst wie verdorbenes Fleisch im Sommer?« Die Schrotflinte bewegte sich leicht in Murrays Griff, heißer Zorn war in seinem Blick. Cussane ließ die Hand in die Tasche des Regenmantels gleiten und fand die Stetschkin. Gelassen, fast verächtlich, steckte sich der alte Mann die Pfeife an, und Murray schien der Mut zu verlassen. Er drehte sich um und entfernte sich. »Mein eigener Neffe.« Finlay schüttelte den Kopf. »Sie wis sen ja, wie die Rede geht: ›Freunde kann man sich wählen, Verwandte nicht.‹« »Wohl wahr«, meinte Cussane, als sie weitergingen. »Ja, und Sie können die Hand wieder von der Pistole ne h men. Die wird nicht mehr gebraucht, Pater – oder was Sie sonst sein mögen.« 224
Das Lager in der Mulde war ärmlich. Die drei Wagen waren alt und hatten geflickte Planen, und das einzige Kraftfahrzeug in Sicht war ein olivgrüner Jeep aus dem Zweiten Weltkrieg. Über allem hing eine deprimierende Atmosphäre der Armut, von den zerlumpten Kleidern der drei Frauen, die am offenen Feuer kochten, bis zu den bloßen Füßen der Kinder, die zwi schen den sechs Pferden, die am Bach grasten, Fangen spielten. Cussane schlief gut und traumlos und war völlig erfrischt, als er erwachte und Morag erblickte, die auf der Koje gegenüber saß und ihn beobachtete. Cussane lächelte. »Hallo, guten Morgen.« »Komisch«, sagte sie. »Eben haben Sie noch geschlafen, aber jetzt haben Sie die Augen offen und sind hellwach. Wie haben Sie das gelernt?« »Eine lebenslange Angewohnheit.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Es ist erst halb sieben.« »Wir sind Frühaufsteher.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Öffnung des Planwagens hin. Er hörte Stimmen und roch bratenden Frühstücksspeck. »Ich habe Ihre Kleider getrocknet«, meinte sie. »Mögen Sie eine Tasse Tee?« Sie hatte etwas Eifriges an sich, als sei sie verzweifelt be müht, ihm zu Gefallen zu sein, etwas unglaublich Rü hrendes. Er streckte ihr die Hand aus und zog ihr die Scho ttenmütze etwas schräger übers Ohr. »Die gefällt mir.« »Hat mir meine Mutter gestrickt.« Sie setzte sie ab und be trachtete sie traurig. »Lieb von ihr. Ist sie hier?« »Nein.« Morag setzte die Mütze wieder auf. »Letztes Jahr brannte sie mit einem gewissen McTavish durch, nach Austra lien.« »Und dein Vater?« »Verschwand, als ich noch ein Baby war.« Sie zuckte die 225
Achseln. »Stört mich aber nicht.« »Ist der kleine Donal dein Bruder?« »Nein, sein Vater ist mein Vetter Murray. Sie haben ihn vo r hin gesehen.« »Ah, der. Du hältst wohl nicht viel von ihm.« Sie schüttelte sich. »Bei dem wird mir ganz anders.« In Cussane wallte wieder der Zorn auf, aber er beherrschte sich. »Eine Tasse Tee wäre mir lieb – und die Gelegenheit, mich anzuziehen.« Ihre Antwort, zynisch und viel zu abgebrüht für ihr Alter, überraschte ihn. »Fürchten Sie, ich könnte Sie in Versuchung führen, Pater?« Sie grinste. »Ich hole den Tee.« Dann flitzte sie hinaus. Sein Anzug war getrocknet und gründlich abgebürstet wo r den. Er kleidete sich rasch an, ließ Weste und weißen Stehkra gen weg und zog statt dessen einen dünnen schwarzen Rollkra genpullover über den Kopf. Weil es immer noch goß, zog er seinen Regenmantel an und ging hinaus. Murray Finlay stand an einen Planwagen gelehnt und schmauchte eine Tonpfeife. Donal hockte ihm zu Füßen. »Gu ten Morgen«, sagte Cussane, doch mehr als einen bösen Blick brachte Murray nicht zuwege. Morag wandte sich vom Feuer ab und bot Cussane Tee in ei nem alten Emailbecher an. »Krieg ich keinen?« fragte Murray herüber. Sie schenkte ihm keine Beachtung. »Wo ist dein Großvater?« fragte Cussane. »Am Wasser, angeln. Ich führe Sie hin. Nehmen Sie Ihren Tee mit.« Sie hatte etwas ungemein Anziehendes an sich, etwas Jun genhaftes, das von der Schottenmütze noch betont wurde. Es war, als streckte sie trotz ihrer ze rlumpten Kleider der ganzen Welt die Zunge heraus. Die Vorstellung, daß ein solches Mäd 226
chen durch Kontakt mit Murray und seinesgleichen und die elenden Zukunftsaussichten verroht werden würde, war Cussa ne alles andere als angenehm. Sie überwanden eine Anhöhe und erreichten ein Wasserbecken, eine hübsche kleine Stelle, wo das Heidekraut bis dicht am Ufer wuchs. Der alte Hamish Finlay stand mit der Angelrute in der Hand schenkeltief im Wasser, warf sie immer wieder geschickt aus. Ein Windhauch bewegte die Wasseroberfläche, kleine schwarze Rückenflossen erschienen, und plötzlich sprang hinter der Sandbank eine Fo relle aus dem tiefen Wasser und verschwand gleich wieder. Der alte Mann warf Cussane einen Blick zu und lachte in sich hinein. »Haben Sie das gesehen? Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die besten Dinge im Leben am falschen Platz auftauchen?« »Sehr oft schon.« Finlay gab Morag seine Rute. »Im Korb findest du drei dicke Fische. Ab jetzt mit dir, und mach dich ans Frühstück.« Sie wandte sich zurück zum Lager. Cussane bot dem Alten eine Zigarette an. »Ein nettes Kind.« »Tja, kann man wohl sagen.« Cussane gab ihm Feuer. »Sie führen ein sonderbares Leben, sind aber doch wohl keine Zigeuner?« »Nein, Landfahrer. Die Leute geben uns alle möglichen Na men, und manche sind nicht sehr schmeiche lhaft. Wir sind die letzten Überreste eines stolzen Clans, der bei der Schlacht von Culloden zerschlagen wurde. Gelegentlich haben wir Kontakt mit anderen Landfa hrern. Morags Mutter zum Beispiel ist eine englische Zigeunerin.« »Und keine feste Bleibe?« fragte Cussane. »Nein. Niemand will uns lange um sich haben. Spätestens morgen kommt der Dorfpolizist aus Whitechapel hier zu uns hoch. Drei Tage – mehr gesteht man uns nicht zu, und dann verjagt er uns. Aber was wird aus Ihnen?« »Ich mache mich heute gleich nach dem Frühstück auf den 227
Weg.« Der Alte nickte. »Ich will nicht erst fragen, warum Sie ge stern abend den Kragen eines Geistlichen trugen. Das ist Ihre Angelegenheit. Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Am besten tun Sie gar nichts.« »So ist das also.« Finlay seufzte tief. In der Ferne schrie Morag auf. Cussane kam im Laufschritt durch den Wald und fand die beiden in einer birkenumstandenen Lichtung. Das Mädchen lag auf dem Rücken, Murray hockte über ihr, drückte sie mit einem geilen Ausdruck zu Boden. Er grapschte nach einer ihrer Brü ste, sie schrie erneut angewidert auf, und nun war Cussane zur Stelle. Er packte sich eine Handvoll von Murrays gelbem Haar und drehte so grob, daß nun der massige Mann aufschrie. Als er auf die Beine kam, riß Cussane ihn herum, hielt ihn kurz fest und stieß ihn dann weg. »Wehe, wenn Sie sie noch einmal anrühren!« In diesem Augenblick traf Finlay ein, die Schrotflinte schuß bereit. »Murray, ich habe dich gewarnt.« Murray ignorierte ihn jedoch und ging grimmig blickend auf Cussane zu. »Dich mach’ ich platt, du Wurm!« Er griff rasch an, die Arme zum Zerschmettern erhoben. Cus sane wich seitlich aus und setzte Murray eine Linke in die Nie rengegend, als er vorbeitaumelte. Murray fiel auf ein Knie, blieb kurz in dieser Stellung, stand dann auf und ließ einen ziellosen Schwinger los. Cussane setzte die Rechte unter seine Rippen, gefolgt von einem linken Haken an die Wange, der eine Platzwunde öffnete. »Murray, mein Gott ist ein Gott des Zornes, wenn es die Um stände erfordern.« Er schlug dem massiven Mann ein zweites Mal ins Gesicht. »Wenn Sie das Mädchen noch einmal anrüh ren, bringe ich Sie um. Verstanden?« Cussane trat Murray knapp unter die Kniescheibe. Der Klotz 228
ging in die Knie und verharrte in dieser Stellung. Nun trat der alte Finlay zu ihnen. »Ich habe dich zum letzten Mal gewarnt, du Schwein.« Er stieß Murray mit dem Lauf der Schrotflinte. »Du verläßt noch heute mein Lager und gehst deinen Weg.« Murray kam schwankend und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Beine, drehte sich um und humpelte zum Lager. Finlay sagte: »Bei Gott, Sie machen aber auch nichts halb.« »Wenn schon, denn schon«, gab Cussane zurück. Morag hatte Angelrute und Fischkorb aufgehoben, stand nun da und schaute ihn verwundert an. Dann wich sie zurück. »Ich kümmere mich ums Frühstück«, sagte sie leise und rannte zum Lager. Sie hörten, wie der Motor des Jeeps angelassen wurde; das Geräusch entfernte sich. »Zeit hat er keine verloren«, bemerkte Cussane. »Den sind wir los«, meinte Finlay. »So, und jetzt ans Früh stück. Murray Finlay hielt den Jeep vor dem Zeitungsladen in Whi techapel an und blieb nachdenklich sitzen. Neben ihm hockte der kle ine Donal. Er haßte und fürchtete seinen Vater und hatte nicht mitkommen wollen, aber Murray hatte ihm keine andere Wahl gelassen. »Du bleibst hier«, befahl Murray jetzt. »Ich brauch’ Tabak.« Er ging an die Tür des Ladens, die hartnäckig verschlo ssen blieb, als er sie aufzudrücken versuchte. Er stieß eine Verwü n schung aus und wollte sich schon abwenden, hielt dann aber inne. Im Ladeneingang lag ein Stapel Morgenzeitungen, und ein Foto auf einer Titelseite weckte seine Aufmerksamkeit. Er zog ein Messer hervo r, zerschnitt den Bindfaden, mit dem der Stapel verschnürt war, und griff nach dem zuoberst liege nden Exemplar. »Sieh mal einer an! Jetzt hab’ ich dich, du Scheißkerl!« 229
Er humpelte über die Straße zum Häuschen des Polizisten und öffnete das Gartentor. Der kleine Donal stieg verdutzt aus dem Jeep, scha ute sich die nächste Zeitung an und entdeckte das Bild eines Mannes, der Cussane recht ähnlich sah. Er blieb kurz stehen, starrte das Abbild des Mannes, der ihm das Leben gerettet hatte, an, und machte dann kehrt und rannte zurück zum Lager, so schnell er konnte. Morag stapelte nach dem Frühstück die Zinkteller auf, als Donal angehastet kam. »Was ist los?« rief sie, denn es war offenkundig, daß ihn et was bedrückte. »Wo ist der Pater?« »Im Wald spazieren, mit Opa. Was ist passiert?« Sie hörten, wie sich der Jeep näherte. Donal fuchtelte mit der Zeitung. »Guck dir das an! Das ist er!« Er war es, zweifellos. Laut Personenbeschreibung war Cus sane, wie Ferguson angedeutet hatte, lediglich ein gefährlicher IRA-Mann, der sich als Priester ausgab. Der Jeep kam dröhnend ins Lager, und Murray sprang mit der Schrotflinte in der Hand heraus, gefolgt vom Dorfpolizisten, der zwar seine Uniform trug, aber offenbar nicht die Zeit ge funden hatte, sich zu rasieren. »Wo ist er?« herrschte Murray, packte den Jungen beim Haar und schüttelte ihn. »Los, raus damit, du Rotzlöffel!« Donal schrie vor Schmerz auf. »Im Wald.« Murray stieß ihn weg und nickte dem Polizisten zu. »Gut, schnappen wir ihn.« Er drehte sich um und eilte auf die Scho nung zu. Morag dachte nicht lange nach, sondern handelte blitzschnell. Sie huschte in den Planwagen, fand Cussanes Reisetasche und warf sie in den Jeep. Dann kle tterte sie auf den Fahrersitz und drückte auf den Anlasserknopf. Sie hatte den Geländewagen 230
oft gesteuert und kannte sich genau mit ihm aus. Der Jeep schoß los, daß die Reifen auf defn unebenen Boden durchdreh ten. Morag steuerte von Murray und dem Polizisten weg. Mur ray fuhr herum, sie sah die Wut in seinem Gesicht und hörte den dumpfen Knall seiner Schrotflinte. Sie riß das Steuer her um, streifte ihn, schle uderte ihn beiseite und jagte den Jeep direkt in die junge Birkenschonung. Cussane und Finlay, von dem Aufruhr aufgeschreckt, liefen auf das Lager zu, als der Jeep mit Krachen und Splittern durchs Gehölz kam und ste henblieb. »Was gibt’s, Kleine?« schrie Finlay. »Murray hat die Polizei geholt. Schnell, einsteigen!« rief sie Cussane zu. Er erhob keine Einwände, sondern schwang sich auf den Be i fahrersitz, und sie fuhr mit dem Jeep einen Kreis, mähte die Bäume nieder. Murray kam auf sie zugehumpelt, neben ihm der Constable, und die beiden Männer hechteten aus dem Weg. Der Jeep brach aus der Schonung, holperte über das unebene Gelände am Lager vorbei und erreichte die Straße. Sie hielt an. »Whitechapel finde ich keine gute Idee. Wird da nicht die Straße gesperrt?« »Es wird jede verdammte Straße gesperrt«, sagte er. »Wo fahren wir dann hin?« »Wir?« fragte Cussane. »Keine Einwände, Mr. Cussane. Wenn ich zurückbleibe, ve r haften sie mich, weil ich Ihnen geholfen habe.« Sie reichte ihm die Zeitung, die sie von Donal bekommen hatte. Er betrachtete sein Bild und las rasch die wichtigsten Punkte. Dann lächelte er resigniert. Jemand war ihm rascher auf die Spur gekommen, als er es sich je hätte träumen lassen. »Wohin also?« fragte sie ungeduldig. Nun traf er seinen Entschluß. »Biege links ab und fahre wei ter bergauf. Wir wollen versuchen, einen Bauernhof bei einem 231
Dorf hinter diesem Berg zu erreichen, das Larwick heißt. Wie ich höre, kommen diese Jeeps überall durch. Wer braucht da schon Straßen? Kannst du mit diesem Ding umgehen?« »Aufgepaßt!« rief sie und fuhr los. 13
Das Tal war zum größten Teil Staatsforst. Sie bogen von der Straße ab und folgten einem Waldweg durch Föhren, gelangten entlang eines vom Regen angeschwollenen Baches höher und höher. Endlich kamen sie am oberen Ende des Tales ins Freie auf ein kleines Hochplateau. Er berührte sie am Arm. »Das reicht«, rief er laut, um den Motorenlärm zu übertönen. Sie bremste und stellte den Motor ab. Zu beiden Seiten zog sich Hügellandschaft hin, das sich in Dunst und dic htem Regen verlor. Er holte die Wanderkarte heraus und stieg aus, um das Gelände auszukundschaften. Die Karte war neu und entspre chend genau, Larwick fand er mit Leichtigkeit. Laut Danny Malone lag der Hof der Mungos im Glendhu, zwei Meilen au ßerhalb des Dorfes. »Schwarzes Tal« bedeutete das auf gälisch, und es war nur ein Gehöft eingezeichnet. Das mußte der Ort sein. Er verglich einige Minuten lang die Landschaft unter sich mit der Karte und ging dann zurück zum Jeep. Morag schaute von der Zeitung auf. »Stimmt das alles wirk lich – daß Sie etwas mit der IRA zu tun haben?« Er stieg ein ins Trockene. »Was meinst du?« »Hier steht, daß Sie sich oft als Priester ausgeben. Soll das heißen, daß Sie keiner sind?« Eine berechtigte Frage, über die er lächeln mußte. »Du weißt ja, was die Leute sagen: wenn’s in der Ze itung steht, muß 232
schon was dran sein. Nun, fühlst du dich in Gesellschaft eines zum Äußersten entschlossenen Terroristen unbehaglich?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben Donal ungebeten aus dem Bach gerettet. Und mir geholfen – mich vor Murray be wahrt.« Sie faltete die Zeitung zusammen und warf sie nach hinten in den Jeep, zog dabei verwirrt die Stirn kraus. »Da sehe ich den Mann in der Zeitung, und hier habe ich Sie vor mir. Zwei ganz verschiedene Menschen.« »Die meisten von uns haben mindestens drei Persönlichkei ten«, sagte er. »Es gibt die Person, für die ich mich halte, und die Person, für die du mich hältst.« »Bleibt nur diejenige, die Sie wirklich sind«, warf sie ein. »Stimmt, aber manche Menschen können nur überleben, in dem sie sich fortwährend anpassen. Sie entwickeln mehrere Persönlichkeiten, aber wenn das funktionieren soll, müssen sie die entsprechende Rolle auch leben.« »Wie ein Schauspieler?« »Genau. Und wie ein guter Schauspieler müssen sie ganz in die Rolle schlüpfen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt spielen.« Sie lehnte sich in den Sitz zurück, ihm halb zugewandt, hatte die Arme verschränkt und lauschte aufmerksam, und in diesem Moment ging ihm auf, daß sie trotz ihrer Herkunft und küm merlichen Schulbildung offensichtlich hochintelligent war. »Ah, ich verstehe«, sagte sie. »Wenn Sie sich als Priester ausgeben, verwandeln Sie sich tatsächlich in einen Geistli chen.« Ihre Direktheit war beunruhigend. »Ja, so ungefähr.« Sie blieben eine Zeitlang schweigend sitzen, bis er leise sagte: »Du hast mir da unten die Haut gerettet. Wenn du nicht gewesen wärst, trüge ich nun wieder Handsche llen.« »Wieder?« fragte sie. »Gestern wurde ich von der Polizei festgenommen. Man 233
wollte mich mit dem Zug nach Glasgow bringen, aber ich konnte entwischen, ging zu Fuß über den Berg und bege gnete dir.« »Ein Glück für Donal«, meinte sie. »Und für mich auch, wenn man es recht bedenkt.« »Sprichst du von Murray? Belästigt er dich schon la nge?« »Seit ich dreizehn bin«, versetzte sie gelassen. »Es war nicht so schlimm, als Mutter noch bei uns wohnte. Sie hielt ihn in Schach. Aber als sie weglief…« Sie hob die Schulter. »Ganz ist er nicht an mich herangekommen, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Ich dachte schon ernsthaft ans Abhauen.« »Einfach weglaufen? Wohin denn?« »Zu meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie ist eine echte Zigeunerin und heißt Brana – Brana Smith, nennt sich aber Gypsy-Rose.« »Dieser Name ist mir schon einmal zu Ohren gekommen«, meinte Cussane lächelnd. »Sie verfügt über die Gabe – übersinnliche Fähigkeiten«, er klärte Morag ganz ernsthaft. »Sie ist Hellseherin, benutzt Kri stallkugeln, Tarot-Karten und liest den Le uten aus der Hand. Wenn sie nicht auf Jahrmärkten arbeitet, wohnt sie in ihrem Haus in London – Wapping, direkt an der The mse.« »Und dort willst du hin?« »Oma sagte schon immer, ich könnte zu ihr, wenn ich älter bin.« Sie richtete sich mit einem Ruck auf. »Und Sie? Wollen Sie nach London?« »Kann sein«, erwiderte er langsam. »Dann können wir ja gleich zusammen reisen.« Das sagte sie so gelassen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. »Nein«, erwiderte er rundheraus, »das geht nicht. Erstens würde ich dich nur noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Zweitens muß ich mich ohne Anhängsel bewegen können. Wenn ich fliehen muß, habe ich es brandeilig, und kann nur an 234
mich selbst denken.« Ihr Blick war verletzt, aber sie zeigte keine Gefühlsregung, sondern stieg einfach aus dem Jeep und blieb am Wegrand mit den Händen in den Taschen stehen. »Gut, ich verstehe. Sie fahren allein weiter. Ich laufe zurück ins Tal.« Für einen Augenblick tauchte das erbärmliche Lager vor sei nen Augen auf, und er stellte sich die langsame und im Laufe der Jahre unvermeidliche Verrohung vor. Dazu war sie zu schade. Viel zu schade. »Sei doch nicht dumm«, sagte er. »Steig ein!« »Wozu?« »Ich brauche dich am Steuer, während ich die Karte lese. Wir müssen durch das Tal da unten und über den Hügel in der Mit te. Außerhalb von Larwick liegt in Glendhu ein Gehöft.« Sie setzte sich rasch ans Steuer, lächelte. »Haben Sie dort Freunde?« »Kann man kaum sagen.« Er griff nach seiner Reisetasche, hob den doppelten Boden an und holte das Bündel Banknoten heraus. »Mit so was sind sie zu gewinnen. Das geht letzten Endes den meisten Menschen so.« Er löste einige Scheine, fal tete sie und steckte sie in die Brusttasche ihrer alten Matrosen jacke. »Damit solltest du auskommen, bis du deine Oma ge funden hast.« Sie machte vor Erstaunen große Augen. »Das kann ich nicht annehmen.« »O doch. So, und jetzt setzt du dieses Gefährt besser in Be wegung.« Sie legte den ersten Gang ein und fuhr vorsichtig den steilen Weg hinunter. »Und was wird, wenn wir ankommen? Aus mir, meine ich?« »Das werden wir schon sehen. Vielleicht kannst du dich in einen Zug setzen. Allein kommst du bestimmt gut zurecht. Ernsthaft sind sie nur hinter mir her. In Gefahr bist du nur in 235
meiner Gesellschaft.« Darauf gab sie keine Antwort. Er studierte schweigend die Landkarte. Endlich sprach sie wieder. »Diese Sache mit mir und Murray. Finden Sie das widerlich? Die Verderbtheit?« »Verderbtheit?« Er lachte leise. »Mein liebes Kind, du hast ja keine Ahnung, was echte Verderbtheit, das wirkliche Böse, ist, obwohl Murray vermutlich viehisch genug ist. Ein Priester bekommt in einer Woche mehr Sünden zu hören, als die me i sten Menschen in ihrem ganzen Leben erfahren.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Ich dachte, Sie gäben sich nur als Priester aus.« »Hab’ ich das gesagt?« Cussane steckte sich eine neue Ziga rette an, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als der Polizeiwagen vom Parkplatz des Flughafens Glasgow fuhr, sagte Chefinspektor Trent zum Fahrer: »Sie wissen, wo hin es geht. Wir haben nur fünfunddreißig Minuten Zeit. Treten Sie also drauf.« Trent wandte sich an Devlin und Fox, die im Fond saßen. »Hatten Sie einen guten Flug?« »Die Hauptsache war, daß es schnell ging«, erwiderte Fox. »Wie sieht die au genblickliche Lage aus?« 233 »Cussane ist wieder aufgetaucht, diesmal in einem Zigeuner lager in den Galloway-Bergen. Die Nachricht kam kurz vor Ihrer Ankunft über das Funkgerät im Wagen durch.« »Und wie ich mir vorstelle, ging er Ihnen wieder durch die Lappen?« fragte Devlin. »Bedauerlicherweise ja.« »Eine üble Angewohnheit von ihm.« »Wie auch immer, Sie wollten in die Umgebung von Dunhill. Wir fahren jetzt direkt zum Hauptbahnhof von Glasgow. Die Hauptstraße ist immer noch überschwemmt, aber ich habe da für gesorgt, daß wir den D-Zug Glasgow-London besteigen können, der uns in Dunhill absetzen wird. Mit uns kommt das 236
Trampeltier, das Cussane festnahm und dann wieder verlor, Sergeant Brodie. Der kennt sich wenigstens in der Gegend sehr gut aus.« »Gut«, meinte Devlin. »Das klingt, als wäre alles geregelt. Sie sind doch hoffentlich bewaffnet?« »Ja. Und dürfte ich erfahren, was unser Ziel ist?« fragte Trent. »Ein Dorf namens Larwick, nicht weit von Dunhill«, sagte Fox. »Außerhalb des Dorfes liegt ein Gehöft, das unseren In formationen zufolge als Unterschlupf für flüchtige Kriminelle dient. Wir vermuten, daß sich unser Mann dort aufhält.« »In diesem Fall sollte ich Verstärkung zuziehen.« »Lieber nicht«, sagte Devlin. »Soweit wir wissen, ist das Ge höft abgelegen. Wenn dort fremde Männer auftauchen, ob in Uniform oder nicht, muß das zwangsläufig auffallen. Sollte der Mann dort sein, wird er sich wieder dünnemachen.« »Dann schnappen wir ihn halt«, meinte Trent. Devlin warf Fox einen Blick zu. Fox nickte, und der Ire wandte sich wieder an Trent. »Vorgestern nacht ve rsuchten drei Mitglieder der Provisorischen IRA, ihn am Verlassen Ir lands zu hindern. Er wurde mit allen dreien fertig.« »Guter Gott!« »Allerdings. Und er würde auch mit einigen Ihrer Leute fe r tig, ehe sie an ihn herankämen. Versuchen wir es lieber auf unsere Weise, Chefinspektor«, sagte Harry Fox. »Gla uben Sie mir ruhig.« Auf der Kuppe des Hügels über Glendhu hockten Cussane und Morag im nassen Farn und schauten hinab ins Tal. Der Weg hatte sich im Gestrüpp verloren, aber Cussane hielt es ohnehin für weise, den Jeep hier oben außer Sichtweite abzu stellen. Es war immer günstig, noch einen Trumpf in der Hand zu haben, wenn etwas schiefging. Und es war besser, wenn die Mungos davon nichts wußten. 237
»Das sieht nicht gerade besonders aus«, bemerkte Morag. Was eine Untertreibung war, denn das Gehöft bot einen un schönen Anblick. Einer Scheune war das Dach eingestürzt, dem Dach des Hauptgebäudes fehlten Ziegel. Den Hof zierten wassergefüllte Schlaglöcher, ein Laster ohne Räder und’ein defekter Traktor, der vor sich hinrostete. Das Mädchen schüttelte sich. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Dieser Platz gefällt mir nicht.« Er stand auf, griff nach seiner Reisetasche und holte die Stetschkin aus der Tasche. »Ich habe das da. Kein Grund zur Sorge. Verlaß dich auf mich.« »Ja«, erwiderte sie fast leidenschaftlich, »ich habe Vertrauen zu Ihnen.« Sie faßte ihn am Arm, und gemeinsam gingen sie durch den Farn auf den Hof zu. Hector Mungo war an diesem Morgen früh nach Larwick ge fahren, hauptsächlich, weil ihm die Zigaretten ausgegangen waren, doch auch, weil es ihnen an praktisch allem fehlte. Er erstand Speck, Eier, verschiedene Dosengerichte, eine Stange Zigaretten, eine Flasche Scotch und sagte der alten Dame, der das Lebensmittelgeschäft gehörte, sie solle alles auf seine Rechnung setzen, was sie auch tat, denn sie hatte Angst vor Mungo und seinem Bruder. Die beiden waren überall gefürch tet. Auf dem Weg nach draußen nahm sich Hector auf eine Eingebung hin eine Zeitung mit, stieg in den alten Kombi und fuhr weg. Er war ein Zweiundsechzigjähriger mit harten Zügen, düster und mißmutig, trug eine alte Fliegerjacke und eine Tweedmüt ze, und sein Kinn bedeckten graue Stoppeln. Er bog in den Hof ein, hielt vor dem Haus, stieg mit dem Pappkarton mit den Einkäufen aus, rannte durch den Regen zur Tür und stieß sie mit dem Fuß auf. Die Küche, die er betrat, war unbeschreiblich dreckig; in der 238
alten Steinspüle stapelten sich schmutzige Töpfe. Sein Bruder Angus saß am Tisch, Kopf in die Hände gestützt, und starrte ins Leere. Er war jünger als sein Bruder, fünfundvierzig nur, hatte kurzgeschorenes Haar und ein grobes, brutales Gesicht, das eine alte Narbe, die quer über das rechte, milchig weiße Auge verlief, noch häßlicher erschienen ließ. »Hab’ schon gedacht, du kämst überhaupt nicht mehr.« Als sein Bruder den Pappkarton abstellte, langte er hinein, fand die Flasche Whiskey, öffnete sie und nahm einen tiefen Schluck. Dann entdeckte er die Zigaretten. »Du fauler Sack«, murrte Hector. »Hättest ruhig Feuer ma chen können.« Angus schenkte ihm keine Beachtung, sondern setzte einfach die Flasche erneut an, nahm sich eine Zigarette und schlug die Zeitung auf. Hector ging an die Spüle und nahm eine Schachtel Streichhölzer, um den Propangasherd anzuzünden. Er hielt inne und schaute hinaus auf den Hof, als Cussane und Morag auf tauchten und auf das Haus zugingen. »Wir kriegen Besuch«, verkündete er. Angus trat neben ihn, versteifte sich. »He, Moment mal.« Er legte die Zeitung auf den Abtropfständer. »Der sieht diesem Typen hier auf der ersten Seite verdammt ähnlich.« Hector überflog rasch den Ze itungsartikel. »Mann, Angus, da haben wir aber was gelandet! Heißer Bursche!« »Nur ein dreckiger Ire aus den Sauställen«, meinte Angus verächtlich. »Platz genug für ihn im Brunnen, wie für die ande ren vor ihm.« »Stimmt.« Hector nickte feierlich. »Das Mädchen aber nicht.« Angus wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Die gefällt mir und ist für mich, du alter Sack. So, und jetzt laß sie rein«, fügte er hinzu, als es klopfte. »Die Brüder Mungo sind Ihnen also bekannt, Sergeant?« 239
fragte Fox Brodie. Die vier waren im Dienstwagen des dahin brausenden Zuges: Devlin, Fox, Trent und der massive Serge ant. »Reine Bestien«, entgegnete Brodie. »Der ganze Bezirk hat Angst vor ihnen. Weiß der Himmel, wie die sich da oben ihren Lebensunterhalt verdienen. Im Gefängnis waren sie beide. Hector wegen Schwarzbrennerei. Dreimal hat er deswegen gesessen. Angus hat eine Latte harmloserer Straftaten und vor langer Zeit bei einer Schlägerei einen Mann umgebracht. Das brachte ihm fünf Jahre ein, aber nach drei kam er wieder frei. Zweimal wurde er wegen Vergewaltigung angezeigt, aber dann zogen die betreffenden Frauen ihre Anzeige zurück. Ihre Ver mutung, daß die beiden einen Unterschlupf für kriminelle Ele mente betreiben, überrascht mich nicht, aber gewußt habe ich das bisher nicht. Es steht jedenfalls bestimmt nicht in ihren Strafakten.« »Wie nahe kommen wir an den Hof heran, ohne entdeckt zu werden?« fragte Trent. »Ungefähr eine Viertelmeile. Der Weg durch den Glendhu führt nur zu ihrem Haus.« »Sonst kein Ausweg?« fragte Fox. »Höchstens zu Fuß, das Tal hoch und dann über den Berg.« Devlin sagte: »Es gibt einen wichtigen Punkt, den wir be rücksichtigen müssen. Wenn Cussane vorhatte, bei den Mun gos unterzukommen, sind seine Pläne ernsthaft durcheinander gebracht worden. Erst wurde er vom Sergeanten hier verhaftet, dann sprang er vom Zug, landete im Zigeunerlager. Alles das stand nicht auf dem Programm und könnte ihn zu einer Ände rung seiner Pläne bewegen haben.« »Stimmt«, bemerkte Fox. »Außerdem wäre da noch das Mädchen.« Trent sagte: »Sie könnten noch immer hier in den Bergen sein. Falls sie aber noch den Jeep benutzen, müssen sie durch 240
Larwick, um das Gehöft zu erreichen. Und in diesem Nest muß jemand sie gesehen haben.« »Hoffentlich«, merkte Devlin an. Der D-Zug bremste ab und hielt in Dunhill. »Danny Malone.« Hector Mungo goß starken Tee in unge spülte Becher und gab Milch dazu. »Schon lange her, daß Dan ny hier war, nicht wahr, Angus?« »Stimmt. « Angus saß mit einem Glas in der Hand da, igno rierte die beiden anderen und stierte Morag an, die sich nach Kräften bemühte, seinem Blick auszuweichen. Cussane war sich schon bewußt geworden, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Die Dienste, die die Mungos vor Jahren Män nern wie Danny geboten hatten, mußten sich von dem, was sie nun leisteten, sehr unterschieden haben. Er ließ den Tee stehen und saß da, eine Hand am Knauf der Stetschkin. Sein nächster Schritt war ihm noch unklar. Diesmal schien sich das Drehbuch selbst zu schreiben. »Kurz bevor Sie hier hereingeschneit kamen, haben wir von Ihnen gelesen.« Hector Mungo stieß die Zeitung über den Tisch. »Das Mädchen wird aber nicht erwähnt.« Cussane ignorierte das Blatt. »Nicht verwunderlich.« »So, und was können wir für Sie tun? Wollen Sie hier eine Zeitlang unterkriechen?« »Nur für diesen Tag«, erwiderte Cussane. »Heute abend, wenn es dunkel ist, kann einer von Ihnen uns in dem alten Kombi nach Süden fahren. Legen Sie irgendwelchen Kram vom Hof in den Laderaum, verstecken Sie uns dahinter.« Hector nickte ernst. »Warum nicht? Wohin soll’s gehen? Nach Dumfries?« »Wie weit ist es nach Carlisle, wo die Autobahn anfängt?« »Sechzig Meilen. Das wird allerdings nicht billig.« »Wieviel?« Hector warf Angus einen Blick zu und leckte sich nervös die 241
trockenen Lippen. »Tausend. Sie sind heiß, mein Freund, sehr heiß.« Cussane öffnete seine Tasche, nahm das Bündel Geld heraus, zählte zehn Fünfziger ab und legte sie auf den Tisch. »Fünfhundert.« »Hm, ich weiß nicht… «, setzte Hector an. »Sei doch nicht blöd!« fuhr Angus dazwischen. »Das ist mehr Kohle auf einem Haufen, als wir seit Monaten zu Gesicht bekommen haben.« Er wandte sich an Cussane. »Ich bringe Sie selbst nach Carlisle.« »Das wäre dann also geregelt.« Cussane stand auf. »Sie ha ben ein Zimmer für uns, nehme ich an.« »Kein Problem.« Hector war übereifrig. »Sogar ein eigenes für die junge Dame.« »Danke, wir kommen mit einem zurecht«, sagte Cussane, als sie ihm durch den gefliesten Gang und die knarrende Treppe hinauf folgten. Hector öffnete die erste Tür am Treppenabsatz und betrat ein geräumiges Schlafzimmer, in dem es muffig und unangenehm roch und dessen geblümte Tapete vo ller Stockflecken war. In der Mitte stand ein altes Doppelbett aus Messing mit einer Ma tratze, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, darauf ein Stapel Decken aus Armeebeständen. »Das Klo ist nebenan«, meinte Hector. »So, ich lasse Sie jetzt allein.« Er ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Sie hörten ihn hinuntergehen. An der Tür war ein alter, rostiger Riegel, den Cussane mit einem Ruck vorschob. Gegenüber befand sich eine zweite Tür mit einem Schlüssel im Schloß. Er öffnete sie und schaute hinaus auf eine Steintreppe, die hinunter zum Hof führte. Er machte die Tür zu und schloß ab. Er wandte sich an das Mädchen. »Geht das an?« »Brr, der mit dem schlimmen Auge.« Sie schüttelte sich. 242
»Der ist schlimmer als Murray.« Sie zögerte. »Darf ich Harry zu dir sagen?« »Warum nicht?« Er entfaltete rasch die Wolldecken und breitete sie auf der Matratze aus. »Was machen wir jetzt?« fragte sie. »Wir ruhen uns aus, schlafen ein bißchen. Hier kommt nie mand herein, zumindest im Augenblick nicht.« »Meinst du, daß sie uns nach Carlisle bringen?« »Nein, aber ich glaube nicht, daß sie etwas unternehmen, be vor es dunkel ist und wir bereit zur Abfahrt sind.« »Wie kannst du so sicher sein, daß sie etwas unternehmen?« »Sie sind so veranlagt. So, und du legst dich jetzt hin und versuchst, ein Auge zuzutun.« Er legte sich im Mantel aufs Bett, die Stetschkin in der rech ten Hand. Sie streckte sich auf der anderen Seite des Bettes aus. Dort blieb sie eine Weile liegen, drehte sich dann um und kuschelte sich an ihn. »Ich hab’ Angst.« »Psst.« Er legte einen Arm um sie. »Sei jetzt still. Ich bin bei dir. Hier kann dir niemand etwas tun.« Sie begann langsam tief zu atmen. Er lag mit ihr im Arm da und dachte nach. Sie war bereits eine Belastung, und wie lange er das ertragen konnte, wußte er nicht. Andererseits stand er in ihrer Schuld, hatte ihr gegenüber eine moralische Verpflich tung. Er schaute hinab auf ihr reines Gesicht, das vom Leben noch ungezeichnet war: etwas Gutes in einer bösen Welt. Cus sane schloß die Augen, gab sich diesen Gedanken hin und schlief schließlich ein. »Hast du den Haufen Kohle gesehen?« fragte Hector. »Und ob«, gab Angus zurück. »Ich habe gehört, wie er die Tür abgeschlossen hat.« »Aber klar. Auf den Kopf gefallen ist der nicht. Ist aber egal. 243
Früher oder später muß er doch raus. Und dann schnappen wir ihn.« »Gut«, meinte Hector. Sein Bruder goß sich noch einen Whiskey ein. »Und vergiß nicht: die Kleine gehört mir.« Devlin, Fox, Trent und Brodie fuhren in einem alten blauen Ford Transit, den sich der Polizeisergeant bei einer Werkstatt geliehen hatte, von Dunhill nach La rwick. Brodie hielt vor der Gemischtwarenhandlung an und ging hinein; die anderen war teten. Fünf Minuten später kehrte er zurück und setzte sich wieder ans Steuer des Transit. »Hector Mungo war heute früh hier einkaufen. Das alte Mäd chen da drinnen steht abends im Pub hinterm Tresen. Beide Mungos seien da, meint sie, aber keine Fremden; die würden sofort auffallen.« Devlin schaute durch eines der Fenster in den Hecktüren des Kastenwagens. Das Dorf bestand in der Tat nur aus einer Stra ße, einer Reihe von kleinen Granithäusern, einem Pub und dem Laden. Dahinter erhob sich steil das Bergland. »Ich verstehe, was Sie meinen.« Brodie ließ den Motor an und fuhr los, folgte einer schmalen, von grauen Feldsteinmauern gesäumten Straße. »Die einzige Zufahrt«, erklärte er. »An ihrem Ende liegt der Hof.« Wenige Minuten später sagte er: »Und hier müssen wir anhalten, wenn wir nicht gesehe n werden wollen.« Er hielt unter einer Baumgruppe an, und alle stiegen aus. »Wie weit noch?« fragte Trent. »Knapp eine Viertelmeile. Ich gehe voran und zeige Ihnen den Weg.« Brodie führte sie durch den Wald am Straßenrand bergauf, kletterte durch Farn und Unterholz und hielt auf einer Anhöhe vorsichtig inne. »Da wären wir.« Das Gehöft lag in einer Niederung, nur wenige hundert Meter 244
entfernt. »Ganz schön heruntergekommen«, murmelte Devlin. »Kann man wohl sagen«, bestätigte Fox. »Kein Lebensze i chen.« »Wichtiger noch: keine Spur von dem Jeep«, sagte Devlin. »Vielleicht habe ich mich doch geirrt.« In diesem Augenblick kamen die beiden Mungos aus der Kü chentür und gingen über den Hof. »Das sind sie vermutlich«, sagte Fox, nahm ein kleines Zeiss-Fernglas aus der Tasche und stellte es scharf ein. »Ein übles Paar«, fügte er hinzu, als die beiden in der Scheune verschwanden. Einen Augenblick später kam Morag in Sicht. »Das ist das Mädchen!« rief Trent erregt. »Das muß sie sein! Matrosenjacke, Schottenmütze – paßt genau auf die Beschrei bung.« »Jesus, Maria und Joseph«, sagte Devlin leise. »Ich hatte also recht. Harry muß im Haus sein.« »Wie packen wir das an?« fragte Trent. »Sind Sie beide mit Sprechfunkgeräten ausgerüstet?« fragte Fox. »Sicher.« »Gut, dann geben Sie mir eins. Devlin und ich dringen von hinten ins Gehöft ein. Mit etwas Glück überrumpeln wir sie. Gehen Sie zurück und warten Sie im Ford. Wenn ich über Funk Bescheid sage, kommen Sie mit Vollgas die Straße hochge jagt.« »Wird gemacht.« Trent und Brodie wandten sich zurück zur Straße. Devlin zog eine Walther PPK aus der Tasche und spannte sie. Fox folgte seinem Beispiel. Der Ire lächelte. »Vergessen Sie nur eines nicht. Harry Cus sane ist nicht der Typ Mann, dem man eine Chance gibt.« »Keine Sorge«, versetzte Fox grimmig. »Von mir bekommt 245
er keine.« Er begann den Abstieg durch nasses Unterholz, und Devlin folgte ihm. Morag erwachte und starrte verständnislos an die Decke, bis ihr einfiel, wo sie war. Sie drehte sich zu Cussane um, der ru hig neben ihr schlief, le icht atmete, Gesicht entspannt. Seine Rechte umklammerte noch immer die Stetschkin. Sachte schwang sie die Beine aus dem Bett, stand auf und reckte sich, ging dann ans Fenster. Als sie hinausschaute, überquerten Hec tor und Angus Mungo den Hof und betraten die gegenüberlie gende Scheune. Sie schloß die Tür auf, blieb auf der obersten Stufe der Steintreppe stehen und hörte, wie ein Motor an sprang. Sie zog die Stirn kraus, lauschte angespannt, lief dann rasch die Treppe hinunter und über den Hof. Im Schlafzimmer regte sich Cussane, streckte sich und schlug dann die Augen auf, war wie üblich sofort hellwach. Die Ab wesenheit des Mädchens fiel im auge nblicklich auf, und er war binnen einer Sekunde auf den Beinen. Dann merkte er, daß die Tür offenstand. In der Scheune roch es süßsauer nach Maische, denn die Mungos betrieben hier ihre Schwarzbrennerei. Hector startete den alten Benzinmotor, der Pumpe und Generator antrieb, und schaute dann prüfend in den Bo ttich. »Da muß noch Zucker rein«, meinte er. Angus nickte. »Ich geh’ welchen holen.« Er öffnete eine Tür, die zu einem kleinen Anbau führte. Dort lagerte diverses Rohmaterial, alle notwendigen Zutaten für ihr illegales Gebräu, darunter einige Säcke Zucker. Er wollte gera de einen anheben, als er durch einen Spalt in der Bretterwand Morag Finley sah, die draußen stand und durch ein Fenster in die Scheune spähte. Er grinste erfreut, setzte den Sack ab und schlich hinaus. Morag hörte ihn nicht kommen. Eine Hand legte sich über ih ren Mund, erstickte ihren Schrei. Starke Arme hoben das Mäd chen, das sich wehrte und austrat, an und trugen es in die 246
Scheune. Hector, der im Bottich gerührt hatte, drehte sich um. »Was soll denn das?« »Ein kleiner Naseweis, dem ich Manieren beibringen muß«, sagte Angus. Als er sie absetzte, schlug sie wild auf ihn ein. Er ve rsetzte ihr mit dem Handrücken zwei so heftige Schläge ins Gesicht, daß sie rücklings auf einen Haufen Säcke fiel. Er baute sich vor ihr auf und begann seinen Gürtel zu lösen. »Dich werd’ ich Mores lehren«, sagte er mit bebender Stimme. Cussane rief von der Tür her: »Angus! Sind Sie von Natur aus ein Schwein, oder müssen Sie sich erst besonders anstren gen?« Er stand da, hatte die Hände lässig in den Taschen seines Re genmantels stecken, und Angus wandte sich ihm zu, bückte sich und ergriff eine Schaufel. »Du kleiner Scheißer, dir spalt’ ich den Schädel.« »Paß auf, das hab’ ich bei der IRA gelernt«, sagte Cussane. »Eine spezielle Strafe für spezielle Bestien.« Die Stetschkin kam aus einer Tasche, es gab einen dumpfen Knall, und eine Kugel zersplitterte Angus Mungos rechte Knie scheibe. Er kreischte, fiel rückwärts gegen den Benzinmotor, rollte sich auf die Seite und hielt sich das Knie mit beiden Händen, zwischen deren Fingern Blut hervorpulste. Hector Mungo stieß einen schrecklichen Angstschrei aus, machte kehrt und rannte Hals über Kopf zum Seitenausgang, die Arme zu einer nutzlosen schützenden Geste erhoben. Er stürzte durch die Tür und verschwand. Cussane beachtete Angus nicht, sondern half Morag auf. »Al les in Ordnung?« »Wenn es nach ihm gegangen wäre, bestimmt nicht.« Sie sah zornig und beschämt auf Angus hinab. Er nahm sie beim Arm, ging mit ihr hinaus und überquerte 247
den Hof zur Küchentür. Als das Mädchen sie öffnete, rief Har ry Fox: »Keine Bewegung, Cussane!« und kam hinter dem geparkten Kombi hervor. Cussane erkannte die Stimme sofort, stieß das Mädchen in die Küche, fuhr herum und feuerte, alles in einer fließenden eleganten Bewegung. Fox fiel gegen den Kombi, die Waffe entglitt seiner Hand. Im selben Augenblick kam Devlin um die Ecke und schoß zweimal. Die erste Kugel fetzte durch Cussa nes linken Ärmel, die zweite erwischte ihn in der Schulter, wirbelte ihn herum. Er hechtete durch die Küchentür, trat sie hinter sich zu und schob den Riegel vor. »Du bist getroffen!« rief Morag. Er stieß sie vor sich her. »Unwichtig. Sehen wir zu, daß wir hier herauskommen!« Er schob sie die Stiegen zum Schlaf zimmer hoch. »Du trägst die Tasche«, drängte er, rannte dann zu der offenen Tür und spähte hinaus. Der Kombi mit Fox und Devlin stand dicht hinter der Haus ecke. Er legte einen Finger auf die Lippen, nickte Morag zu und ging leise die Steintreppe hinunter, gefolgt von dem Mäd chen. Unten angelangt, führte er sie zum Garten hinterm Haus, duckte sich hinter die Mauer und schlug dann den Fußweg durch den Farn zum oberen Ende des Tales ein. Devlin öffnete Fox’ Hemd und sah sich die Einschußwunde knapp unter der linken Brustwarze an. Fox atmete unregelmä ßig, sein Blick war gequält. »Sie ha tten recht«, flüsterte er. »Er ist wirklich gut.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Devlin. »Ich habe Trent und Brodie verständigt.« Er konnte den Ford Transit bereits herannahen hören. »Ist er noch im Haus?« fragte Fox. »Das bezweifle ich.« Fox seufzte. »Wir haben die Sache vermasselt, Liam. Dafür macht Ferguson uns die Hölle heiß. Wir hatten ihn in der Falle, 248
und er ist uns trotzdem entwischt.« »Eine üble Angewohnheit von ihm«, sagte Devlin, und nicht zum ersten Mal. Der Ford raste in den Hof und kam mit blok kierenden Rädern zum Stehen. Cussane saß seitlich auf dem Beifahrersitz des geparkten Jeeps, Füße auf der Erde. Sein Oberkörper war entblößt. Er sah nicht viel Blut, sondern nur den häßlich runzligen Wundrand – ein schlechtes Zeichen, wie er wußte, doch es hatte keinen Sinn, ihr das zu verraten. Sie bestäubte die Wunde sorgfältig mit Sulfonamidpulver aus seinem kleinen Verbandskasten und klebte auf seine Anweisungen hin eine Mullpackung darüber. »Wie geht es dir?« fragte sie besorgt. »Gut.« Das war eine Lüge, denn die Schmerzen waren nun, da sich der erste Schock gelegt hatte, beträchtlich. Er nahm eine Ampulle Morphium des Typs, der auf dem Schlachtfeld verwendet wird, und gab sich eine Spritze. Daraufhin ließen die Schmerzen ziemlich rasch nach. »So, das war’s«, meinte er. »Gib mir bitte ein sauberes Hemd. Es sollte noch eins übrig sein.« Sie half ihm in Hemd, Jacke und Regenmantel. »Du mußt zum Arzt.« »Aber klar«, versetzte er. »Bitte, Herr Doktor, helfen Sie mir! Das erste Instrument, nach dem er greift, ist das Telefon.« »Was tun wir jetzt? Die Jagd auf dich beginnt nun ernsthaft. Alle Straßen werden überwacht.« »Ich weiß«, erwiderte er. »Sehen wir uns einmal die Karte an.« Nach einer Weile sagte er: »Zwischen uns und England liegt der Solway-Meeresarm, und es gibt nur eine einzige Hauptstraße, die nach Carlisle über Dumfries und Annan. Kein Problem, sie zu blockieren.« »Wir sitzen also in der Falle?« »Nicht unbedingt. Es gibt immer noch die Eisenbahn. Vie l leicht bietet sich da eine Chance. Fahren wir los und sehen zu, 249
was wir ausrichten können.« »Schöne Sauerei«, sagte Ferguson. »Könnte nicht schlimmer sein. Wie geht es Harry Fox?« »Der kommt durch, wie die Arzte meinen. Er liegt hier in Dumfries im Stadtkrankenhaus.« »Ich werde dafür sorgen, daß er so bald wie möglich nach London verlegt wird. Er soll die bestmögliche Behandlung bekommen. Von wo aus rufen Sie an?« »Ich bin im Polizeihauptquartier von Dumfries. Trent steht neben mir. Es werden alle verfügbaren Beamten mobilisiert, zur Bemannung von Straßensperren und so weiter. Leider ist das Wetter nicht sehr günstig. Es gießt noch immer in Strö men.« »Wie schätzen Sie die Lage ein, Liam?« »Meiner Ansicht nach ist er fort.« »Sie glauben also nicht, daß er da oben ins Netz geht?« »Das halte ich für völlig ausgeschlossen.« Ferguson seufzte. »Offen gesagt, dieses Gefühl habe ich auch. Bleiben Sie noch eine Weile bei Harry, nur sicherheits halber, und kommen Sie dann zurück.« »Wann – heute abend noch?« »Nehmen Sie den Nachtzug nach London. Der Papst trifft morgen früh um acht auf dem Flughafen Gatwick ein. Ich hätte Sie gerne bei mir.« Cussane und Morag ließen den Jeep in einem kleinen Stein bruch im Wald über Dunhill stehen und gingen bergab auf die Bahngleise zu. An diesem Ende der Kleinstadt waren die Stra ßen wegen des starken Regens verlassen. Sie kamen an einem halbverfallenen Lagerhaus vorbei, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren, und zwängten sich durch eine Lücke im Zaun oberhalb der Schienen. Auf einem Nebengleis stand ein Güter zug. Cussane duckte sich und beobachtete einen Lokführer, der am Gleis entlangging und dann auf die Lok kletterte. 250
»Aber wir wissen doch gar nicht, wo der Zug hinfährt«, gab Morag zu bedenken. Cussane lächelte. »Steht er nicht in Richtung Süden?« Er packte sie am Arm. »Los!« Sie eilten in der Dämmerung die Böschung hinunter und überquerten die Schienen, als der Zug auch schon anfuhr. Cus sane verfiel in Laufschritt, langte nach oben und zog eine Schiebetür auf. Er warf die Tasche hinein, zog sich hoch, dreh te sich um und ergriff die Hand des Mädchens. Einen Auge nblick später stand sie neben ihm. Der Waggon war fast ganz mit Kisten gefüllt, die der Schablonenaufschrift zufolge teil weise für eine Fabrik in Penrith bestimmt waren. »Wo liegt das?« fragte Morag. »Südlich von Carlisle. Von dort aus kommen wir weiter, selbst wenn der Zug dann nicht weiterfährt.« Er setzte sich, war einigermaßen guter Dinge und zünd ete sich eine Zigarette an. Sein linker Arm war zwar taub, aber er konnte ihn gebrauchen. Wenigstens hatte das Morphium die Schmerzen gestillt. Morag kuschelte sich an ihn, und er legte einen Arm um sie. Es war lange her, seit er einen solchen Be schützerinstinkt empfunden hatte. Er gestand sich, daß er sich schon lange nicht mehr so um einen Menschen gekümmert hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Dank des Morphiums waren die Schmerzen noch nicht zurück gekehrt, und wenn das eintrat, würde er schon damit fertig werden. Sein Verbandskasten enthielt mehrere Ampullen, auf jeden Fall genug, um ihn in Form zu halten. Mit einer Kugel in der Schulter und ohne ärztliche Versorgung war Vereiterung nur eine Frage der Zeit, aber er hatte jetzt nur noch sechsund dreißig Stunden durchzustehen. Morgen früh landete der Heili ge Vater in Gatwick. Und tags darauf sollte er in Canterbury eintreffen. Als der Zug rascher über die Schienen rollte, lehnte er sich 251
zurück, den gesunden Arm um das Mädchen geschlungen, und schlummerte ein. 14 Morag wachte mit einem Ruck auf. Der Zug schien jäh abge bremst zu werden. Sie fuhren über eine Art Nebengleis. Hin und wieder fiel Lampenlicht durch die Latten und ließ Cussa nes Gesicht in der Dunkelheit sichtbar werden. Er schlief, seine Miene war ausdruckslos. Sie berührte sanft seine Stirn; sie war schweißnaß. Er stöhnte, drehte sich zur Seite, und sie sah, daß er die Stetschkin gepackt hielt. Sie fror, stellte den Kragen ihrer Jacke hoch, steckte die Hän de in die Taschen und beobachtete ihn. Sie war ein einfaches Mädchen, trotz ihres Vorlebens unkompliziert, aber mit flin kem Geist und gesundem Mensche nverstand gesegnet. Einem Menschen wie Cussane war sie noch nie begegnet. Es war nicht nur die Waffe in seiner Hand, die schnelle, kalte Ge walttätigkeit des Mannes. Angst hatte sie keine vor ihm. Was immer er auch sein mochte, grausam war er nicht. Am bedeu tendsten fand sie, daß er ihr geholfen hatte, denn an so etwas war sie nicht gewöhnt. Selbst ihr Großvater hatte sie nur mit Mühe vor Murrays Brutalität schützen können. Cussane hatte sie gerettet, und sie war reif genug, um zu verstehen, was ihr dadurch erspart geblieben war. Daß auch sie Cussane geholfen hatte, kam ihr schlicht nicht in den Sinn. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei. Wieder ruckte der Waggon, Cussane schlug die Augen auf, drehte sich rasch um, ging auf ein Knie und schaute auf die Armbanduhr »Halb zwei. Ich muß lange geschlafen haben.« »Hast du auch.« Er spähte durch einen Ritz zwischen den Latten und nickte. 252
»Wir fahren bestimmt in den Güterbahnhof von Penrith ein. Wo ist meine Tasche?« Sie stieß sie zu ihm hinüber. Er kramte darin herum, fand den Verbandskasten und verpaßte sich eine Morphiuminjektion. »Wie geht’s?« fragte sie. »Bestens«, erwiderte er. »Keine Beschwerden. Die Spritze war nur sicherheitshalber.« Er log, denn der Schmerz war beim Aufwachen sehr real ge wesen. Er zog die Schiebetür auf, schaute hinaus, und ein Schild, auf dem »Penrith« stand, tauchte in der Dunkelheit auf. »Hab ich’s doch gewußt«, meinte er. »Steigen wir hier aus?« »Wer weiß, ob der Zug überhaupt weiterfährt, und bis zur Autobahn ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß.« »Und was dann?« »Dort gibt es eine Raststätte, ein Selbstbedienungsrestaurant, parkende Autos, Laster. Wer weiß?« Die Schmerzen hatten sich wieder gelegt, er brachte ein Lächeln zustande. »Unend lich viele Möglichkeiten. So, jetzt gibst du mir die Hand, war test, bis der Zug fast zum Stehen gekommen ist, und springst dann ab.« Da der Fußmarsch länger wurde, als Cussane angenommen hatte, war es schon drei Uhr, als sie den Parkplatz der nächsten Raststätte an der Autobahn M 6 erreichten und auf das Selbst bedienungsrestaurant zuhielten. Zwei Personenwagen kamen über die Ausfahrt hereingerollt, dann ein Lkw, ein so gewalti ger Sattelschlepper, daß Cussane den Streifenwagen dahinter erst im letzten Augenblick entdeckte. Er zog Morag hinter ei nen Kastenwagen in Deckung. Das Polizeifahrzeug hielt an, das Blaulicht auf dem Dach kreiste träge. »Was machen wir jetzt?« flüsterte sie. »Abwarten.« Der Fahrer blieb am Steuer sitzen, der andere Polizist stieg 253
aus und ging ins Restaurant. Durch die großen Scheiben konn ten sie ihn deutlich erkennen. Drinnen saßen an den Tischen verteilt zwanzig bis dreißig Leute. Der Polizist schaute sich genau um und kam dann wieder heraus, stieg in den Streifen wagen und sprach beim Anfahren ins Mikrophon des Funkge räts. »Die waren hinter uns her«, sagte Morag. »Ist doch klar.« Er nahm ihr die Schottenmütze vom Kopf und stopfte sie in den nächstverfügbaren Abfalleimer. »So, das ist besser. Das Ding machte ja Reklame für uns.« Er wühlte in seiner Tasche und fand eine Fünf-Pfund-Note, die er ihr gab. »In diesen Restaurants gibt es auch Mahlzeiten zum Mitne h men. Geh Tee und Sandwiches holen. Ich warte hier. Das ist sicherer.« Sie ging die Rampe hinauf und betrat das Restaurant. Er sah, wie sie am Ende der Theke zögerte, dann nach einem Tablett griff. Er entdeckte in der Nähe eine Bank an einer niedrigen Mauer, halb verdeckt von einem großen Kastenwagen. Er setz te sich, steckte eine Zigarette an und wartete, dachte an Morag Filay. Seltsam, wie gut es tat, an sie zu denken. Mit dem gewohn heitsmäßigen Selbstzweifel des Priesters kam ihm der ironische Gedanke, daß das nicht recht war. Schließlich war sie nur ein Kind. Er hatte zwanzig Jahre lang im Zölibat gelebt und war völlig problemlos ohne Frauen ausgekommen. Wie absurd es doch wäre, sich am Ende noch in eine sechzehnjährige Zige u nerin zu verlieben! Sie kam mit einem Kunststofftablett hinter dem Kastenwagen hervor und stellte es auf die Bank. »Tee, Schinkenbrote, und was sagst du dazu? Wir stehen in der Zeitung. Am Eingang werden welche verkauft, ich habe eine mitgebracht.« Er schlürfte langsam den kochend heißen Tee aus dem Kunststoffbecher, schlug die Zeitung auf den Knien auf und las sie in dem schwachen Licht, das vom Restaurant auf den Park 254
platz fiel. Es handelte sich um eine Lokalzeitung, die am Vor abend in Carlisle herausgekommen war. Cussanes Bild prangte auf der ersten Seite, daneben eine Aufnahme von Morag. »Da siehst du aber jünger aus«, bemerkte er. »Den Schnappschuß machte meine Mutter letztes Jahr. Opa hatte das Photo in seinem Wohnwagen an der Wand hängen. Sie müssen ihm das Bild abgeno mmen haben. Freiwillig hätte er es nie herausgegeben.« »Wenn das gestern abend in den Lokalblättern stand, werden es alle überregionalen Zeitungen heute früh in der ersten Aus gabe bringen«, sagte er. Ein bedrückendes Schweigen. Er zündete sich erneut eine Zi garette an und rauchte sie wortlos. »Du wirst mich doch nicht etwa im Stich lassen?« fragte sie. Er lächelte milde. »Für dein Alter hast du einen erstaunlichen Durchblick. Ja, wir müssen uns trennen. Es bleibt uns keine andere Wahl.« »Brauchst du mir gar nicht erst zu erklären.« Er tat es trotzdem. »Ein Bild in der Zeitung sagt den meisten Menschen nichts. Auffällig ist nur das Ungewöhnliche, wir beide zusammen zum Beispiel. Allein hast du eine gute Cha n ce, dein Ziel zu erreichen. Hast du das Geld noch, das ich dir gegeben habe?« »Ja.« »Gut, dann geh ins Restaurant, setz dich ins Warme und war te. Die Reisebusse halten hier an. Das weiß ich genau, weil ich kürzlich in einem saß, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Du solltest ohne Schwierigkeiten einen nach Birmingham erwischen. Von dort aus hast du Anschluß nach London.« »Und du?« »Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Wenn sie dich in die Finger kriegen, erzählst du ihnen, ich hätte dich gezwun gen, mir zu helfen. Das werden dir so viele Leute abnehmen, 255
daß es zur Wahrheit wird.« Er hob seine Tasche auf und legte ihr die Hand an die Wange. »Du bist ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Laß dich nie wieder erniedrigen. Versprichst du mir das?« »Ja.« Sie würgte, hob den Kopf, gab ihm einen Kuß auf die Wange, drehte sich dann um und rannte fort. In der harten Schule ihres Lebens hatte sie gelernt, sich die Tränen zu verkneifen, aber ihre Augen brannten, als sie das Restaurant betrat. Sie drängte sich an einem Tisch vorbei. Eine Hand ergriff sie am Ärmel, sie blieb stehen und schaute auf zwei Jugendliche hinab, harte, bösartig aussehende Typen in schwarzer Lederkluft und mit kurzgeschorenem Haar. Der jun ge Mann, der sie am Ärmel festhielt, war blond und hatte ein Eisernes Kreuz auf der Brust. »Na, wo hängt’s denn, Herzchen? Fahr doch mal auf meiner Maschine mit, dann geht’s dir gleich wieder astrein.« Sie riß sich los, empfand nicht einmal Zorn, besorgte sich ei ne Tasse Tee und setzte sich an einen Tisch, schloß die Hände um die wohltuende Wärme. Er war in ihr Leben gekommen, wieder verschwunden, und von nun an würde alles anders sein. Sie begann zu weinen, große, bittere Tränen, zum ersten Mal seit Jahren. Cussane hatte zwei Möglichkeiten: er konnte versuchen, als Tramper weiterzukommen oder einen Wagen zu stehlen. Die zweite bot ihm mehr Bewegungsfreiheit, bessere Kontrolle, funktionierte aber nur, wenn das Fahrzeug erst nach einiger Zeit vermißt wurde. Auf der anderen Seite der Autobahn stand ein Motel. Was da parkte, mußte Leuten gehören, die dort die Nacht verbrachten. Das Verschwinden des Autos sollte erst in drei oder vier Stunden entdeckt werden, und bis dahin war er über alle Berge. Er erklomm die lange Treppe zur Fußgängerbrücke, dachte an Morag Finlay, fragte sich, was wohl aus ihr werden würde. Aber das war nicht sein Problem. Was er ihr gesagt hatte, war 256
völlig logisch. Gemeinsam fielen sie auf wie bunte Hunde. Er blieb auf der Brücke stehen, steckte sich eine Zigarette an. Un ter ihm rauschten auf der Autobahn die Fernlaster vorbei. Alles ganz vernünftig und logisch. Warum hatte er dabei ein so mise rables Gefühl? »Guter Gott, Harry«, sagte er leise, »du wirst von Ehrlichkeit, Anstand und Unschuld korrumpiert. Dieses Mädchen ist unbe fleckbar. Die Korruptheit des Lebens wird ihr nie etwas anha ben können.« Und doch… Jemand trat neben sie, und eine leise Stimme fragte: »Stimmt was nicht, Kleine? Kann ich was für dich tun?« Es war ein Westinder mit schwarzem Kraushaar, das an den Schläfen zu ergrauen begann, vielleicht fünfundvierzig, und trug eine ölverschmierte Fernfahrerjacke mit Pelzkragen. In der Hand hielt er eine Thermosflasche und einen Plastikbehälter für seine belegten Brote. Sein Lächeln ve rriet ihr sofort, daß er nichts im Schilde führte. Er setzte sich. »Na, was hast du denn für ein Problem?« »Das Leben«, erwiderte sie. »Tiefschürfende Bemerkung für so ein junges Ding.« Sein Lächeln war mitfühlend. »Kann ich irgendwie he lfen?« »Ich warte nur auf den Bus.« »Wohin?« »Nach London.« Er schüttelte den Kopf. »Nach London wollen sie alle, die von daheim abgehauen sind.« »Meine Großmutter wohnt in London«, sagte sie abwehrend. »In Wapping.« Er nickte und runzelte die Stirn, als dächte er über die Ange legenheit nach, und stand dann auf. »Okay, ich bin der Mann für dich.« 257
»Was soll das heißen?« »Ich fahre einen Fernlaster und wohne in London. Wir ma chen allerdings einen Umweg, weil ich bei Manchester in Ric h tung Leeds abbiegen muß, um etwas abzuladen, aber bis zum frühen Nachmittag sollten wir in Lo ndon sein.« »Ich weiß nicht.« Sie zögerte. »Der Bus kommt erst in fünf Stunden hier durch, was hast du also schon groß zu verlieren? Und damit du dich sicherer fühlst, kann ich dir verraten, daß ich drei Töchter habe, alle älter als du, und Earl Jackson he iße.« Sie faßte ihren Entschluß. »Na schön«, meinte sie und ging neben ihm hinaus. Sie liefen die Rampe hinunter und begannen den Parkplatz zu überqueren. Jacksons Gefährt war ein riesiger Sattelschlepper. »So, da wären wir«, sagte er. »Aller Komfort, wie daheim.« Sie hörten Schritte, und als sie sich umdrehten, kam der blonde Motorradfahrer aus dem Restaurant hinter einem ande ren Laster hervor, ging auf sie zu und blieb stehen, Hände in die Seiten gestemmt. »Blöde Tussi«, sagte er. »Hab’ ich dir nicht gesagt, daß du auf meiner Maschine besser dran bist? Und was seh’ ich jetzt? Haust mit dem Nigger da ab. Ist doch wohl der Gipfel.« »Mannomann«, meinte Earl Jackson. »Was ist denn das für ein Gewächs? Latscht, labert, und wenn man es gießt, macht es sich bestimmt naß.« Er beugte sich vor, um Thermosflasche und Plastikbehälter auf den Boden zu legen, aber da kam der andere Motorradfa h rer geduckt unterm Laster hervor und versetzte Jackson einen Tritt, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte und vorwärtstor keln ließ. Der Blonde rammte ihm ein Knie ins Gesicht. Der andere zerrte Jackson auf die Beine und schlang ihm einen Arm und den Hals. Der Blonde ließ die Finger spielen und zog die Handschuhe stramm. 258
»Halt ihn fest, Sammy. Den mach’ ich zu Kleinholz.« Sammy schrie auf, als ein Schwinger in seiner Nierengegend landete, und gab Jackson frei. Als Cussane ihm einen zweiten Schlag versetzte, ging er in die Knie. Cussane glitt an Jackson vorbei, um sich den anderen Schlä ger vorzunehmen. »Hättest in deinem Dreckloch bleiben sol len, du Würstchen.« Die Hand des Blonden fuhr aus seiner Tasche, und als Morag einen Warnruf ausstieß, klickte es, und die Klinge eines Klappmessers erschien, funkelte im blassen Licht. Cussane ließ seine Tasche fallen, tauchte seitlich weg, packte das Handge lenk mit beiden Fäusten, drehte dem Blonden den Arm auf den Rücken und rammte ihm den Kopf gegen den Sattelschlepper. Der Junge ging mit blutigem Gesicht zu Boden. Cussane zog ihn hoch und schnappte sich den anderen, der auf die Beine gekommen war. Er brachte sie dicht an sich heran. »Ich könnte euch jetzt für ein Jahr in den Streckverband schicken, aber vielleicht macht ihr euch lieber dünne?« Sie wichen entsetzt zurück, machten kehrt und stolperten weg. Nun wurde Cussane vom Schmerz übermannt, der so stark war, daß ihm übel wurde. Er wandte sich ab, krallte sich an die Plane des Lasters. Morag stürzte los und schlang einen Arm um ihn. »Harry, was ist los?« »Nichts, schon gut.« »Ohne Sie wäre ich jetzt mies dran«, sagte Earl Jackson. »Dafür bin ich Ihnen was schuldig.« Er wandte sich an Morag. »Anscheinend weiß ich nicht so ganz, was hier gespielt wird.« »Wir waren zusammen und wurden getrennt.« Sie warf Cus sane einen Blick zu. »Jetzt haben wir uns wieder.« »Will er auch nach London?« fragte Jackson. Sie nickte. »Steht das Angebot noch?« Er lächelte. »Warum nicht? Klettert ins Führerhaus. Hinter dem Beifahrersitz findet ihr eine Schiebetür. Hab’ ich selbst 259
eingebaut. Dahinter gibt es eine Schla fkoje, Decken und so weiter. So kann ich auf Parkplätzen übernachten und Hotel rechnungen sparen.« Morag stieg hoch. Als Cussane Anstalten machte, ihr zu fo l gen, hielt Jackson ihn am Ärmel fest. »Hören Sie, ich weiß nicht, was hier läuft, aber die Kleine da ist ein anständiges Mädchen.« »Keine Sorge«, versetzte Cussane. »Der Ansicht bin ich auch.« Damit stieg er in die Fahrerkabine. Kurz nach acht an einem schönen, sonnigen Morgen setzte die Alitalia-Maschine mit Papst Johannes Paul II. an Bord auf der Landebahn des Flughafens Gatwick auf. Der Papst trat aus dem Flugzeug, winkte einer begeisterten Menschenmenge zu und kniete als erstes nieder, um englischen Boden zu küssen. Devlin und Ferguson standen auf der Besucherterrasse. »In Augenblicken wie diesen kann ich es kaum erwarten, daß man mich in den Ruhestand versetzt«, merkte der Brigadier an. »Stellen Sie sich den Tatsachen«, entgegnete Devlin. »Wenn es ein wirklich entschlossener Attentäter, der sich auch um sein eigenes Leben nicht schert, auf den Papst oder die Königin von England oder sonstwen abgesehen hat, stehen seine Chancen ausgesprochen gut.« Unten wurde der Papst von Kardinal Basil Hume und im Auftrag der Queen vom Herzog von Norfolk willkommen ge heißen. Der Kardinal hielt eine Begrüßungsansprache; Joha nnes Paul antwortete. Dann begab man sich zu den bereitstehenden Li mousinen. »Was steht jetzt an?« fragte Devlin. »Messe in der Westminster-Kathedrale. Nach dem Mittage s sen Besuch bei Ihrer Majestät im Buckingham-Palast. An schließend Salbung der Kranken in der St.-Georgs-Kathedrale. Ziemlich hektisch, das sehe ich jetzt schon.« Man merkte Fer 260
guson an, daß er nic ht glücklich war. »Verflucht noch mal, Liam, wo ist er? Wo ist dieser verdammte Cussane?« »In der Gegend«, erwiderte Devlin. »Wahrscheinlich näher, als wir glauben. Fest steht nur, daß er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden auftauchen wird.« »Und dann erwischen wir ihn«, knurrte Ferguson, als sie sich entfernten. »Wie Sie meinen«, war Devlins einziger Kommentar. Der Hof des Lagerhauses in Hunslet bei Leeds, dicht an der Autobahn, war mit Lastern vollgestellt. Cussane hatte die Schiebetür offen. »Verstecken Sie sich bitte!« sagte Jackson. »Mitfahrer sind strengstens verboten. Das kann mich den Füh rerschein kosten.« Er stieg aus, um das Abkoppeln des Anhängers zu überwa chen, und ging dann ins Speditionsbüro, um sich eine Unter schrift für die Ladung zu holen. Der Angestellte sah von seinem Schreibtisch auf. »Tag, Earl. Gute Fahrt gehabt?« »Nicht übel.« »Wie ich höre, war auf der M 6 allerhand los. Ein Kumpel ist bei Manchester steckengeblieben und hat hier angerufen. Eine Menge Polizeiaktivität, sagt er.« »Mir ist nichts aufgefallen«, meinte Jackson. »Worum geht es denn?« »Sie fahnden nach einem Mann, der etwas mit der IRA zu hin und ein junges Mädchen bei sich hat.« Jackson brachte es fertig, Ruhe zu bewahren und die Fracht scheine zu unterschreiben. »Sonst noch was?« »Nein, Earl, alles klar. Bis zum nächsten Mal.« Jackson ging hinaus. Bei seinem Laster angekommen, zöge r te er, folgte dann aber seiner ursprünglichen Absicht, verließ den Frachthof, überquerte die Straße und betrat die Fernfahrer 261
raststätte. Von der jungen Frau hinter der Theke ließ er sich die Thermosflasche füllen, bestellte Sandwiches mit gebratenem Speck und erstand eine Zeitung, die er auf dem Rückweg zu seinem Sattelschlepper langsam las. Er kletterte hoch ans Steuer und reichte die Thermosflasche und Sandwiches nach hinten. »Hier, ein Frühstück und was zum Lesen.« Die Bilder waren mit jenen identisch, die das Lokalblatt von Carlisle gebracht hatte, und auch der Artikel klang ähnlich. Die das Mädchen betreffenden Details waren spärlich. Es hieß le diglich, Morag Finlay sei in seiner Begleitung. Als sie über die Zufahrt zur Autobahn rollten, sagte Cussane: »Nun?« Jackson konzentrierte sich auf den Verkehr. »Heißes Ding, Mann. Gut, ich bin Ihnen was schuldig, aber so viel auch wie der nicht. Wenn Sie geschnappt werden…« »Sähe es für Sie schlecht aus.« »Kann ich mir nicht leisten«, sagte Jackson. »Bin nämlich vorbestraft, hab’ zweimal gesessen. Autos hab’ ich geklaut, bis ich mich am Riemen gerissen hab’. Ärger kann ich keinen ge brauchen, und Pentonville will ich ganz bestimmt nicht wieder von innen sehen.« »Dann fahren Sie jetzt einfach weiter«, sagte Cussane fest. »In London steigen wir aus, und Sie fahren Ihrer Wege. Kein Mensch wird erfahren, daß Sie uns bei sich hatten.« Dies war die einzige Lösung, und Jackson wußte das auch. »Na gut,« meinte er mit einem Seufzer, »das war’s dann wohl.« »Tut mir leid, Mr. Jackson«, sagte Morag. Er schaute in den Rückspiegel und lächelte ihr zu. »Schon gut, Kleine. Hätte mich gar nicht erst auf diese Sache einlassen sollen. Bleibt in der Kabine und laßt die Schiebetür zu.« Damit steuerte er seinen Laster auf die Autobahn. 262
Devlin telefonierte mit Harry Fox, der noch in Dumfries im Krankenhaus lag, als Ferguson aus seinem Arbeitszimmer kam. Als der Ire den Hörer auflegte, meinte der Brigadier: »Ich könnte ein paar gute Nachrichten gebrauchen. Gerade kam die Vorausmeldung, daß die 2. Fallschirmjägerbrigade unter Colo nel Jones auf den Falklands angriff und auf argentinische Ver bände stieß, die dreimal so stark waren wie angenommen.« »Was passierte?« »Oh, unsere Paras haben gesiegt, aber Jones ist leider gefa l len.« »Was Harry Fox betrifft, sind die Nachrichten tröstlich«, sag te Devlin. »Heute abend wird er von Glasgow aus nach London geflogen. Er ist wenigstens in mäßiger Verfassung.« »Gott sei gedankt«, merkte Ferguson an. »Ich habe auch mit Trent gesprochen. Sie bekommen kein Wort aus diesen Landfahrern heraus, auf jeden Fall nichts Nützliches. Der alte Großvater behauptet, er hätte keine Ah nung, wohin das Mädchen unterwegs sein könnte. Morag Fin lays Mutter ist in Australien.« »Diese Landfahrer sind noch schlimmer als die Zigeuner«, sagte Ferguson. »Das weiß ich selbst. Vergessen Sie nicht, ich stamme aus Angus. Komisches Völkchen. Sie mögen einander hassen wie die Pest, aber die Polizei hassen sie noch mehr. Die verraten einem noch nicht mal, wo’s zur öffentlichen Bedürf nisanstalt geht.« »Und was unternehmen wir jetzt?« »Wir fahren mit zur St.-Georgs-Kathedrale und sehen uns an, was Seine Heiligkeit so treibt. Anschließend begeben Sie sich am besten gleich nach Canterbury. Ich stelle Ihnen übrigens einen Polizeiwagen mit Fahrer zur Verfügung. Es ist bestimmt von Vorteil, wenn Sie von nun an so amtlich wie möglich wir ken.« Morag saß mit dem Rücken zur Wand in der Ecke der Koje. 263
»Warum bist du in Penrith zurückgekommen? Das hast du mir noch nicht verraten. Mich interessiert es sehr.« Cussane zuckte die Achseln. »Ich hab’ mir wohl gesagt, daß du der Lage da draußen so ganz allein noch nicht gewachsen bist.« Sie schüttelte den Kopf. »Warum hast du solche Angst, deine Fürsorge einzugestehen?« »Hab’ ich das?« Er steckte sich eine Zigarette an und sah zu, wie Morag ein altes Kartenspiel aus der Tasche holte und zu mischen begann. Es waren Tarot-Karten. »Verstehst du dich darauf?« »Meine Großmutter brachte mir das Kartenlegen schon vor Jahren bei, als ich noch ganz klein war. Ob ich übersinnlich begabt bin, weiß ich nicht genau. Das läßt sich schwer beurtei len.« Sie mischte die Karten erneut. Er sagte: »Vielleicht wartet die Polizei bei deiner Großmutter?« Sie hielt mit einem überraschten Ausdruck inne. »Warum denn? Man weiß doch gar nicht, daß es sie überhaupt gibt.« »Im Lager müssen doch Fragen gestellt worden sein, und je mand muß etwas verraten haben. Wenn es nicht dein Großvater war, dann bestimmt Murray.« »Nie im Leben«, versetzte sie. »So etwas brächte selbst Mur ray nicht fertig. Bei dir war das etwas anderes – du bist ein Außenseiter – , aber mich würde niemand verraten.« Sie drehte die erste Karte um. Es war der Turm. Von dem Gebäude, in das der Blitz einschlug, stürzten zwei Menschen ab. »Der einzelne leidet durch die Mächte des Schicksals, die sich auf der Welt auswirken«, kommentierte Morag. »Das trifft auf mich zu. Eindeutig.« Harry Cussane mußte wider Willen lachen. Susan Calder war dreiundzwanzig, zierlich, und sah in ihrer marineblauen Polizeiuniform und der Mütze mit dem 264
schwarzweiß karierten Band unleugbar attraktiv aus. Eigentlich hatte sie Lehrerin werden wollen, nach drei Semestern aber genug gehabt, sich bei der Londoner Polizei beworben und war angenommen worden. Nun gehörte sie schon über ein Jahr da zu. Sie stand auf dem Cavendish Square neben dem Polizeiwa gen, bot einen angenehmen Anblick, und Devlins Laune wurde sofort besser. Als er die Stufen herunterkam, reinigte sie gerade die Windschutzscheibe. »Einen schönen guten Tag. Wie angenehm, Damenb egleitung zu bekommen.« Sie sah sich den dunklen Burberry an, den verwegen sitze nden Filzhut und wollte ihm schon eine patzige Antwort geben, beherrschte sich aber. »Sind Sie etwa Professor Devlin?« »Genau der. Und Sie?« »Polizistin Susan Calder, Sir.« »Wissen Sie, daß Sie bis morgen mir gehören?« »Jawohl, Sir. Die Hotelzimmer in Canterbury sind gebucht.« »Da werden sie sich in der Wache aber die Mäuler zerreißen. Auf geht’s.« Er öffnete die Hecktür und stieg ein. Sie glitt hin ters Steuer, fuhr los, und Devlin lehnte sich zurück, beobachte te sie. »Hat man Ihnen erzählt, worum es geht?« »Ich weiß nur gerade, daß Sie zu Gruppe Vier gehören, Sir.« »Und die wäre?« »Terrorismus-Abwehr; das nachrichtendienstliche Gege n stück zu Scotland Yards Anti- Terror-Einheiten.« »Stimmt, Gruppe Vier kann es sich erlauben, Leute wie mich einzusetzen.« Er zog die Stirn kraus. »Im Lauf der nächsten sechzehn Stunden kommt es zur Entscheidung in dieser Affäre, so oder so, und Sie werden mich auf Schritt und Tritt beglei ten.« »Wie Sie meinen, Sir.« »Da haben Sie es verdient, eingeweiht zu werden, finde ich.« 265
»Dürfen Sie mir das verraten, Sir?« fragte Sie gelassen. »Nein, aber ich will es trotzdem tun«, meinte er und begann zu reden, legte ihr die ganze Angelegenheit von Anfang an dar und klärte sie ganz speziell über Harry Cussane auf. »Eine erstaunliche Geschichte«, meinte sie, als er geendet hatte. »Das ist noch milde ausgedrückt.« »Nur noch eine Kleinigkeit, Sir.« »Was wäre das?« »Mein älterer Bruder wurde vor drei Jahren, als er in Belfast als Leutnant der Marineinfanterie diente, erschossen. Ein Hek kenschütze traf ihn vom Dach der Divis-Fiats.« »Soll das bedeuten, daß Sie etwas gegen mich haben?« »Durchaus nicht, Sir. Ich wollte Sie nur informieren«, erklä r te sie knapp, bog in die Hauptstraße ein und fuhr in Richtung Themse. Cussane und Morag standen in einer stillen Straße am Rand von Wapping und sahen dem Laster nach, der um die Ecke bog und verschwand. »Armer Earl Jackson«, meinte Cussane. »Wetten, daß er sich davonmacht, so rasch wie möglich? Wo wohnt deine Großmut ter?« »Am Cork-Street-Kai. Ich war seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr hier und weiß leider nicht genau, wo es langgeht.« »Wir finden ihn schon.« Sie taten das Naheliegende und hielten auf den Fluß zu. Sein Arm schmerzte wieder, und er hatte Kopfweh, ließ sich aber vor dem Mädchen nichts anmerken. Sie erreichten an einer Straßenecke ein Lebensmittelgeschäft, das Morag betrat, um sich zu erkundigen. Sie kam rasch wieder heraus. »Es ist nicht mehr weit, nur noch zwei Straßen.« 266
Sie gingen zur nächsten Ecke und sahen von dort aus den Fluß und hundert Meter weiter ein Schild an einer Hauswand: Cork Street Wharf. »Gut, dann zieh mal los«, sagte Cussane. »Ich bleibe erst einmal zurück, nur für den Fall, daß sie Besuch hat.« »Ich bin gleich wieder da.« Sie eilte die Straße entlang, und Cussane trat durch eine ze r brochene Tür in einen halb mit Schutt gefüllten Durchgang und wartete. Er konnte den Fluß riechen. Es kamen jedoch kaum noch Schiffe. Der Hafen, einst der bedeutendste der Welt, war nur noch ein Friedhof für rostende Kräne, die wie urzeitliche Ungeheuer gen Himmel ragten. Er fühlte sich miserabel, und als er sich eine Zigarette ansteckte, zitterte seine Hand. Rasche Schritte, dann erschien Morag. »Sie ist nicht zu Hause. Ich habe mit der Nachbarin gesprochen.« »Wo ist sie?« »Mit einem Schausteller unterwegs und diese Woche auf dem Jahrmarkt von Maidstone.« Maidstone war nur sechzehn oder siebzehn Meilen von Can terbury entfernt. Die Ereignisse nahmen unabwendbar ihren Lauf. »Dann machen wir uns am besten auf den Weg«, sagte Cussane. »Du nimmst mich mit?« »Warum nicht?« Er machte kehrt und ging voran. Nach zwanzig Minuten hatte er gefunden, was er suchte: ei nen Parkplatz mit Parkscheinautomaten. »Warum muß das unbedingt so ein Parkplatz sein?« wollte sie wissen. »Weil man hier den Parkschein im voraus für die gewünschte Zeit löst und an die Windschutzscheibe legt. Autodieben ist das eine wunderbare Hilfe. Man weiß nämlich genau, wie lange man Zeit hat, bis das Verschwinden des Autos auffällt.« Sie schaute sich um. »Hier steht eins mit einem Ticket, das 267
sechs Stunden gültig ist.« »Und wann wurde es gelöst?« Er sah nach und zog sein Ta schenmesser heraus. »Das reicht. Noch vier Stunden Zeit. Bis dahin ist es ohnehin dunkel.« Er machte sich mit dem Taschenmesser am Ausstellfenster zu schaffen, brach es auf und entriegelte die Tür, langte dann langte unters Armaturenbrett und zog Kabel heraus. »Das machst du nicht zum ersten Mal«, bemerkte Morag. »Stimmt.« Der Motor sprang an. »Dann mal nichts wie weg«, sagte er und fuhr an, als sie hastig neben ihm einstieg. 15 Es überrascht selbstverständlich kaum, daß der Papst hierhe r kommen will«, sagte Susan Calder zu Devlin. »Die Geburts stätte des Christentums ist England. Den Grundstein legte St. Augustin zur Angelsachsenzeit.« »Tatsächlich?« Sie standen in dem prächtigen Schiff der im Perpendikularstil erbauten Kathedrale, dessen Pfeiler zu dem Kreuzgewölbe weit über ihnen aufragten. In der Kirche ging es zu wie in einem Bienenstock, überall Arbeiter. »In der Tat spektakulär«, merkte Devlin an. »Das Gebäude bekam 1942 bei einem Luftangriff auf Can terbury sogar eine Bombe ab. Die Bibliothek wurde zerstört, aber wiederaufgebaut. Und dort drüben im nordwestlichen Querschiff wurde Thomas Becket vor achthundert Jahren von drei Rittern ermordet.« »Soviel ich weiß, fühlt sich der Papst ihm ganz besonders verbunden«, sagte Devlin. »Sehen wir uns die Stelle einmal an.« Sie schritten durch das Schiff an den Ort, an dem Becket vor langer Zeit den Märtyrertod starb. Die genaue Stelle, an der er 268
der Überlieferung zufolge gefallen war, markierte ein kleiner quadratischer Stein. Die Atmosphäre war sonderbar. Devlin fröstelte, schüttelte sich. »Die Schwertspitze«, sagte Susan Calder schlicht. »So nennt man den Stein.« »Treffend, nicht wahr? Kommen Sie, gehen wir. Ich habe Lust auf eine Zigarette und außerdem genug gesehen.« Sie verließen die Kathedrale durchs Südportal und passierten einen Wachposten der Polizei. Auch draußen herrschte Aktivi tät, Arbeiter bauten Tribünen auf, und die Polizeipräsenz war beträchtlich. Devlin steckte sich eine Zigarette an und ging mit Susan Calder auf den Plattenweg. »Nun, was meinen Sie?« fragte sie. »Ich würde sagen, mo r gen kann selbst ein Cussane nicht hoffen, hier hineinzukom men. Sie haben die Sicherheitsmaßnahmen ja selbst gesehen.« Devlin holte seine Brieftasche heraus und zeigte ihr den Son derausweis, den er von Ferguson erhalten hatte. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?« »Ich glaube nicht.« »Ein ganz spezieller Ausweis, der mir garantiert alle Türen öffnet.« »Und?« »Niemand verlangte ihn zu sehen. Wir wurden total akzep tiert, als wir hineinmarschierten. Und warum? Weil Sie in Poli zeiuniform sind. Und sagen Sie mir jetzt bloß nicht, daß Sie die tragen, weil Sie auch wirklich bei der Polizei sind. Darum geht es mir nicht.« »Jetzt verstehe ich, worauf Sie hinauswollen.« Man merkte ihr an, daß sie beunruhigt war. »Einen Baum versteckt man am besten im Wald«, sagte er. »Morgen wird es hier von Polizisten und kirchlichen Würden trägem nur so wimmeln. Kommt es da auf einen Polizisten oder Priester mehr oder weniger an?« 269
In diesem Augenblick rief ihn jemand beim Namen, und als sie sich umdrehten, sahen sie Ferguson auf sich zukommen, begleitet von einem Mann in einem dunklen Mantel. Ferguson trug einen Mantel, wie ihn die Gardeoffiziere bevorzugen, und hatte einen säuberlich zusammengerollten Schirm in der Hand. »Das ist Brigadier Ferguson«, sagte Devlin hastig zu der jun gen Beamtin. »Ah, da sind Sie also«, sagte der Brigadier. »Ist das Ihre Fah rerin?« »Polizistin Calder, Sir.« Sie salutierte zackig. »Dies ist Superintendent Foster von Scotland Yards Anti Terror-Einheit«, erklärte Ferguson. »Ich bin die Sicherheits vorkehrungen mit ihm durchgegangen. Kommt mir alles recht wasserdicht vor.« »Selbst wenn Ihr Mann bis Canterbury durchkommt, ist es ausgeschlossen, daß er in die Kathedrale eindringen kann«, sagte Foster schlicht. »Dafür lege ich die Hand ins Feuer.« »Hoffen wir, daß es nicht soweit kommt«, versetzte Devlin. Ferguson zupfte ungeduldig an Fosters Ärmel. »Los, gehen wir hinein, ehe es dunkel wird. Devlin, ich verbringe die Nacht hier und rufe Sie später in Ihrem Hotel an.« Die beiden Männer schritten auf das mächtige Portal zu, ein Polizist öffnete die Tür, und sie traten ein. »Glauben Sie, daß dieser Beamte die beiden kennt?« fragte Devlin Susan Calder leise. »Himmel, wie soll ich das wissen? Sie haben es wirklich fe r tiggebracht, Zweifel in mir zu wecken, Sir.« Sie öffnete ihm den Wagenschlag. Er stieg ein, sie setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. »Nur eine Frage noch.« »Die wäre?« »Selbst wenn er eindringt und etwas anstellt, kommt er doch nie wieder heraus.« »Da ist doch der springende Punkt«, sagte Devlin. »Was 270
nachher aus ihm wird, ist ihm gleichgültig.« »Dann gnade uns Gott.« »Selbst auf den würde ich mich nicht verlassen. Wir können jetzt nichts Sinnvolles mehr tun. Die Kontrolle über das Spiel ist uns entglitten, es kontrolliert uns. Bringen Sie mich also gemächlich zu diesem Hotel, und ich lade Sie zum besten Abendessen ein, das das Haus zu bieten hat. Habe ich Ihnen übrigens schon gestanden, daß ich ein schreckliches Faible für Frauen in Uniform habe?« Sie fädelte sich in den Verkehrsstrom ein und begann zu la chen. Der Wohnwagen war lang, geräumig und erstklassig einge richtet. Der Schlafraum war abgetrennt und hatte zwei Kojen. Als Cussane die Tür öffnete und hineinschaute, schien Morag zu schlafen. Er wollte die Tür wieder schließen, aber sie rief: »Harry?« »Ja.« Er setzte sich auf die Kante der Koje. Inzwischen hatte er be trächtliche Schmerzen. Selbst das Atmen tat nun weh. Sein Zustand war ernst, das wußte er. Sie streckte die Hand aus, strich ihm über die Wange, und er wich ein wenig zurück. »Weißt du noch, wie ich dich am ersten Tag in Opas Wagen fragte, ob du Angst hättest, ich könnte dich in Versuchung fü h ren?« sagte sie. »Genau hast du gesagt«, gab er zurück, »fürchten Sie, ich könne Sie in Versuchung führen, Pater?« Sie wurde sehr still. »Du bist also wirklich Geistlicher? Ein echter Priester? Ich glaube, das habe ich schon immer gewußt.« »Schlaf weiter«, meinte er. Sie griff nach seiner Hand. »Du gehst doch nicht fort, ohne mir Bescheid zu sagen?« In ihrer Stimme schwang echte Angst mit. »Na hör mal, 271
meinst du, ich könnte dir das antun?« Er erhob sich und machte die Tür auf. »Komm, schlaf jetzt. Wir sehen uns morgen früh.« Er steckte sich eine Zigarette an, verließ den Wohnwagen. Der Rummelplatz von Maidstone war verhältnismäßig klein – eine Anzahl von Schaubuden, verschiedene Stände, BingoBuden, mehrere Karussells. Trotz der späten Stunde herrschte noch viel Betrieb, Musik dröhnte munter und lautstark durch die Nachtluft. Am einen Ende des Wohnwagens stand der Landrover, der ihn schleppte, am anderen das rote Zelt mit dem beleuchteten Schild Gipsy Rose. Als er hinausschaute, kam ein lachendes junges Pärchen heraus. Cussane zögerte, ging dann hinein. Brana Smith war mindestens siebzig und trug ein grelles Kopftuch, mit dem sie sich das Haar straff aus dem Gesicht, dessen Haut wie braunes Pergament war, zurückgebunden hat te. Um die Schulter hatte sie einen Schal, um den Hals eine Kette mit Goldmünzen. Auf ihrem Tisch stand eine Kristallku gel. »Sie sehen aber wirklich sehr überzeugend aus«, sagte er. »Das ist der Zweck der Übung. Das Publikum erwartet, daß eine Wahrsagerin wie eine Zigeunerin aussieht. Hängen Sie das ›Geschlossen‹-Schild raus und geben Sie mir eine Zigarette.« Er tat wie geheißen, kam zurück und nahm ihr gege nüber wie ein Ratsuchender Platz. Die Kristallkugel stand zwischen ih nen. »Schläft Morag?« fragte sie. »Ja.« Er holte tief Luft, um der Schmerzen Herr zu werden. »Sie dürfen niemals zulassen, daß sie in dieses Lager zurück kehrt, ist das klar?« »Keine Sorge.« Ihre Stimme klang brüchig und sehr gelassen. »Wir Zigeuner halten zusammen und sorgen dafür, daß eine Schuld beglichen wird. Ich setze in Umlauf, was Murray getan hat, und eines Tages wird er dafür zahlen müssen, darauf kön nen Sie sich verla ssen.« Er nickte. »Als Sie heute Morags Bild in der Zeitung sahen 272
und von den Umständen lasen, machten Sie sich doch bestimmt Sorgen. Warum haben Sie sich nicht mit der Polizei in Verbin dung gesetzt?« »Mit der Polizei? Soll das ein Witz sein?« Sie hob die Schul tern. »Ich wußte, daß sie zu mir unterwegs war und daß ihr nichts fehlte.« »Das wußten Sie?« fragte Cussane. Sie ließ eine Hand leicht auf der Kristallkugel ruhen. »Das ist nur das äußere Drum und Dran. Ich bin übersinnlich begabt, so wie meine Mutter und meine Großmutter vor mir.« Er nickte. »Das hörte ich von Morag. Sie legte mir die TarotKarten, ist sich aber ihrer Kräfte noch nicht sicher.« »Das Talent dazu hat sie.« Die alte Frau nickte. »Es muß nur noch Form annehmen.« Sie schob ihm einen Stapel Karten zu. »Heben Sie ab und geben Sie mir das Spiel mit der Linken zu rück.« Er tat wie geheißen, woraufhin sie nun abhob. »Ohne das Ta lent sind die Karten bedeutungslos. Verstehen Sie das?« Er fühlte sich seltsam benommen. »Ja.« »Drei Karten nur werden alles klarlegen.« Sie drehte die erste um: der Turm. »Er hat unter den Kräften des Schicksals gelit ten«, sagte sie. »Sein Leben wurde von anderen bestimmt.« »Auch Morag zog diese Karte«, meinte er, »und sagte mir etwas Ähnliches.« Sie deckte die zweite Karte auf. Sie stellte einen jungen Mann dar, der an einem Knöchel kopfunter von einem hölzer nen Galgen baumelte. »Der Gehenkte. Sein schwerster Kampf ist der mit seinem ei genen Schatten. Er hat zwei Persönlichkeiten; ist er selbst und doch nicht er selbst. Die Rückkehr zur Ganzheit der Jugend ist jetzt ausgeschlossen.« »Ja, es ist zu spät«, meinte er. »Viel zu spät.« 273
Die dritte Karte zeigte den Tod in seiner herkömmlichen Er scheinung, den Sensenmann, der grimmige Ernte hält. »Um wessen Tod geht es hier?« Cussanes Lachen war etwas zu laut. »Um meinen oder vielleicht den einer anderen Per son?« »Die Karte bedeutet viel mehr, als das oberflächliche Bild andeutet. Der Tod kommt als Erlöser. Im Tod dieses Mannes liegt die Möglichkeit zur Wiedergeburt.« »Gut, aber wessen Wiedergeburt?« fragte Cussane gespannt, beugte sich vor. Das in der Kristallkugel gespiege lte Licht kam ihm sehr hell vor. Sie berührte seine schweißnasse Stirn. »Sie sind krank.« »Wird schon wieder besser. Muß mich nur mal hinlegen, das ist alles.« Er stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, lege ich mich für eine Weile schlafen und gehe dann, ehe Morag aufwacht. Das ist entscheidend. Haben Sie mich verstanden?« Sie nickte. »O ja. Ich verstehe Sie sehr gut.« Er trat hinaus in die kühle Nachtluft. Inzwischen waren die meisten Menschen heimgegangen, Buden und Karussells machten zu. Seine Stirn war fiebrig heiß. Er stieg die Treppe zum Wohnwagen hinauf, legte sich auf die Sitzbank und starrte zur Decke. Besser jetzt eine Morphiumspritze als morgen früh. Er stand auf, kramte in seiner Tasche herum und fand schließ lich eine Ampulle. Die Injektion wirkte rasch, und nach einer Weile schlief er ein. Er wachte jäh auf. Sein Kopf war klar. Es war Morgen, denn Tageslicht fiel durch die Fenster, und die alte Frau saß am Tisch, rauc hte eine Zigarette und beobachtete ihn. Als er sich aufsetzte, wütete der Schmerz in ihm wie ein wildes Tier. Kurz glaubte er, nicht mehr atmen zu können. Sie schob ihm eine Tasse zu. »Heißer Tee. Ist gut für Sie.« Noch nie hatte Tee so gut geschmeckt. Er lächelte und nahm sich mit zitternden Händen eine Zigarette aus ihrer Packung. 274
»Wie spät ist es?« »Sieben.« »Schläft Morag noch?« »Ja.« »Gut, dann mache ich mich auf den Weg.« »Sie sind krank, Pater Cussane«, sagte sie ernst. »Schwer krank.« Er lächelte milde. »Sie haben übersinnliche Fähigkeiten und wissen daher Bescheid.« Er holte tief Luft. »Es muß noch eini ges klargestellt werden, ehe ich gehe. Morags Rolle in dieser Angelegenheit. Haben Sie etwas zu schreiben?« »Ja.« »Gut. Dann notieren Sie sich folgende Nummer.« Sie tat wie geheißen. »Verlangen Sie einen Mr. Ferguson – Brigadier Fer guson.« »Ist der von der Polizei?« »So ungefähr. Er würde mich für sein Leben gerne in die Finger kriegen. Sollte er nicht da sein, wird man wissen, wo er zu erreichen ist, vermutlich in Canterbury.« »Warum ausgerechnet dort?« »Weil ich nach Canterbury will, um den Papst zu erschie ßen.« Er holte die Stetschkin aus der Tasche. »Hiermit.« Sie schien zu schrumpfen, sich in ein Schneckenhaus zurück zuziehen. Selbstverständlich glaubte sie ihm, das konnte er sehen. »Aber warum denn?« flüsterte sie. »Er ist doch ein guter Mensch.« »Sind wir das nicht alle?« versetzte er, »oder waren wir es nicht wenigstens irgendwann einmal im Leben? Entscheidend ist folgendes: Sobald ich fort bin, rufen Sie Ferguson an und sagen ihm, ich sei unterwegs zur Kathedrale von Canterbury. Sagen Sie ihm außerdem, ich hätte Morag gezwungen, mir zu helfen. Erzählen Sie ihm, sie habe um ihr Leben fürchten müs 275
sen. Machen Sie ihm vor, was Sie wollen.« Er lachte. »Alles in allem sollte das zu ihrer Entlastung genügen.« Er griff nach seiner Tasche und ging zur Tür. »Wissen Sie ei gentlich, daß Sie am Sterben sind?« fragte sie ihn ernst. »Aber sicher.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Die Tarot-Karte. ›Der Tod‹ bedeutet Erlösung, sagten Sie. Mein Tod bietet die Möglichkeit einer Wiedergeburt – die des Kindes da drinnen. Alles andere ist unwichtig.« Er öffnete die Tasche, nahm das Bündel Fünfzig-Pfund-Noten heraus und warf es auf den Tisch. »Das ist für Morag. Ich brauche es jetzt nicht mehr.« Dann ging er hinaus. Die Tür fiel zu. Sie blieb sitzen, hörte, wie der Wagen angelassen wurde und wegfuhr. Lange verharr te sie so, dachte an Harry Cussane. Sie hatte ihn sympathischer gefunden als die meisten anderen Männer, denen sie begegnet war, aber den Tod in seinen Augen gesehen, schon beim ersten Zusammentreffen. Nun mußte sie an Morag denken. Ein Geräusch von nebenan, wo das Mädchen schlief – etwas rührte sich leise. Die alte Brana sah auf die Uhr. Halb neun. Sie faßte einen Entschluß, stand auf, verließ leise den Wohnwagen, eilte über den Rummelplatz zur Telefonzelle und wählte Fergu sons Nummer. Devlin saß mit Susan Calter in Canterbury im Hotel beim Frühstück, als er ans Telefon gerufen wurde. Er kam sehr rasch wieder. »Das war Ferguson. Cussane ist aufgetaucht, oder zumindest seine Freundin. Wissen Sie, wo Maidstone ist?« »Ja, Sir. Kann von hier nicht mehr als sechzehn oder sieb zehn Meilen entfernt sein. Im äußersten Fall zwanzig.« »Dann nichts wie los«, sagte er. »Nun bleibt keinem von uns mehr viel Zeit.« In London hatte der Papst früh die Nuntiatur verlassen, um im Digby-Stuart-College über viertausend Gläubige zu besu chen: Mönche, Nonnen und Priester, Katholiken und Anglika 276
ner. Viele stammten aus geschlossenen Orden und kamen zum ersten Mal seit Jahren in die Außenwelt. Alle waren tief be wegt, als sie in Gegenwart des Heiligen Vaters ihr Gelübde erneuerten. Anschließend begab er sich mit einem von British Caledonian Airways zur Verfügung gestellten Hubschrauber nach Canterbury. Stokely Hall war von einer hohen Mauer aus roten Ziegeln umgeben, errichtet zur Zeit der Königin Viktoria, als die Fami lie noch Geld hatte. Auch das Pförtnerhaus am gewaltigen schmiedeeisernen Tor stammte aus dieser Epoche, doch der Architekt hatte sich alle Mühe gegeben, es dem frühen TudorStil des Hauptgebäudes anzugleichen. Als Cussane auf der Landstraße vorbeifuhr standen zwei Polizeifahrzeuge am Tor, und ein uniformierter Kradfahrer, der eine Meile lang hinter ihm gelegen hatte, bog ab. Cussane fuhr weiter, hatte die Umfassungsmauer zu seiner Linken, baumgesäumt. Außer Sichtweite des Tores suchte er die gegenüberliegende Straßenseite ab und entdeckte schließ lich ein Holzgatter und einen Weg, der in den Wald führte. Er fuhr rasch hinüber, stieg aus, öffnete das Gatter, hielt nach ei ner kurzen Strecke auf dem Waldweg an. Dann ging er zurück; schloß das Gatter und wandte sich wieder zum Wagen. Er zog Regenmantel, Jackett und Hemd aus, wegen des schlimmen Armes eine umständliche Prozedur. Auge nblicklich stieg ihm der Geruch in die Nase, süßlicher Verwesungsge stank. Er lachte närrisch und sagte leise: »Mein Gott, Harry, du gehst in Stücke.« Er holte seine schwarze Weste und den weißen Stehkragen aus der Tasche und legte beides an. Zuletzt kam die Soutane. Tausend Jahre schien es her zu sein, seit er sie in Kilrea zu sammengerollt und zuunterst in die Re isetasche gelegt hatte. Er schob einen vollen Patrone nrahmen in die Stetschkin, steckte sie in eine Tasche, ein Ersatzmagazin in die andere, und stieg in den Wagen. Es begann zu nieseln. Kein Morphium mehr. 277
Der Schmerz würde seine Sinne scharf halten. Er schloß für einen kurzen Moment die Augen und schwor sich, die Beherr schung zu wahren. Brana Smith saß in ihrem Wohnwagen am Tisch und hatte einen Arm um Morag gelegt, die ununterbrochen weinte. »Bitte wiederholen Sie nur, was er genau gesagt hat«, meinte Devlin. »Oma…«, begann das Mädchen. Die Alte schüttelte den Kopf. »Sei still, mein Kind.« Dann wandte sie sich zu Devlin. »Er sagte, er hätte vor, den Papst zu erschießen, und zeigte mir die Pistole. Dann gab er mir eine Londoner Telefonnummer und sagte, ich sollte diesen Fergu son anrufen.« »Und was sollten Sie ihm ausrichten?« »Cussane würde in der Kathedrale von Canterbury sein.« »War das alles?« »Reicht das nicht?« Devlin wandte sich an Susan Calder, die an der Tür stand. »Gut, wir fahren am besten gleich wieder zurück.« Sie öffnete die Tür. »Und was wird aus Morag?« fragte Brana Smith. »Das hängt von Ferguson ab.« Devlin zuckte die Achseln. »Ich will sehen, was ich machen kann.« Er wandte sich nach draußen, aber sie rief hinter ihm her: »Mr. Devlin?« Er drehte sich um. »Er ist am Sterben.« »Am Sterben?« »Ja, an einer Schußwunde.« Er ging hinaus, nahm keine Notiz von den neugierigen Schaubudenleuten und stieg neben Susan Calder ein. Als sie anfuhr, verständigte er übers Funkgerät im Wagen das Polizei präsidium Canterbury und ließ sich zu Ferguson durchstellen. »Hier gibt’s nichts Neues«, erklärte er dem Brigadier. »Die 278
Nachricht war für Sie bestimmt und ganz eind eutig: er beab sichtigt, in der Kathedrale von Canterbury zu sein.« »Frechheit!« sagte Ferguson. »Noch etwas. Er ist am Sterben. Offenbar an einer Infektion, die nach dem Schuß, der ihn auf dem Hof der Mungos erwisch te, einsetzte.« »War das Ihr Schuß?« »Ja.« Ferguson holte tief Luft. »Gut, dann kommen Sie so schnell wie möglich hierher zurück. Der Papst muß bald eintreffen.« Stokely Hall war einer der schönsten Herrensitze aus der Tu dorzeit in England, und die Stokelys gehörten zu der Handvoll englischer Aristokratenfamilien, die nach Heinrich VIII. und der Reformation dem katholischen Glauben treu geblieben wa ren. Was Stokely auszeichnete, war die Familienkapelle im Wald, die man vom Hauptgebäude aus durch einen Tunnel erreichte. Vielen Fachleuten galt sie als praktisch ältestes ka tholisches Gotteshaus in England. Der Papst hatte dem Wunsch Ausdruck gegeben, hier zu beten. Cussane lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und über dachte die Lage. Der Schmerz bebte nun in ihm, sein Gesicht war eiskalt und schweißtriefend zugleich. Er fand mit Mühe eine Zigarette und begann sie anzuzünden, als er über sich Mo torengeräusch hörte. Er stieg aus und blieb lauschend stehen. Einen Augenblick später flog über ihm der blauweiße Hub schrauber vo rbei. »Sie sehen bedrückt aus, Sir«, sagte Susan Calder. »Gestern haben Sie mich noch Liam genannt. Jawohl, mir ist nicht wohl zumute. Cussanes Verhalten ergibt keinen Sinn.« »War das nicht schon immer so? Was macht Ihnen denn Kummer?« »Harry Cussane, über zwanzig Jahre lang ein guter Freund von mir und der beste Schachspieler, dem ich je begegnet bin.« 279
»Und was war das Wesentlichste an ihm?« »Daß er mir immer noch drei Züge voraus war. Daß er die Fähigkeit hatte, meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was seine rechte Hand tat, währ end er mit der Linken erledigte, worauf es wirklich ankam. Was sagt Ihnen das unter den der zeitigen Umständen?« »Daß er nicht die Absicht hat, in die Kathedrale von Canter bury einzudringen. Dort herrscht der große Rummel. Und dort wird er von allen erwartet.« »Er schlägt also anderswo zu. Aber wie? Wo ist der Termin plan?« »Auf dem Rücksitz, Sir.« Er fand ihn und las laut vor. »Beginnt im Digby-StuartCollege in London, dann fliegt er mit dem Hubschrauber nach Canterbury.« Er runzelte die Stirn. »Moment mal. Er macht bei Stokely Hall Zwischenlandung, um eine katholische Kapelle zu besuchen.« »An Stokely Hall kamen wir auf dem Weg nach Maidstone vorbei«, sagte sie. »Ungefähr drei Meilen von hier. Aber dieser Besuch ist inoffiziell. Alle anderen Stationen stehe n in den Zeitungen, die ich gelesen habe, aber Stokely Hall nicht. Wo her sollte Cussane Bescheid wissen?« »Er leitete das Pressebüro des katholischen Sekretariats in Dublin.« Devlin hieb sich mit der Faust auf den Schenkel. »Das ist es! Muß es einfach sein. Los, steigen Sie aufs Gas und lassen Sie sich von nichts aufha lten!« »Und Ferguson?« Er griff nach dem Mikrophon. »Ich will versuchen, ihn zu er reichen, aber es ist zu spät, er kann nichts mehr unternehmen. Wir sind in ein paar Minuten an Ort und Stelle. Jetzt kommt es auf uns an.« Er nahm die Walther aus der Tasche, spannte sie und legte dann den Sicherungshebel um, als der Wagen losschoß. 280
Die Straße war frei, als Cussane sie überquerte. Im Schutz der Bäume ging er an der Mauer entlang, erreic hte ein altes Eisentor, schmal und verrostet und fest in die Mauer eingelas sen, und als er an ihm zog, hörte er von drinnen Stimmen. Er verschwand hinter einem Baumstamm und wartete. Durch die Eisenstäbe konnte er einen Gartenweg und Rhododendron sträucher sehen. Einen Moment später schritten zwei Nonnen vorbei. Er ließ sich Zeit, bis sie sich etwas entfernt hatten, und ging dann zurück zu der Stelle, an der eine Bodenerhebung unter den Bäumen ihn fast auf Augenhöhe mit der Mauer brachte. Dann griff er nach einem Ast, der überragte. Hinüberklettern wäre ohne die Schulterverletzung lächerlich einfach gewesen. So aber waren die Schme rzen entsetzlich, doch er raffte seine Soutane, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, zog sich hoch und verharrte nur kurz oben auf der Mauer, ehe er sich auf den Boden fallen ließ. Er blieb auf einem Knie, rang nach Luft, stand dann auf und strich sich das Haar glatt. Alsbald eilte er den Gartenweg ent lang, hörte vor sich die Stimmen der Nonnen, bog bei einem alten Springbrunnen aus Stein um die Ecke und holte sie ein. Die beiden drehten sich verdutzt um. Eine war sehr alt, die andere jünger. »Guten Morgen, Schwestern«, sagte er munter. »Ist es hier nicht herrlich? Ich konnte mir einen kleinen Spaziergang ein fach nicht verkneifen.« »Es ging uns ebenso, Pater«, sagte die Ältere. Sie gingen nebeneinander weiter und traten aus dem Gebüsch auf eine weite Rasenfläche. Hundert Meter rechts vor ihnen stand der Hubschrauber, daneben lässig die Besatzung. Vor dem Haus parkten mehrere Limousinen und zwei Polizeifahr zeuge. Zwei Polizisten mit einem angeleinten Schäferhund überquerten den Rasen. Sie gingen wortlos an Cussane und den beiden Nonnen vorbei und hielten auf das Gebüsch zu. 281
»Kommen Sie aus Canterbury, Pater?« fragte die ältere Non ne. »Nein, Schwester…?« Er machte eine Pause. »Agatha – und dies ist Schwester Anne.« »Ich komme vom Sekretariat in Dublin. Wunderbar, daß man mich hierher eingeladen hat, um seine Heiligkeit zu sehen. Ich habe ihn nämlich bei seinem Besuch in Irland verpaßt.« Susan Calder bog von der Straße zum Haupttor ab, und Dev lin zeigte seinen Sonderausweis, als zwei Polizisten vortraten. »Ist hier im Lauf der letzten paar Minuten jemand durchge kommen?« »Nein, Sir«, erwiderte ein Beamter. »Es traf allerdings eine Menge Gäste ein, ehe der Hubschrauber landete.« »Losfahren!« sagte Devlin. Susan Calder fegte mit beträchtlichem Tempo die Auffahrt hoch. »Nun, was meinen Sie?« »Er ist hier!« rief Devlin erregt. »Dafür wette ich me inen Kopf.« »Sind Sie seiner Heiligkeit schon vorgestellt worden, Pater?« erkundigte sich Schwester Anne. »Nein, ich bin eben erst aus Canterbury eingetroffen und ha be eine Botschaft für ihn.« Sie überquerten nun die gekieste Auffahrt, passierten zwei Polizisten, die bei den Limousinen Wache standen, gingen die Stufen hoch, vorbei an den beiden uniformierten Wächtern von einer Privatgesellschaft, und durch die mächtige Eichentür. Die Empfangshalle war weitläufig, in ihrer Mitte erhob sich eine breite Treppe zu einem Absatz. Rechts standen beide Flügel einer Doppeltür offen und gaben den Blick in einen gefüllten Empfangsraum frei, in dem viele Gäste standen, darunter zahl reiche geistliche Würdenträger. Cussane und die beiden Nonnen schritten auf den Empfangs raum zu. »Und wo ist die berühmte Kapelle von Stokely?« 282
fragte er. »Ich habe sie noch nie zu Gesicht bekommen.« »Ach, sie ist einfach herrlich«, sagte Schwester Agatha. »Man spürt die Jahrhunderte des Gebets dort. Der Eingang ist am Ende des Gangs, dort, wo der Mons ignor steht.« Sie blieben an der Tür zum Empfangsraum stehen. »Würden Sie mich für einen Augenblick entschuldigen?« sagte Cussane. »Vielleicht gelingt es mir, dem Heiligen Vater meine Botschaft zu überreichen, ehe er zum Empfang geht.« »Wir werden hier auf Sie warten, Pater«, sagte Schwester Agatha. »Ich glaube, wir gehen lieber zusammen mit Ihnen hinein.« »Aber gerne. Ich bin gleich wieder da.« Cussane ging am unteren Ende der Treppe vorbei und wandte sich zu der Ecke der Halle, wo der Monsignore in seinem prächtigen scharlachroten und schwarzen Gewand stand. Er war ein alter Mann mit silbrigem Haar, der mit einem italieni schen Akzent sprach. »Was suchen Sie, Pater?« »Seine Heiligkeit.« »Das ist ausgeschlossen. Er ist beim Gebet.« Cussane packte den alten Mann am Kinn, drehte den Tü r knopf, öffnete die Tür und schob den Monsignore hindurch. Dann stieß er die Tür mit dem Fuß zu. »Das tut mir aufrichtig leid, Pater.« Er versetzte dem alten Priester einen Handkantenschlag an den Hals und ließ ihn sach te zu Boden sinken. Vor ihm erstreckte sich ein langer, schmaler, schwach be leuchteter Tunnel, an dessen Enden Stufen zu einer Tür aus Eichenholz hochführten. Die Schmerzen waren nun entsetzlich, verzehrend, doch darauf kam es jetzt nicht mehr an. Er rang einen Augenblick lang nach Luft, nahm dann die Stetschk in aus der Tasche und machte sich auf den Weg. 283
Susan Calder brachte den Wagen an der Freitreppe zum Ste hen und folgte dann Devlin, der schon hinausgesprungen war. Seinen Sonderausweis hatte er bereits in der Hand, als ein Ser geant der Polizei ihm rasch in den Weg trat. »Ist irgend etwas Ungewöhnliches vorgekommen? Kam eine uncharakteristische Person hinein?« »Nein, Sir. Es kamen viele Gäste, ehe der Papst eintraf. Und gerade gingen zwei Nonnen und ein Priester hinein.« Devlin rannte die Stufen hinauf, vorbei an den beiden Wäch tern, von Susan Calder dicht gefolgt. Er hielt inne, nahm die Szene in Augenschein – rechts der Empfang, zwei Nonnen, die an der Tür warteten. Ein Priester hatte der Sergeant gesagt. Er ging auf Schwester Agatha und Schwester Anne zu. »Sind Sie gerade angekommen, Schwestern?« Im Empfangsraum hinter ihnen unterhielten sich die Gäste angeregt, Kellner eilten zwischen ihnen hin und her. »Das ist wahr«, erwiderte Schwester Agatha. »Hatten Sie nicht auch einen Priester bei sich?« »O gewiß, den guten Pater aus Dublin.« Devlin bekam ein hohles Gefühl im Magen. »Wo ist er?« »Er hatte eine Botschaft für den Heiligen Vater, eine Bo t schaft aus Canterbury. Als ich ihm aber sagte, der Heilige Va ter sei in der Kapelle, ging er zur Tür, um dort mit dem Monsi gnore zu sprechen.« Schwester Agatha ging voran durch die Halle und blieb verdutzt stehen. »Sonderbar, der Monsignore scheint nicht mehr da zu sein.« Devlin stürmte los und hatte schon die Walther in der Hand, als er die Tür aufriß und über den am Boden liegenden Monsi gnore stolperte. Er spürte, daß Susan Calder hinter ihm war, wurde aber noch deutlicher eines Priesters in schwarzer Souta ne gewahr, der am Ende des Tunnels die Stufen erklomm und die Hand nach der Klinke der Eiche ntür ausstreckte. »Harry!« schrie Devlin. 284
Cussane fuhr herum und schoß, ohne auch nur im geringsten zu zögern. Die Kugel schlug in Devlins rechten Unterarm ein, schleuderte ihn rückwärts gegen die Wand. Devlin ging zu Bo den und ließ dabei die Walther fallen. Susan Calder schrie auf und drückte sich platt an die Wand. Cussane stand auf den Stufen, die Stetschkin in der ausge streckten rechten Hand, feuerte aber nicht, sondern lächelte nur gespenstisch. »Halte dich da raus, Liam!« rief er. »Letzter Akt!« Im gle i chen Augenblick drehte er sich um und öffnete die Tür zur Ka pelle. Devlin empfand Übelkeit, war vom Schock beno mmen. Er langte mit der linken Hand nach der Walther, ergriff sie unge schickt und ließ sich bei dem Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, fallen. Er warf Susan Calder, die vor ihm stand, einen scharfen Blick zu. »Los, nehmen Sie die Waffe! Halten Sie ihn auf! Jetzt hängt alles von Ihnen ab!« Susan Calder verstand nichts von Waffen, abgesehen von dem, was ihr im Lauf einer zweistündigen Unterweisung im Umgang mit ihnen während der Grundausbildung beigebracht worden war. Auf dem Schießstand hatte sie ein paar Schüsse aus einem Revolver abgegeben, aber das war alles. Nun hob sie die Walther ohne Zögern auf und eilte durch den Tunnel. Dev lin kam auf die Beine und lief hinter ihr her. Die Kapelle war beherrscht von Schatten, geheiligt von Jahr hunderten der Andacht, erleuchtet nur von der Ewigen Lampe im Allerheiligsten. Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II. kniete in seiner weißen Robe vor dem schlichten Altar. Der Knall der schallgedämpften Stetschkin, abgeschwächt von der Tür, hatte ihn nicht aufgeschreckt, wohl aber die lauten Stim men. Er war nun aufgestanden und wandte sich um, als die Tür mit einem Krach aufging und Cussane eintrat. Da stand er mit schweißnassem Gesicht, hielt die Stetschkin 285
an den Schenkel gedrückt und wirkte in seiner schwarzen Sou tane auf sonderbare Weise mittelalterlich. »Du bist Pater Harry Cussane«, sagte Johannes Paul ruhig. »Ihr seid im Irrtum, Heiligkeit. Ich heiße Michail Kelly.« Cussane lachte irre. »Ich bin eine Art Wanderschauspieler.« »Du bist Pater Harry Cussane«, sagte Johannes Paul unerbitt lich. »Du wurdest zum Priester geweiht, bist jetzt Priester und wirst es auf alle Ewigkeit bleiben. Gott entläßt dich nicht.« »Nein!« schrie Cussane gequält auf. »Ich weigere mich, das anzunehmen!« Die Stetschkin wurde hochgerissen, Susan Calder kam durch die Tür gestolpert, fiel auf die Knie, wobei ihr der Rock hoch rutschte, hatte die Walther in beiden Händen, streckte sie aus, zielte. Sie traf ihn zweimal in den Rücken, zerschmetterte ihm die Wirbelsäule. Cussane schrie vor Pein auf und fiel vor dem Papst auf die Knie. Er verharrte einen Augenblick lang in die ser Haltung, sackte dann um und drehte sich auf den Rücken. Die Stetschkin hatte er noch immer gepackt. Susan Calder blieb auf den Knien, ließ die Walther zu Boden sinken und sah mit an, wie der Papst Cussane sanft die Stetsch kin aus der Hand nahm. Sie hörte den Papst auf englisch sagen: »Ich möchte, daß du eine Buße ablegst. Sprich mir nach: Allmächtiger Gott, in Dei ner unendlichen Güte…« »Allmächtiger Gott«, sagte Harry Cussane und starb. Der Papst fiel auf die Knie und begann mit gefalteten Händen zu beten. Hinter Susan kam Devlin hereingekrochen und blieb mit dem Rücken zur Wand sitzen, hielt sich die Wunde. An seinen Fin gern war Blut. Sie ließ die Waffe fallen und schmiegte sich an ihn, als suchte sie nach Wärme. »Fühlt man sich danach immer so?« fragte sie mit rauher Stimme. »Schmutzig und beschämt?« 286
»Willkommen im Verein, mein Kind«, sagte Liam Devlin und schlang seinen gesunden Arm um sie.
EPILOG Es war sechs Uhr an einem grauen Morgen, der Himmel re genschwer, als Susan Calder in ihrem Mini in das Tor des ka tholischen Friedhofs St. Joseph in Lo ndons Viertel Highgate einbog. Es war ein recht ärmlicher Bestattungsplatz mit vielen neugotischen Grabmälern, die von einer vergangenen Zeit des Wohlstands zeugten, doch nun war alles überwuchert, herrsch te überall Verfall. Sie trug keine Uniform, sondern ein schwarzes Kopftuch, ei nen Mantel mit blauem Gürtel und Lederstiefel. Am Haus des Friedhofsvorstehers hielt sie an und sah Devlin neben einem Taxi stehen. Er war wie üblich in seinem dunklen Burberry, hatte den schwarzen Filzhut auf und den rechten Arm in einer schwarzen Schlinge. Sie stieg aus dem Wagen, und er kam ihr einige Schritte entgegen. »Tut mir leid, daß ich so spät dran bin«, sagte sie. »Der Ver kehr war eine Katastrophe. Hat es schon angefangen?« »Ja.« Er lächelte ironisch. »Harry hätte das bestimmt zu schätzen gewußt, glaube ich. Erinnert mich an miese Ba uten für einen zweitklassigen Film. Selbst der Regen gibt noch ein Klischee ab«, meinte er, als dicke Tropfen zu fallen begannen. Er sagte dem Taxifahrer, er solle warten, und ging mit der jungen Frau den Weg zwischen den Grabsteinen entlang. »Kein besonders eindrucksvoller Friedhof«, bemerkte sie. »Irgendwo mußten sie ihn schließlich unterbringen.« Er holte mit der gesunden Hand eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Ferguson und das Innenministerium sind der Ansicht, daß 287
Sie sich eine Auszeichnung für Tapferkeit verdient haben.« »Einen Orden?« Der angewiderte Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht gespielt. »Den können sie behalten. Er mußte auf gehalten werden, aber das bedeutet nicht, daß ich das gerne tat.« »Man hat sich ohnehin dagegen entschieden. So etwas würde in die Öffentlichkeit gelangen, eine Erklärung erfordern, und das kann man nicht zulassen. Und Harry wollte ja auch, daß das Ganze dem KGB angelastet wird.« Sie kamen an das Grab und blieben in einiger Entfernung un ter einem Baum stehen. Anwesend waren zwei Totengräber, ein Priester, eine Frau im schwarzen Mantel und ein Mädchen. »Ist das Tanja Woroninowa?« fragte Susan Calder. »Jawohl, und das Mädchen ist Morag Finlay«, bestätigte Devlin. »Die drei Frauen in Harry Cussanes Leben, die nun zusammengekommen sind, um mit anzusehen, wie er zur letz ten Ruhe gebettet wird. Erst diejenige, der er als Kind ein so großes Unrecht antat, dann das Kind, daß er rettete, obwohl ihm das große Unannehmlichkeiten einbrachte. Ich finde das ironisch. Harry, der Erlöser.« »Und dann ich«, meinte sie. »Ich, die ich ihn praktisch hinge richtet habe. Dabei kannte ich ihn überhaupt nicht.« »Sie sind ihm nur einmal begegnet«, erwiderte Devlin. »Und das war genug. Seltsam – die wichtigsten Menschen in seinem Leben waren Frauen, und am Ende brachten sie ihm den Tod.« Der Priester besprengte Grab und Sarg mit Weihwasser und schwenkte das Weihrauchfaß darüber. Morag begann zu wei nen. Tanja Woroninowa schlang einen Arm um sie, als sich die Stimme des Priesters zum Gebet erhob. Herr Jesus Christus, Erlöser der Welt, wir befehlen Dir Deinen Diener an und beten für ihn. »Armer Harry«, sagte Devlin. »Der Vorhang fällt zum letzten Mal, und er bekam trotzdem kein volles Haus.« 288
Er nahm sie am Arm, sie wandten sich ab und gingen lang sam durch den Regen fort.
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JACK HIGGINS
EXOCET Einzig berechtigte Übersetzung
aus dem Englischen
von Jürgen Bavendam
1 Regen prasselte auf den verlassenen Grosvenor Place, als der gelbe Fernmeldewagen um die Ecke bog. Kein anderes Fahr zeug war zu sehen, in Anbetracht des Wetters und der frühen Stunde – drei Uhr morgens – kaum überraschend. Harvey Jackson nahm Tempo weg, und seine schweißnassen Hände drohten am Lenker abzurutschen. Er trug gelbes Ölzeug. Er war ein großgewachsener Mann Ende Dreißig, mit langen dunklen Haaren, die ein selten lächelndes Gesicht mit freudlo sen Augen über hohen Wangenknochen einrahmten. Es goß in Strömen, und die Scheibenwischer hatten Mühe, damit fertig zu werden. Er hielt am Bordstein und zog eine Zigarette aus der Schachtel am Armaturenbrett, zündete sie an, kurbelte das Fenster hinunter und scha ute über die Straße zu der hohen, stacheldrahtbewehrten Backsteinmauer, die den Park hinter dem Buckingham-Palast umschloß. Er klopfte mit den Knöcheln an die Trennwand hinter ihm. Sofort wurde ein kleines Brett entfernt, und Villiers spähte ins Fahrerhaus. »Ja?« »Wir sind da. Bist du soweit?« »Zwei Minuten. Fahr zu der Stelle.« Das Brett wurde zurückgeschoben, und Jackson legte den er sten Gang ein und fuhr weiter. Der Laderaum war voller Fernmeldezubehör und wurde von einer Neonröhre grell beleuchtet. Tony Villiers drückte sich an die Werkbank, als der Laster leicht schwankte, schwärzte sich das Gesicht sorgfältig mit Spezialschminke und begutachtete den Effekt in einem an einen Werkzeugkasten geklemmten Spiegel. Er war dreißig, mittelgroß, mit kräftigen Schultern. Seine 2
Augen waren dunkelbraun und ausdruckslos. Irgendwann war sein Nasenbein gebrochen worden. Sein Haar war schwarz, zerzaust und fast schulterlang. Der schwarze Overall und die französischen Fallschirmjägerstiefel vervollständigten den Ein druck eines gefährlichen Mannes. Er strahlte eine undefinierbare, müde Bitterkeit aus, und sein Gesicht signalisierte, daß er die Welt und ihre Bewo hner zu gut kennengelernt hatte, um sich einen Deut um sie zu scheren. Er zog sich eine schwarze Wollmütze mit Sehschlitzen über den Kopf und hielt sich an der Bank fest, als der Transporter auf den Bordstein rumpelte und an der Mauer hielt. Auf der Werkbank lag eine Smith & Wesson, Magnum, mit aufgesetztem Carswell-Schalldämpfer, daneben eine Akten mappe. Er steckte die Waffe in die große Tasche an seinem linken Hosenbein, klappte die Aktenmappe auf und nahm ein großformatiges Schwarzweißfoto heraus. Es war gestern am späten Nachmittag mit einem Teleobjektiv aufgenommen wor den und zeigte den Botschaftereingang an der Seite des Bu ckingham-Palasts. An der Mauer und unter dem Portikus stan den Leitern. Vor allem aber waren zwei oder drei Fenster über dem flachen Dach des Portikus ein wenig geöffnet. Villiers steckte das Foto in die Mappe zurück und schob das kleine Brett wieder zur Seite. »Fünfundzwanzig Minuten, Har vey. Wenn ich bis dahin nicht wieder da bin, hau ab, so schnell du kannst.« »Red nicht lange, in so einer Nacht brauch ich keine Unter haltung«, antwortete Jackson. »Beeil dich, damit wir wieder nach Hause können.« Villiers schloß die Öffnung, stieg auf die Bank und klappte eine Luke im Wagendach auf. Er hangelte sich hinauf, machte die Luke hinter sich zu und zog wegen des Regens unwillkür lich den Kopf ein. Er kletterte die Mauer hinauf, kroch vorsic h tig über den Stacheldraht, langte nach einem dicken Zweig, turnte daran entlang und ließ sich in das Dunkel fallen. 3
Der Polizist, der an jenem Morgen am Ende des Palastgartens zum Grosvenor Place hin Dienst hatte, haderte mit seinem Schicksal. Bis auf die Haut durchnäßt, hatte er mißmutig und frierend unter einem Baum Schutz gesucht, als der Schäfer hund neben ihm plötzlich leise winselte. »Was ist denn, Junge?« fragte er, im Nu wieder wach, und ließ den Hund von der Leine. »Such, such!« Der Schäferhund sauste davon, aber Villiers, der zwanzig oder dreißig Meter neben einem Baum stand, hatte das Winseln gehört und hielt bereits die Sprühdose, die in einer anderen Tasche des Overalls gesteckt hatte. Der auf lautlosen Angriff abgerichtete Schäfe rhund warf sich gegen ihn, und sein rechter Arm, dessen Ärmel für eben diesen Fall wattiert war, sauste hoch. Der Hund verbiß sich in das dicke gesteppte Material, und Villiers sprühte ihm Ärosol an die Schnauze. Das Tier fiel ohne einen Laut zu Boden und blieb regungslos liegen. Einen Augenblick später näherte sich der Polizist langsam. »Rex, wo bist du?« Villiers hob die Hand und streckte ihn mit einem brutalen Kantenschlag in den Nacken nieder. Der Mann stöhnte, ehe er umkippte. Villiers drehte ihm die Arme auf den Rücken, legte ihm die eigenen Handschellen an, zog das Funkgerät aus seiner Tasche und steckte es ein. Dann eilte er durch den dunklen Park zur Rückseite des Palasts. Harvey Jackson stieg aus dem Wagen und öffnete die Lade tür. Er langte hinein, fand ein paar Enterhaken, beugte sich dann über den Einstieg zu seinen Füßen und hob den Deckel ab. Er nahm eine Inspektionslampe an einer langen Schnur aus dem Wagen und ließ sie in das Loch hinunter, baute dann ein rotes Warnschild ACHTUNG, BAUARBEITEN und einige segeltuchbespannte Stellwände auf und legte eine Plane dar über. Er stieg in das Loch, öffnete einen der Telefonkästen, warf einen Blick auf die verwirrende Vielfalt bunter Drähte und Schalter, lehnte sich zurück und wartete. 4
Ungefähr fünf Minuten später ertönte Motorengeräusch, und er richtete sich auf und beobachtete über dem Rand des Ein stiegs, wie ein Streifenwagen am Bordstein hielt. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und griente. »Harter Job. Das haben Sie davon, daß Sie zur Queen gega ngen sind.« »Sie etwa nicht?« sagte Jackson. »Hoffentlich kriegen Sie wenigstens Überstundengeld. Mit ten in der Nacht zu arbeiten.« »Darauf kann ich lange warten.« Der Polizist grinste wieder. »Passen Sie auf. Wenn es so wei terregnet, werden Sie zum Frühstück da drin schwimmen.« Er fuhr weiter, und Jackson zündete sich eine Zigarette an, setzte sich wieder hin, pfiff ein Lied und dachte daran, wie Vil liers wohl zurechtkam. Villiers hatte zu seine r Erleichterung festgestellt, daß die Le i tern der Arbeiter noch unter dem Portikus standen, und war ohne Schwierigkeiten auf das flache Dach über dem Botscha f tereingang gestiegen. Zwei der Fenster waren tatsächlich ge öffnet. Er balancierte auf einem Sims zu dem nächsten, schob den Flügel weiter hoch und krabbelte in einen kleinen Büro raum. Vorsichtig öffnete er die Tür und betrat einen dunklen Korridor. Die königlichen Gemächer befanden sich auf der anderen Seite des Bauwerks. Da er sich lange mit den Plänen befaßt hatte, die man ihm gegeben hatte, war er mit dem Grundriß des Buckingham-Palasts gründlich vertraut und lief nun zielbewußt durch ein Labyrinth von Korridoren, in denen sich, genau wie er vermutet hatte, um diese Zeit kein Mensch aufhielt. Nach fünf Minuten hatte er das Ende des Flurs zu den Privatgemä chern erreicht. Die Wohnung der Königin war jetzt nur noch ein paar Meter entfernt, ein Speisezimmer, an das sich, wie er wußte, ein Salon und das Schlafzimmer anschlossen. Etwas 5
weiter, hinter der Ecke, lag der Raum, in dem die Corgis, ihre Hunde, schliefen. Gegenüber war das Pagenvestibül, in dem ein Konstabler saß und ein Taschenbuch las. Villiers musterte ihn einen Moment, ging dann den Korridor zurück und holte das Funkgerät aus der Tasche, das er dem Polizisten im Park abgenommen hatte. Er drückte den Knopf für den vierten Kanal und wartete. Es knackte leise. Eine Stimme sagte: »Hier Jones.« Villiers antwortete gedämpft: »Sicherheitsbüro. Der Alarm in der Gemäldegalerie scheint wieder losgega ngen zu sein. Wir bekommen ein Signal, allerdings mit Unterbrechungen. Könn ten Sie mal nachsehen?« »Okay«, sagte Jones. Villiers ging wieder zur Ecke des Korridors und sah, wie der Konstabler sich in die andere Richtung entfernte. Er bog um eine Ecke und verschwand. Villiers huschte zur Tür der Köni ginsuite, hielt kurz inne, holte tief Luft und öffnete sie. Ihre Majestät, Königin Elisabeth II. saß mit einem Buch am Kamin ihres behaglich eingerichteten Wohnraums. Trotz der frühen Stunde war sie sorgfältig frisiert und zurechtgemacht; sie trug einen hellblauen Twinset und einen Tweedrock und hatte eine Perlenkette um. Die Eingangstür knarrte kaum hör bar, und sie hob den Kopf. Die Tür ging auf, Villiers trat ein und machte hinter sich zu. In seiner schwarzen Montur und mit der Mütze, die nur die Augen frei ließ, sah er außerordentlich bedrohlich aus. Einen Moment lang sagte keiner der beiden etwas, dann langte er nach oben und zog sich die Kapuze vom Kopf. »Oh, Major Villiers«, sagte die Königin. »War es schwie rig?« »Ich fürchte, nein, Ma’am.« Die Königin runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Nun, wir ma chen am besten gleich weiter. Ich nehme an, Sie haben nicht 6
viel Zeit?« »Sehr wenig, Ma’am.« Sie griff nach einer Zeitung und hielt sie in die Höhe. »Der Standard von gestern abend, genügt das?« »Ich denke, ja, Ma’am.« Villiers nahm eine Polaroid-Kamera aus der Tasche, trat nä her und ging auf ein Knie. Die Königin hob die Zeitung, er knipste, und wenige Sekunden nach dem Blitz glitt die Auf nahme aus der Kamera. Er ging an den Kamin und hielt das Foto dicht an die Flammen. Ihr Gesicht zeichnete sich ab. »Ausgezeichnet, Ma’am.« Er hielt ihr das Bild hin. »Sehr schön, und nun gehen Sie am besten. Lassen Sie sich nicht erwischen, sonst wäre alles umsonst gewesen.« Villiers zog sich wieder die Mütze über den Kopf und ve r beugte sich leicht. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und er war fort. Die Königin blieb sitzen und überlegte kurz, ob sie wieder zu Bett gehen sollte oder nicht. Regen trommelte an die Scheiben. Sie fröstelte, nahm das Buch und setzte die Lektüre fort. Zehn Minuten später kam Tony Villiers wie ein schwarzes Gespenst über die Mauer geklettert und sprang auf das Dach des Fernmeldewagens. »Los, Harvey«, flüsterte er, als er die Luke öffnete und sich auf die Werkbank fallen ließ. Jackson war augenblicklich zum Einstiegsloch hinaus, öffne te die Laderaumtür, reichte die Stellwände, das Warnschild und die Lampe hinein und schloß die Tür. Villiers hörte, wie er den Deckel des Einstiegs zuknallte und um den Wagen herum zum Fahrerhaus lief. Er nahm die Mütze ab, schraubte eine Dose mit Abschminkcreme auf und fing an, sein Gesicht zu bearbei ten. Einen Augenblick später fuhren sie davon. 1972, als der internationale Terrorismus epidemische Aus maße angenommen hatte, genehmigte der Leiter des britischen 7
Geheimdienstes DI 5 die Bildung einer internen Sonderdienst stelle, die den Namen Gruppe Vier bekam und aufgrund einer Ermächtigung des Premierministers fortan sämtliche Fälle von Terrorismus, Subversion und dergle ichen bearbeitete. Brigadier Charles Ferguson, der diese Dienststelle seitdem leitete, war ein großer, leutselig wirkender Herr, dessen zer knitterte Anzüge immer eine Nummer zu groß zu sein schie nen. Seine Krawatte mit den Gardestreifen war das einzig Mili tärische an ihm; seine zerzausten grauen Haare und sein Dop pelkinn ließen ihn eher wie einen Professor aus der Provinz aussehen. Im Augenblick trug er einen Mantel, wie ihn die Offiziere der Gardetruppen bevorzugten, mit hochgeschlagenem Kragen, um sich vor der morgendlichen Kälte zu schützen. Der Bentley stand am Eaton Place, nicht allzuweit vom Palast entfernt, und der einzige andere Insasse – am Steuer – war Harry Fox, ein schlanker, eleganter Mann, neunundzwanzig Jahre alt, der bis vor drei Jahren als Captain der Blues and Royals gedient hatte. Der glatte Lederhandschuh an seiner Linken kaschierte die Tatsache, daß er diese Hand bei einem Bombenanschlag wäh rend seiner Stationierung in Belfast verloren hatte. Er schenkte Tee aus einer Thermosflasche in Plastikbecher und reichte Ferguson einen davon. »Wie er es wohl anstellt?« »Unser Tony? Oh, sicher genauso rücksichtslos wie immer. Der schreckt vor absolut nichts zurück. Muß daran liegen, daß er in Eton Hausältester war.« »Trotzdem, Sir, wenn er erwischt wird, gibt es bestimmt ei nen Skandal, der dem Ansehen des SAS nicht gerade guttun wird.« »Sie machen sich zuviel Gedanken, Harry«, sagte Ferguson. »Das hängt wohl mit Ihrer Ausbildung zusammen. Aber es hätte schlimmer kommen können.« Er nickte zu einem gelben Fernmeldewage n auf der anderen Seite des Platzes hin, der neben einem offenen, von Stellwänden verdeckten Einstiegloch 8
stand. Zwei Männer in gelbem Ölzeug arbeiteten im Regen. »Sehen Sie sich die armen Kerle an. Was für eine Art, sein Brot zu verdienen. Zu dieser nachtschlafenden Zeit im Regen in einem Loch!« Ein dunkler Ford-Granada, in dem außer dem Fahrer nur noch eine Person im Fond saß, fuhr an ihnen vorbei. Er hielt am Trottoir, der Mann im Fond stieg aus, kam auf den Bentley zu, machte die hintere Tür auf und setzte sich neben Ferguson. Er war stämmig und trug einen dunklen Regenmantel und ei nen Schlapphut. »Ah, Superintendent«, sagte Ferguson. »Harry, das ist Detec tive Chief Superintendent Carver von der Special Branch, den Scotland Yard als Beobachter delegiert hat. Nehmen Sie sich in acht, Superintendent.« Ferguson schenkte einen dritten Becher ein und reichte ihn ihm. »Boten, die schlechte Nachricht brach ten, wurden früher gewöhnlich hingerichtet.« »Quatsch«, sagte Carver liebenswürdig. »Ihr Mann hat keine Chance, und das wissen Sie genau. Wie will er überhaupt hi neinkommen?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Ferguson. »Ich frage nie nach den Methoden, Superintendent. Mich interessieren nur die Resultate.« »Moment mal, Sir«, sagte Fox. »Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft.« Die beiden Fernmeldetechniker, die in dem Einstieg auf der anderen Seite des Platzes gearbeitet hatten, waren herausge kommen und näherten sich mit triefendem Ölzeug. Fox klappte das Handschuhfach auf und nahm eine Walther PPK heraus. Ferguson sagte: »Sehr mutig von denen«, und kurbelte das Fenster hinunter. »Guten Morgen, Tony. Morgen, Sergeant Major.« »Sir«! sagte Jackson und knallte mechanisch die Hacken zu sammen. 9
Villiers beugte sich nach unten und reichte das Polaroidfoto der Königin in den Wagen. »Noch etwas, Sir?« fragte er. Ohne ein Wort zu sagen, betrachtete Ferguson die Aufnahme, um sie dann dem Superintendenten zu geben. Carver richtete sich kerzengerade auf. »Großer Gott!« Ferguson nahm ihm das Foto ab, holte ein Feuerzeug aus der Tasche und hielt es an den Rand. Er gab es Villiers. »Das sollte besser nicht in andere Hände fallen. Und nun sagen Sie uns das Schlimmste.« Villiers hielt die Aufnahme fest, während sie verbrannte. »Der Alarmstrahl im Park verläuft nur einen guten halben Me ter von der Mauer entfernt. Kein Problem, darüber zu springen. Im Palast selbst ist das Alarmsystem altmodisch und teils de fekt, und um hineinzukommen, braucht man kein Fassadenklet terer zu sein.« Er reichte Ferguson das Foto, das einen Tag vorher gemacht worden war. »Arbeiter lassen Leitern stehen, Hausmädchen lassen Fenster offen – es ist beinahe ein Witz.« Carver studierte mürrisch das Foto. Villiers sagte: »Wir ge hen jetzt ein bißchen spazieren. Lassen Sie sich Zeit.« Er ging mit Jackson zur nächsten Straßenlaterne, wo sie sich eine Zigarette anzündeten. Carver sagte: »Um Himmels willen, wer ist denn das? Er sieht aus wie ein Ganove aus dem East End und redet wie der Cavalry Club.« »Eigentlich ist er Major bei den Grenadier Guards und dem SAS unterstellt«, antwortete Ferguson. »Mit dieser Frisur? Ich meine, haben Sie sich die Haare ange sehen?« »Sondererlaubnis vom SAS. Braucht keinen Haarschnitt. Wenn man im Hafen von Belfast einen Strolch spielen will, ist Tarnung ziemlich wichtig, Superintendent.« »Und er ist wirklich zuverlässig?« »O ja. Zweimal dekoriert. Military Cross für persönlichen Einsatz gegen marxistische Guerillas in Oman und noch mal 10
für irgendeinen Unsinn irgendwo in Irland, Einzelheiten sind Verschlußsache.« Carver hielt das Foto hoch. »Das ist schlecht, sehr schlecht. Es wird Kreise ziehen.« »Wir schicken Ihnen einen umfassenden Bericht.« »Darauf hätte ich wetten können.« Carver stieg aus, und Villiers drehte sich um und ging auf ihn zu. »Eines habe ich nicht erwähnt, Superintendent. Ihren Mann am Ende des Gartens zum Grosvenor Place, der auf Spanner aufpassen soll. Ich habe ihn fesseln müssen. Sie finden ihn in seinen eigenen Handschellen unter einem Baum am Teich. Ihm ist nichts passiert. Ich habe auf dem Rückweg nachgesehen. Sagen Sie ihm, es täte mir leid mit dem Hund.« »Sie Bastard«, zischte Carver. Er lief zu dem Granada, die Tür knallte zu, der Wagen schoß davon. Ferguson sagte: »Steigen Sie ein, Tony. Sergeant Major, ich denke, wir können uns darauf verlassen, daß Sie den Wagen allein loswerden? Ich werde nicht fragen, wo Sie ihn organi siert haben.« »Sir.« Jackson schlug die Hacken zusammen und ging über den Platz zu dem Fernmeldefahrzeug. Villiers stieg hinten in den Bentley, und Fox fuhr los. Fergu son sagte: »Ihr Urlaub ist doch erst in einer Woche um?« »Offiziell, ja.« Ferguson kurbelte das Fenster hinunter und schaute hinaus, während sie um das Königin- Viktoria-Denkmal herumfuhren und auf die Mall bogen. »Haben Sie Gabrielle in letzter Zeit gesehen?« Villiers sagte unbewegt: »Nein.« »Wohnt sie noch in Kensington Palace Gardens?« »Manchmal. Die Wohnung gehört weiterhin mir. Wir haben 11
aber vereinbart, daß sie sie benutzen kann, wenn sie in London ist. Sie hat natürlich noch ihre Wohnung in Paris.« »Es tut mir leid, als ich das mit der Scheidung hörte.« »Es war das Beste, was uns beiden je passierte«, antwortete Villiers nur. »Ist das Ihr Ernst?« »Aber ja.« Ferguson fröstelte und schlug den Mantelkragen höher, kur belte das Fenster aber noch weiter auf, so daß die kalte Mor genluft ungehindert ins Wageninnere drang. »Manchmal frage ich mich, wozu das Leben überhaupt da ist.« »Die Frage kann ich leider nicht beantworten«, sagte Villiers. »Ich lasse es einfach über mich ergehen.« 2
Brigadier Charles Ferguson arbeitete wenn irgend möglich von seiner Wohnung am Cavendish Square aus. Sie war sein großes Hobby. Der Kamin im Adam-Stil war echt, auch das Feuer, das darin brannte. Der Rest war ebenfalls georgianisch. Alles war perfekt abgestimmt, sogar die Vorhänge. Er saß an dem Morgen nach Villiers’ Palasteinbruch um zehn Uhr am Feuer und las die Fina ncial Times, als sein Diener Kim, ein ehemaliger Gurkhasoldat, eintrat. »Mademoiselle Legrand, Sir.« Ferguson nahm seine Lesebrille mit den Halbmondgläsern ab, legte sie und die Zeitung hin und stand auf. »Führen Sie sie herein, Kim, und bitte Tee für drei.« Kim entfernte sich, und einen Augenblick später kam Gabri 12
elle Legrand ins Zimmer. Sie ist die schönste Frau, die ich in meinem Leben gesehen habe, sagte Ferguson sich zum soundsovie lten Mal. Sie trug Reitzeug: Stiefel, abgewetzte Reithosen, ein weißes Hemd und eine alte grüne Jacke aus Donegaltweed. Die blonden Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden und wurden von einem scharlachroten Band aus der Stirn gehalten. Sie sah ihn ernst an, und ihre großen grünen Augen zeigten keinerlei Aus druck, während sie mit der Reitgerte in ihrer linken Hand ans Knie schlug. Sie war nicht klein, mit Stiefeln etwa 1,72 Meter. Ferguson ging herzlich lächelnd auf sie zu und streckte beide Hände aus. »Meine wunderhübsche Gabrielle.« Er küßte sie auf die Wange. »Wie ich höre, nicht mehr Mrs. Villiers?« »Nein«, sagte sie. »Wieder ich selbst.« Ihr Akzent war britische Oberschicht, aber das Timbre ihrer Stimme gab ihm eine sehr persönliche Note. Sie ließ die Gerte auf den Tisch fallen, trat ans Fenster und blickte auf den Platz hinunter. »Haben Sie Tony in letzter Zeit gesehen?« »Ich sollte meinen, Sie hätten ihn gesehen«, sagte Ferguson. »Er ist in der Stadt. Kurzer Urlaub, soweit ich weiß. Hat er nicht angerufen?« »Nein«, sagte sie. »Das würde er nicht tun, nicht, während ich da bin.« Sie blieb am Fenster stehen, und Ferguson sagte sanft: »Was ist bei euch schiefgelaufen, meine Liebe?« »Alles und nichts«, sagte sie. »Vor fünf Jahren glaubten wir, wir könnten nicht ohne einander leben, aber das daue rte nur einen langen heißen Sommer. Ich war hübsch, er war das best aussehende Wesen in Uniform, das ich je gesehen hatte.« »Und dann?« »Es war keine echte Beziehung, einfach nicht die richtige 13
Mischung.« Ihre Stimme war sachlich, aber er hörte Kummer heraus. »Ich mochte Tony, ich mag ihn immer noch, aber ich wurde zu leicht wütend auf ihn, und ich wußte nie, warum.« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Zu viele Löcher, die wir nie füllen konnten.« »Es tut mir leid«, sagte Ferguson. Die Türe wurde geöffnet, und Kim erschien mit einem silber nen Tablett, das er auf den niedrigen Tisch am Kamin stellte. »Ah, Tee«, sagte Ferguson. »Holen Sie Captain Fox aus dem Büro, Kim.« Der Gurkha verließ den Raum, und Gabrielle setzte sich ans Feuer. Ferguson nahm ihr gegenüber Platz und schenkte ihr Tee ein. Sie nahm einen kleinen Schluck und lächelte. »Ausgezeich net. Meine britische Hälfte ist sehr angetan.« »Kaffee ist ein barbarisches Getränk«, belehrte er sie. Er bot ihr eine Zigarette an, doch sie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, ich würde, ehrlich gesagt, lieber sofort zur Sa che kommen. Ich bin zum Mittagessen verabredet. Was möch ten Sie von mir?« In diesem Augenblick trat Harry Fox ein. Er trug einen hell grauen Flanellanzug mit Gardekrawatte und hatte eine Akte in der Hand, die er auf den Schreibtisch legte. »Gabrielle, wie schön, Sie zu sehen.« Er schien sich ehrlich zu freuen und beugte sich nach unten, um ihr einen Kuß auf die Wange zu geben. »Harry.« Sie tätschelte freundschaftlich sein Gesicht. »Was führt Ihr Chef diesmal im Schilde?« Fox nahm die Tasse, die Ferguson ihm reichte, und warf die sem einen fragenden Blick zu. Ferguson nickte, und der junge Captain trat an den Kamin und begann. »Was wissen Sie über die Falklandinseln, Gabrielle?« fragte er. »Im Südatlantik«, sagte sie. »Gut sechshundert Kilometer vor 14
der argentinischen Küste. Argentinien hat sie seit vielen Jahren für sich beansprucht.« »Das stimmt. Britische Kronkolonie, aber bei den zwölftau send Kilometern dazwischen verdammt schlecht zu verteidi gen.« »Übrigens sind dort augenblicklich achtundsechzig Königli che Marineinfanteristen stationiert«, bemerkte Ferguson. »Sie werden verstärkt von der lokalen Verteidigungseinheit und einem Schiff der Royal Navy, HMS Endurance, einem pack eisgeeigneten Patrouillenboot mit zwei Zwanzig-MillimeterGeschützen und ein paar Wasp-Hubschraubern. Die Herrscha f ten im Unterhaus haben in öffentlicher Debatte klargestellt, daß sie beabsichtigen, sie einzumotten, um Geld zu sparen.« »Und sechshundert Kilometer weiter liegen eine erstklassig ausgerüstete Luftwaffe, ein großes Heer und eine Kriegsmarine auf der Lauer«, sagte Fox. Gabrielle zog die Schultern noch. »Na und? Sie me inen doch nicht im Ernst, daß die argentinische Regierung eine Invasion vorhat?« »Ich fürchte, genau das meinen wir«, antwortete Ferguson. »Seit Januar lassen alle Anzeichen darauf schließen, und die CIA ist hundertprozentig überzeugt, daß ein Angriff bevor steht. Es ist ganz logisch. Das Land wird von einer Drei-MannJunta regiert. General Galtieri, Staatspräsident und gleichzeitig Oberbefehlshaber der Streitkräfte, hat versprochen, die Wirt schaft zu sanieren. Dennoch ist das Land so gut wie bankrott.« Fox sagte: »Eine Invasion der Falklandinseln würde das Volk von seiner mißlichen Lage ablenken. Die Leute auf andere Ge danken bringen als Inflation und Arbeitslosigkeit.« »Wie bei den alten Römern«, ergänzte Ferguson. »Brot und Spiele. Den Pöbel bei Laune halten. Noch eine Tasse?« Er schenkte Gabrielle nach. Sie sagte: »Ich sehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun haben soll.« 15
»Es ist sehr einfach.« Ferguson nickte Fox zu, und dieser klappte die Akte auf dem Schreibtisch auf und nahm eine stilvoll gedruckte Einladungs karte heraus, die er ihr reichte: Seine Exzellenz Carlos Ortiz de Rozas, Argentinischer Botschafter am Hof von St. James, gab sich auf englisch und spanisch die Ehre, Mademoiselle Gabri elle Simone Legrand um halb acht Uhr zu Cocktails mit an schließendem kalten Büfett in die Argentinische Botschaft am Wilton Crescent zu bitten. »Ganz in der Nähe von Belgrave Square«, sagte Fox hilfsbe reit. »Heute abend?« sagte sie. »Unmöglich. Ich gehe ins Thea ter.« »Es ist wichtig, Gabrielle.« Ferguson nickte, und Fox holte die Akte, öffnete sie wieder und nahm eine Schwarzweißauf nahme heraus, die er auf den Tisch vor ihr legte. Gabrielle nahm sie. Der Mann, der sie anblickte, trug eine militärische Fliegerkombination, wie Jetpiloten sie haben. In der rechten Hand hielt er einen Fliegerhelm, und er hatte ein Halstuch um. Er war nicht mehr jung, wenigstens vierzig, und er war, wie die meisten Piloten, nicht besonders groß. Er hatte dunkles, welliges, an den Schläfen graumeliertes Haar, einen gelassenen Blick, und seine rechte Wange zierte eine Narbe, die bis zum Auge lief. »Oberst Raul Carlos Montera«, sagte Fox. »Im Moment Luftwaffenattaché mit besonderen Aufgaben an der Argentini schen Botschaft.« Gabrielle starrte auf das Foto. Es war, als betrachtete sie ei nen alten Freund, jemanden, den sie sehr gut kannte, und doch hatte sie diesen Mann bestimmt noch nie in ihrem Leben gese hen. »Erzählen Sie mir etwas über ihn.« »Fünfundvierzig Jahre alt«, sagte Fox. »Aristokrat. Seine 16
Mutter, Dona Elena, spielt eine wichtige Rolle in der Gesell schaft von Buenos Aires. Sein Vater ist letztes Jahr gestorben. Die Familie besitzt weiß Gott wieviel Land und so ziemlich alle Rinder der Neuen Welt. Steinreich.« »Und er ist Pilot?« »O ja, einer von denen, die nicht ohne Steuerknüppel leben können. Mit sechzehn zum erstenmal allein geflogen. Er hat in Harvard einen Magister in Sprachwissenschaft ge macht und ist dann zur argentinischen Luftwaffe gega ngen. Spezialausbildung bei der Royal Air Force in Cranwell. Hat außerdem bei den Südafrikanern und Israelis trainiert.« »Noch etwas Wichtiges«, sagte Ferguson und trat ans Fen ster. »Er ist nicht der übliche südamerikanische Faschist. 1967 trat er aus der Luftwaffe aus. Flog im nigeriaraschen Bürger krieg Dakotas für Biafra. Nachts von Fernando Poo nach Port Harcourt. Bestimmt nicht sehr gemü tlich.« »Dann tat er sich mit einem Schweden zusammen, Graf Gu staf von Rosen. Die Biafraner kauften fünf schwedische Übungsmaschinen, Minicons, und ließen sie mit Maschine ngewehren und anderen Waffen bestücken. Montera war einer von den Verrückten, die sie gegen russische MiG-Jäger flogen, die von ägyptischen und ostdeutschen Piloten gesteuert wur den.« Fox reic hte ihr ein anderes Foto. »Aufgenommen in Port Harcourt, kurz vor dem Ende des Kriegs.« Montera trug darauf eine alte lederne Fliegerjacke aus dem Zweiten Weltkrieg, seine Haare waren struppig, die Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet. Die Narbe auf der Wange wirkte geschwollen, als sei sie ganz frisch. Gabrielle hatte unwillkürlich den Wunsch, ihn anzufassen und zu trösten, diesen Mann, den sie nicht kannte. Als sie das Bild hinlegte, zitterte ihre Hand kaum merklich. »Was genau soll ich tun?« 17
»Er wird heute abend da sein«, antwortete Fox. »Ein offenes Wort, Gabrielle. Es gibt nur wenige Männer, die Ihnen unter normalen Umständen widerstehen können, und wenn Sie sich besondere Mühe geben…« Der Satz blieb unbeendet in der Luft hängen. Sie sagte: »Ich verstehe. Ich soll mit ihm ins Bett gehen, an England denken und darauf warten, daß er etwas Wissenswertes über die Falk landinseln von sich gibt?« »Ziemlich drastisch ausgedrückt, trifft aber ungefähr ins Schwarze.« »Was für ein unmoralischer Mensch Sie sind, Charles.« Sie stand auf und nahm ihre Reitgerte. »Werden Sie es tun?« »Ich denke, ja«, erwiderte sie. »Ich habe das Stück sowieso schon mal gesehen, und um die Wahrheit zu sagen, scheint Ihr Raul Montera sehr interessant zu sein.« Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß, und Fox schenkte sich Tee nach. »Glauben Sie, daß sie es macht, Sir?« »O ja«, sagte Ferguson. »Unsere Gabrielle liebt es, auf der Bühne des Lebens zu stehen. Was wissen Sie überhaupt von ihr, Harry?« »Nun, sie und Tony waren ungefähr fünf Jahre verheiratet.« »Das stimmt. Vater Franzose, Mutter Engländerin. Sie ließen sich scheiden, als sie noch klein war. Sie hörte an der Sorbonne Politologie und Volkswirtschaft und studierte dann ein Jahr am St. Hugh’s College in Oxford. Heiratete Villiers, nachdem sie ihn beim Maiball in Cambridge kennengelernt hatte. Hätte die Einladung zu einem Fest an einer zweitrangigen Universität besser ablehnen sollen. Wie oft hat sie für uns gearbeitet, Har ry?« »Mit meiner Beteiligung nur einmal, Sir. Vier weitere Male für Sie.« »Ja«, sagte Ferguson. »Ein Sprachgenie. Aber nicht gut, 18
wenn es wirklich hart auf hart geht, sei es physisch oder sonstwie. Eine wahre Moralistin, unsere Gabrielle. Was ist eigent lich mit ihren Angehörigen?« »Der Vater lebt in Marseille. Ihre Mutter hat wieder geheira tet, einen Engländer. Sie leben auf der Isle of Wight. Sie hat einen Halbbruder, Richard, zweiundzwanzig Jahre. Hub schrauberpilot bei der Royal Navy.« Ferguson griff zu einer Zigarre und setzte sich an den Schreibtisch. »Ich habe in meinem Leben viele schöne und tüchtige Frauen kennengelernt, Harry, und Sie bestimmt auch, aber Gabrielle ist etwas Besonderes. Für jemanden wie sie kommt nur ein besonderer Mann in Frage.« »Ich fürchte, die sind uns fürs erste ausgegangen, Sir«, sagte Fox. »Nicht nur fürs erste. Sie waren schon immer knapp. Sehen wir mal nach, was das Foreign Office zu bieten hat.« Ferguson setzte die Brille mit den Halbmondgläsern auf. 3
Der prunkvolle Ballsaal der Argentinischen Botschaft wurde von Lüstern mit Kristallprismen beleuchtet, deren Licht sich an den teilweise verspiegelten Wänden vielfach brach. Schöne Frauen in eleganten Abendkleidern; gutaussehende Männer in Galauniformen; ein paar kirchliche Würdenträger in Scharlach rot und Purpur. Es war eine beinahe altertümliche Szene, und die Spiegel schienen verblaßte Erinnerungen an eine vergange ne Epoche zu reflektieren, während die Tänzer sich ohne Ende zu gedämpfter Musik drehten. Das Trio, das in der Ecke des Saals auf einem Podium unter einem Baldachin spielte, war gut und schien immerzu die Stük ke auszuwählen, die Raul Montera liebte. All die alten Erfolgs 19
schlager von Cole Porter, Rodgers und Hart, Irving Berlin. Aber er langweilte sich dennoch. Er entschuldigte sich bei der kleinen Gruppe um den Botschafter, nahm ein Glas Perrier von dem Tablett eines vorbeikommenden Kellners, schlenderte zu einer Säule und lehnte sich, eine Zigarette rauchend, lässig da gegen. Sein Gesicht war bleich, die auffallend blauen Augen waren trotz seiner augenscheinlichen Gelassenheit ständig in Bewe gung. Die schneidige Uniform saß wie angegossen, und die Orden auf seiner linken Brust wirkten eindrucksvoll. Er strahlte Energie aus, eine lauernde Rastlosigkeit, die zu signalisieren schien, daß er derartige Festlichkeiten banal fand und sich da nach sehnte, in Aktion zu treten. Die Stimme des Majordomo übertönte die allgemeine Ge räuschkulisse: »Mademoiselle Gabrielle Legrand.« Montera blickte gleichgültig auf und sah sie in dem goldgerahmten Spiegel vor sich an der Wand. Sie stand im Eingang des Ball saals. Sein Atem stockte, und er war einen Moment wie er starrt, um sich dann langsam umzudrehen und die schönste Frau zu betrachten, die er je in seinem Leben erblickt hatte. Ihre glänzend blonden Haare waren nicht mehr durch ein Stirnband gehalten und zu einem Knoten gebunden wie am Morgen in Fergusons Wohnung, sondern in jenem Stil fr isiert, den Meistercoiffeurs coupe sauvage – wilder Schnitt – nennen: Hinten lang genug, um bis über die Schulterblätter zu hängen, vom kurz und an den Seiten in raffinierten Stufen geschnitten, umrahmten sie ein atemberaubendes Gesicht. Die Augen waren strahlendgrün, die hohen Wangenknochen gaben ihr etwas Skandinavisches, die Lippen waren voll und makellos geformt. Sie trug ein glasperlenbesetztes, silber durchwirktes Kleid von Yves St. Laurent, dessen unregelmäßi ge Saumlinie ein ganzes Stück über dem Knie lag, denn in die ser Saison war Mini wieder letzter Schrei. Sie schritt auf hoch hackigen Silberpumps, und ihre Haltung strahlte eine gewisse 20
unbekümmerte Arroganz aus, die zu sagen schien: Es ist mir egal, ob ihr mich attraktiv findet oder nicht. Raul Montera hatte noch nie eine Frau gesehen, die so sehr den Eindruck machte, es notfalls mit der ganzen Welt aufne h men zu können. Sie hatte ihn nun ebenfalls bemerkt und war sich sofort einer sonderbaren, irrationalen Erregung bewußt, die sie veranlaßte, sich schnell abzuwenden, als suche sie je manden anderen. Sie wurde von einem jungen argentinischen Hauptmann an gesprochen, der offensichtlich schon zuviel getrunken hatte. Montera ließ ihm genug Zeit, ihr lästig zu werden, und ging dann durch Gruppen anderer Gäste zu ihnen. »Das sind Sie ja, mon amie«, sagte er in ausgezeichnetem Französisch. »Ich habe Sie überall gesucht!« Sie schaltete schnell. Sie drehte sich zu ihm, berührte seine Schulter und küßte ihn auf die Wange. »Ich dachte schon, ich hätte mich im Abend geirrt.« »Zu Befehl, Herr Oberst.« Der Hauptmann zog sich verdros sen zurück. Montera sah Gabrielle schelmisch an, und sie muß ten beide lachen. Er nahm ihre Hände und hielt sie leicht in seinen. »Ich nehme an, solche Situationen sind Ihnen nicht neu?« »Ich bin daran gewöhnt, seit ich vierzehn war.« In die grünen Augen trat ein Schatten. Er sagte: »Was Sie nicht gerade für die Angehörigen meines Geschlechts einge nommen haben dürfte?« »Wenn Sie damit fragen wollen, ob ich Männer mag… Nein, eigentlich nicht sehr.« Sie lächelte. »Das heißt, im allgemeinen nicht.« Er musterte ihre Hände. »Oh, sehr gut.« »Was ist denn?« Sie war verwirrt. »Kein Ehering.« 21
Er richtete sich auf und nahm Haltung an. »Oberst Raul Car los Montera, stets zu Ihren Diensten, mein Fräulein, und es wäre nicht nur eine Freude, sondern auch ein großes Privileg für mich, wenn Sie mir diesen und alle anderen Tänze des Abends reservierten.« Er nahm ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche, während das Trio in langsamem Foxtrottempo »Our Love is Here to Stay« zu spielen begann. »Wie passend«, sagte er leise und zog sie an sich. Und darauf gab es nichts zu antworten. Sie tanzten sehr gut miteinander, und sein Arm ruhte federleicht an ihrer Taille. Sie berührte die Narbe auf seiner Wange. »Woher kommt das?« »Granatsplitter«, sagte er. »Luftgefecht.« Sie beherrschte ihre Rolle. »Wo denn? Solange ich lebe, hat Argentinien keinen Krieg mehr geführt.« »Der Krieg anderer Leute«, sagte er. »Vor tausend Jahren. Eine zu lange Geschichte.« Sie berührte die Narbe wieder zärtlich, und er stöhnte le ise und sagte auf spanisch, wie zu sich selbst: »Ich habe zwar schon von Liebe auf den ersten Blick gehört, aber dies ist ver rückt.« »Warum?« erwiderte sie ruhig in derselben Sprache. »Ist das, was die Dichter uns seit Jahrhunderten versichert haben, nicht das einzige, wofür zu leben sich he ute noch lohnt?« »Also auch Spanisch?« fragte er. »Was mag diese Frau sonst noch alles können?« »Englisch«, sagte sie. »Und Deutsch. Mein Russisch ist aller dings nicht fließend. Allenfalls passabel.« »Nicht zu fassen.« »Sie meinen, bei einer hübschen Blondine mit einem guten Körper?« 22
Er registrierte die Bitterkeit in ihrer Stimme und trat zurück, um ihr ins Gesicht zu sehen. Seines zeigte unverhüllte Zärt lichkeit und eine gewisse Autorität. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt habe. Es ist nicht meine Absicht. Ich werde mich bemühen, mir bessere Manieren zuzulegen. Sie müssen mir nur ein bißchen Zeit lassen.« Als die Musik verstummte und er sie von der Tanzfläche führte, war sie sich wieder jener Atemlosigkeit bewußt. »Champagner?« sagte er. »Ich nehme an, da Sie Französin sind, ist er Ihr Lieblingsgetränk.« »Selbstverständlich.« Er schnippte einem Kellner mit den Fingern, nahm ein Glas vom Tablett und reichte es ihr. »Dom Perignon, das Beste, was es gibt. Heute abend versuchen wir, neue Freunde zu gewinnen und alte zu halten.« »Ich denke, Sie haben es nötig«, sagte sie. Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.« »Oh. Haben Sie vorhin nicht die Nachrichten gesehen? Im Unterhaus wurden Fragen über die Falklandinseln gestellt. An scheinend fährt unsere Navy zu Manövern in dem Gebiet.« »Nicht Falklandinseln«, sagte er. »Für uns sind es die Malwi nen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ein alter Streit, es lohnt sich kaum, darüber zu reden. Es ist Sache der Politiker. Ich denke, die Briten werden frühe r oder später eine Vereinbarung mit uns treffen. Wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft.« Sie ließ es dabei bewenden und hakte sich bei ihm unter, ehe sie zu einer Fenstertür gingen und ins Freie traten. Auf dem Weg nahm er wieder ein Glas und reichte es ihr. »Trinken Sie gar nicht?« fragte sie. »Nicht viel und nie Champagner. Bringt mich völlig durch einander. Ich werde alt, wie Sie sehen.« »Unsinn.« »Fünfundvierzig. Und Sie?« 23
»Siebenundzwanzig.« »Großer Gott, wenn ich noch mal so jung sein könnte.« »Alter ist ein innerer Zustand«, sagte sie. »Hermann Hesse hat mal irgendwo geschrieben, so etwas wie Jugend und Alter gebe es nur bei alltäglichen Menschen. Alle begabten und au ßergewöhnlichen Leute seien manchmal jung und manchmal alt, genau wie sie manchmal glücklich und dann wieder traurig seien.« »Wie gebildet«, rief er aus. »Woher kommt das alles?« »Ich war an der Sorbonne und dann in Oxford«, antwortete sie. »Ein Mädchencollege, St. Hugh’s. Weit und breit kein Mann, Gott sei Dank. Jetzt bin ich Journa listin. Freischaffend. Vor allem Illustrierte.« Hinter ihnen spielte das Trio nun »A Foggy Day in Lo ndon Town«. Er fing leise an, die ersten Verse zu singen: »I was a stranger in your tity…« »O nein«, unterbrach sie. »Meine Stadt ist Paris, aber trotz dem hatte Fred Astaire in dem Film recht, als er das Lied sang. Jeder sollte mindestens einmal im Leben die Themse entlang gehen, möglichst nach Mitternacht.« Er lächelte langsam und ergriff ihre Hände. »Eine ausge zeichnete Idee. Aber zuerst sollten wir etwas essen. Sie sehen aus wie ein Mädchen mit gutem Appetit. Wer weiß, was sonst nach dem nächsten Glas Cha mpagner passiert?« Regen prasselte, und am Ende der Straßen sammelten sich Nebelschwaden. Der Trenchcoat, den er für sie aufgetrieben hatte, war schnell durchnäßt, ebenso der Schal, den sie sich um den Kopf gewunden hatte. Montera war noch in Ausgehuni form, die aber nun von einem weiten Offiziersmantel verhüllt wurde. Er trug eine Mütze. Sie waren ein paar Kilometer durch den strömenden Regen gelaufen, während ein geduldiger Chauffeur langsam den Dienstwagen hinter ihnen her steuerte. Sie hatte flache Schuhe 24
an, die er bei einem Zimmermädchen der Botschaft für sie be sorgt hatte. Birdcage Walk, der Palast, der Park von St. James’s. Noch nie hatte Montera die Gesellschaft eines anderen Menschen so sehr genossen… »Sie haben wohl noch nicht genug?« fragte er sie, als sie zur Westminster Bridge gingen. »Nein, noch nicht. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen et was Besonderes versprochen habe?« »Oh, das hätte ich fast vergessen.« Sie kamen zur Brücke und bogen auf das Embankment ein. »Nun, das war’s. Der romantischste Fleck in ganz London. Fred Astaire hätte in dem Film meinen Arm genommen und mir etwas vorgesungen, und das Auto wäre hinter uns am Bordstein entlanggekrochen.« »Wie Sie sehen, hat sich die Verkehrssituation seitdem geän dert«, entgegnete er. »Am Bordstein parken leider viel zu viele Autos.« Über ihnen schlug es vom Big Ben Mitternacht. »Geister stunde«, sagte sie. »Hat Ihnen die kleine Führung gefallen?« Er zündete eine Zigarette an und lehnte sich an die Brüstung. »O ja, ich liebe London. Eine herrliche Stadt.« »Die Bewohner mögen Sie wohl weniger?« Da war er wieder, der ungewöhnliche Scharfblick. Er zuckte mit den Schultern. »Die Briten sind in Ordnung. Ich habe bei der RAF in Cranwell trainiert, und sie waren gut – sie waren sogar die Besten. Das Dumme ist, daß wir Südamerikaner für sie samt und sonders dagos sind, und wenn ein dago ein guter Flieger ist, dann nur, weil sie es ihm gut beigebracht haben.« »Was für ein Unsinn«, sagte sie aufrichtig zornig. »Sie schul den ihnen gar nichts. Sie sind ein großer Pilot. Der beste.« »Bin ich das?« fragte er neugierig. »Woher wollen Sie das wissen?« 25
Der Regen wurde noch heftiger, und er drehte sich um und pfiff dem Wagen. »Ich bringe Sie jetzt besser nach Haus.« »Ja«, sagte sie, »das sollten Sie tun.« Sie nahm seine Hand, und sie liefen zum Auto. Der Pissarro an der Wand des Wohnzimmers in Kensington Palace Gardens war wunderschön. Montera trat mit einem Glas Cognac in der Hand nahe daran und betrachtete ihn aufmerk sam. Gabrielle bürstete sich noch das Haar, als sie aus dem Schla f zimmer kam. Sie hatte einen alten Bademantel an, der ein paar Nummern zu groß war und offensichtlich einem Mann gehörte. Montera sagte: »Tä usche ich mich, oder ist der Pissarro echt?« »Ich fürchte, mein Vater ist abstoßend reich«, antwortete sie. »Elektronik, Rüstung, all das. Sein Firmensitz ist in Marseille, und er verwöhnt mich hemmungslos.« Er musterte den Bademantel und sagte ernst: »Ich hätte nicht erwarten sollen, daß ein Mädchen wie Sie ohne Komplikatio nen das reife Alter von siebenundzwanzig Jahren erreicht. Ich habe mich geirrt. Sie sind sicher verheiratet?« »Geschieden«, sagte sie. »Ach so.« »Und Sie?« »Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben, Leukämie. Ich war immer schrecklich anspruchsvoll, so daß meine Mutter die Sa che in die Hand nahm. Sie ist so – alte Schule. Sie war die Tochter von Freunden der Familie.« »Eine geeignete Partie für einen Montera?« »Genau. Ich habe eine zehnjährige Tochter, Linda. Sie lebt bei ihrer Großmutter und fühlt sich dort sehr wohl. Ich bin lei der kein guter Vater. Zu ungeduldig.« 26
»Das kann ich nicht glauben.« Und dann war er ganz nahe bei ihr, und sie lag in seinen Ar men, seine Lippen streiften über ihr Gesicht. »Ich liebe dich. Frag mich nicht, warum, es ist einfach so. Ich hab noch nie jemanden wie dich kennengelernt.« Er küßte sie, und sie erwiderte den Kuß, aber dann schob sie ihn fort, und eine merkwürdige Angst war in ihren Augen. »Bitte, Raul. Nicht jetzt.« Er nahm zärtlich ihre Hände und nickte. »Natürlich. Ich ve r stehe. Wirklich, glaub mir. Darf ich morgen früh anr ufen?« »Ja, bitte.« Er ließ sie los, nahm seinen Mantel, ging zur Tür und öffnete. Er drehte sich um und lächelte, ein unnachahmliches, kurzes Lächeln von bezwingendem Charme, das sie veranlaßte, durchs Zimmer zu laufen und ihm die Hände auf die Schultern zu le gen. »Du bist so verdammt nett zu mir. Ich bin nicht daran ge wöhnt. Nicht bei Männern. Laß mir Zeit.« »Soviel du möchtest.« Er äl chelte wieder. »Bei dir komme ich mir so sanft und zärtlich vor. Ich staune über mich.« Die Tür ging leise hinter ihm zu. Sie lehnte sich dagegen und war erfüllt von einer tiefen Freude, wie sie sie noch nie emp funden hatte. Montera stieg vor dem Haus in den Botschaftswagen, und der Chauffeur fuhr los. Einen Augenblick darauf trat Tony Villiers aus einem nahen Hauseingang. Er zündete sich eine Zigarette an und sah dem Auto nach, drehte sich dann um und schaute zu den Fenstern der Wohnung hinauf. Während er sie beobachtete, erlosch das Licht. Er blieb noch einen Moment regungslos ste hen und ging dann fort, Brigadier Charles Ferguson saß an einen Kissenhügel gelehnt im Bett und arbeitete einen Riesenstoß von Papieren durch, als das rote Telefon klingelte, das ihn unmittelbar mit seinem Büro 27
in der Zentrale des Sicherheitsdienstes in dem großen anony men, weißverfugten Backsteingebäude im Londoner West End, unweit des Hilton, verband. »Hier Ferguson.« Harry Fox sagte: »Eine Codemitteilung von der CIA in Wa shington, Sir. Sie glauben offenbar, daß die Argentinier die Falklandinseln schon in den nächsten Tagen angreifen wer den.« »So, tun sie das? Was hat das Foreign Office dazu zu sagen?« »Sie halten es für eine ausgemachte Ente, Sir.« »Natürlich, war nicht anders zu erwarten. Haben Sie schon etwas von Gabrielle gehört?« »Noch nicht.« »Ich habe etwas Interessantes für Sie, Harry. Raul Montera ist einer der wenigen Piloten mit Gefechtserfahrung, die die argentinische Luftwaffe hat. Wenn sie tatsächlich etwas im Schilde führen, sollte man doch meinen, daß sie ihn zurückru fen?« »Es wäre schlauer, ihn in London zu lassen, Sir.« »Ich verstehe. Wir sehen uns ja nachher. Wenn wir bis Mittag noch nichts von Gabrielle gehört haben, rufe ich sie an.« 4
Als sie Montera am nächsten Morgen die Tür öffnete, hatte sie gerade gebadet und trug denselben Frotteemantel. Er trug Jeans und eine alte lederne Fliegerjacke. Unfähig, länger zu warten, hatte er schon um acht Uhr angerufen. »Du hast gesagt, Freizeitkleidung.« Sie küßte ihn auf die Wange und nahm das kleine goldene Kreuz an der Kette um seinen Hals in die Hand. »Du siehst umwerfend aus«, sagte sie. 28
»Umwerfend? Ich dachte, das sagt man nur von Frauen.« »Umwerfend«, bekräftigte sie. »Sei kein Sexist. Ich dachte, wir gehen ein bißche n spazieren. Durch Kensington Gardens zu Harrods. Ich muß ein paar Besorgungen machen.« »Sehr gern.« Er zündete sich eine Zigarette an und las die Morge nzeitung, während sie sich ankleidete. Ein Artikel befaßte sich mit der gestrigen Unterhaussitzung und den Fragen, die man der Pre mierministerin über die Falklandinseln gestellt hatte. Interes siert las er ihn und blickte erst auf, als Gabrie lle wieder ins Zimmer kam. Mit ihrem gelben T-Shirt, unter dem sich die Brüste deutlich abzeichneten, einem engen weißen Minirock und hochhackigen Cowboystiefeln bot sie einen atemberaubenden Anblick. Eine Sonnenbrille thronte keck auf ihren blonden Haaren. »Können wir?« sagte sie. »Ja, natürlich«, sagte er, stand auf und öffnete ihr die Tür. Er lächelte. »Du bist eine Frau voller Überraschungen. Hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Oft«, erwiderte sie und trat schnell an ihm vorbei. Die Besucher von Kensington Gardens waren eine auffallend kosmopolitische Schar; man sah beinahe mehr Araber und Asiaten aller Nationalitäten als Einheimische. Viele Leute la gen im Gras, Jungen spielten in der strahlenden Sonne Fußball, und Gabrielle zog überall bewundernde Blicke auf sich. Sie nahm seinen Arm. »Erzähl mir was. Warum fliegst du?« »Es ist das, was ich tun muß.« »Wahrscheinlich hast du zuviel Geld. Jedermann weiß, daß die argentinische Luftwaffe fast nur aus Adeligen besteht. Du könntest alles machen, was du willst.« »Vielleicht kann ich es dir erklären«, begann er. »Als Junge hatte ich einen Onkel, Juan, der Bruder meiner Mutter. Er lebte in Mexico City und war schwerreich, er gehö rte zu einer der 29
ältesten Familien des Landes, aber er hatte von seiner Kindheit an nur eine einzige Leidenschaft.« »Frauen?« »Nein, ich scherze nicht. Stiere. Er wurde Torero, professio neller Stierkämpfer, und war das schwarze Schaf der Familie, weil fast nur Zigeuner oder arme Jungen, die es unbedingt zu etwas bringen wollen, Stierkämpfer werden.« »Und?« »Ich saß einmal bei ihm, als sie ihm vor einem besonderen Kampf auf der Gran Plaza von Mexico City seinen glitzernden Anzug anzogen. Ich zählte die Narben, die die Hörner auf sei nem Körper hinterlassen hatten. Er war neunmal aufgespießt worden. Ich sagte: ›Onkel, du hast doch alles, einen Titel, Geld, Macht – und trotzdem bist du Stierkämpfer. Du stehst jede Woche vor wilden Bestien, die darauf abgerichtet sind, dich zu töten. Warum tust du das?‹« »Und was hat er geantwortet?« »Er sagte, es sei das, was er tun müsse. Mir geht es ebenso. Ich muß einfach fliegen.« Sie berührte die Narbe. »Selbst wenn du fast dabei drauf gehst?« »Oh, damals war ich jung. Tollkühn. Ich glaubte an eine Sa che, an Gerechtigkeit, Freiheit, all diesen schönen Unsinn. Jetzt bin ich alt und verbraucht.« »Das werden wir sehen.« »Soll das ein Versprechen sein?« »Überhör es. Was wurde aus deinem Onkel?« »Oh, er ging einmal zu oft in die Arena.« Sie schauderte zusammen. »Das gefällt mir nicht.« Sie hatte, wie um sich zu beruhigen, seinen Arm fest umfaßt. Sie ließen den Park hinter sich und gingen die Kensington Road hinunter. 30
Er sagte: »Ich habe mich bis jetzt zurückgehalten, aber ich finde, ich sollte dich langsam darauf hinweisen, daß du in die ser Aufmachung schrecklich provozierend aussiehst. Ich ne h me an, das ist Absicht?« »Du Ferkel«, sagte sie lächelnd und hielt seinen Arm noch fester. »Darf man dann nach dem wahren Zweck fragen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle? Ich weiß es im Grunde selbst nicht. Ab und zu macht es Spaß, ein bißchen zu spielen, findest du nicht?« Er blieb stehen und wandte sich ihr zu, während sie seinen Arm immer noch festhielt. »Du bist die schönste Frau, die mir je über den Weg gelaufen ist«, sagte er. »Trotz deiner skanda lösen Aufmachung.« »Sehr freundlich.« »Mach dir nichts draus.« Er küßte sie auf den Mund. »Mein schönes kleines Flittchen. Siehst du nicht, wie sehr ich dich liebe? Ich habe keine Wahl.« In ihren Augen standen Tränen. »O Gott«, sagte sie wütend. »Ich hasse Männer, und du bist so verdammt nett. Ich hab noch nie jemanden wie dich gekannt.« Er winkte einem näherkommenden Taxi. Während es an den Bordstein rollte und hielt, sagte sie: »Was soll das? Wohin fa h ren wir?« »Zurück zur Wohnung«, erwiderte er. »Kensington Palace Gardens. Sehr gute Adresse. Nahe der Russischen Botschaft.« Er lag in ihrem Bett, hatte einen Arm um sie gelegt, beobach tete die weißen Vorhänge, die sich in dem zum offenen Fenster hereinkommenden Luftzug leicht bauschten, und fühlte sich zufrieden, wunschlos glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Auf dem kleinen Nachttisch stand ein Kassettenrecorder. Sie schaltete ihn ein, und Ella Fitzgeralds einzigartige, rauchige und gleichzeitig samtene Stimme sang »Öur Love ist Here to 31
Stay«. »Nur für dich«, sagte sie. »Sehr zuvorkommend«, erwiderte er. Er küßte sie auf die Stirn. Sie stöhnte leise und unendlich be friedigt, drückte ihren Bauch an seinen Schenkel und seufzte. »Es war herrlich. Könnten wir es irgendwann noch mal ma chen?« »Würdest du mir vielleicht Zeit lassen, wieder zu Atem zu kommen?« Sie lächelte und streichelte seinen Bauch. »Der arme alte Mann. Hört ihn euch an. Rück ein bißchen weiter. Ich möchte dich richtig sehen.« Sie lagen einen Meter auseinander, die Köpfe auf demselben Kissen, und ihre weitgeöffneten grünen Augen betrachteten ihn so intensiv, als wolle sie sich den Anblick für immer tief ins Gedächtnis einprägen. »Die Narbe«, sagte sie. »Erzähl mir, wie es war.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin im nigerianischen Bü r gerkrieg von Fernando Poo nach Port Harcourt geflogen. Wir flogen gewöhnlich nachts. Meist Dakotas. Sie brauchten dringend Medikamente und medizinische Instrumente. Es reg nete in Strömen, ein richtiges Unwetter. Mir war ein russischer MiG-Jäger im Nacken. Ägyptischer Pilot, wie ich später he rausfand. Er fing an, auf mich zu ballern, so einfach war es. Nach ein paar Sekunden waren die anderen drei Besatzungs mitglieder tot oder starben. Und ich hab das da abbekommen.« Er zeigte auf die Narbe. »Was hast du getan?« »Bin auf fünfhundert Fuß runtergegangen. Als er wieder da war, hab ich die Landeklappen ausgestellt. Bin praktisch mitten in der Luft stehengeblieben. Um ein Haar wäre ich abge schmiert.« »Und die MiG?« 32
»Hatte keinen Platz mehr, um weiter zu agieren. Sauste über mich hinweg und bohrte sich geradewegs in den Dschungel.« »Schlaues Kerlchen.« Sie fuhr mit dem Finger seine Lippen entlang. Er sagte schläfrig: »Ich möchte ehrlich zu dir sein, kannst du das ver stehen? Ich habe noch nie so gefühlt. Ich möchte alles geben, was ich habe.« Sie empfand einen stechenden Schmerz und verfluchte ihr Doppelspiel, und doch brachte sie es fertig zu lächeln. »Keine Sorge. Schlaf jetzt. Wir haben noch den ganzen Tag für uns.« »Nein«, sagte er, »wir haben den Rest unseres Lebens.« Er lächelte. »Ich habe Städte bei Nacht schon immer geliebt. Das Gefühl, daß etwas Unbekanntes auf einen wartet. Wenn ich als junger Mann nachts in Paris, London oder Buenos Aires spa zierenging, war immer ein Zauber in der Luft, etwas, das mir Kraft gab. Und ich bildete mir ein, mir stünde an der nächsten Ecke irgend etwas Wunderbares bevor.« »Was versuchst du zu sagen?« »Fünfundvierzig«, antwortete er. »Im Juli sechsundvie rzig. Es hat lange gedauert, bis du endlich kamst. Gott sei Dank, daß du es geschafft hast. Ich hab noch gar nicht nach deinem Tier kreiszeichen gefragt.« »Steinbock.« Ihre Arme waren nun um ihn, ihre Lippen lagen auf seiner Stirn. »Löwe und Steinbock«, murmelte er. »Eine unmögliche Kombination. Hoffnungslos.« »Glaubst du das wirklich?« Sie küßte ihn, und einen Auge nblick darauf war er eingeschlafen. Sie stand am Fenster, schaute zum Park hinunter und dachte über ihn nach, als im Wohnzimmer plötzlich das Telefon schrillte. Sie lief hin und nahm ab. Ferguson sagte: »Ah, da sind Sie ja. Haben Sie etwas für uns?« 33
»Nichts«, sagte sie.
»Ist er gerade bei Ihnen?«
Sie holte tief Luft. »Ja, er schläft nebenan.«
»Es scheint etwas im Busch zu sein«, sagte er. »Alles weist
auf eine Invasion dort unten hin. Sind Sie sicher, daß er in London bleibt?« »Ja«, sagte sie. »Absolut sicher.« »Sehr schön. Ich melde mich wieder.« Sie legte auf und haßte Ferguson in diesem Moment mehr, als sie in ihrem ganzen Leben je einen Menschen gehaßt hatte. Da hörte sie einen lauten, scharfen Ruf und fuhr herum und rannte ins Schlafzimmer. Es war realer als alles, was er jemals geträumt hatte. Die Ma schine war in einem katastrophalen Zustand, er wußte es, über all Löcher im Rumpf, Blech und Stahl klapperten in den Tur bulenzen. Er roch Qualm und brennendes Öl. Seine Panik schenkte ihm Kraft, als er sich abmühte, das Plastikgehäuse, das ihn umhüllte, auszuklinken. »Großer Gott, laß mich nicht verbrennen«, dachte er, und dann löste sich das Dach der Kanzel und wurde fortgerissen. Seine Finger, die von seinem eigenen Blut warm waren, ta steten nach dem Hebel, der den Schleudersitz betätigte, und in diesem Moment glitt ein Schatten über ihm vorbei. Flügel schlugen, und er sah einen riesigen Adler, der mit gespreizten Fängen auf ihn niederschoß. In seiner Todesangst schrie er auf. Er erwachte und merkte, daß er in Gabrielles Armen lag. Sie saßen einander in der großen Badewanne gegenüber, vö l lig entspannt, und tranken Tee aus Porzellanbechern. Montera rauchte eine Zigarette. »Der Tee ist ausgezeichnet«, sagte er. »Viel besser für dich als Kaffee.« 34
»Von nun an gibt es keinen Kaffee mehr.« »Ein Adler stößt herab«, sagte sie. »Da gibt es doch nur eins.« »Was denn?« »Landeklappen ausstellen, du hast es mir doch vorhin erzählt. Selbst Adler können das nicht einkalkulieren.« »Genial«, sagte er. »Du wärst bestimmt eine Superpilotin geworden.« Er stand auf und langte nach einem Handtuch. »Und jetzt?« »Ich würde gern noch mal Cats sehen.« »Aber es ist unmöglich, Karten zu bekommen.« »Eine Herausforderung für dich.« »Einverstanden. Und danach gehen wir essen?« »Ja, am besten bei Daphne. Mir ist heute so französisch. Und sorg dafür, daß sie uns eine Nische reservieren.« »Zu Diensten, Senorita«, sagte er. Als er die Fliegerjacke anzog, fiel seine Brieftasche zu Bo den. Einige Papiere rutschten heraus, und ein kleines Foto. Sie nahm es auf und betrachtete es. Die Frau in dem Korbsessel war auffallend gepflegt und perfekt frisiert und strahlte den Hochmut der wahren Aristokratin aus. Neben ihr stand ein kleines Mädchen in einem festlichen, weißen Kleid, unge wöhnlich aufgeschossen, mit großen dunklen Augen. »Deine Mutter ist wunderschön«, sagte Gabrielle. »Viel Ähn lichkeit mit dir. Aber sie sieht aus, als sei mit ihr nicht immer gut Kirschen essen.« »Nicht immer?« Er lachte. »Mit Dona Elena Llorca de Mon tera ist fast nie gut Kirschen essen.« »Nun aber raus mit dir«, sagte sie. »Ich habe noch eine Men ge zu erledigen.« Er lächelte, ging zur Tür und blieb stehen. Als er sich um drehte, lächelte er nicht mehr, sondern wirkte in dem offenen 35
Hemd und der abgewetzten alten Fliegerjacke verletzlich wie ein Kind. »Du siehst wirklich umwerfend aus«, sagte sie. »Ich kann übrigens Karate.« »Eine Runde für dich«, sagte sie, wie einem Reflex fo lgend, ohne nachzudenken. »Sehr gut.« Er küßte sie zärtlich, nahm das Foto, das aus der Brieftasche gerutscht war, und legte es auf den Tisch. »Du kannst es behalten.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Sie starrte zur Decke, dachte an Ferguson und wünschte, er wäre tot. Ferguson saß am Cavendish Square an seinem Schreibtisch und ging mit Fox verschiedene Dokumente durch, als die Tür geöffnet wurde und Villiers an Kim vorbei ins Zimmer eilte, ehe der Gurkha ihn melden konnte. »Mein lieber Tony, Sie sehen ja ganz aufgelöst aus«, sagte Ferguson, nachdem Kim sich zurückgezogen hatte. »Was geht zwischen Gabrielle und diesem Argentinier vor, diesem Montera?« fragte Villiers. »Ich bin ihnen gestern nacht bis zur Wohnung gefolgt, versuchen Sie also nicht zu leugnen. Sie erledigt einen Auftrag für Sie, stimmt’s?« »Das geht Sie nichts an, Tony«, sagte Ferguson. »Und ich dachte, sie kann jetzt machen, was sie will. Ich meine, ohne Sie zu fragen.« Villiers zündete sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. »Gut, ich habe verstanden. Aber ich darf mir vielleicht noch Sorgen machen, ja? Bei dem letzten Job, den sie für Sie erle digt hat, damals in Berlin, wäre sie beinahe für immer in einem Kanal gelandet.« »Aber sie hatte Glück«, sagte Ferguson geduldig, »weil Sie wie üblich im richtigen Moment zur Stelle waren. Der Monte ra-Auftrag ist aber ein ganz kleiner Fisch. Sie soll einfach mö g 36
lichst viele nützliche Info rmationen über die Falklandinseln aus ihm herausholen.« »Wie denn, indem sie mit ihm ins Bett geht?« »Nicht Ihre Sache, Tony. Außerdem gibt es wichtigere Din ge, über die Sie sich Sorgen machen sollten, wenn ich das sa gen darf.« Harry Fox reichte ihm eine Aktennotiz. »Man hat Ihren Ur laub mit sofortiger Wirkung beendet und will Sie so schnell wie möglich wieder in Hereford sehen.« Bradbury Lines in Hereford war die Heimatgarnison des 22. Special Air Service Regiment, der SAS, das vor allem für heik le Sondereinsätze vorgesehen war. »Aber warum, zum Teufel?« fragte Villiers. Ferguson seufzte und nahm die Lesebrille ab. »Ganz einfach, Tony. Ich glaube, Sie werden womöglich früher in den Krieg ziehen, als Sie erwartet haben.« Raul Montera umklammerte in seiner Wohnung an einer Sei tenstraße des Belgrave Square den Hörer und bemühte sich krampfhaft, die Worte des Militärattaches der Bo tschaft zu verarbeiten. »In zwei Stunden geht eine Maschine nach Paris, Raul. Sie dürfen sie auf keinen Fall verpassen. Air France startet heute abend um halb elf nach Buenos Aires. Sie werden daheim ge braucht, mein Freund. Ich schicke Ihnen einen Wagen.« Die Malwinen. Etwas anderes konnte es nicht sein. Jetzt fügte sich das Bild endlich zusammen. Aber da war Gabrielle. Was sollte er mit ihr machen? Meine einzige echte Chance, glück lich zu sein, ist dieses verdammte Leben, dachte er, und die Götter haben entschieden, es zu versauen. Er packte hastig, nur eine Reisetasche mit dem Notwendigen, und als er gerade fertig war, klingelte es. Der Fahrer wartete im Hauseingang, als Montera, immer noch in Jeans und Flieger jacke, das Foyer betrat. 37
»Heathrow, Herr Oberst«, sagte der Chauffeur, als Montera vorne einstieg. »Fahren Sie über Kensington Palace Gardens«, sagte Raul Montera. »Und treten Sie aufs Pedal. Wir haben nicht viel Zeit.« Gabrielle hatte sich noch nicht umgezogen und saß in dem al ten Bademantel vor dem Spiegel, um sich zu schminken. Die Sprechanlage summte. Sie ging zur Tür und nahm den Hörer ab. »Ich bin’s, Raul, ich hab nur einen Moment Zeit.« Sie öffnete die Tür und ahnte, was kommen würde. Die Fahr stuhltür knallte an die Mauerbacke, und er erschien sichtlich nervös, mit flackerndem Blick und verzerrtem Gesicht. »Wir haben nur zwei Minuten. Ich muß eine Maschine nach Paris bekommen. Ich bin nach Buenos Aires zurückgerufen worden.« »Aber warum?« Sie schrie es fast. »Spielt das eine Rolle?« Er packte ihre Arme und küßte sie brutal, wie um seinem Zorn und seiner Frustration Luft, zu machen. »Für mehr hab ich keine Zeit. Ist das Leben nicht die Hölle?« Er drehte sich um und war fort. Die Fahrstuhltür klappte zu. Sie stand eine Weile wie versteinert in der offenen Tür, lief dann ins Schlafzimmer und fing an, sich anzuziehen. Montera wollte in Heathrow gerade die Wartehalle für inter nationale Abflüge betreten, als sie laut und klar seinen Namen rief. Als er sich umdrehte, sah er, wie sie sich – in einer gelben Latzhose, mit zerzaustem Haar und blassem Gesicht – einen Weg durch die Menge bahnte. Sie lief in seine Arme. Er hielt sie einen Moment fest, schob sie dann einen Schritt fort. »Du siehst fabelhaft aus.« »Quatsch«, sagte sie. »Mein Haar ist eine Katastrophe, ich 38
bin nicht geschminkt und habe das Erstbeste angezogen, was ich gefunden habe.« »Fabelhaft«, sagte er. »Hab ich dir schon gesagt, daß ich end lich weiß, was Freude ist, Wonne oder wie immer man es nennt? Ich danke dir dafür.« »Raul, ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.« Er lächelte. »Bei uns gibt es ein Sprichwort: Liebe ist ein Ge schenk, das vierfach erwidert werden muß. Was für eine Last du mir da aufbürdest. Eine wunderbare Last.« Der Lautsprecher über ihnen rief seinen Namen aus. »Wirst du schreiben?« fragte sie. »Es könnte schwierig sein. Aber sorg dich nicht, auch wenn du eine Weile nichts von mir hörst. Es gibt gute Gründe. Ich komme zurück, ich schwöre es dir. Das ist alles, worauf es an kommt.« Sie ging mit ihm zur Sperre, ließ ihn nicht los. Er wandte sich ein letztes Mal zu ihr. »Ich verspreche dir etwas. Dies wird unser letzter Abschied sein. Das letzte Lebewohl. Wenn ich wieder da bin, trennen wir uns nie mehr.« Dann war er fort, und sie drehte ihr Gesicht zu einem Pfeiler und weinte. Einige Sekunden später hastete sie zu den Telefo nzellen und wählte Fergusons Nummer, verwandelte sich in eine andere. »Er ist fort«, sagte sie. »Eben nach Paris abgeflogen, um eine Maschine nach Buenos Aires zu bekommen.« »Ziemlich plötzlich«, bemerkte Ferguson. »Hat er etwas er zählt?« »Nein.« »Sie klingen aufgeregt, Gabrielle.« Da sagte sie ihm ihre Meinung, in einer Sprache, die auf kei ner Töchterschule unterrichtet wird, klipp und klar und sehr laut, knallte den Hörer auf den Haken und ve rließ die Halle. 39
Als sie die Wohnungstür auf schloß und die Diele betrat, kam Villiers aus dem Schlafzimmer. »Entschuldige, daß ich una ngemeldet eingedrungen bin«, sagte er. »Mein Urlaub ist gestri chen worden, und ich muß sofort nach Hereford zurück. Ich brauchte ein paar Sachen.« Er ging wieder ins Schlafzimmer und packte die auf dem Bett stehende Reisetasche zu Ende. Sie war ihm gefolgt, und ihre Wut und Enttäuschung richteten sich auf ihn. »Wieder mal ein paar Kehlen aufschlitzen, ist es das?« »Ich nehme an.« »Wie war es diesmal in Belfast?« »Ziemlich scheußlich.« »Gut – man verdient einander.« Er klappte die Tasche zu und sagte gelassen: »Ich dachte immer, sofern es um uns beide geht, hätte das eine spezielle Bedeutung.« »Nein, Tony«, sagte sie. »Egal, was ich in diesem Leben ve r dient habe, dich habe ich nicht verdient.« »Was hab ich denn getan?« antwortete er. »Welches Verbre chen habe ich begangen, daß du mich so haßt? Denn du haßt mich tatsächlich, ist dir das klar?« »Ich habe einen Fremden geheiratet«, sagte sie. »Oh, du sahst sehr gut in deiner Uniform aus. Tony, aber dann ging es los. Du mußtest dich freiwillig für jeden kleinen Scheißkrieg mel den, der irgendwo entbrannte. Borneo, dann Oman und Irland. Sogar Vietnam, mein Gott. Was ich alles über dich und dein teures SAS erzählen könnte, wenn es die Geheimhaltungsbe stimmungen nicht gäbe.« Sein Gesicht war fahl. »Das bringt uns nicht weiter.« »Eines kannst du, Tony. Für eines eignest du dich, aber nur für eines: Menschen umbringen.« Er zeigte auf das Bett, auf dessen zerknautschten Kissen 40
Montera vorhin gelegen hatte, und hob das ge lbe T-Shirt und den weißen Rock hoch, die dort lagen, wohin sie sie fallen ge lassen hatte. »Ich hab schon mal was von Pflichterfüllung gehö rt, Gabrie l le, aber das hier scheint mir ein bißchen übertrieben zu sein.« Ihr Gesicht verkrampfte sich, sie verlor die Fassung und sank aufs Bett. »Aber ich liebe ihn, Tony. Ich habe nie gewußt, daß Liebe so sein kann. Und jetzt ist er fort. Er ist fort.« Er nahm die Tasche und kam sich, der grenzenlosen Trostlo sigkeit in ihrer Stimme bewußt, absolut hilflos vor. Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein, was ihr helfen könnte, so daß er sie ihrer Verzweiflung überließ, sich umwandte und ging. Ferguson, der immer noch hinter seinem Schreibtisch saß, reckte sich müde. Papier und immer noch mehr Papier. Es schien niemals aufzuhören. Er stand auf und ging ans Fenster und schaute zum Platz hinunter. Die Tür des kleinen Büro raums hinter ihm wurde geöffnet, und Fox eilte ins Zimmer. »Funkspruch, Sir. Einheiten der argentinischen Flotte haben sich vom Manöververband gelöst und Kurs auf die Falklands genommen.« Er reichte Ferguson die Depesche. »Was bedeutet das Ihrer Meinung nach, Sir?« »Nun, ich hoffte, daß ich es in meinen Leben nicht noch ein mal sagen muß, Harry, aber ob Sie es glauben oder nicht, ich denke, es bedeutet Krieg.«
5
Ein kalter Wind peitschte über die Seine und trieb Regentrop fen gegen die Fenster des rund um die Uhr geöffneten Cafés an der Brücke. Es war ein schäbiges Etablissement, das Prostitu 41
ierte gern besuchten, aber nicht in einer solchen Nacht oder vielmehr an einem solchen Morgen, denn es war beinahe fünf Uhr. Der Kneipier stützte die Ellbogen auf die zinkbelegte Theke und las Zeitung, und Nikolaj Below, der einzige Gast, saß an einem Ecktisch und trank Kaffee. Below, Anfang Fünfzig, war seit zwölf Jahren als Kulturatta che an der Sowjetischen Botschaft in Paris akkreditiert. Sein dunkler Anzug war englisch geschnitten, wie auch der ausge zeichnet sitzende dunkelblaue Mantel. Er war ein gutaussehe nder, ziemlich bulliger Mann mit einer Silbermähne, die ihn eher wie einen Scha uspieler wirken ließ, nicht aber wie das, was er in Wahrheit war – Oberst des KGB. Der Kaffee war gut, und er sagte zu dem Barkeeper: »Bitte noch einen und einen Cognac. Ist das schon die Frühausgabe?« Der Barkeeper nickte. »Um vier Uhr morgens frisch aus der Presse. Sie können reinschauen, wenn Sie wo llen. Da unten auf den Falklandinseln sieht es schlecht aus für die Briten.« Below trank genießerisch von seinem Cognac und las die er ste Seite. Argentinische Skyhawks hatten die britischen Trup pen in San Carlos und im Falkland-Sund bombardiert. »Wissen Sie, diese Exocets sind entscheidend«, sagte der Barkeeper. »Was für eine Waffe, und rein französisch. Sie wird aus über sechzig Kilometern Entfernung abgefeuert und saust knapp drei Meter über dem Meer fast mit Schallgeschwindig keit darüber. Das verdammte Ding trifft immer.« Was nicht ganz stimmte, aber Below hatte keine Lust zu streiten. »Auf die französische Technologie!« Er hob das Glas, und der Mann hinter der Theke erwiderte den Trinkspruch. Die Tür ging auf, ein Windstoß wehte Regen herein, und ein kleiner dunkelhaariger Mann mit einem ausgemergelten Ge sicht und Schnurrbart betrat hastig den Raum. Sein Trenchcoat war durchnäßt, und er hatte Schwierigkeiten, seinen Rege n 42
schirm zuzuklappen. Er hieß Juan Garcia und war Erster Bot schaftssekretär in der Wirtschaftsabteilung der Argentinischen Botschaft in Paris. In Wahrheit war er Major des militärischen Nachrichtendienstes seines Landes. »Nikolaj.« Mit ungeheuchelter Herzlichkeit streckte er die Hand aus. »Schön, Sie zu sehen!« Sein Französisch schien per fekt zu sein. »Ganz meinerseits«, antwortete Below. »Probieren Sie den Kaffee. Er ist ausgezeichnet, und wenn Sie dazu einen Cognac nehmen, schützen Sie sich davor, eine Erkältung zu bekom men.« Er nickte dem Barkeeper zu, zündete eine Zigarette an und wartete, bis Garcia seinen nassen Mantel ausgezogen hatte. Der Barkeeper brachte Kaffee und den Cognac und verschwand in der Küche hinter dem Gastzimmer. »Sie sagten, es sei dringend«, sagte Below. »Hoffentlich stimmt das. So früh am Morgen aufzustehen, ist eine Strafe.« »Es ist dringend«, erklärte Garcia. »Von größter Wic htigkeit für mein Land. Haben Sie schon die Zeitung gelesen?« »Ja, das habe ich. Sie scheinen unseren britischen Freunden schwer einzuheizen. Eine Fregatte versenkt und ein Zerstörer beschädigt. Sie sammeln Punkte.« »Die Briten leider auch«, entgegnete Garcia. »Bisher schafft es nur etwa jeder zweite von unseren Skyhawks, zur Basis zu rückzukehren. Die Verlustquote ist una nnehmbar.« »Sie werden, offen gesagt, bald nicht mehr wissen, wo sie Pi loten hernehmen sollen. Andererseits bleibt der britischen Flot te nichts anderes übrig, als so gut wie eben möglich im Falkland-Sund und vor San Carlos auszuhalten, und Sie haben im mer noch die Exocets. Der Angriff auf die Sheffield spricht für sich!« »Aber wir haben nicht genug«, sagte Garcia. »Wir haben zwei auf die Sheffield abgeschossen, und eine ist danebenge 43
gangen. Bei anderen Angriffen hat gar keine getroffen. Es dau ert seine Zeit, sich an solch eine Waffe zu gewö hnen. Aber ich glaube, wir haben jetzt langsam den Bogen raus. Wir haben die richtige Hilfe gehabt.« »Französische Experten?« »Präsident Mitterrand würde es abstreiten, aber es stimmt, die Franzosen haben uns bei den Abschußgeräten und Kontrollsy stemen geholfen. Und wir haben natürlich eine Staffel SuperEtendard-Bomber, ohne die es überhaupt nicht gegangen wäre. Ich bin kein Techniker, aber es scheint, ihr Radarsystem ist mit der Exocet kompatibel, was bei einer Mirage zum Beispiel nicht der Fall ist.« Below spürte, daß ihm noch etwas anderes auf der Zunge lag. Leise sagte er: »Erzählen Sie ruhig weiter, Juan.« Garcia rührte seinen Kaffee um und rang sichtlich mit sich selbst. »Vor ein paar Tagen hat eine Sondereinheit der Royal Air Force ein Kommandounternehmen gegen unseren Stütz punkt in Rio Gallegos geflogen. Sie haben es geschafft, sechs Super Etendards zu zerstören.« Below, der seit einigen Tagen in allen Einzelheiten über den Angriff informiert war, nickte mitfühlend. »Das muß Ihre Kampfkraft ernstlich schwächen.« »Wir haben die anderen Etendards natürlich auf geheime Ba sen verlegt. Und wir haben immer noch genug, um die Sache zu erledigen.« »Und die wäre?« »Die Briten haben zwei Flugzeugträger, die Hermes und die Invincible. Wenn einer davon versenkt wird, können sie den Luftraum nicht mehr genügend decken. Sie müßten ihre Flotte zurückziehen.« »Und Sie denken, das sei zu machen?« »Unsere Fachleute sagen, es sei nur eine Frage der Zeit, aber wir brauchen unbedingt mehr Exocets.« Er hämmerte plötzlich 44
mit der Faust auf den Tisch. »Die ihnen die Franzosen nicht geben werden, da die Euro päische Gemeinschaft Druck auf sie ausübt.« »Genau.« »Ich habe gehört, die Libyer wollen helfen.« »Sie wissen doch, wie dieser Ghaddafi ist. Viel Gequassel und nichts dahinter. Oh, vielleicht tut er zuletzt doch etwas, aber dann wird es zu spät sein.« Eine Pause entstand. Below zündete sich eine amerikanische Zigarette an. »Was möchten Sie also von mir, mein Freund?« fragte er eindringlich. »Ihre Regierung hat uns bereits geholfen, wenn auch sehr diskret. Satellitenaufklärung und dergleichen, alles sehr nütz lich. Wir wissen, daß Sie in dieser Angelege nheit auf unsere Seite sind.« »Nein, Juan«, sagte Below. »Hierbei ergreifen wir nicht Par tei.« Garcia zeigte seine Erbitterung. »Um Himmels willen, tun Sie doch nicht so. Sie wollen doch auch, daß die Briten eine Niederlage erleiden. Es wird Ihnen sehr zustatten kommen. Eine Niederlage würde doch katastrophale psychologische Auswirkungen auf die NATO haben.« »Was möchten Sie also?« »Exocets. Ich habe genug Geld, um zu bezahlen. Konten in Genf, jede beliebige Währung, notfalls auch Gold. Alles, was ich von Ihnen haben möchte, ist ein Name, ein Kontakt. Sagen Sie bitte nicht, Sie könnten nichts tun.« Nikolaj Below fixierte ihn einen Moment und sah dann auf seine Uhr. »In Ordnung, ich werde sehen, was ich machen kann. Ich melde mich nachher. Aber nicht in der Botschaft. Seien Sie in Ihrer Wohnung.« »Sie meinen, Sie hätten jemanden?« 45
»Vielleicht. Gehen Sie jetzt. Ich warte noch ein wenig.« Garcia verließ das Café. Die Tür klappte hinter ihm zu, und der Luftzug wehte ein Blatt Papier, das in einer Ecke gelegen hatte, durch den Raum. Below schauerte zusammen, blickte sich angewidert in der schmuddeligen Umgebung um und stand auf. Der Kneipier kam aus der Küche. »Wünschen Sie noch et was, Monsieur?« »Ich denke nicht.« Below ließ einen Geldschein auf die The ke fallen und knöpfte seinen Mantel zu. »Ich möchte wissen, ob der liebe Gott wirklich wußte, was er tat, als er solche Mor gen schuf.« Er machte die Tür auf und eilte hinaus. Below hatte ein Penthaus in einem luxuriösen Gebäude am Boulevard St.-Germain, das er sofort nach seinem Treff mit Garcia aufsuchte. Er war müde und fror, und die Aussicht, von Irana Wronsky empfangen zu werden, erfüllte ihn mit einem wollüstigen Kitzel. Sie war eine hübsche, etwas mollige Frau, fünfunddreißig Jahre und unleugbar attraktiv. Sie war seit rund zehn Jahren seine Sekretärin und hatte ihn binnen vier Wochen nach ihrer Versetzung an die Seine verführt. Sie war ihm un eingeschränkt ergeben. Als sie ihm die Tür aufmachte, trug sie einen schicken Mor genmantel aus schwarzer Seide, der sich bei jedem Schritt vorn öffnete und schwarze Strümpfe und Strapse freigab. Below nahm sie in die Arme. »Du duftest herrlich.« Ihr Gesicht war besorgt. »Nikolaj, du bist eiskalt. Ich mach dir einen Kaffee. Was gab’s denn?« »Zuerst Kaffee«, erwiderte er. »Wir gehen zu Bett, und du wärmst mich. Dann sage ich dir, was Garcia wollte, und du kannst deinen oft erprobten Verstand arbeiten lassen.« Später stützte sie sich im Bett auf einen Ellbogen hoch, sah zu, wie er seine Zigarette rauchte, und sagte nach ein paar Mi 46
nuten: »Warum willst du dich überhaupt damit abgeben, Niko laj? Das ist doch eine Bande von blutrünstigen Faschisten, da unten in Buenos Aires. Die herrschenden Militärs haben Ta usende von Menschen verschleppt und gefoltert und ermordet. Mir wären die Briten viel lieber.« »Wenn du so weiterredest, werde ich noch überla ufen, nur damit du in Kensington wohnen und jeden Tag bei Harrods einkaufen kannst.« Er lächelte und wurde dann wieder ernst. »Es gibt mehr als einen Grund, daß wir uns für die Sache inter essieren. Ein Minikrieg, an dem wir nicht unmittelbar beteiligt sind, ist immer nützlich, besonders wenn dabei zwei antikom munistische Länder aufeinander losgehen. Wir erfahren zum Beispiel eine Menge technischer Einzelheiten über Waffens y steme und dergleichen.« »Sehr vorteilhaft.« »Noch vorteilhafter ist dies, Irana. Ob Exocets oder nicht, die Briten werden siegen. Die argentinische Luftwaffe hat zwar Großartiges geleistet, aber ihre Flotte bleibt in den Häfen, und ihre Besatzungstruppen auf den Falklandinseln bestehen weit gehend aus wehrpflichtigen Rekruten. Mir graut bei dem Ge danken, was die britischen Marineinfanteristen und Fallschirm jäger mit ihnen machen werden, wenn sie erst mal loslegen.« »Was willst du also sagen? Daß du ihm nicht helfen wirst?« »Im Gegenteil. Ich bin dafür, ihm genau das zu geben, was er haben möchte, aber man müßte es so hindrehen können, daß es die Militärjunta in Buenos Aires diskreditiert. Wenn wir die Militärs stürzen könnten, könnten vielleicht die Arbeiter die Macht ergreifen, natürlich mit Hilfestellung von uns…« »Mein Gott«, sagte sie. »Du hast wirklich Phantasie. Du siehst bereits russische Flotteneinheiten in Rio Gallegos, die den südlichen Atlantik kontrollieren!« »Ja, es wäre eine gute Sache, nicht wahr?« Er blieb noch eine Weile liegen, und sie streichelte mit der 47
Rechten seinen Oberschenkel und Bauch. Plötzlich schob er ihre Hand fort und sagte aufgeregt: »Ich hab’s. Bobst. Er ist wie geschaffen dafür. Wo ist er?« »Ich glaube, er ist diese Wo che in London.« »Ruf ihn an. Sag ihm, er soll sofort nach Hea throw fahren und die nächste Maschine nach Paris nehmen. Ich möchte ihn noch vor Mittag hier sehen.« Sie stieg aus dem Bett und ging zum Telefon, während Below sich zufrieden über seinen Einfall eine neue Zigarette anzünde te. Ralph Bobst war ein Bild von Mann, fast 1,90 Meter groß, mit breiten Schultern und dunklen, über die Ohren zurückge kämmten Haaren. Als Präsident der Bobst Development Cor poration spielte er eine wichtige Rolle in der britischen Fi nanzwelt und war in der Londoner City sehr angesehen. Jedermann kannte seine Geschichte. Er war Australier und stammte aus einem kleinen Nest in Queensland. Er hatte zwei Jahre bei den australischen Truppen in Korea gedient und war dann in chinesische Kriegsgefangenschaft geraten. Nach seiner Freila ssung zwei Jahre später ging er nach London, wo er beim Immobilienboom der sechziger Jahre seine erste Million mach te. Seitdem war er immer reicher geworden und hatte sein Tä tigkeitsgebiet ständig erweitert. Inzwischen hatte er seine Fin ger ebenso im Reedereiwesen wie in der elektronischen Ind u strie. Die Medien liebten ihn, und die Presse brachte oft Fotos, die ihn beim Polo, beim Moorhühnerschießen in Schottland, mit Leinwandstars bei einer Filmpremiere oder sogar mit Mitglie dern der Königsfamilie bei Wohltätigkeitsveranstaltungen zeig ten. Kaum zu glauben, daß dieser großzügige und populäre Mann in Wahrheit ein gewisser Viktor Martschuk war, ein Ukrainer, der seine Heimat dreißig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Russen unterhalten in der UdSSR eine ganze Re ihe von Spionageschulen mit nationalem Charakter – aber nationalem 48
Charakter westlicher Prägung. In Glazyna beispielsweise wer den künftige Agenten für englischsprachige Länder ausgebildet und arbeiten in einer pseudoenglischen Umgebung, damit sie sich später bei ihrem Einsatz schne ller zurechtfinden. Der echte Ralph Bobst, ein Waisenkind ohne Verwandte, war aus dem chinesischen Kriegsgefangenenlager nach Glazyna gebracht worden, wo Martschuk ihn studieren konnte wie ein Versuchstier in einem Forschungslabor. Die Russen ließen Martschuk an seiner Stelle in das chinesische Lager in der Mandschurei zurücktransportieren, und dort mußte er wie alle anderen Gefangenen in einer Kohlengr ube schuften. Die fünf Soldaten von Bobsts Einheit, die zusammen mit diesem in Ge fangenschaft geraten waren, lebten inzwischen alle nicht mehr, so daß kein Mensch den ausgemerge lten und krank wirkenden Mann identifizieren konnte, der ein Jahr später entlassen wur de. Er strotzte jedoch vor Leben, als er sich an diesem Tag kurz vor Mittag reckte, vom Sofa aufstand und ans Fenster von Be lows Penthaus trat. »Interessante Möglichkeiten.« »Glauben Sie, Sie könnten etwas machen?« fragte Below. Bobst zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich möchte mit diesem Garcia reden. Sagen Sie ihm, er soll alles mitbrin gen, was er über die Exocet-Angelegenheit dabei hat. Dann werden wir sehen.« »Gut«, antwortete Below. »Ich habe gewußt, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Ich werde ihn vom Arbeitszimmer aus anrufen. Bis gleich.« Er ging hinaus, und Irana brachte frischen Kaffee. Ihr Haar war mit einer schwarzen Samtschleife zurückgebunden, und ihr glatter grauer Rock, die weiße Bluse und die dunklen Seiden strümpfe unterstrichen ihre Re ize. Bobst faßte sie um die Taille, zog sie an sich und strich über 49
ihre Brüste. »Kümmert Nikolaj sich auch richtig um dich?« sagte er auf russisch. »Wenn nicht, brauchst du mir nur Bescheid zu sagen. Ich helfe gern.« »Alter Wüstling«, sagte sie. »Das hab ich schon mal irgendwo gehört«, erwiderte er la chend, während sie das Zimmer bereits wieder ve rließ. Juan Garcia saß mit Nikolaj Below am Fenster und trank Kaffee, ohne etwas zu sagen, während Ralph Bobst an der an deren Seite des Raums in einem Ohrensessel am Kamin saß und die umfangreiche Akte durcharbeitete, die der Argentinier mitgebracht hatte. Nach einer Weile klappte der Australier das Dossier zu und griff nach einer Zigarette. »Nicht gerade alltäglich. Die Eten dard wird von den Dassault-Werken hergestellt, an denen der französische Staat eine Mehrheitsbeteiligung von einundfünf zig Prozent hat.« »Das stimmt«, sagte Garcia. »Und die Exocet wird von einem staatlichen Unternehmen produziert, der Industrie Aerospatiale, deren Präsident General Jacques Mitterrand ist, der Bruder des französischen Staatsprä sidenten. In Anbetracht der Tatsache, daß die französische Re gierung ihre Rüstungslieferungen an Argentinien fürs erste eingestellt hat, eine pikante Situation.« Garcia sagte: »Wir hatten aber insofern Glück, als ein Team französischer Techniker schon vor Ausbruch der Feindseligkei ten in unserem Land war. Sie sind in Bahia Bianca stationiert und haben uns bei der Aufstellung der Abschußgeräte und Kontrollsysteme und bei den Testflügen unschätzbare Hilfe geleistet.« »Und wie ich der Akte entnehme, hatten Sie noch andere Hil fe. Dieser Dr. Paul Bernard scheint Ihnen Informationen gelie fert zu haben, die für den Erfolg des Unternehmens unerläßlich 50
sind.« »Eine genialer Elektronikingenieur«, antwortete Garcia. Er war früher Leiter der Forschungsabteilung von Aerospatiale. Jetzt ist er Professor an der Sorbonne.« »Seine Motive würden mich interessieren«, sagte Bobst. »Warum hat er es getan? Geld?« »Nein, er scheint die Briten nicht zu mögen. Er rief an dem Tag in der Botschaft an, als Präsident Mitterrand das Embargo verkündete. Er bot uns an, alles zu tun, um uns zu helfen.« »Interessant«, sagte Bobst. »In diesem Land stehen viele Leute auf unserer Seite«, fügte Garcia hinzu. »Frankreich und England hatten noch nie eine besonders herzliche Beziehung.« Bobst klappte die Akte wieder auf und studierte stirnrunzelnd ein Dokument. Below bewunderte die Show, die er abzog, und wartete. Garcia sagte endlich: »Können Sie uns helfen?« »Ich denke, ja. Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen. Natürlich auf rein geschäftlicher Basis. Wer bei diesem Kon flikt recht hat oder nicht, ist mir offen gesagt schnuppe. Wenn ich etwas arrangiere und Ihnen ein paar Exocets besorgen kann, dürfte es Sie so um die zwei oder drei Millionen kosten.« »Dollar?« fragte Garcia. »Mein Hauptquartier ist die City in London, Senor Garcia«, entgegnete Bobst. »Ich rechne also in Pfund Sterling ab. Und in Gold. Haben Sie soviel zur Verfügung?« Garcia schluckte. »Kein Problem. Die notwendigen Mittel sind im Augenblick in Genf.« »Sehr gut.« Bobst stand auf. »Ich würde gern mit Professor Bernard sprechen.« »Wann?« fragte Garcia. »Sobald wie möglich.« Bobst sah auf seine Uhr. »Sagen wir, 51
heute nachmittag um zwei. Irgendwo, wo alles gut zu überblik ken ist.« »Um zwei?« Garcia überlegte krampfhaft. »Ich weiß nicht. Es ist sehr kurzfristig. Vielleicht paßt es ihm dann nicht.« »Dann vereinbaren Sie etwas, das ihm paßt«, antwortete Bobst barsch. »Sie haben es doch auch eilig, oder vielleicht nicht? Wenn wir etwas machen können, müßte es in einer Wo che oder spätestens zehn Tagen passieren. Ich nehme an, da nach würde es zu spät sein. Meinen Sie nicht?« »Selbstverständlich«, sagte Garcia hastig und wandte sich an Below: »Kann ich mal telefonieren?« »Im Arbeitszimmer.« Garcia ging hinaus. Below sagte: »Sie haben eine Idee, denke ich?« »Schon möglich«, antwortete Bobst. »Da ist etwas in der Ak te, das sich hervorragend für unsere Zwecke eignet.« »Ich nehme an, Sie sind in Ihrer Wohnung in der Rue de Ri voli?« »Genau. Wanda ist vorausgefahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.« »Wie geht es ihr? Ist sie immer noch so schön und verführe risch?« »Wäre sie sonst noch bei mir?« Below lachte. »Ich möchte wissen, was Sie tun würden, wenn man Sie nach all diesen Jahren nach Moskau heimriefe?« »Heim?« sagte Bobst. »Wo ist das? Außerdem würden sie das nie tun. Ich bin hier viel zu wertvoll. Sie wissen doch, ich bin der Beste, den sie haben.« Below schüttelte den Kopf. »Ich begreife Sie nicht, Ralph. Warum machen Sie all das? Sie sind gewiß kein Patriot, und Sie haben mir oft genug gesagt, daß Sie Politik als Spiel be trachten.« 52
»Als das beste Spiel, das es gibt«, sagte Bobst. »Ich ste jede Minute aus. Es macht mir Spaß, jemanden schlagen, Nikolaj, egal wen. So einfach ist das.« Below nickte. »Ich glaube Ihnen. Wirklich. Haben Kemal mitgebracht?« »Er wartet unten im Auto.« Die Tür des Arbeitszimmers wurde geöffnet, und Garcia kam zurück. »Alles in Ordnung«, sagte er, »Bernard wird kom men.« Der Treff mit Bernard war auf einem Touristendampfer auf der Seine, und wegen des dichten Regens waren nur wenige Touristen an Bord. Bobst und Bernard saßen, eine Flasche Sancerre zwischen sich, an einem Tisch unter einem Zeltdach am Heck. Einige Meter weiter lehnte ein Mann an der Reling, der noch größer war als Bobst und anscheinend nur Augen für die langsam vorbeigleitende Stadt hatte. Er trug einen Rege nmantel über einem dunkelblauen Anzug mit gedeckter Krawat te und weißem Hemd. Sein graues Haar war millimeterkurz geschoren, und er hatte ein flachknochiges Gesicht mit leicht geschlitzten Augen und geblähten Nasenlöchern, das ihm etwas Mongolisches gab. Dies war Yanni Kemal, halb Türke und halb weiß Gott was. Er hatte in Algier bei der Fremdenlegion als Fallschirmjäger gedient und war französischer Staatsbürger geworden. Er war ein außerordentlich gefährlicher Mann und diente Bobst nun schon seit zehn Jahren als Chauffeur, Leibwächter und Helfer bei heiklen Aufträgen. Professor Bernard sagte: »Ich dachte, Garcia würde auch hier sein?« »Nicht nötig«, erklärte Bobst. »Ich habe alles gehört, was er zu erzählen hatte. Die Argentinier brauchen dringend mehr Exocets.« »Kann ich mir vorstellen. Und was haben Sie mit dieser An 53
gelegenheit zu tun, wenn ich fragen darf?« »Sie haben mich gebeten, ihnen welche zu bescha ffen. Und nun gestatten Sie, daß ich Sie etwas frage. Sie haben ihnen bereits sehr geholfen, und zwar in einem Ausmaß, das für einen Mann in Ihrer Stellung verhängnisvoll sein könnte. Warum haben Sie ein solches Risiko auf sich genommen?« »Weil ich das Waffenembargo für falsch halte. Die Regie rung hatte Unrecht. Wir hätten nicht Partei ergreifen sollen.« »Aber Sie haben es getan. Warum?« Bernard zuckte mit den Schultern. »Ich mag die Engländer nicht.« »Genügt nicht.« »Genügt nicht?« Bernard hatte zornig die Stimme erhoben, so daß Kemal sich von der Reling abwandte und sie beobachtete. »Ich werde Ihnen etwas über die Engländer erzählen, 1940 sind sie davongelaufen. Haben uns den Deutschen überlassen. Als die Boches unser Dorf erreichten, versuchten mein Vater und ein paar andere zu kämpfen. Eine Handvoll Bauern mit Geweh ren aus dem Ersten Weltkrieg. Sie haben sie auf dem Markt platz erschossen. Meine Mutter und die meisten anderen Frau en wurden ins Gemeindehaus geschleppt, wo sich die Soldaten über sie hermachten. Ich war damals zehn Jahre alt. Es ist la n ge her, aber ich höre ihre Schreie immer noch.« Er spie in den Fluß. »Fangen Sie also nicht an, mir etwas über die Briten zu erzählen.« Bobst hätte nicht zufriedener sein können. »Schrecklich«, sagte er. »Jetzt verstehe ich Sie.« »Aber Sie«, sagte Bernard. »Sie sind doch Engländer. Ich be greife nicht ganz.« »Australier«, antwortete Bobst. »Ein großer Unterschied. Und Weltbürger und Geschäftsmann, kommen wir also zum Geschäftlichen. Erzählen Sie mir etwas über die Ile de Roc.« »Ile de Roc?« Bernard sah ihn verwirrt an. 54
»Dort werden die neuesten Exocets getestet, nicht wahr? Sie haben es doch Garcia gesagt. Es steht in einem Gesprächspro tokoll. « »Ach so, natürlich. Es ist eigentlich gar keine Insel, sondern nur ein großer Felsen, etwa fünfundzwanzig Kilometer vor der bretonischen Küste, südlich von St. Nazaire. Wenn Sie nach Westen aufs Meer schauen, kommt lange Zeit nur der Atlantik und dann Neufundland.« »Wie viele Leute?« »Höchstens fünfunddreißig. Techniker von Aerospatiale und Truppen vo n Raketenregimentern. Es ist eine Militäreinric h tung, nicht mal geheim.« »Sind Sie schon einmal da gewesen?« »Gewiß. Mehr als einmal.« »Und wie kommt man hin? Mit dem Flugzeug?« »O nein, unmöglich. Es gibt keinen Platz zum La nden, das heißt, nicht ganz. Das Fliegerkorps der Armee hat es einmal geschafft, mit kleinen Maschinen bei Ebbe auf dem Strand auf zusetzen. Aber es war keine praktikable Lösung. Selbst Hub schrauber haben Schwierigkeiten, weil von den Klippen dau ernd Böen herunterfegen. Das Wetter ist fast immer saumäßig, aber die Abgelegenheit der Insel war natürlich ein notwendiger Faktor. Meist kommt man per Motorboot aus St. Martin, einem Fischerdorf.« Bobst nickte. »Angenommen, ich müßte wissen, was in der nächsten Woche oder so auf der Ile de Roc lo s ist. Könnten Sie es herausbekommen? Sind Ihre Kontakte noch heiß?« »Sehr«, sagte Bernard. »Ich denke, ich könnte Ihnen in kür zester Zeit alle Informationen beschaffen, die Sie brauchen.« Bobst schenkte nach. »Dieser Sancerre ist wirklich ausge zeichnet.« Er blickte zu Kemal hinüber. »Ich denke, wir ne h men noch eine Flasche.« Er zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich behaglich zurück und sagte zu Bernard: »In Ord 55
nung, und jetzt erzählen Sie mir etwas über die Insel. Was ha ben Sie zum Beispiel bei Ihrem letzten Aufenthalt gesehen und gehört?« Wanda Jones war ein graziles Mädchen, dessen weiche Run dungen von einer weißen Seidenbluse und einem schwarzen Samtrock betont wurden, doch selbst die hochhackigen Pumps ließen sie kaum größer erscheinen, als sie war. Ihr Haar war schwarz, sie hatte große, beinahe mandelförmige Augen und einen kleinen Mund, der sehr erfahren wirkte. Sie machte einen ausgesprochen eleganten Eindruck, denn sie hatte – Bobsts Kardinalregel – als erstes lernen müssen, daß weniger fast im mer mehr ist. Sie war zu einem Viertel Negerin, was an ihrer Hautfarbe zu sehen war, und wenn sie den Mund aufmachte, war alle Ele ganz dahin, weil sie immer noch ein recht vulgäres East-EndEnglisch sprach. Bobst hatte sie eines Abends in Soho aufgelesen, wo ihr Freund recht brutal versucht hatte, sie auf den Strich zu schik ken. Kemal hatte ihm zwei Rippen und den linken Arm gebro chen und ihn in einen Hauseingang geworfen, und Wanda sah sich unversehens in eine Welt des Luxus versetzt. Sie war da mals erst sechzehn, aber Bobst hatte schon immer auf blutjunge Frauen gestanden. Sie hatte nur Angst, er würde ihr nun, wo sie das magische Alter von zwanzig Jahren erreicht hatte, den Laufpaß geben, in Anbetracht der Tatsache, daß sie ihn zu lie ben glaubte, eine schreckliche Aussicht. Als sie in der erlesen eingerichteten Wohnung in der Rue de Rivoli sein Arbeitszimmer betrat, saß er auf dem Drehstuhl an seinem Schreibtisch und studierte mit verschränkten Armen eine Generalstabskarte von Ile de Roc und dem Küstengebiet um St. Martin, die Kemal ihm am Nachmittag besorgt hatte. Vorhin, als sie miteinander geschlafen hatten, hatte er schon mit ihr über das Problem gesprochen. Er hatte nie etwas vor ihr geheimgehalten, und sie glaubte steif und fest, dies sei ein Be 56
weis seines uneingeschränkten Vertrauens. Sie stellte den Kaffee hin und legte ihm den Arm um den Hals. Abwesend fuhr er ihr mit der Hand unter den Rock und streichelte ihren Schenkel. »Glaubst du, es könnte gehen?« fragte sie. »O ja, es gibt immer einen Weg – man muß nur genau hin schauen.« »Nikolaj und dieser Garcia sind da.« »Gut.« Er drehte sich um, zog sie auf seine Knie und küßte ihren Nacken. »Ich habe Kemal gesagt, er soll ein Privatflug zeug chartern. Ich möchte, daß du gleich morgen früh nach St. Martin fliegst.« Er zeigte auf die Karte. »Sieh zu, ob du in der Nähe ein Haus für uns mieten kannst. Aber etwas Solides, das ab sofort frei ist, am besten eine schöne alte Villa. Dort muß es so etwas geben. In den Ferien fahren viele Leute in die Ge gend.« »Noch etwas?« »Vielleicht später. Und jetzt bring Nikolaj und Garcia her.« Sie verließ den Raum, und kurz darauf kamen die beiden Männer herein. Bobst stand auf und trat ans Fenster. Es bot einen herrlichen Blick auf die Stadt, der ihn immer wieder be geisterte. »Gott sei Dank hat es endlich aufgehört zu regnen.« Garcia begann ungeduldig: »Bitte, Senor Bobst. Sie sagten, Sie hätten Neuigkeiten für mich.« Bobst drehte sich um. »Ich habe nicht gelogen. Es kann bald losgehen, mein Bester. Ich denke sogar, ich kann Ihnen unge fähr zehn Exocets der neuesten Baureihe in Aussicht stellen, bis nächsten Montag!« Garcia starrte ihn fassungslos an. »Ist das Ihr Ernst, Senor?« »Aber ja. Überlassen Sie es mir, Sie brauchen nur eines zu tun. Ich möchte, daß mir ein argentinischer Luftwaffen-Offizier 57
bei dieser Sache assistiert. Bitte kein Schreibstubentyp. Mög lichst ein erstklassiger Pilot. Es sind ja nur fünfzehn Flugstun den von Buenos Aires nach Paris. Wenn Sie gleich heute abend telefonieren, könnte er morgen oder übermorgen hier sein.« »Selbstverständlich, Senor. Ich werde mich sofort darum kümmern. Und die finanzielle Seite?« »Darüber reden wir später.« Garcia verabschiedete sich, und Bobst ging zum Barschrank und schenkte Whisky ein. »Was haben Sie vor?« fragte Below. Bobst reichte ihm ein Glas. »Was würden Sie sagen, wenn ich die Argentinier in die Bredouille brächte, indem ich ihnen die Exocets lieferte? Wenn die Franzosen die diplomatischen Beziehungen abbrächen und wenn es einen richtigen interna tionalen Skandal gäbe? Wie würde Ihnen das gefallen?« »Ich denke, es würde mir sehr gefallen«, antwortete Below. »Erzählen Sie mehr.« Bobst tat es, ohne eine Einzelheit auszulassen. 6 Ferguson machte an diesem Abend Überstunden in seinem Büro im Hauptquartier, denn Gruppe Vier hatte neuerdings mehr als genug zu tun. Neben seiner Funktion als Mann an der Spitze der Terrorismusbekämpfung, in der er unter anderem dafür sorgen mußte, daß keine argentinischen Geheimagenten nach London geschleust wurden, hatte er nun auch noch die Aufgabe, alle mit den Exocets verbundenen Operationen zu koordinieren, eine Verantwortung, die ihm der Geheimdienst chef persönlich übertragen hatte. Der erschöpft aussehende Harry Fox kam mit aufgekrempel ten Hemdsärmeln ins Zimmer. »Ich habe eben Nachricht aus 58
Peru bekommen. Unsere Leute dort haben heute morgen zu sammen mit Guerillas einen Militärkonvoi aufgerieben, der fünf Exocets zu einem Luftwaffenstützpunkt bei Lima beför dern sollte. Von dort sollten die Dinger nach Argentinien ge bracht werden.« »Gott sei Dank. Und die Libyer?« »Ghaddafi scheint noch zu überlegen. König Hussein und die ägyptische Regierung haben ihn aufgefordert, sich herauszu halten.« »Bleiben also nur noch die Hersteller, Harry. Sicher, wir wis sen, daß es eine gewisse technische Hilfe der Franzosen gibt, aber das haben die Umstände einfach mit sich gebracht. Die betreffenden Experten waren schon dort, als es losging.« »Eine interessante Frage, Sir: Was würden wir tun, wenn wir Exocets hätten und Schwierigkeiten damit bekämen? Von den Franzosen erwarten, daß sie uns technische Hilfe leisteten?« »Gut, daß es nur eine theoretische Frage ist. Gehen Sie wie der an die Arbeit, Harry.« Regen trommelte an die Scheiben. Er trat ans Fenster, sah hinaus und erschauerte, denn er mußte daran denken, daß die Flotte im südlichen Atlantik lag und bald auch noch mit dem Winter zu kämpfen haben wü rde. »Gott helfe den Seeleuten, die in solch einer Nacht draußen sind«, sagte er sich. In dem kleinen Arbeitszimmer der Residenz des Präsidenten in Olivos bei Buenos Aires war es sehr still. General Leopolde Fortunato Galtieri, argentinischer Staatspräsident, hatte seinen Uniformrock ausgezogen, ehe er sich an den Schreibtisch setz te und einen Stapel von Schriftstücken zu studieren begann. Er war ein bulliger Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, ein Offizier, wie ihn die Soldaten liebten, und man hatte ihn oft mit George S. Patton, dem Haudegen unter den US-Generälen des Zweiten Weltkriegs, verglichen. 59
Es klopfte, und ein junger Armeehauptmann öffnete die Tür.
Der Präsident blickte auf. »Was ist, Martinez?«
»General Dozo ist da, Herr General.«
»Gut, führen Sie ihn herein. Sorgen Sie dafür, daß wir nicht
gestört werden. Die nächste halbe Stunde keine Anrufe.« Er lächelte und wirkte plötzlich entspannt und liebenswürdig. »Wenn Sie allerdings Nachricht bekommen, daß die Hermes oder die Invincible versenkt wo rden ist, können Sie stören, soviel Sie wollen.« »Zu Befehl, Herr General.« Martinez zog sich zurück, und einen Augenblick später trat Brigadegeneral Basilio Lami Dozo, Befe hlshaber der argentini schen Luftwaffe, ins Zimmer. Er war ein gutaussehender Mann, dessen Uniform vollendet saß, ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, und der Gegensatz zwischen ihm und dem aus einer Arbeiterfamilie stammenden Galtieri, der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hatte, hätte kaum größer sein können. Vielleicht war es gut so, denn sie beide und Admiral Jorge Anaya, Befehlshaber der argentinischen Flotte und dritter Mann der regierenden Militärjunta, waren gezwungen, auf Ge deih und Verderb zusammenzuarbeiten. Lami Dozo nahm die Mütze ab und zündete sich eine Ziga rette an. »Kommt Anaya nicht?« Galtieri stand am Barfach und schenkte Cognac in zwei Glä ser. »Wozu? Bei dem, was die Flotte leistet oder vielmehr nicht leistet, könnten wir gleich auf sie verzichten. Zum Glück haben wir eine funktionierende Luftwaffe. Ihre Jungs sind großartig.« Er gab Lami Dozo ein Glas. »Auf die Jungs.« »Was von ihnen übrig ist«, sagte Lami Dozo bitter und nahm einen Schluck. »In Gallegos sieht es so schlecht aus, daß wir jeden losschicken müssen, der irgendwann mal einen Steuer knüppel in der Hand gehabt hat. Raul Montera, zum Beispiel! Wird demnächst sechsundvierzig und muß noch Skyhawks 60
nach San Carlos fliegen.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal denke ich, ich sollte mich selber wieder ins Cockpit setzen.« »Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Galtieri. »Montera tut doch nichts lieber, er war schon immer ein romantischer Spin ner.« »Und ein Held.« »Oh, das gebe ich zu. Er ist gewiß sehr tapfer. Ich bewundere ihn aufrichtig.« »Die Jungs nennen ihn übrigens II Magnifico. Natürlich wird es auch ihn irgendwann erwischen. Soweit ich weiß, hat er letz te Woche elf Einsätze geflogen.« Er schüttelte den Kopf. »Gott weiß, was ich seiner Mutter sagen soll, wenn er fort ist.« »Dona Elena?« Galtieri zog die Augenbrauen hoch. »Egal, wie Sie es anstellen, halten Sie mir bloß diese Frau vom Hals. Sie gibt mir immer das Gefühl, ich sollte in den Pampas barfuß Rinder hüten. Wie war es he ute?« »Wir haben eine Fregatte getroffen. HMS Antelope. Als letz tes hörte ich, daß es irgendeine Explosion gab und daß sie brannte. Wir glauben, daß wir außerdem einen Zerstörer be schädigt haben, die Glasgow, aber wir wissen es nicht mit letz ter Sicherheit. Sechs Mirages und zwei Skyhawks sind abge schossen worden. Einige haben es zum Stützpunkt zurück ge schafft, obgleich sie Treffer hatten.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Und trotz alldem ist der Kampfgeist der Truppe unglaublich. Aber es kann einfach nicht so weitergehen. Wir werden bald nicht mehr genug Piloten haben.« »Genau«, sagte Galtieri. »Deshalb brauchen wir mehr Exo cets, und nach diesem Bericht, der eben von unserer Pariser Botschaft eingegangen ist, werden wir in ein paar Tagen alles bekommen, was wir benötigen. Lesen Sie.« Er ging ans Fenster und sah, während er seinen Cognac aus trank, hinaus in den sonnenbeschienenen Garten. Hinter ihm sagte Lami Dozo: »Sie könnten recht haben. Aber Garcia 61
scheint keine Ahnung zu haben, wie oder woher dieser Bobst die Exocets beschaffen will.« »Stimmt. Aber er ist überzeugt, daß der Mann liefern kann, und das ist einen Versuch wert. Sie haben natürlich auch gele sen, daß sie eine Art Verbindungsoffizier von der Luftwaffe brauchen, möglichst einen erstklassigen Piloten.« »Ja.« »Fällt Ihnen jemand ein, der sich besonders gut dafür eig net?« Er drehte sich fragend um. Lami Dozo lächelte. »Dann würde er am Leben bleiben, nicht wahr? Und zufällig spricht er per fekt französisch.« »Keine Zeit zu verlieren. Er sollte morgen auf dem Weg nach Paris sein.« Lami Dozo nahm seine Generalsmütze. »Kein Problem. Ich werde selbst mit dem Lear nach Gallegos fliegen und Montera zurückbringen.« »Gut, ich würde gern mit ihm sprechen, ehe er geht.« Als Dozo zur Tür schritt, rief Galtieri ihm nach: »Wissen Sie, was übermorgen für ein Tag ist?« »Natürlich.« Es war Dienstag, der 25. Mai, der argentinische Nationalfeiertag. Lami Dozo verließ den Raum, der Präsident seufzte, setzte sich wieder an den Schreibtisch und arbeitete weiter. Gabrielle Legrand schlenderte gerade bei Harrods durch die Fernsehabteilung. Vor einem der Geräte hatte sich eine kleine Gruppe versammelt und sah und hörte die Nachric hten des privaten Fernsehsenders ITV. Der Bildschirm zeigte verschie dene Aufnahmen der Gewässer vor San Carlos und ein paar Schiffe, die in eine Ra uchwolke gehüllt vor Anker lagen. Es gab noch keine authorisierten Filmberic hte. Ein Kommentator beschrieb einen ungewissen Angriff, der – offenbar an jenem Morgen – von argentinischen Skyhawks auf britische Einheiten 62
geflogen wurde. Seine Stimme wurde vor Aufregung laut, als er den Weg ei ner Rapier-Rakete beschrieb, und dann war ein lauter Knall zu hören: Eine Skyhawk war zerstört wo rden. Einige Leute der Gruppe klatschten Beifall, und einer rief tri umphierend: »Den hat’s erwischt!« Was sie beobachteten, war der Feind, Flugzeuge, die ihre Soldaten töten wollten. Einer dieser Soldaten war Gabrie lles Halbbruder Richard. Sie wußte, daß er auf einem der beiden Flugzeugträger dreihundert Kilometer westlich von San Carlos stationiert war, aber das bedeutete keineswegs Sicherheit. Hub schrauberpiloten wie Richard flogen täglich in die Gefahrenzo ne, und ihre Träger waren das bevorzugte Ziel argentinischer Raketen. Gabrielle betete, daß Gott Zweiundzwanzigjährige schützen möge. Übelkeit packte sie, und sie wandte sich ab. Sie hatte an Raul denken müssen. Gott sei Dank, daß er zu alt ist, um diese Dinger zu fliegen, dachte sie und eilte auf die Straße hinaus. Raul Montera war in diesem Augenblick achtzig Kilometer von der Südspitze Argentiniens entfernt, fünfhundert Fuß hoch, und er versuchte, eine Skyhawk, die den größten Teil ihres Hecks verloren hatte und eine ölige Qualmwolke hinter sich her zog, zur Basis zu geleiten. Der Junge in der Kanzel war schwerverletzt; Montera wußte das und hatte seit langem jeden Versuch aufgegeben, nach den Vorschriften zu handeln. »Halt aus, Jose, jetzt dauert’s nicht mehr lange.« »Sinnlos, Oberst.« Die Stimme des Jungen war müde. »Sie geht runter. Ich kann sie nicht mehr halten.« Als der Bug der Skyhawk nach unten kippte, rief Montera: »Schleudersitz!« »Und dann erfrieren?« Der Soldat lachte erschöpft. »Ist doch 63
dasselbe.« »Leutnant Ortega!« rief Montera. »Klinken Sie den Schleu dersitz aus. Das ist ein Befehl!« Eine Sekunde später löste sich das Dach der Kanzel, und der Junge wurde hinauskatapultiert. Montera folgte ihm nach unten und gab die Position zum Stützpunkt durch, schaute dem Fall schirm nach und hoffte, daß die Luft/See-Rettungseinheit rechtzeitig zur Stelle sein würde. Er schwenkte schnell herum, als Ortega ins Wasser fiel, und sah, wie er sich aus dem Leinengewirr des Fallschirms befreite. Das Rettungsboot blies sich automatisch auf, und er beobachte te, wie der Junge hineinzukrabbeln versuchte. Am Instrumentenbrett ertönte ein warnendes Summen, das ihm sagte, er habe nur noch wenig Treibstoff. Er schwenkte noch einmal herum, wackelte kurz mit den Tragflächen und nahm Kurs zur Küste. Als Montera in Rio Gallegos aus der Kanzel der Skyhawk kletterte, untersuchte Sergeant Santerra, der Leiter des techni schen Teams, bereits die Maschine und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich um Himmels willen das Heck an, Oberst, Granatsplitter, mindestens vier. Überall durchlöchert.« »Ich weiß. Wir sind auf dem Weg nach San Carlos von ein paar Harriers verfolgt worden. Sie haben Santini erwischt. Der kleine Ortega hätte es fast geschafft, aber er mußte etwa acht zig Kilometer vor der Küste aussteigen.« »Sie haben immer wieder Glück, Oberst. Nicht zu fassen. Ich verstehe das nicht. Eigentlich müßten Sie schon seit Tagen tot sein.« »Ich führe es auf die Liebe einer Frau zurück.« Raul Montera langte nach oben und berührte den Schriftzug an der Seite des Cockpits: Gabrielle. »Ich danke dir, Liebling.« Als er im Einsatzgebäude den Nachrichtenraum betrat, er blickte er nur Major Pedro Munro, einen Argentinier schotti 64
scher Abstammung, den leitenden Nachrichtenoffizier. »Ah, da sind Sie ja, Raul. Vielleicht ist es das letztemal, daß Sie durch diese Tür kommen«, bemerkte Munro fröhlich. »Vielen Dank«, antwortete Montera. »Haben Sie etwas über Ortega gehört?« »Noch nicht. Was haben Sie mir zu berichten?« Montera nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Schreibtisch lag. »Es war wieder mal die Hölle. Es gab einige Tote.« Munro erwiderte kühl: »Dürfte ich vielleicht auch etwas Konkretes haben? Haben Sie etwas versenkt?« »Ich glaube nicht«, sagte Montera. »Aus dem guten Grund, daß meine Bomben wieder mal nicht detoniert sind. Könnten Sie nicht dafür sorgen, daß die verdammten Zünder richtig ein gestellt werden?« Munro gab sich keine Mühe mehr, kühl zu sein. »Es tut mir leid, Raul. Ehrlich.« »Mir auch«, erwiderte Montera und ging hinaus. Müde ging er zur Offiziersmesse, und seine Schritte hallten auf dem geteerten Vorfeld wider. Er war deprimiert und kaputt, er hatte keine Hoffnung mehr. Er war zu alt, um diese Dinge zu tun, das stand fest. Aber dann fiel ihm ein, was Gabrielle über das Alter als inneren Zustand gesagt hatte, und er lächelte. Er mußte in diesen Tagen oft an sie denken. Sogar ununter brochen. Sie füllte sein Herz und seine Gedanken, flog mit ihm, schlief bei ihm. Vor dem Einschlafen redete er laut mit ihr. Er betrat das Vorzimmer. Als erstes sah er Lami Dozo, um geben von einem Kreis junger Offiziere, am Ofen stehen. Der General entschuldigte sich, kam ihm entgegen und ge währte ihm den abrazo, die traditionelle förmliche Umarmung. »Ich habe Ihre Mutter gestern bei einer Wohltätigkeitsveran 65
staltung gesehen, Unterstützung für unsere Streitkräfte. Sie sah großartig aus.« »War Linda bei Ihr?« »Nein, sie war in der Schule. Wie gesagt, Ihre Mutter sah großartig aus. Sie dagegen… Sie machen einen ziemlich mit genommenen Eindruck, um nicht mehr zu sagen. Dieser Wahn sinn muß aufhören, Raul. Elf Einsätze in einer Woche.« »Zwölf«, korrigierte Montera. »Sie vergessen den von heute. Und wäre es nicht möglich, dafür zu sorgen, daß sich jemand um die Bomben kümmert? Sonst werden viele von ihnen auch weiterhin nicht hochgehen. Sehr ärgerlich, wenn man sich so viel Mühe gegeben hat, sie ins Ziel zu bringen.« »Trinken Sie ein Glas«, sagte Lami Dozo. »Gute Idee.« Montera rie f einen Kellner. »Tee. Meine Mar ke.« Er wandte sich an den General: »Trinken Sie eine Tasse mit?« »Tee?« fragte Lami Dozo. »Großer Gott, was ist denn in Sie gefahren?« Montera nickte dem Kellner zu, und dieser eilte davon. »Nichts. Aber als ich in London war, hat eine gute Freundin mich davon überzeugt, daß Kaffee nichts für mich ist.« »Ich habe gehört, daß Sie Ihre Maschine auf den Namen Ga brielle getauft haben. Gibt es diese Frau?« »Ja. Ich liebe sie«, sagte Montera einfach. »Hatte ich das Vergnügen, sie kennenzulernen?« »Nein. Sie lebt in London und in Paris. Nächste Frage.« »Paris? Interessant. Wenn Sie Zeit haben, können Sie sie be suchen.« »Ich verstehe nicht.« »Sie fliegen morgen nach Paris. Ich nehme Sie jetzt mit nach Buenos Aires. Oh, ehe ich’s vergesse. Galtieri möchte Sie sprechen, ehe Sie abfliegen.« 66
»Ich denke, es wäre besser, wenn Sie mich nicht weiter im unklaren ließen«, sagte Montera. Lami Dozo informierte ihn so kurz wie möglich. Anschlie ßend sagte er: »Nun, was meinen Sie?« »Ich meine, die Welt ist verrückt geworden«, antwortete Montera. »Aber was zählt schon meine Meinung.« »Es könnte ausschlaggebend sein, daß wir den Krieg gewin nen, Raul.« »Daß wir den Krieg gewinnen?« Montera lachte bitter. »Ge neral, wir haben diesen Krieg bereits verloren. Wir hätten ihn nie anfangen sollen. Aber schicken Sie mich ruhig nach Paris, um ein bißchen zu spielen, während unsere Jungs hier weiter sterben.« In diesem Augenblick kam der Kellner mit dem Tee, und Montera schenkte sich mit kaum merklich zitternden Händen eine Tasse ein. Er hob sie an die Lippen und trank. »Viel besser als Kaffee«, sagte er lächelnd und dachte an jenen Morgen in Kensington, in der Badewanne mit Gabrielle, der nun schon tausend Jahre her zu sein schien. Lami Dozo sah ihn besorgt an. »Sie haben sich zu sehr ve r ausgabt, mein Freund. Sie brauchen ein wenig Ruhe. Kommen Sie, wir starten.« »Sie denken, ich bin am Ende.« Montera trank den Rest sei nes Tees. »Sie irren sich. Das Stadium habe ich schon hinter mir.« Als sie aufstanden, kam Major Munro herein. Er blickte sich in der Messe um, sah Montera und lächelte. »Gute Nachricht, Raul. Sie haben den kleinen Ortega aus dem Wasser gefischt. Böse verwundet, aber er wird durchkommen. Angeblich war es die Kälte, die ihn gerettet hat. Hat dafür gesorgt, daß er nicht verblutete.« In diesem Moment erkannte er den General und salutierte. »Er kann von Glück sagen«, bemerkte Lami Dozo. 67
»Hoffentlich werde ich das auch«, sagte Raul Montera. Knapp vier Stunden später folgte er Lami Dozo in Galtieris Arbeitszimmer in der Residenz des Präsidenten. Galtieri kam ihm mit ausgestreckten Händen entgegen und begrüßte ihn betont herzlich. »Mein lieber Montera, ich freue mich, Sie zu sehen. Sie haben wie ein wahrer Held für unsere Sache ge kämpft.« »Ich habe nicht mehr getan als die anderen Piloten me iner Einheit, General.« »Sehr lobenswert, aber nicht ganz wahr. Ich bin sicher, Gene ral Dozo hat Ihnen schon mitgeteilt, wie wichtig Ihre neue Mission ist. Wir alle verlassen uns auf Sie.« »Ich werde mein Bestes tun, General. Darf ich um Erlaubnis bitten, meine Mutter zu besuchen, ehe ich fliege?« »Selbstverständlich. Richten Sie Dona Elena meine ergebe nen Grüße aus. Und jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten.« Er schüttelte ihm wieder die Hand, und Montera und Lami Dozo gingen. Als sie den Raum verlassen hatten, drückte Gal tieri auf eine Taste der Sprechanlage und rief Martinez zu sich. Der junge Hauptmann salutierte, und Galtieri reichte ihm den Bericht, den Garcia aus Paris durchgegeben hatte. »Höchste Geheimhaltungsstufe, Martinez. Holen Sie Ihr Protokoll, und ich werde ein kurzes Resümee über den bisherigen Stand der Angelegenheit, mein Gespräch mit General Dozo und die un ternommenen Schritte diktieren.« »Durchschriften für General Dozo und Admiral Anaya, wie immer?« Galtieri schüttelte den Kopf. »General Dozo weiß Bescheid, und der Admiral verdient es nicht, eingeweiht zu werden. Nur ein Exemplar für meine persönliche Akte.« »Sehr wohl, General.« Carmela Balbuena war eine respektheischende Dame in den Fünfzigern. Ihr Mann, Hauptmann der Armee, war vor sieben 68
Jahren bei dem sogenannten schmutzigen Krieg zwischen der Regierung und Guerillas im Hinterland gefallen. Sie hatte seit dem im Büro des Präsidentenpalasts gearbeitet und war nun Chefsekretärin. Martinez brachte ihr den Exocet-Bericht persönlich. »Ich denke, Sie schreiben dies besser selbst, und dann sofort in seine persönliche Akte, keine Durchschrift«, sagte er. Sorgfältig tippte sie den Bericht auf drei Blatt Papier und machte trotz Martinez’ Anweisung einen Durchschlag. Sie nahm das Original und zeigte es ihm. »Ausgezeichnet, Senora, Sie haben sich selbst übertroffen. Sie können ihn später ablegen, wenn er fort ist.« »Ich werde ihn bis morgen früh in den Bürosafe tun«, sagte sie. »Kann ich dann gehen? Ich denke, es gibt nichts Wichtiges mehr.« »Selbstverständlich. Bis morgen.« Sie ging zurück in den anderen Raum, räumte ihren Schreib tisch auf, faltete die Durchschläge, die sie gemacht hatte, zu sammen und steckte sie in ihre Handtasche. Dann verließ sie den Bürotrakt des Palasts. Carmela Balbuena hatte keine Kinder bekommen können und deshalb all ihre Liebe auf ihren Neffen, den einzigen Sohn ih res Bruders, konzentriert. Sie hatte sozialistische Ideale, ohne deshalb Kommunistin zu sein, und haßte Galtieri und das Mili tärregime, das ihn an der Macht hielt, haßte die Regierung, die für soviel Unterdrückung verantwortlich war und Tausende Menschen hatte verschwinden lassen. Zum Beispiel ihren Nef fen, der vor drei Jahren bei einer Razzia der Universität festge nommen und dann offensichtlich verschleppt worden war. Sie hatte nie herausbekommen, was die Folterknechte mit ihm ge macht hatten – denn daß er in ihre Hände gefallen war, stand für sie fest. Monate später war sie zu einer kulturellen Veranstaltung in 69
der Französischen Botschaft gegangen und hatte dort Jack Da ley kennengelernt, einen jungen Amerikaner mit einem fri schen, offenen Gesicht, der sie an ihren Neffen erinnerte. Daley hatte sich intensiv um sie gekümmert, war mit ihr in Konzerte und ins Theater gegangen, hatte sie allmählich aus sich heraus gelockt und nach ihrer Arbeit im Palast gefragt. Als sie herausfand, daß er Handelsattache an der USBotschaft und wahrscheinlich noch viel mehr war, wurde sie kaum stutzig. Was spielte das schon für eine Ro lle? Sie gab ihm alles, was er haben wollte, auch wertvolle Informationen aus dem Büro. Sie betrat die erste Telefonzelle, die sie sah, rief ihn in der Botschaft an und traf ihn eine Stunde später auf der Plaza de Mayo, wo Juan Peron früher so gern Reden an das Volk geha l ten hatte. Sie setzten sich auf eine Bank in den Anlagen, und sie reichte ihm, als er erschien, eine zusammengefaltete Ze i tung mit der Kopie des Resümees. »Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte sie. »Ich habe es gelesen, und es ist Dynamit. Bis bald.« Jack Dale y, in Wahrheit ein Agent der Central Intelligence Agency, eilte zur Botschaft zurück, um das Dokument in Ruhe zu lesen. Als er es durch hatte, verlor er keine Zeit. Zwanzig Minuten später war es im Chiffriergerät und wurde nach Wa shington gefunkt. Zwei Stunden, nachdem es dort eingegangen und entschlüsselt worden war, befahl der CIA-Direktor persön lich, es an Brigadier Ferguson nach London weiterzuleiten. 7 Raul Montera trat auf die Terrasse des Hauses in Vicente Lo pez Floreda und ließ voll innerer Bewegung den Anblick des vor ihm liegenden Gartens auf sich einwirken. Palmen wiegten sich in der Brise, in den Bächen und Brunnen plätscherte Was 70
ser, und in der Luft hing der schwere Duft von Mimosen. Hin ter der Mauer glänzte der Rio de la Plata silbern in der Abend sonne. Seine Mutter und Linda saßen an einem Tisch neben einem kleinen Springbrunnen auf der unteren Terrasse, und das Mäd chen sah ihn zuerst. Sie stieß einen Freudenschrei aus und kam mit ausgestreckten Armen zu ihm gelaufen. Sie trug eine Reit hose und einen gelben Pullover, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Papa, wir haben gar nicht gewußt, daß du kommst!« Sie umklammerte ihn, und er hielt sie fest und sah ihr in die Au gen, während sie ihn anstrahlte. »Du warst im Fernsehen, mit General Dozo in Rio Gallegos! Ich habe dich gesehen, und alle Mädchen in der Schule auch!« »Wirklich?« »Und die Skyhawks im Tal des Todes, die haben wir auch gesehen, und ich hab gewußt, daß du eine davon fliegst.« »Tal des Todes?« Er hielt erschrocken inne. »Woher weißt du diesen Namen?« »So nennen die Piloten doch die Stelle, von wo aus sie die Briten angreifen. Zwei Mädchen aus meiner Klasse haben Brü der, die abgeschossen worden sind.« Sie umarmte ihn wieder. »Oh, ich freue mich so, daß dir nichts passiert ist. Mußt du dahin zurück?« »Nein, nicht nach Gallegos, aber ich muß morgen früh nach Frankreich.« Sie waren zum Tisch gegangen. Seine Mutter saß in einem Korbsessel und beobachtete ihn, elegant und gepflegt wie im mer. Man sah ihr ihre siebzig Jahre nicht an. »Ich soll jetzt eigentlich reiten«, sagte Linda. »Aber ich möchte nicht.« »Unsinn«, sagte Dona Elena zu ihr. »Geh schon. Dein Vater wird noch da sein, wenn du fertig bist.« 71
Linda wandte sich zu ihm: »Bestimmt?«
»Ja, Ehrenwort.«
Sie lief die Stufen hoch, und Montera nahm Dona Elenas
Hände. »Mutter«, sagte er förmlich, als er ihre Rechte küßte. »Schön, dich zu sehen.« Sie musterte jede Einzelheit seines Gesichts, die ausgeme r gelten Züge, die gehetzten Augen. »O Gott«, flüsterte sie. »Was haben sie mit dir ge macht, mein Junge?« Sie hatte sich von Natur aus gut unter Kontrolle, und sie hatte vor vielen, vielen Jahren gelernt, nie zuviel von sich preis zugeben. Infolgedessen war ihre Beziehung immer recht di stanziert gewesen, nicht so liebevoll, wie normalerweise zwi schen Mutter und Kind. Aber nun vergaß sie all das, sprang auf und nahm ihn in die Arme. »Es ist gut, dich wieder zu Hause zu haben, Raul. Unendlich gut.« »Mama.« Er hatte das Wort nicht mehr ausgesprochen, seit er ein kleiner Junge gewesen war, und fü hlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Komm, setz dich. Wir müssen miteinander sprechen.« Er zündete eine Zigarette an, ließ sich in einen Sessel fa llen und entspannte sich. »Es ist herrlich, wieder hier zu sein.« »Du gehst also nicht zurück?« »Nein.« »Dafür werde ich der Jungfrau danken. Ein Mann in deinem Alter und Düsenjäger fliegen! Was für ein Unsinn, Raul. Es ist wie ein Wunder, daß du zurückgekommen bist.« »Ja, wenn man darüber nachdenkt, ist es das«, sagte Montera. »Ich sollte auch jemandem ein paar Kerzen stiften.« »Der Jungfrau oder Gabrielle?« Er zog die Augenbrauen hoch, und seine Mutter fuhr fort: »Gib mir bitte eine von deinen Zigaretten. Weißt du, ich bin noch nicht ganz verkalkt. Ich habe dich jetzt schon dreimal mit 72
deiner Skyhawk im Fernsehen gesehen. Man müßte blind sein, um den Namen an der Kanzel nicht zu lesen. Wer ist sie, Raul?« »Die Frau, die ich liebe«, antwortete er nur, wie vorhin dem General. »Erzähl mir von ihr.« Er stand auf und tat es, während er von einem Ende der Te r rasse zum anderen schritt. Als er ausgeredet hatte, sagte sie: »Sie scheint eine bemerkenswerte junge Frau zu sein.« »Mehr«, entgegnete er. »Sie ist der ungewöhnlichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Es war Liebe auf den ersten Blick. Es ist nicht nur wegen ihrer Schönheit, nein, sie strahlt eine innere Freude aus, die mehr weckt als phys ische Leidenschaft.« Er lachte plötzlich auf, und die Ränder unter seinen Augen schie nen zu verschwinden, so daß er nicht mehr müde und erschöpft aussah. »Sie ist in jeder Hinsicht so verdammt wunderbar, Mama. Ich habe immer geglaubt, daß das Leben irgend etwas Besonderes für mich bereithält, und sie ist es.« Dona Elena Llorca de Montera holte tief Luft. »Darüber wäre also nichts mehr zu sagen, nicht wahr? Ich nehme an, du wirst sie mir vorstellen, wenn du die Zeit für gekommen hältst. Und jetzt erzähl, warum du nach Frankreich sollst.« »Tut mir leid«, erwiderte er. »Streng geheim. Ich kann nur sagen, daß es für das ist, was unser Herr Präsident die ›Sache‹ zu nennen beliebt. Er glaubt übrigens, wenn ich Erfolg habe, könnte es uns den Sieg bringen.« »Stimmt das?« »Wenn er es wirklich glaubt, ist er naiv. Die ›Sache‹…« Er ging zur Brüstung und schaute zum Fluß hinüber. »Wir haben schon jetzt die Hälfte unserer Piloten verloren, Mama. Die Hälfte. Das steht nicht in der Zeitung. Das Volk jubelt und schwenkt Fahnen, Galtieri hält Reden, aber die Wirklichkeit ist das Gemetzel von San Carlos.« 73
Sie trat zu ihm und nahm seinen Arm. »Komm, Raul, laß uns ins Haus gehen.« Er wandte sich um, und nebeneinander schrit ten sie die Stufen hoch. Ferguson saß in seinem Arbeitszimmer am Cavendish Square und las zum soundsovielten Mal den Funkspruch der CIA, als Harry Fox mit einigen Akten hereinkam. »Das war’s, Sir. Das ist alles, was wir über Ralph Bobst ha ben.« »Sagen Sie, ist Gabrielle noch in der Stadt, oder ist sie nach Paris zurückgeflogen?« »Sie ist immer noch in Kensington Palace Gardens. Ich habe gestern abend bei Langans gegessen, und sie war mit ein paar Freunden da. Warum?« »Ich dachte, das sei offensichtlich, Harry. Sie war ganz hin von Raul Montera – und er von ihr. Das könnten wir uns zu nutze machen.« Er sah den anderen an und hob die Hand. »Werden Sie jetzt bitte nicht altmodisch, Harry. Das hier ist kein Spiel mehr, sondern Krieg.« »Ja, Sie haben recht… Aber es gibt Tage, an denen ich lieber etwas anderes täte.« »Vergessen Sie das jetzt. Zu Bobst. Erzählen Sie mir etwas über ihn. Nur die Dinge, auf die es ankommt.« »Multimillionär. Die Bobst Development Corporation hat ih re Finger in allen möglichen Sachen. Bauunternehmen. Reede reien, Elektrotechnik, was Sie wollen.« »Und Bobst selbst?« »Sehr prominent, steht jeden dritten Tag in der Ze itung, wie Sie der Akte entnehmen können. Fing ganz klein in der Immo bilienbranche an. Hat sich in den sechziger Jahren gesundge stoßen.« »Und so ging es dann weiter?« »Sie sagen es, Sir. Unter diesen Umständen und in Anbe tracht seines Bankkontos verstehe ich nicht ganz, daß er für die 74
Argentinier arbeitet, selbst wenn dabei ein paar Millionen Pfund für ihn herausspringen.« »Genau.« Ferguson blätterte eine Weile stirnrunzelnd in der Akte. »Hier scheint mir etwas faul zu sein, oberfaul sogar. Er stens die Verbindung zu den Russen. Warum war Below so sicher, daß Bobst der richtige Mann sei… Ich meine, nachdem Garcia sich an ihn gewendet hatte?« »Stimmt. Was meinen Sie, Sir?« »Dieser Ralph Bobst war Waise, was sehr günstig ist. Alle anderen Männer, die in seiner Einheit dienten und in Korea in Gefangenschaft gerieten, sind im Lager umgekommen. Eben falls sehr günstig.« Eine lange Pause entstand. Dann fragte Fox: »Deuten Sie das an, was ich denke, Sir?« Ferguson stand auf, trat zum Kamin und starrte in die Fla m men. Fox sagte: »Er ist ein sehr angesehener Geschäftsmann, Sir. Es ergibt keinen Sinn.« »Die Affäre Lonsdale damals auch nicht, erinnern Sie sich? Ebenfalls ein sehr angesehener Geschäftsmann. Gebürtiger Kanadier und so. Noch jetzt, nach all den Jahren, ist seine wah re Identität nicht restlos geklärt.« »Es steht aber fest, daß er Russe war. Ein Geheimagent.« »Ja.« »Wollen Sie andeuten, daß Bobst ein zweiter Lonsdale sein könnte?« »Die Möglichkeit besteht, mehr können wir im Moment nicht sagen. Sicher, er könnte natürlich auch ein skrupelloser Raffke sein, der schnelles Geld machen will. Wir werden sehen.« »Was machen wir also, Sir? Schnappen wir ihn uns?« Ferguson ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Schwierig, solange er noch in Frankreich ist. Oh, ich könnte ganz oben 75
etwas in Bewegung setzen, aber wenn die Presse dahinter kommt, gibt es einen Riesenskandal, und wir müßten unter Umständen auf langfristige Vorteile verzichten. Wenn wir ihn jedoch überführen, könnten wir ein ganz hübsches Kartenhaus zum Einsturz bringen. Unter Umständen hätten wir mit einem Schlag alle seine KGB-Kontakte hier in England. Natürlich nur, wenn er das ist, was er sein könnte.« »Das stimmt.« »Und wir wissen nicht einmal, was er eigentlich vorhat. Of fensichtlich hat er selbst Garcia darüber im dunklen gelassen. Der sagt nur, daß Bobst ihm bis nächste Woche Exocets ver sprochen hat. Nein, wir müssen jemanden auf ihn ansetzen, der uns haarklein darüber informiert, was er treibt.« Fox sagte: »Und wie können wir das?« »Ich dachte, das sei klar. Der Schlüssel zu der Angelegenheit ist Oberst Raul Montera, und unser Draht zu Montera ist Ga brielle Legrand.« Fox antwortete erst nach einer Weile: »Aber Gabrielle ist nicht gerade gut auf uns zu sprechen, Sir.« »Wir werden sehen. Wir setzen uns am besten umgehend mit ihr in Verbindung.« In diesem Augenblick summte das rote Telefon. Er nahm schnell ab. »Hier Ferguson.« Er lauschte mit ernster Miene, sagte dann: »Selbstverständlich, Sir«, und legte auf. Fox sagte: »Probleme?« »Es war der Chef selbst. Es scheint, die Premierministerin möchte mich sehen.« Bobst flog in der Regel sehr ungern in kleinen Maschinen – sie waren laut, unbequem und boten nicht einmal die wichtig sten Annehmlichkeiten – , aber an dem Flugzeug, das Kemal gechartert hatte, konnte er nichts entdecken, was ihm mißfiel. Es war eine Navajo Chieftain mit einer komfortabel und ge schmackvoll eingerichteten Kabine und Tischen, an denen man 76
zivilisiert sitzen konnte. Sie starteten außerhalb von Paris auf einem kleinen Flugplatz bei Brie-Comte-Robert. Der Pilot, ein dürrer, schwarzhaariger Mann Anfang Dreißig, hieß Rabier und hatte Kemals Informa tionen zufolge recht überstürzt aus der französischen Luftwaffe ausscheiden müssen. Er besaß jetzt eine kleine Lufttransport firma und stellte keine Fragen, wenn die Kasse stimmte. Genau das, was sie gesucht hatten. Über der Vendée, ein ganzes Stück südlich von St. Nazaire, näherten sie sich der Küste. Bobst hatte sich neben den Piloten gesetzt, und Rabier sagte: »Wir landen gleich da unten. Der Platz heißt Lancy. Im Zweiten Weltkrieg ein Jägerstützpunkt der Deutschen. Später hat jemand versucht, dort eine Flieger schule aufzuziehen, aber er hat Pleite gemacht. Seitdem ist der Platz stillgelegt.« Bobst zeigte auf ein Symbol auf der Karte. »Was bedeutet das?« »Luftraum nur mit besonderer Genehmigung zu benutzen. Da draußen vor der Küste ist eine Insel, Ile de Roc. Militärisches Versuchsgelände. Es bedeutet nur, daß wir da nicht einfliegen dürfen. Keine Sorge, ich bin gut im Navigieren.« Zwanzig Minuten später landeten sie in Lancy. Es gab vier Hangars, und der Kontrollturm schien noch intakt zu sein, aber zwischen den Pisten stand das Gras fast meterhoch, und die ganze Anlage machte einen total verwahrlosten Eindruck. Vor dem alten Einsatzschuppen parkte ein schwarzer Citroen, aus dem Wanda Brown stieg, als die Navajo langsam ausrollte. Sie trug Jeans und eine schwarze Lederjacke und hatte ihre dunklen Haare mit einem Seidenschal gebändigt. Bobst stieg die Bordleiter hinunter, legte ihr einen Arm um die Schultern und küßte sie. »Woher hast du das Auto?« »In einer Werkstatt in St. Martin gemietet. Übrigens, ich glaube, ich habe genau das gefunden, was du brauchst. Acht 77
Kilometer von hier und ungefähr ebensoweit zur Küste.« Sie holte einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Der Immobilien heini aus dem Ort hat sie mir ohne weiteres gegeben. Ich habe gesagt, mein Chef gibt sich nicht gern mit solchen Kleinigkei ten ab. Ich bin sicher, er denkt, daß ich ein Liebesnest fürs Wo chenende vorbereite.« »Was soll man sonst denken, wenn man dich sieht?« antwo r tete Bobst. »Nun aber los. Yanni, du fährst.« Kemal setzte sich ans Steuer, und Wanda stieg hinten ein. Bobst wandte sich an Rabier, der sie aus dem Cockpit der Na vajo beobachtete. »Höchstens ein paar Stunden, dann fliegen wir nach Paris zu rück.« »Sehr wohl, Monsieur.« Bob setzte sich neben Wanda in den Fond, und der Citroen rollte davon. Das Haus hieß Maison Blanche und stand versteckt zw ischen Buchen in einer Senke. Es war recht groß und hatte offensicht lich bessere Tage gesehen, aber nun bröckelte an vielen Stellen der Putz von der Fassade. Bobst stieg aus dem Wagen, blieb an den Eingangsstufen ste hen und schaute zu der Tür unter dem Portikus, die dringend einen frischen Anstrich brauchte. »Vierzehn Schlafzimmer und hinten einen Pferdestall«, sagte Wanda. »Die Zentralheizung funktioniert einigermaßen, und die Öltanks sind voll. Ich denke, hier könntest du es ein paar Tage aushalten.« »Was ist los mit dem Haus?« »Der Eigentümer ist Kolonialbeamter im Pazifik. Seine Mut ter ist vor zwei Jahren gestorben, und da er hier mal seinen Ruhestand verleben möchte, will er nicht verkaufen. Es ist vollständig möbliert. Der Makler ve rmietet es im Sommer manchmal an Feriengäste, aber sonst wird es nicht bewohnt.« 78
Er schloß auf und ging voran. Es roch ein bißchen muffig, eben wie in einem Haus, das lange nicht bewohnt gewesen war, aber die Mahago nivertäfelung und die gediegenen Möbel strahlten einen Wohlstand aus, und auf dem Fußboden lagen echte Orientteppiche. Sie betraten den Salon mit einem Kamin und einem großen Kristallüster, und Wanda öffnete die Fenstertüren und die Lä den, so daß das Licht in den Raum flutete. »Jeder Komfort. Du brauchst dir nur vorstellen, daß die Hei zung an ist und im Kamin Feuer brennt. Zufrieden?« »Sehr«, sagte Bobst. »Miete es.« »Hab ich schon.« Er zog sie in die Arme. »Du bist ein schlaues Biest, stimmt’s?« »Manchmal. Ich versuche nur, deine Wünsche zu erfüllen.« Sie erregte ihn wie immer, aber es war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort. Er gab ihr einen Kuß und wandte sich ab. »Und nun zeig mir St. Martin. Kann man die Ile de Roc se hen?« »Ja, am Horizont, aber nur bei klarem Wetter.« »Fahren wir.« Er ging hinaus. Als sie sich umdrehte, um ihm zu fo lgen, wurde sie sich bewußt, daß Kemal sie wieder so eigenartig beobachtete wie schon mehrmals in letzter Zeit, und warf einen schnellen Blick auf sein undurchdringliches Gesicht und die Augen, in denen etwas Grausames lag, das eigens für sie be stimmt zu sein schien. Sie hastete an ihm vorbei, und er verließ hinter ihr das Haus. St. Martin war ein unscheinbarer Ort, dessen Bewohner, ins gesamt höchstens fünf- oder sechshundert, hauptsächlich von der Fischerei lebten und im Sommer an Feriengäste vermiete ten. An den schmalen Straßen mit Backsteinpflaster standen einfache, ziegelgedeckte Häuschen, und in dem kleinen, von 79
einem einzigen Wellenbrecher geschützten Hafen lagen viel leicht dreißig oder vierzig Fischerboote und winzige Kutter. Am Anleger war ein olivgrünes Landungsboot der Marine vertäut, kaum mehr als eine stählerne Hülle mit großen Stahltü ren als Bug. Darin stand ein Militärlaster, und während sie hin schauten, setzte sich das Boot langsam in Bewegung und tuk kerte aufs Meer hinaus. »Das ist also ihr Transportmittel zur Insel«, sagte Bobst. Wanda nickte. »Offensichtlich.« »Bernard zufolge hat der kommandierende Offizier dort draußen eine schnelle Barkasse zur Verfügung, die sein ganzer Stolz ist.« »Das stimmt. Sie hat gestern eine Weile hier gelegen.« »Gut. Das ist wirklich ausgezeichnet.« Sie verließen das Dorf in nördlicher Richtung und folgten ei ner schmalen Küstenstraße, bis Kemal, Wandas Anweisungen folgend, schließlich abbog, zwischen zwei steinernen Pfeilern durchfuhr und über einen Feldweg rumpelte. Bobst und Wanda stiegen aus, und sie reichte ihm einen Zeiss-Feldstecher, während sie zu den Klippen gingen. Tief unten war eine kleine Bucht, und der Pfad, der sich zwischen den Granitblöcken im Zickzack steil nach unten wand, war nichts für ängstliche Gemüter. Eine Wolke von Seevögeln stieg auf und umschwärmte sie kreischend, Krähenscharben, See möwen, Sturmtaucher und Tölpel, erstaunlich viele Tölpel. Die Ile de Roc war ein winziger Tupfen am Horizont, der erst zum Leben erwachte, als Bobst die Gläser regulierte. Sie schien ihren Namen zu Recht zu tragen, denn er sah massive Klippen, die fast senkrecht aus dem Meer aufragten, und darauf nur einen Schimmer von Grün. Militärische Einrichtungen wa ren nirgends zu erkennen, doch er wußte bereits, daß sie sich auf der Westseite befanden. Er senkte den Feldstecher. »Gut. Meinetwegen können wir 80
zurück.« Sie gingen wieder zum Citroen, und Kemal wendete und fuhr los. Auf dem Rückweg kamen sie an der Maison Blanche vorbei. Als sie einige hundert Meter weiter auf die Straße nach Lancy einbogen, beugte Bobst sich vor und tippte Kemal auf die Schulter. »Halt mal kurz. Was haben wir denn da?« Auf der Wiese neben den Bäumen standen drei alte, klappri ge Wohnwagen mit vielfach geflickten Zeltverdecken an einem Feuer. Alles, von den Kleidern der vier Frauen, die an den Flammen hockten und Kaffee aus Blechbechern tranken, bis zu den zerlumpten Kindern, die an dem Bach spielten, wo drei dürre Pferde weideten, strahlte mitleiderregende Armut aus. »Zigeuner?« fragte Bobst. »Ja, der Makler hat gesagt, hier in der Gegend gibt es welche. Er hat behauptet, sie sind kein Problem.« »Was sollte er sonst auch behaupten?« antwortete Bobst. »Statten wir ihnen einen Besuch ab, Yanni. Sie könnten nütz lich für uns sein.« Als sie sich den Bäumen näherten, blickten die Frauen ihnen neugierig entgegen, sagten aber nichts. Bobst blieb vor ihnen stehen, steckte die Hände in die Taschen und fragte: »Wo ist euer Anführer?« »Hier, Monsieur.« Der Mann, der aus der Baumgruppe getreten war, war minde stens siebzig Jahre alt. Über seinem rechten Arm hing eine Flinte mit abgeknicktem Lauf. Er trug einen Tweedanzug, vielmehr das, was einmal ein Tweedanzug gewesen war, und unter seiner blauen Baskenmütze quoll dichtes, schlohweißes Haar hervor. Sein stoppelbärtiges Gesicht war runzlig und ge gerbt. »Darf ich fragen, wer Sie sind?« sagte Bobst. 81
»Ich bin Paul Gaubert, Monsieur. Ist es auch erlaubt, Ihren Namen zu wissen?« »Ich heiße Bobst. Ich bin der neue Mieter der Maison Blan che. Ich denke, ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß Sie auf meinem Land kampieren.« »Aber Monsieur, wir sind jedes Jahr um diese Zeit hier. Bis her hat noch niemand etwas dagegen gehabt.« Der junge Mann neben ihm war mittelgroß und hatte ein weichliches, mürrisches Gesicht. Auch er hatte dringend eine Rasur, nötig. Er war ebenso schäbig gekleidet wie der Alte und hatte blauschwarzes Haar. Außer einer Flinte trug er noch ein paar erlegte Hasen. Bobst musterte ihn, und Gaubert sagte hastig: »Mein Sohn, Paul.« »Mit meinen Hasen, wenn ich nicht irre? Ich wüßte gern, was der Gendarm von St. Martin dazu sagen wü rde.« Der alte Gaubert breitete die Arme aus. »Bitte, Mons ieur, überall, wohin wir kommen, ist es das gleiche. Dreckige Zi geuner, sagen sie. Sie spucken uns an, und unsere Kinder müs sen hungern.« »Na gut.« Bobst zückte sein Portemonnaie. »Ich brauche die rührselige Geschichte nicht. Ihr könnt ble iben.« Er nahm ein paar Tausendfranc-Scheine heraus und steckte sie in Gauberts Brusttasche. »Das dürfte fürs erste reichen. Übrigens, ich habe etwas gegen Fremde, verstehen Sie?« Der alte Mann holte die Scheine heraus, betrachtete sie und lächelte breit. »Ich denke ja, Monsieur.« »Passen Sie ein bißchen auf das Haus auf, bis ich wieder zu rückkomme. Ich oder Monsieur Kemal, mein Angestellter.« »Verlassen Sie sich auf mich«, antwortete Gaubert und puffte seinen Sohn, der Wanda allzu offensichtlich mit Blicken ver schlang, heftig in die Seite. Sie gingen zum Citroen zurück, und als Kemal angefahren 82
war, fragte Wanda: »Und nun?« »Paris. Ich muß mit diesem argentinischen Piloten, diesem Montera, sprechen. Garcia hat gesagt, er habe zwölf Einsätze zu den Falklandinseln geflogen und überlebt.« »Ein wahrer Held«, bemerkte sie. »Ich dachte, so was ist aus der Mode gekommen.« »Ich auch, aber dieser Bursche scheint einer zu sein, und er eignet sich hervorragend für das, was ich vorhabe. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er weltberühmt sein.« 8 Wegen der Lage auf den Falklandinseln versammelten sich neuerdings ungewöhnlich große Mensche nmengen in Downing Street, und die Polizei sah sich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen; sie riegelte die Straße weitgehend ab. Als Ferguson seinen Sonderausweis vorzeigte, wurde sein Wagen durchgewinkt und hielt dann vor Nr. 10, wo er fünf Minuten vor seinem Termin bei der Premierministerin ausstieg. Der diensthabende Polizist salutierte, die Tür wurde geöffnet, noch ehe Ferguson sie erreicht hatte, und er betrat das Haus. Ein junger Referent begrüßte ihn und sagte: »Bitte hier entlang, Brigadier, die Premierministerin erwartet Sie.« Ferguson folgte ihm die Haupttreppe hinauf und kam nicht zum erstenmal in seiner Laufbahn an den Porträts früherer Premierminister vorbei, an den Bildnissen von Peel, Welling ton, Disraeli, Gladstone. Es erfüllte ihn jedesmal mit Ehrfurcht vor der Vergangenheit, und er fragte sich, ob es der Frau, die nun das höchste Amt des Landes bekleidete, ähnlich ging. Wahrscheinlich. Wenn jemand Sinn für Geschichte und das Schicksal des La ndes hatte, dann sie. Er bezweifelte, daß das Falkland-Unternehmen ohne ihre Zielstrebigkeit und Kühnheit stattgefunden haben würde. 83
Im obersten Korridor klopfte der junge Mann an eine Tür, öffnete sie und geleitete Ferguson in den Raum. »Brigadier Ferguson, Frau Premierminister«, sagte er und ging. Das Arbeitszimmer wirkte noch genauso elegant wie beim letztenmal, als Ferguson hier gewesen war, mit blaßgrünen Tapeten und goldfarbenen Vorhängen und behaglichen, außer ordentlich geschmackvollen Möbeln. Doch wie immer konnte nichts makelloser sein als die Frau mit den perfekt frisierten blonden Haaren, die in einem schlichten blauen Kostüm und weißer Bluse am Schreibtisch saß. Sie musterte ihn kühl. »Als wir das letztemal miteinander zu tun hatten, ging es um ein mögliches Attentat auf mich, Briga dier«, sagte sie. »Ja, Ma’am.« »Ihre Bemühungen waren damals nicht besonders erfolg reich. Wenn der Attentäter es sich in eben diesem Zimmer nicht im letzten Moment anders überlegt hä tte…« Sie ließ den Satz einen Augenblick in der Luft hängen und fuhr dann fort: »Wie ich sehe, hat es unser Geheimdienstchef für angebracht gehalten, Ihnen alles zu übertragen, was mit der Exocet-Frage zusammenhängt.« »Ja, Ma’am.« »Soweit ich weiß, wollten die Libyer den Argentiniern Nach schub liefern, was jedoch dank des von unseren Freunden in der arabischen Welt ausgeübten Drucks nicht mehr wahr scheinlich ist?« »So ist es, Prime Minister.« »Besteht irgendeine Möglichkeit, daß die Peruaner zu helfen versuchen?« »Um diese Eventualität haben wir uns schon gekümmert. Wir…« »Ersparen Sie mir bitte die Einzelheiten, Brigadier. Dann wä ren nur noch die Franzosen, und Präsident Mitterrand hat mir 84
sein Wort gegeben, daß das Waffene mbargo in Kraft bleiben wird.« »Das freut mich zu hören, Ma’am.« Sie stand auf, ging ans Fenster und blickte hinaus. »Briga dier, falls die Hermes oder die Invincible von einer einzigen Exocet getroffen werden sollte, würde dieser ganze Konflikt einen anderen Verlauf nehmen. Wir würden praktisch gezwun gen sein, uns zurückzuziehen.« Sie drehte sich um. »Ist es aus geschlossen, daß die Argentinier von einer anderen Quelle wei tere Exocets beziehen? Können Sie mir das garantieren?« »Ich fürchte, das kann ich nicht, Ma’am.« »Dann würde ich Ihnen vorschlagen, in dieser Ric htung tätig zu werden, Brigadier«, erklärte sie gelassen. »Gruppe Vier hat umfassende Befugnisse – uneingeschränkte Vollmachten von eben diesem Amt. Nutzen Sie sie, Brigadier, nutzen Sie sie auf jede Weise, die Ihnen angebracht erscheint. Tun Sie es für un sere Männer im Südatlantik, für uns alle.« »Vielen Dank, Prime Minister. Ich versichere Ihnen, daß ich mein Bestes tun werde.« Ferguson schritt zur Tür und verließ den Raum. Die Blicke der früheren Premierminister schienen ihm zu folgen, als er die Treppe hinunterging. Er fragte sich, ob er soeben einen kleinen Eintrag in die Annalen der Geschichte ergattert hätte, kam aber nach kurzem Überlegen zum gegenteiligen Schluß. Selbst wenn alles nach Wunsch klappte – das Unternehmen gehörte zu den Dingen, die man nachdrücklich dementieren würde. Er schmunzelte vor sich hin, während der Referent ihn zur Haus tür führte und sich mit einer Verbeugung verabschiedete. Als Harry Fox und Ferguson Kensington Palace Gardens er reicht hatten und mit dem Lift hinauffuhren, sagte Fox: »Wir verschwenden unsere Zeit, Sir. Ich habe versucht, am Telefon mit ihr zu sprechen, aber sie sagte nur, ich solle mich zum Te u fel scheren.« 85
»Wir werden sehen«, erwiderte Ferguson. Er stieß die Fahrstuhltür auf, ging um die Ecke zu Gabrielles Wohnungstür und klopfte. Nach einer Weile öffnete sie die Tür hinter vorgelegter Kette einen Spalt weit und spähte hinaus. »Was wollen Sie?« »Mit Ihnen reden.« »Aber ich nicht mit Ihnen. Verschwinden Sie!« Sie wollte zumachen, aber er stellte seinen Fuß dazw ischen. »Nicht einmal über Raul Montera?« Sie starrte ihn ausdruckslos an, nahm dann die Kette ab und drehte sich um. Ferguson folgte ihr, und Fox schloß hinter ih nen die Tür. Sie trat an den Kamin und zündete sich eine ihrer seltenen Zigaretten an. »Nun! Schießen Sie los.« Sie sah in ihrem Zorn, mit ihren haßerfüllten Augen einfach hinreißend aus, und Ferguson beschloß, auf Präliminarien zu verzichten. »Raul Montera kommt morgen nach Paris, um mit einem Mann namens Ralph Bobst zusammenzuarbeiten. Die argenti nische Regierung glaubt, dieser Bobst könne ihr eine Reihe von Exocet-Raketen beschaffen. Ich muß herausfinden, was sie vorhaben, und sie daran hindern. Ich möchte, daß Sie nach Pa ris fliegen, Kontakt mit Montera aufne hmen und alles tun, was nötig ist, damit wir ihnen das Handwerk legen können.« »Sie haben wohl den Verstand verloren. Ich werde nie wieder für Sie arbeiten, nie wieder, kapiert?« »Es ist Ihre Pflicht. Sie sind immer noch britische Staatsbür gerin.« »Ich bin aber auch Französin. Ich habe also eine ne utrale Stellung.« »Sie machen sich was vor«, sagte er ruhig. »Ihr Halbbruder, Leutnant Richard Brindsley, dient als Hubschrauberpilot auf 86
HMS Invincible, wie Sie genau wissen.« »Hören Sie auf!« sagte sie verzweifelt. »Ich werde nicht zu hören.« »Er ist bei der Achthundertzwanzigsten Staffel«, fuhr Fergu son unbarmherzig fort. »Bei derselben Staffel wie Prinz An drew. Ich darf Ihnen vielleicht sagen, was eine seiner unange nehmeren Pflichten ist. Die Hubschrauber werden oft als Köder für Exocet-Raketen eingesetzt. Prinz Andrew und Ihr Bruder und ihre Kameraden ha ndeln in dem Glauben, eine Exocet könne höchstens neun Meter über dem Meeresspiegel fliegen. Deshalb schweben sie etwas höher, bieten ein gutes Radarziel und schützen so den Flugzeugträger. Sie haben Anweisung, im letztmöglichen Augenblick blitzschnell nach oben zu steigen, damit die Rakete unter ihnen vorbeisaust. Le ider haben wir herausbekommen, daß Exocets diese Flughöhe dann und wann überschreiten. Ich verzichte darauf, noch deutlicher zu wer den.« Sie war vor Wut und Angst fast außer sich. »Ich hörte sowie so nicht zu. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.« »Und nun zu Ihrem Freund, Senor Raul Montera. Ein toll kühner Narr, wenn mir je einer begegnet ist, aber in diesem Krieg ist er unser Feind, Gabrielle, machen Sie sich da bitte keine Illusionen. Ein Mann, der mit seiner Skyhawk nicht we niger als zwölfmal eine Bombenlast von mehr als zwei Tonnen über unseren Schiffen ausgeklinkt hat. Ich möchte wissen, wel che Fregatte auf sein Konto geht.« Sie wandte sich ab. Ferguson nickte Fox zu und ging hinaus. Fox schloß die Tür und fand ihn mit plötzlich grau geworde nem Gesicht im Fahrstuhl. »Ich sagte Ihnen doch, es sei Zeitverschwendung.« »Quatsch«, fuhr Ferguson ihn an. »Sie wird es tun.« Während der Lift abwärts glitt, sagte er: »Sie wird jemanden zu ihrer Unterstützung brauchen, Harry. Jemanden, der absolut zuver lässig ist und vor nichts zurückschreckt. Wissen Sie, wo Tony 87
jetzt ist?« »Er operiert mit dem SAS irgendwo auf den Falklandinseln hinter den argentinischen Linien.« »Stimmt. Ich dachte, ich würde ihn vielleicht brauchen, und habe deshalb einen dringenden Funkspruch veranlaßt. Ich möchte, daß er dort rausgeholt und von einem U-Boot nach Uruguay gebracht wird. Der Flug von Montevideo nach Paris dauert nur vierzehn Stunden. Unsere Leute in der Botschaft in Montevideo können die notwendigen Papiere vorbereiten.« Sie verließen das Haus und gingen zum Wagen. Ferguson schloß: »Harry, ersparen Sie sich die Mühe, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich bin der abgebrühteste Schuft aller Zeiten.« Below und Garcia saßen mit Bobst im Arbeitszimmer von dessen Wohnung in der Rue de Rivoli und warteten, bis Wanda mit dem Kaffee- Einschenken fertig war. »Danke«, sagte Bobst zu ihr. »Nimm bitte die geschäftlichen Anrufe vom Londoner Büro entgegen und sag Yanni, er soll sich bereithalten. Ich werde ihn vielleicht brauchen.« Sie ging hinaus, und er sagte zu Garcia: »Oberst Montera kommt also morgen? Ich hoffe, Sie haben mir das Dossier über ihn mitgebracht, um das ich Sie gebeten habe? Ich wüßte zu gern, mit wem ich es zu tun habe.« »Selbstverständlich.« Garcia öffnete seine Aktentasche und nahm eine dünne Mappe heraus, die er über den Tisch schob. Bobst klappte sie auf, betrachtete das darin liegende Foto und überflog die Personalpapiere und andere Dokumente. »Ausgezeichnet«, sagte er endlich. »Wo soll er wo hnen?« »Ein Hotel schien nicht angebracht«, antwortete Garcia, »und die Botschaft noch weniger. Ich habe in der Avenue de Neuilly, direkt am Bois de Boulogne, in einem Mietshaus eine kleine Wohnung für ihn gemietet.« Er reichte ihm eine Karte. »Das sind die Adresse und die Telefo nnummer.« »Gut.« Bobst nickte. »Ich werde mich mit ihm in Verbindung 88
setzen, sobald er da ist.« Garcia sagte: »Es würde mich interessieren, wann wir etwas Näheres über den Plan erfahren dürfen.« Seine Stimme war ein bißchen gereizt. »Ich meine, Sie haben bisher nicht mal ange deutet, woher Sie die Exocets bekommen wollen.« »Das werde ich auch nicht tun«, erwiderte Bobst. »Das heißt, bis zum letzten Augenblick. Dies ist eine sehr delikate Sache. Je weniger Leute meine Quellen kennen, um so besser. Tut mir leid, aber so arbeite ich nun mal.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie nicht zufrieden sind, können Sie den Auftrag natür lich noch zurückziehen.« »Guter Gott, nein«, sagte Garcia hastig. »So habe ich es nicht gemeint, ich bitte Sie.« »Das freut mich. Wenn Sie uns nun bitte einen Moment allein lassen würden? Sie können nach nebenan gehen. Wanda wird Ihnen sicher noch eine Tasse Kaffee machen.« Garcia verließ das Zimmer. Below sagte: »Amateure. Was, zum Teufel, soll man mit ihnen machen?« »Dafür sorgen, daß sie keinen Schaden anrichten, das ist al les«, antwortete Bobst. »Ich habe Bernard schon alles klarge macht, daß er Garcia auf keinen Fall sagen soll, was ich von ihm will.« »Er weiß also noch nicht, daß Sie sich für die Ile de Roc in teressieren?« »So ist es.« »Können Sie sich aber auf Bernard verlassen?« »O ja, der gute Professor scheint wirklich Haare auf den Zä h nen zu haben. Für ihn ist die Angelegenheit so was wie ein heiliger Krieg gegen die Briten. Ich habe ihm nichts Genaueres gesagt, aber er denkt offensichtlich, ich wollte einen der Aero spatiale-Laster entführen, die dann und wann Exocets zur Ver schiffung nach der Ile de Roc zum Hafen bringen. Wenn er wüßte, was ich wirklich vorhabe, wäre er vielleicht weniger 89
erfreut. Jedenfalls ist er bis jetzt sehr gefällig gewesen.« »Und was passiert danach mit ihm?« »Ich denke, etwas angemessen Dramatisches. Er könnte zum Beispiel tot aufgefunden werden, mit einem Revolver in der Hand und mit einem Abschiedsbrief, in dem er bedauert, an einem Komplott gegen sein eigenes Land teilgenommen zu haben, um der argentinischen Regierung Exocets zu liefern. Der französische Geheimdienst wird ohne weiteres feststellen können, daß er schon in einem früheren Stadium des Unter nehmens technische Hilfe geleistet hat. Laut Garcia hat er bei verschiedenen längeren Telefongesprächen mit Buenos Aires viele Fragen beantwortet. Ich schätze, es dürfte sehr zufrieden stellend verlaufen. Frankreich ist immerhin eine Demokratie. Ein Hoch auf die freie Presse.« »Sie denken wirklich an alles, nicht wahr?« »Ich versuche es wenigstens. Und nun etwas, wobei Sie mir helfen könnten. Ich brauche eine Telefonnummer, die mich zu ein paar Männern führt, die für ein paar tausend Francs nicht davor zurückschrecken, jemanden umzulegen.« »Wie viele?« »Ich würde sagen, ungefähr acht. Das macht mit mir und Kemal zehn, mehr als genug für das, was ich plane, wenn es die richtigen Leute sind. Harte Jungs, bitte. Und sie dürfen nicht zuviel denken.« »Die Union Corse ist für so etwas sehr gut«, sagte Below. Die Union Corse war das größte Verbrechersyndikat Frank reichs, eine eindrucksvolle Organisation, deren Verästelungen bis in die Justiz und den Regierungsapparat selbst hinaufreic h ten. Bobst schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Sie mögen ja erstklassige Gangster sein, aber ihr patriotisches Gewissen könnte sich rühren. Der Fluch der Franzosen, Nikolaj, haben Sie das noch nicht bemerkt? Selbst die Kommunisten hier be 90
trachten sich zuerst und vor allem als Bürger der Grande Nati on.« »Sie haben recht«, räumte Below ein. »Zum Glück haben wir noch andere Kontakte. Fremdenlegionäre sind vielleicht besser als gewöhnliche Gangster.« »Gangster, die in der Armee gedient haben, gingen sicher auch. Nach all den Jahren in Algerien müßte es mehr als genug davon geben.« »Überlassen Sie das mir.« Bobst zog eine Schublade auf, nahm ein Blatt Papier heraus und reichte es dem anderen. »Außerdem brauche ich die Dinge, die hier aufgeführt sind.« Below studierte die Liste und zog die Augenbrauen hoch. »Danach zu urteilen, scheinen Sie ja einen Priva tkrieg führen zu wollen.« »So könnte man es ausdrücken.« In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Juan Garcia kam zurück. Er zitterte vor Aufregung, und seine Augen glänzten. »Um Gottes willen, was ist denn?« fragte Below. »Meine Herren, wir haben heute den 25. Mai, wissen Sie, was das in Argentinien bedeutet?« »Keine Ahnung.« »Es ist unser Nationalfeiertag, und er wird als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem wir der britischen Flotte die ver nichtendste Niederlage dieses Kriegs beigebracht haben. Es wird gerade im Fernsehen gezeigt, kommen Sie, beeilen Sie sich!« Er drehte sich um und lief hinaus. In dem Arbeitszimmer am Cavendish Square legte Ferguson mit ernstem Gesicht den roten Hörer auf. Harry Fox sagte: »Etwas Schlimmes, Sir?« »Das kann man sagen. Unser Zerstörer Coventry ist von Sky hawks angegriffen worden, als er bei San Carlos Landungs 91
fahrzeuge mit Nachschub deckte. Unter Umständen ist er auch von einer Exocet getroffen worden, das wissen wir noch nicht mit Sicherheit. Mindestens zwanzig Tote und viele Verwunde te. Er ist gekentert.« »Mein Gott«, sagte Fox. »Das ist leider noch nicht alles, Harry. Die Atlantic Conve y or, Sie wissen doch, ein Fünfzehntausend-TonnenContainerschiff, ist ebenfalls ausgeschaltet worden. Zwei Exo cettreffer definitiv bestätigt.« Er schüttelte den Kopf. »Wegen ihrer Größe auf dem Radarschirm haben sie sie wahrscheinlich für einen der Flugzeugträger gehalten.« Eine Weile waren nur die gedämpften Verkehrsgeräusche zu hören, die vom Platz heraufdrangen. Dann sagte Fox: »Was machen wir nun, Sir?« »Ich denke, das liegt auf der Hand«, erwiderte Ferguson. »Sie nicht?« Als er an diesem Tag zum zweitenmal an die Tür der Woh nung in Kensington Place Gardens klopfte, mußte er einige Minuten warten, ehe langsam Schritte näherkamen und die Tür bei vorgelegter Kette geöffnet wurde. Gabrielle schaute hinaus. Sie starrte ihn einen langen Mo ment an, machte dann auf und führte ihn ins Wohnzimmer. Sie trug den alten Bademantel und sah mit ihren unfrisierten Haa ren und geschwollenen Augen einigermaßen mitgenommen aus. »Haben Sie es gehört?« fragte Ferguson leise. Sie nickte. »Ja.« »Und?« Sie holte tief Luft und verschränkte die Arme. »Wann soll ich fahren?« »Ich denke, gleich morgen. Sie haben doch noch die Woh nung in der Avenue Victor Hugo?« »Ja.« 92
»Gut. Warten Sie dort. Unser Mann in Paris wird Ihnen sa gen, was Sie tun sollen, und notfalls kann Harry binnen zwei Stunden da sein. Da wäre aber noch etwas…« Sie sah jetzt unsäglich müde aus. »Was denn?« »Sie brauchen jemanden zu Ihrer Unterstützung. Jemanden, den, der hundertprozentig zuverlässig ist, so daß Sie Hilfe ha ben, wenn Sie in Schwierigkeiten kommen.« Es war, als wüßte sie, was nun kam. Ihre Augen weit eten sich vor Schreck oder gar Entsetzen. »Sie haben Tony zurückbeor dert?« »Ja. Er müßte in sechsunddreißig Stunden dort weg sein.« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich würde Sie am liebsten umbringen, Ferguson. Ich wünschte wirklich, Sie wären tot, was ich in meinem Leben noch nie von jemandem gewünscht habe. Sehen Sie denn nicht, was Sie aus mir gemacht haben? Sie und Ihresgleichen beschmutzen alles, was Sie anfassen.« »Harry wird die nötigen Reisevorbereitungen treffen«, sagte er. »Er hält die Verbindung mit Ihnen. Nehmen Sie ein paar Pillen und schlafen Sie aus. Danach wird es Ihnen besser ge hen.« Als sie das Haus verließen, hatte es angefangen zu regnen. Ferguson blieb stehen, um sich den Mantel zuzuknöpfen, und Fox sagte: »Kann sie es überhaupt schaffen, Sir? Wir erwarten sehr viel von ihr, ich meine vor allem, wo sie doch unsterblich in Montera verliebt ist.« »Ja, eine pikante Situation«, sagte Ferguson. »Aber wir haben keine andere Wahl, stimmt’s?« Er sah hinauf in den Regen und schlug den Mantelkragen hoch, ehe er die Stufen hinunterging. »Ich komme mir auf einmal so alt vor, Harry. Was halten Sie davon? Sehr, sehr alt.« In Buenos Aires drängten sich auf der Plaza del Congreso, vor dem Parlament, Zehntausende aufgeregter Menschen, und überall wehten blau-weiße Fahnen. 93
Die Rufe der Menge übertönten sogar das laute Hupkonzert: »Argentina! Argentina!« Auf einem Balkon, in Paradeuniform, das silberne Haar zurückgekämmt, stand Galtieri, hob den Arm zum Gruß wie ein römischer Imperator und nahm den Jubel der Menge entgegen. Dann änderte sich der Tonfall und wurde wie ein Chor an brandender Wellen, der alles andere unterdrückte, und das Wort, das sie immer wieder beschwörend ausriefen, war »Exo cet«. Ferguson saß am Feuer und röstete Sauerteigfladen, als Fox mit einem Funkspruch in der Hand das Wohnzimmer betrat. »Oh, ich wollte Sie sowieso sprechen, Harry. Haben wir in der Pariser Botschaft zufällig jemanden, der kein kompletter Idiot ist?« Fox überlegte. »George Corwin ginge vielleicht, Sir. Er war Captain bei den Green Howards, als wir ihn rekrutierten. Hat in Irland einiges geleistet. Seine Mutter ist Französin, deshalb haben wir ihn nach Paris geschickt.« »Ausgezeichnet. Er soll Montera beschatten, sobald dieser von Buenos Aires gekommen ist. Herausfinden, wo er wohnt, und mit Gabrielle Kontakt halten, bis Tony da ist. Apropos Tony, was ist da unten los?« »Ich wollte Ihnen gerade die Depesche zeigen, Sir. Text einer Nachricht vom Gefechtsstand in San Carlos über das SASHauptquartier in Hereford.« »Und?« »Bestätigen Major Villiers und Sergeant Major Jackson wie befohlen unterwegs.« »Ich möchte wissen, wie Tony reagiert hat, als man ihn so von der Front abkommandierte.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sehr erfreut war«, sagte Fox. »Tony bestimmt nicht«, bekräftigte Ferguson. »Es ist schließ 94
lich der einzige richtige Krieg, den er bisher bekommen hat.« 9 Am Tag davor war es in den Bergen von Ost-Falkland bei Morgengrauen ganz ruhig gewesen, und das einzige Geräusch weit und breit war gelegentliches Hundeklä ffen, das von einer der Farmen weit unten im Tal heraufdrang. Der SAS-Spähtrupp, der vor der Landung der Briten am 21. in San Carlos von einem U-Boot vor der Küste abgesetzt wor den war, arbeitete nun schon seit zehn Tagen hinter den arge n tinischen Linien. Er bestand aus vier Männern: Villiers, Harvey Jackson, Corporal Elliot vom Königlichen Fernmeldekorps und einem Soldaten namens Jack Korda, der sich wie Villiers und Jackson freiwillig von seiner Stammeinheit, den Grenadier Guards, zum Special Air Service Regiment gemeldet hatte. Es war bitterkalt. Villiers hatte beim Erwachen festgestellt, daß sein Schlafponcho mit Reif bedeckt war. Er stand jetzt in der Senke neben einer kleinen Höhe, kaum mehr als eine Fels spalte, wo Korda auf einem Spirituskocher Tee machte. Villiers hatte wie die anderen eine dicke schwarze Wollmütze auf, die Ohren und Hals bedeckte, aber mehr wegen der Kälte als zu Tarnungszwecken. Seine Geländemontur war klitschnaß, und seine Finger waren taub vor Kälte, als er aus einem Blech napf sein Frühstück löffelte. Jackson saß mit gekreuzten Be i nen auf der Erde und schabte sich mit einem Rasierer Schaum vom Kinn. Villiers’ Löffel kratzte am Boden des Blechnapfs. Er tat bei des in seinen Rucksack zurück und nahm den Becher mit Tee, den Korda ihm reichte. »Ich habe für den Rest meines Lebens genug Hühne rsuppe gegessen. Was ist mit dir, Harvey?« »Oh, sie nährt mich so gut wie alles andere«, antwortete 95
Jackson. »Essen ist nicht so wichtig, wie manche Leute mei nen. Als ich mit siebzehn Jahren anfing und in die Gardemesse gehen mußte, war der Fraß so scheußlich, daß ich mir abge wöhnt habe, über Essen nachzudenken.« Elliot hockte am Funkgerät, und Villiers trat zu ihm. »Alles in Ordnung?« Elliot blickte hoch und nickte. »Ich lasse es gleich abgehen.« Die Aufgabe der Männer war einfach genug: möglichst viel über die argentinischen Truppenbewegungen in ihrem Gebiet herauszufinden. Diese Informationen würden außerordentlich wichtig sein, wenn britische Einheiten vom Brückenkopf in San Carlos aus ins Landesinnere vorstießen. Elliots elektronische Ausrüstung war supermodern. Das wichtigste Gerät war eine winzige Tastatur, eine MiniaturSchreibmaschine, mit der er Nachrichten eintippte, die automa tisch verschlüsselt und gespeichert wurden. Ein Knopfdruck genügte dann, um in Sekundenschnelle Mitteilungen zu fun ken, die einige hundert Worte lang sein konnten. Die Sendezeit war so kurz, daß es für den Gegner unmöglich war, sie aufzu spüren und mitzuschneiden. Elliot sah auf und grinste. »Das war’s.« Er fing an, seine Elektronik einzupacken. Korda krabbelte mit frischgemachtem Tee aus der Spalte. »Wann geht es endlich los, Sir? Wie lange noch?« »Rationen für vier weitere Tage«, erinnerte Villiers ihn. »Notfalls können wir also noch eine Woche aushalten«, be merkte Harvey Jackson. »Und wenn wir nichts gegen rohes Hammelfleisch haben, auch noch länger. Hier wimmelt es ja von Schafen. Den Argies scheinen sie ganz gut zu bekommen.« Ehe Korda antworten konnte, sagte Villiers: »Moment, da ist was.« Sie hörten ein fernes Brummen, das allmählich lauter wurde. Villiers und die anderen krochen vorsichtig zum Rand der Sen 96
ke und spähten in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Sie harten alle die gleiche Waffe, die schallgedämpfte Version der Sterling-Maschinenpistole. Auf der Geröllpiste, ein paar hundert Meter weiter, näherte sich ein argentinisches Halbkettenfahrzeug. Die Vorderräder schienen auf dem vereisten Boden dauernd durchzudrehen, und nur die Halbketten hinten griffen. Der Fahrer und der Mann, der mit einem Gewehr auf den Knien neben ihm saß, waren bis zu den Ohren gegen die schneidende Kälte vermummt und hatten sich noch Wollschals um die Gesichter gebunden. »Wie eine Zielscheibe«, sagte Elliot. »Selbst wenn hinten noch jemand sein sollte.« Aber der Spähtrupp hatte Befehl, Informationen zu sammeln und Konfrontationen zu vermeiden. Villiers sagte: »Nein, laßt sie fahren.« Da bremste das Fahrzeug, kam bedrohlich ins Rutschen und hielt endlich beinahe quer auf der Piste, genau hinter ihnen. »Achtung!« sagte Villiers. Sie drückten sich in die Senke. Der Fahrer sprang he raus, und Villiers hörte, wie er auf spanisch sagte: »Dieser verdammte Motor mit diesem Scheißöl, das angeblich nicht gefriert und sich trotzdem in Klumpen verwandelt. Was sollen wir bloß machen, in dieser gottverlassenen Gegend?« Er klappte die Kühlerhaube hoch, um den Motor zu untersuchen. Sein Kame rad nahm das Gewehr mit, als er ausstieg, und zündete sich eine Zigarette an. »Los, weg hier«, zischte Villiers. Als sie vom Rand der Senke zurückrutschten, streckte Korda die Hand aus, um Halt zu suchen. Steine und Erde lösten sich und fielen, weiteres Geröll mitreißend, den steilen Hang auf die Piste hinunter. Die beiden argentinischen Soldaten riefen etwas, der mit dem Gewehr fuhr herum und hob instinktiv die Waffe, und Harvey 97
Jackson hatte keine andere Wahl, als aufzuspringen und ihn mit der schallgedämpften Sterling zu erschießen. Man hörte nur den repetierenden Bolzen. Das Gewehr des Argentiniers sege l te durch die Luft, und der Mann fiel gegen den Laster. Der Fahrer hob unaufgefordert die Hände und wartete, wäh rend die vier Männer den Hang hinunterkletterten. Korda Korda drückte ihn an das Fahrzeug, und Jackson zwang ihn, die Beine breit zu machen, und durchsuchte ihn mit geübten Grif fen. »Nichts«, sagte er zu Villiers und drehte den Soldaten herum. Er war noch ein Junge, höchstens siebzehn oder achtzehn, zu Tode geängstigt. »Was habt ihr geladen?« fragte Villiers auf spanisch. »Nachschub, Ausrüstung«, sagte der Junge eifrig. »Sonst nichts, Senor, ich schwöre es. Bitte töten Sie mich nicht.« »In Ordnung«, sagte Villiers und nickte Jackson zu. »Sieh mal hinten nach.« Er bot dem Jungen eine Zigarette an und reichte ihm Feuer. Der Gefangene bebte vor Angst. Jackson kam zurück. »Müssen Pioniere sein. Eine Menge Landminen, Sprengstoff und so.« Villiers sagte zu dem Argentinier: »Sind Sie bei einer techni schen Einheit?« »Nein«, sagte der Junge. »Transport. Aber ich glaube, die Männer, die ich gestern abend nach Bull Cove gebracht habe, das waren Pioniere.« Bull Cove war ein Platz, den Villiers und die anderen vom Spähtrupp gut kannten. Als eine der ersten Aufgaben hatten sie nach ihrer Ankunft die Gegend auf Küstenabschnitte untersu chen müssen, wo man weitere Truppen landen könnte, wenn der Vormarsch von San Carlos aus beginnen würde. Bull Cove erfüllte fast alle Voraussetzungen: eine versteckte kleine Bucht mit einer schmalen Fahrrinne zwischen den Felsen, die sie 98
säumten, und weiter oben ein stillgelegter, alter Leuchtturm. Villiers hatte einen sehr positiven Bericht gefunkt. »Wie viele waren es?« »Ein Offizier und zwei Soldaten, Senor. Hauptmann Lopez. Sie haben eine Menge Ausrüstung abgeladen, und dann hat der Hauptmann gesagt, er braucht noch zwei Spezialzünder.« Er nahm eine halb zerknüllte Liste aus der Tasche. »Sehen Sie, da, Senor. Er hat mich zum Stützpunkt zurückgeschickt, um die Zünder zu holen.« Jackson sah Villiers über die Schulter. »Kaden-Zünder. Ziemlich gewaltige Dinger. Was, zum Teufel, will er wohl da mit?« »Den Leuchtturm sprengen, Senor«, sagte der Junge bereit willig. »Und auch ein paar Felsen, glaube ich.« »Den Leuchtturm sprengen?« fragte Jackson. Der Junge nickte. »Ja, Senor, ich habe gehört, wie sie darüber redeten.« »Quatsch«, sagte Jackson. »Wozu die Mühe? Er ist seit drei ßig Jahren nicht mehr benützt worden. Gibt keinen Sinn.« »O doch, Harvey«, sagte Villiers. »Wenn man seine Lage auf den Felsen oberhalb der Fahrrinne bedenkt. Falls er runter stürzt, ist die einzige Zufahrt zur Bucht blockiert.« »Jesus«, sagte Jackson. »Dann sollten wir besser etwas un ternehmen, und zwar schnell.« Er wandte sich an den Jungen und fuhr in holprigem Spanisch fort: »Wie weit von hier auf diesem Weg?« »Fünfzehn oder sechzehn Kilometer um den Berg he rum.« »Aber nicht damit, der macht’s nicht mehr.« Villiers trat ge gen das Halbkettenfahrzeug. Es stank nach Be nzin, und aus dem Tank tröpfelte ein stetes Rinnsal und taute den gefrorenen Boden. »Du hast zu gründliche Arbeit geleistet, Harvey.« Jackson fluchte laut. »Was, zum Teufel, sollen wir also tun?« 99
Villiers drehte sich um und blickte den Berg hoch, dessen Gipfel im Dunst verschwand. »Bull Cove ist genau auf der anderen Seite. Höchstens zehn Kilometer. Wir nehmen eben den schwierigen Weg. Du, ich, Korda. Die Ausrüstung bleibt hier. Nur Sterlings. Wir werden jetzt herausfinden, wozu der Härtetest in Breconshire gut war.« Sie gingen zu dem versteckten Lager zurück, wobei Jackson den Jungen vor sich her stieß. Während Villiers die überflüssi ge Ausrüstung auf einen Haufen warf, sagte er zu Elliot: »Sie kommen mit dem Gefangenen nach. Kümmern Sie sich nicht um das Zeug hier. Nehmen Sie nur das Funkgerät und das, was Sie unbedingt brauchen.« »Ja, Sir.« »Übrigens, der Junge«, sagte Villiers. »Ich möchte, daß er mit Ihnen ankommt. Erzählen Sie bloß nichts von einem Fluchtversuch, bei dem Sie ihn umlegen mußten, verstanden?« »Sehe ich so aus, als ob ich dazu fähig wäre?« fragte Elliot empört. »Ja«, antwortete Jackson trocken. »Halten Sie sich also zu rück. Ich gebe Ihnen zweieinhalb Stunden, damit Sie aus Rück sicht auf den Jungen einen leichteren Weg nehmen können. Wenn Sie auch nur fünf Minuten später da sind, knöpfe ich Sie mir persönlich vor.« »Los jetzt«, unterbrach Villiers. »Wenn wir uns nicht beeilen, schaffen wir es nie.« Er drehte sich um, verließ die Senke und fing an, den Hang hochzulaufen. Von fünfzig Soldaten, die sich freiwillig zum Special Air Service Regiment melden, wird nur einer aufgenommen, sagt man. Höhepunkt einer ziemlich brutalen Ausleseprozedur ist der Härtemarsch durch die Brecon Beacons in Südwales. Der potentielle Neue muß mit vierzig Kilo schwerem Sturmgepäck und Gürteltaschen, die weitere sieben Kilo wiegen, fünfund siebzig Kilometer durch eines der unwegsamsten Gelände Großbritanniens marschieren. Sein acht Kilo schweres Gewehr 100
muß getragen werden, weil SAS-Waffen keine Schulterriemen haben, damit sie augenblicklich schießbereit sind. Während Villiers sich durch den Dunst nach oben kämpfte, mußte er daran zurückdenken, wie er jenen Höllenmarsch durch die Berge mit letzter Kraft überstanden ha tte. Er hörte, wie Jackson sich keuchend näherte. »Genau wie diese verregneten Beacons. Jetzt brauchen nur noch ein paar Tropfen zu fallen, und wir können uns wie zu Haus fühlen. Wozu eigentlich die Eile? Ich me ine, wenn sie den Jungen losgeschickt haben, um die Zünder zu holen, sche i nen sie sich doch Zeit zu lassen.« »Ich hab ein schlechtes Gefühl im Magen«, antwortete Vil liers. »Du kennst mich ja. Es hat mich noch nie getrogen.« »Das reicht«, antwortete Jackson, wandte sich um und schrie zu Korda, der zwanzig Meter hinter ihm kle tterte, hinunter: »Los, du fauler Hund, beeil dich!« Statt den steilen Hang schräg anzugehen, stieg Villiers auf dem kürzesten Weg hinauf, und die anderen folgten ihm. Sie erreichten eine brüchige Böschung aus Stein und Schiefer, hin ter der eine fast senkrechte Felswand aufragte. In einigen Rit zen wuchsen Grasbüschel. Villiers hielt inne und sah seine Kameraden an. »Okay?« »Ganz und gar nicht«, antwortete Jackson. »Mir wird ent schieden mulmig.« Korda sagte: »Was ich alles für England tue. Meine alte Mut ter wird stolz auf mich sein.« »Sie haben doch nie eine gehabt, mein Sohn«, sagte Jackson, und als sie loskletterten, begann es zu nieseln. »Paß auf«, sagte Villiers. »Hier gibt’s nicht viel Halt.« Er steckte seine Maschinenpistole in die Jacke der Tarnuni form und zog den Reißverschluß hoch. Sperrig, aber so hatte er wenigstens die Hände frei. Kurz darauf probierte er, ob ein vorspringender Felsbrocken festsaß, aber der Stein löste sich, 101
und er drehte sich blitzschnell zur Seite und rie f eine Warnung. Der Brocken hüpfte und polterte den Hang hinunter und ver schwand im weißgrauen Dunst. »Nichts passiert?« »Noch nicht«, rief Jackson. Villiers kletterte weiter und stand einen Augenblick später am Rand eines kleinen Plateaus. Jackson und Korda kamen hinterher. »Und jetzt?« fragte Jackson. Villiers deutete über das Plateau auf die große, dunstverha n gene Felswand, die weiter dahinter aufragte. Spalten und Risse zogen sich wie schwarze Finger über sie hin. Er trabte zwi schen großen Blöcken hindurch über das Plateau, und als er die Felswand erreichte, sah er, daß sie nicht senkrecht aufragte, sondern in riesigen Steinplatten schräg nach oben führte. »Großer Gott«, sagte Korda, hinaufblickend. »Der hilft nur denen, die sich selbst helfen«, sagte Jackson. »Also nichts wie rauf.« Villiers kletterte voran und konzentrierte sich angestrengt auf den Fels vor sich, sah kein einziges Mal nach unten, denn er war nicht ganz schwindelfrei – ein Geheimnis, das er all die Jahre strikt für sich behalten hatte. Wenn das Auswahlkomitee davon gewußt hätte, wäre er nie zum SAS 22 gekommen, das stand fest. Einmal hielt er inne, drückte sich an den Fels und hatte einen Augenblick lang das Gefühl, frei im Raum zu schweben. Es war, als versuchte eine Riesenhand ihn fortzuziehen. »Alles in Ordnung, Sir?« rief Jackson. Das brach den Bann. Villiers nickte und kletterte weiter, ve r gaß seine schmerzenden Gliedmaßen, den eisigen Wind, seine tauben Hände. Endlich hievte er sich auf eine schräge Felsplat te und erreichte ein breites Sims. Die Wand vor ihm war etwa dreißig Meter hoch. 102
Er wartete, bis die anderen neben ihm waren, was ein paar Minuten dauerte. »Jesus, jetzt hab ich aber genug«, sagte Jackson. Villiers zeigte auf eine dunkel gähnende, kaminartige Kluft im Gestein, die durch den massiven Fels gerade nach oben zu laufen schien. »Sieht schlimm aus, ist aber am leichtesten zu klettern.« »Du kannst mir viel erzählen«, sagte Jackson. Villiers zog sich hinauf in die Schwärze, drehte sich dann um und stemmte sich, wie es jeder Bergsteiger lernt, mit dem Rük ken gegen die eine und mit den Füßen gegen die andere Wand und legte dabei alle drei oder vier Meter eine kurze Pause ein. Nach einer Weile stellte er fest, daß man gut klettern konnte und daß es mehr als genug Halt für Hände, Rücken und Füße gab. Zehn Minuten später kroch er über den oberen Rand des Kamins. Der Wind schnitt wie Rasiermesser, und der Regen war hier oben mit Hagel durchsetzt. Er zog die Fäustlinge wieder an und stapfte mit den Füßen, um die bittere Kälte abzuwehren. Kurz danach trat Jackson zu ihm, dann auch Korda. Beide sahen total fertig aus. Die Berge neigten sich, in grauen Dunst und niedrige Wolken gehüllt, zum Meer hinunter. Plötzlich riß der Wind ein Loch in den wabernden Vorhang, und sie erblickten einen Moment lang den Atlantik und weit, weit unten die winzige Bucht und den weißen Finger des Leuchtturms oberhalb der Fahrrinne. »Da ist es, Bull Cove«, sagte Villiers, als die Duns tdecke sich wieder schloß. »Weiter!« Hauptmann Carlos Lopez wickelte vorsichtig die Drähte ab, deren eines Ende er eben mit der Sprengladung im zweiten Stock verbunden hatte, und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Jetzt waren alle fünf Stockwerke vorbereitet, und es blieb nur noch das Erdgeschoß. Er hatte es viel schne ller 103
geschafft als erwartet, und während er die Wendeltreppe hinun terging und die Schnur weiter abrollte, pfiff er gutgelaunt vor sich hin. Unten führte er die Zündschnur zur Mitte des Raums, wo ein großer, bläulich schimmernder Zylinder bereitstand. Behutsam hob er den Deckel ab. Drinnen waren verschiedene Anschlußbuchsen und zwei Knöpfe, ein gelber und ein roter. Mit präzi sen, sicheren Bewegungen schloß er die Drähte an, lehnte sich zufrieden zurück und drückte leicht auf den gelben Knopf. Er blickte auf und lächelte. »Jetzt hast du nur noch eine Stun de, Baby, und dann kommt der große Knall.« In der Nähe peitschten Schüsse, und als Lopez herumfuhr, stand ein Soldat in der Türöffnung. »Was ist, Olivera?« »Die Briten! Sie kommen den Berg hinunter.« »Wie viele?« »Ich habe drei gezählt.« Im Augenblick war alles still, und trotzdem spritzte plötzlich Blut, und Olivera taumelte wie in einem irren Tanz durch die Tür und stürzte mit dem Gesicht nach unten zu Boden; auf sei nem gesteppten Mantel waren schwelende Ringe zu erkennen. Lopez ergriff eine Uzi-Maschinenpistole und lief geduckt zur Tür. Dann wartete er. Es war reines Pech gewesen, daß Carvallo, der dritte Arge n tinier, in einem alten Schafstall am Hang gesessen hatte, weil das rostende Wellblechdach Schutz vor Regen bot. Er rauchte eine Zigarette und schrieb einen Brief an seine Freundin da heim in Bahia Bianca. Er reckte sich, stand auf und trat aus dem Stall – und erblick te zu seiner Verblüffung die drei SAS-Männer, die vorsichtig den Pfad herunterkamen. Sie sahen ihn im selben Moment. Er riß seine Maschinenpistole hoch und feuerte blindlings eine Salve ab, die in den Himmel ging, während Jackson und Korda 104
einen Sekundenbruchteil danach abzogen und ihn in den Stall zurückwarfen. »Jetzt!« rief Villiers. »Aber schnell!« Korda lief den Pfad hinunter, Jackson hielt sich links davon, Villiers rechts. Sie verließen die Deckung und rannten, so schnell sie konnten, sahen, wie Olivera zum Leuchtturm sauste und im Eingang stehenblieb. Villiers und Korda feuerten gleichzeitig, und Olivera stürzte hinein. Villiers ließ sich auf ein Knie fallen, um neu zu laden, und Korda lief den Weg weiter nach unten, völlig ungedeckt. »Nein!« schrie Villiers, doch in diesem Augenblick beugte Lopez sich vor und feuerte eine lange Salve, die Korda zu Bo den schleuderte. Der Junge blieb kurz liegen, drehte sich um und ve rsuchte zu kriechen. Lopez schoß wieder, und die Kugeln wirbelten dicht an Kordas Kopf kleine Staubfontänen auf. Jackson rannte zu Korda und nahm im Laufen die Türöffnung unter Feuer. Dann blockierte seine Sterling, weil sie zu heiß geworden war, was bei starker Benutzung mit Schalldämpfer dann und wann passierte. Jackson ergriff den Jungen am Ge nick und zog ihn hinter einen alten Wassertrog, ein ungenü gender Schutz, aber besser als keiner. Im Leuchtturm schob Lopez ein neues Magazin in seine Uzi und durchsiebte den Trog mit ein paar Salven, bis Wasser aus einem Dutzend Lö chern sprühte. Villiers schraubte den Schalldämpfer seiner MP ab, stieß ein neues Magazin hinein und lief den Hang weiter hinunter zum Leuchtturm, verschoß dabei das ganze eben geladene Magazin. Als er keinen Schuß mehr hatte, warf er sich in den eisigen Morast, robbte weiter und griff nach der Smith & Wesson Ma gnum in der rechten Hosenbeintasche. Lopez hörte den letzten Schuß der MP, dachte nicht weiter nach und sprang mit schußbereit erhobener Uzi ins Freie. Vil 105
liers schoß ihn in die rechte Schulter, er wirbelte herum, und seine Maschinenpistole segelte zu Boden. Der Argentinier rutschte langsam an der Mauer hinunter, als Villiers zu ihm ging und die Uzi zur Seite trat. »Gut gemacht«, sagte Lopez. »Meinen Glückwunsch.« Villiers öffnete eine Tasche am linken Hosenbein, holte Ver bandszeug heraus und knickte es auf. »Da, drücken Sie das drauf.« Er drehte sich um und lief zu dem Wassertrog. Korda lehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht dagegen, während Jackson das Verbandszeug aufmachte, das er aus seiner linken Hosenbein tasche geholt hatte. »Er wird es schaffen«, sagte Jackson. »Obgleich er es aber nicht verdient hat. Verrückter Bastard«, fügte er hinzu, als er Korda eine Morphiumspritze in den Arm jagte. »Was glauben Sie, wer Sie sind, Audie Murphy?« »Wer ist das?« fragte Korda schwach. »Vergessen Sie’s.« Jackson gab ihm eine Zigarette, um dann Villiers zum Leuchtturm und zu Lopez zu folgen. »Paß auf ihn auf«, sagte Villiers und ging hinein. Er bemerk te den blauen Zylinder sofort, und dann folgte sein Blick den Drähten, die die Wendeltreppe nach oben liefen. Er drehte sich um: »In jedem Stockwerk eine Ladung, alle miteinander ver bunden?« »Selbstverständlich, mein Bester. Wenn eure Leute gehofft haben, diesen Hafen zu benutzen, sollen sie sich besser was anderes einfallen lassen. Wenn das Ding in die Luft geht, fallen die Trümmer genau in die Einfahrt. Ich verstehe was vom Sprengen.« »Warum haben Sie Ihre Jungs zurückgeschickt, um KadenZünder zu holen?« »Ich wollte ein paar Klippen mitschicken.« 106
»Gut, daß wir rechtzeitig gekommen sind«, sagte Villiers. »Glauben Sie? Fassen Sie den Zylinder an, dann werden Sie sehen. Der Zeitzünder läuft.« Lopez blickte auf seine Uhr und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Noch fünfundvierzig Minu ten, aber es gibt da noch einen Notzünder, der bei der kleinsten Berührung alles in die Luft jagt.« »Wirklich?« Villiers nickte Jackson zu. »Schaff ihn rein, Harvey.« Er ging wieder hinein und hockte sich neben den blauen Zy linder. Jackson stützte den Argentinier und half ihm, sich hin zusetzen. Lopez drückte sich den Verband auf die Wunde. Villiers sagte: »Ich hab schon mal so ein Ding gesehen, aber nur in einem Militärhandbuch. Russisch, nicht?« »Ja.« »Sie haben also den gelben Knopf gedrückt, der den Zeitzü nder in Gang setzt, und Sie sagen, das verdammte Ding ist töd lich, wenn ich versuche, einen Draht zu entfernen.« Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und fischte eine her aus und steckte sie zwischen die Lippen. »Und wenn ich mich recht erinnere, unterbricht dieser rote Knopf den Stromkreis.« »Sie haben ein gutes Gedächtnis.« »Der Zeitzünderkontakt ist dann auch unterbrochen, und man hat drei Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen, ehe das Ding hochgeht, nicht wahr?« Er drückte den roten Knopf, und Lopez rief: »Heilige Mut tergottes, nein!« »Es liegt bei Ihnen«, fuhr Villiers ihn an. »Ich nehme an, Sie wissen, wie man es rückgängig machen kann?« Er warf einen Blick zu Jackson hoch. »Sergeant Major, vielleicht täten Sie besser daran, schleunigst nach draußen zu gehen.« Jackson holte ein Feuerzeug aus der Tasche und gab ihm Feuer. »Als Sie noch Leutnant in Caterham waren, mußte ich Ihnen einige Male einen Tritt in den Arsch geben, Sir«, sagte 107
er. »Wenigstens bildlich gesprochen. Ich bin durchaus bereit, es wieder zu tun, wenn Sie weiter solche Vorschläge machen.« »Mein Gott!« sagte Lopez. »Diese verfluchten Briten. Alle verrückt.« Er robbte zu dem Zylinder und sagte zu Villiers: »Meinetwegen, tun Sie jetzt genau, was ich sage.« Als Elliot anderthalb Stunden später, den jungen Argentinier vor sich her treibend, endlich den Pfad herunterkam, waren Korda und Lopez unten im Leuchtturm, denn es hatte noch nicht aufgehört zu regnen. Villiers hatte sich von einem Stock werk zum nächsten weitergearbeitet und unterbrach gerade den Kontakt zur letzten Sprengladung. Jackson ging Elliot entgegen. »Sie kommen ganz schön spät.« »Ich hab ein Warnzeichen bekommen. Mußte stehe nbleiben und einen Notspruch für Sie und den Major empfangen.« Villiers trat in die Tür. »Was für einen Notspruch?« »Vom Hauptquartier, Sir. Man will Sie sehen, am besten schon gestern. Klang echt dringend.« Das Dröhnen der Motoren ließ Villiers aus dem Schlaf schrecken. Er lag einen Augenblick wie betäubt in der Koje und starrte stirnrunzelnd zu dem stählernen Schott hinauf und versuchte sich zu erinnern, wo er war. Dann fiel es ihm ein. Die Clarion, ein herkömmliches U-Boot mit Diesel- ElektroAntrieb. Es hatte sie am Nachmittag vor Bull Cove aufgeno m men. Jackson saß auf einem Stuhl in der Ecke und beobachtete ihn. »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du im Schlaf redest?« »Das hat mir gerade noch gefehlt. Gib mir eine Zigarette.« »Vielleicht hast du dieses Spiel zu lange gespielt.« »Haben wir das nicht alle? Warum fahren wir mit Diesel?« »Wir sind wieder oben. Commander Doyler hat mich ge schickt, um dir zu sagen, daß du in einer Viertelstunde soweit sein sollst.« 108
»Okay, ich brauche nur fünf Minuten.« Jackson ging hinaus, und Villiers setzte sich auf den Rand der Koje. Er zog die Jeans und den Pullover an, die sie ihm gege ben hatten, und fragte sich, was das Ganze sollte. Kein Mensch hatte ihm etwas sagen können, jedenfalls nichts, was ihm wei tergeholfen hätte. »Nach dem Warum zu fragen, steht uns nicht zu«, murmelte er vor sich hin, als er die Gummistiefel anzog und nach einer Matrosenjacke griff. Die Zigarette schmeckte wie Stroh, und er drückte sie aus. Er war müde, das war das Problem. Zu verdammt müde, und alles drohte an den Rändern zu verschwimmen. Was er brauchte, war eine Ruhepause, aber eine lange. Er ging hinaus, trat in den Kontrollraum und stieg die schma le Leiter im Kommandoturm hoch. Der Kreis der Nacht über ihm war mit Sternen besetzt, und als er die salzige Luft zu at men begann, fühlte er sich schon besser. Doyle sah durch ein Nachtglas zur Küste hinüber, und Jack son stand neben ihm. Villiers fragte: »Wie steht’s?« »Das da ist Uruguay. Ein paar Meilen weiter nach Steuerbord liegt La Paloma. Wir setzen Sie möglichst nahe bei Montevi deo ab. Die See ist ein bißchen kabbelig, sollte Ihnen aber nicht allzu viele Schwierigkeiten machen. Ich nehme an, Sie tun so was nicht das erstemal?« »Leider nicht.« Doyle studierte die Küstenlinie noch eine Weile, beugte sich dann vor und sprach in sein Mikrofon. Das U-Boot wurde langsamer, und der Commander wandte sich an Villiers: »Tut mir leid, aber näher können wir nicht ran. Sie holen schon Ihr Dingi aus der Luke.« »Vielen Dank fürs Mitnehmen«, sagte Villiers und gab ihm die Hand. Er ging zur Seite und stieg vor Jackson die Leiter hinunter zu 109
dem zigarrenförmigen Rumpf. Das Schlauc hboot war, von zwei Vollmatrosen gehalten, bereits im Wasser. Jackson sprang hinein, und Villiers folgte. Die Dünung ging recht stark, und einer der Männer glitt an den rutschigen Stahlplatten des Rumpfes ab und fluchte laut. »Sind Sie soweit, Sir?« fragte der verantwortliche Maat. »Und wie.« Die Matrosen machten die Leinen los, und die Tide zog das Dingi augenblicklich vom U-Boot fort in Ric htung Küste. Es ging eine steife Brise, und die Wellen warfen Schaumkronen. Als Villiers nach einem Paddel griff, schoß Wasser über die Seite. Er verlagerte sein Gewicht, und sie paddelten los. Das hinter einem Gischtschleier liegend e Ufer schien auf einmal sehr nahe zu sein. Jackson fluchte, da immer wieder Wasser ins Boot schwappte, und dann wurden sie auf einen hohen Wellen kamm gehoben, und Villiers sah den weißen Strand mit den Dünen dahinter. Die Wellen brachen sich in einem glitzernden und sprühe nden Schaumrand. Sie drehten bei, und Jackson sprang in das hüfttiefe Wasser, um das Boot an Land zu ziehen. »Ist das Leben nicht herrlich?« sagte er, als Villiers an einer seichteren Steile aus dem Boot sprang. »Hör auf zu meckern und nichts wie weg hier«, antwortete Villiers unfreundlich. Sie zogen das Boot zur nächsten Düne, Jackson stieß mit sei nem Messer ein paar Löcher hinein, und sie bedeckten es mit Sand. Dann gingen sie durch die Dünen hoch und sahen rechts ein großes Strandcafé mit geschlossenen Läden, aus denen kein Licht drang. »Das scheint es zu sein«, sagte Villiers. An der Uferbefestigung stand eine dunkle Limousine. Als sie näher kamen, wurde die Tür geöffnet, und ein Mann in einem Anorak stieg aus und wartete auf sie. 110
»Schöne Nacht für einen Spaziergang, Senores«, sagte er auf spanisch. Villiers gab die Codeantwort, auf englisch: »Sorry, wir sind fremd hier und sprechen die Sprache nicht.« Der andere lächelte und streckte die Hand aus. »Jimmy Nel son. Bis jetzt alles gut gega ngen?« »Nur bis auf die Haut durchnäßt«, sagte Jackson. »Das werden wir bald haben. Steigen Sie ein, wir fa hren zu mir.« Als der Wagen davonsauste, sagte Villiers: »Gibt es eine Chance, den Sinn und Zweck dieses Unternehmens zu erfa h ren?« »Da fragen Sie mich zuviel, alter Junge. Ich kann nur tun, was mir gesagt wird. Befehl von ganz oben und so. Ich habe trockene Sachen für Sie, alles, was Sie brauchen. Weitere Ein zelheiten folgen zu gegebener Zeit. Irgend jemand war sehr tüchtig. Reisepässe auf Ihren Namen, Beruf: Verkaufsrepräsen tant, alle beide.« »Und wohin sollen wir?« »Paris. Soviel weiß ich immerhin. Es gibt nur einen Direkt flug an die Seine, und der ist freitags, aber ich habe ein paar Drähte gezogen und Ihnen Plätze in einem Frachtjumbo der Air France besorgt, der…« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »… er geht in etwa drei Stunden, so daß alles klappen dürfte. Sie sind morgen abend in Paris… Ortszeit. Ich werde es nie lernen, mit diesen Zeitzonen zurechtzukommen.« »Und dann was?« »Da fragen Sie mich zuviel. Ich nehme an, Brigadier Fergu son wird es Ihnen erklären, wenn Sie mit ihm sprechen.« »Ferguson?« Villiers stöhnte. »Sie meinen, er steckt hinter alldem?« »Genau. Ist was, alter Junge?« 111
»Eigentlich nicht, höchstens, daß ich lieber wieder auf den Falklands hinter den Linien wäre«, antwortete Villiers ihm. 10 Im Flughafen Charles de Gaulle lehnte Captain George Cor win an einem Pfeiler und las Zeitung. Es war kurz nach neun, und draußen herrschte Dunkelheit. Garcia stand auf der ande ren Seite beim Zeitungskiosk und gab sich Mühe, unbeteiligt auszusehen, aber nicht zu unbeteiligt. Und dann kam Raul Montera aus der Zollsperre. Er trug Jeans, seine alte Flieger jacke und ein Halstuch und hatte eine Sege ltuchtasche in der Hand. Corwin erkannte ihn sofort nach dem Foto, das er von Gruppe Vier bekommen hatte. Garcia eilte Montera entgegen. »Ich freue mich, Sie kenne nzulernen, und betrachte es als eine große Ehre, Herr Oberst. Juan Garcia, zu Ihren Diensten.« »Und ich zu Ihren«, antwortete Montera höflich. »Aber wür den Sie es nicht auch für besser halten, mich nicht Oberst zu titulieren?« »Selbstverständlich«, sagte Garcia. »Es war dumm von mir.« Er traf Anstalten, ihm die Tasche abzune hmen. »Ich schaffe das schon«, sagte Montera, der sich ein wenig zu ärgern bega nn. »Natürlich«, sagte Garcia. »Bitte hier entlang. Mein Wagen steht am Ausgang. Ich habe Ihnen eine hübsche Wohnung in der Avenue de Neuilly besorgt.« Als sie in das Auto gestiegen waren und fortfuhren, saß George Corwin bereits hinten in einem schwarzen Rover. Er tippte dem Fahrer auf die Schulter. »Los, Arthur, der grüne Peugeot-Kombi dort. Fahren Sie hinter ihm her und lassen Sie ihn nicht aus den Augen.« 112
Die Wohnung war blitzsauber, modern und mit allem Kom fort, wirkte aber steril und hatte keinerlei Flair. Sie hätte ir gendwo in der Welt sein können. Ihr großer Vorteil war der schöne Blick auf den Bois de Boulogne auf der anderen Stra ßenseite. »Ich hoffe, Sie werden zufrieden sein, Herr Oberst.« »Es ist in Ordnung«, sagte Montera. »Mehr nicht. Ich nehme sowieso an, daß ich nicht lange bleiben werde.« »Senor Bobst und Below würden Sie gern morgen früh um elf sehen, wenn es Ihnen paßt? Below vertritt die russischen Interessen in der Sache.« »Gut. Und was passiert dann?« »Ich habe keine Ahnung. Bobst besteht auf absoluter Diskre tion. Vielleicht wird er Ihnen mehr sagen als mir.« »Hoffentlich.« Montera begleitete ihn zur Tür und öffnete. »Dann bis morgen.« Er machte die Tür hinter Garcia zu, ging ins Wohnzimmer zurück, öffnete die Balkontür und trat auf die kleine Terrasse. Paris… Es war schon immer eine seiner Lieblingsstädte gewe sen, und diesmal konnte er außerdem damit rechnen, Gabrielle zu sehen. Vor Aufregung bekam er ein dumpfes Gefühl in der Mage ngegend, und sein Herz klopfte schneller, als er zu den Te lefon büchern ging, das Gesuchte herausfischte und schnell nach schlug. Es war hoffnungslos. Es gab eine Unmenge von Le g rands, aber keine Gabrielle. Er konnte natürlich in London anrufen, wo sie unter Umstän den noch war. Die Nummer der Wohnung in Kensington wußte er auswendig. Warum also nicht? Selbst wenn er nichts sagte, würde er zumindest ihre Stimme hören können. Er schlug die Vorwahl für Lo ndon nach, nahm den Hörer ab und wählte. Er ließ es am anderen Ende lange klingeln, die er auflegte. Im Kühlschrank der perfekt ausgestatteten Küche waren 113
Wein und Sherry. Er schenkte sich ein Glas eiskalten Manza nilla ein, ging wieder auf die Terrasse und trank ihn langsam, dachte an sie und fühlte sich unsagbar allein. »Wo bist du, Gabrielle?« flüsterte er vor sich hin. »Komm zu mir. Nur für einen Augenblick.« Manchmal funktionierte es. Bei den Flügen nach San Carlos hatte der Gedanke an sie, ihre spürbare Gege nwart, ihm mehr als einmal geholfen, aber nicht jetzt. Er leerte das Glas, spürte plötzlich seine Müdigkeit, trat wieder in die Wohnung und ging zu Bett. In der Avenue Victor Hugo, nur gut einen Kilometer weiter, lehnte Gabrielle in diesem Moment am Balkongitter ihrer Wohnung. Das Ganze war irgendwie unwirklich, wie ein Traum in Zeitlupe, bei dem man nicht unmittelbar beteiligt ist, sondern als Beobachter daneben steht. Irgendwo in der Nähe war Raul, das wußte sie, weil Corwin ihr am Telefon gesagt hatte, er werde heute abend erwartet. Das Telefon klingelte, und sie lief hinein und nahm den Hö rer ab. Corwin sagte: »Er ist da. Ich bin ihm und Garcia zu ei nem Mietshaus in der Avenue de Neuilly gefolgt. Habe die Concierge ein bißchen bestochen, um die Nummer der Woh nung herauszubekommen. Hier ist die Adresse.« Sie schrieb sie auf. »Was soll ich nun machen? Hinfahren und an die Tür klopfen?« »Keine sehr gute Idee«, antwortete Corwin. »Ich finde, wir sollten es Major Villiers überlassen, meinen Sie nicht auch? Er kommt morgen.« Er legte auf. Gabrielle stand eine Weile da und betracht ete die Adresse, prägte sie sich ein und zerriß dann den Ze ttel, ging in die Küche und warf die Fetzen in den Müllschlucker. »Und jetzt fängt wieder das Lügen an«, flüsterte sie. »Und die Täuschung und der Betrug.« Sie drehte sich langsam um und ging ins Wohnzimmer zurück. 114
Die Adresse, die Bobst von Below bekommen hatte, war ein kleiner Nachtclub in einer Gasse auf dem Montmartre, der von einem Mann namens Gaston Roux geführt wurde. Roux war klein, trug einen gutgeschnittenen Nadelstreifena n zug und hatte eine Hornbrille auf. Er hätte ein Rechtsanwalt oder Steuerberater oder auch ein erfolgreicher Geschäftsmann sein können, was in gewisser Hinsicht sogar stimmte, nur daß er in der Verbrecherbranche arbeitete. Er hatte seine Finger fast überall drin, von Drogen bis zu Prostitution, und seine Skrupel losigkeit war in der Pariser Unterwelt legendär. »Ich brauche ein paar schwere Jungs«, erklärte Bobst, als er den ausgezeichneten Cognac trank, den Roux ihm eingeschenkt hatte. »Mein Kontakt sagte, Sie seien der richtige Mann dafür.« »Ich habe einen gewis sen Ruf, Monsieur«, sagte Roux. »Das stimmt. Wie viele Männer sollen es sein?« »Acht.« »Und unser gemeinsamer Freund hat mir berichtet, Sie wü r den ehemalige Soldaten bevorzugen, und einer davon müßte Funkspezialist sein.« »Genau.« »Das Projekt scheint also wichtig zu sein. Können Sie mir Einzelheiten sagen?« »Lieber nicht.« Roux ließ nicht locker. »Wäre eine Schießerei denkbar?« »Ja, und deshalb biete ich fünfundzwanzigtausend Franc pro Mann.« Roux nickte. »Für wie lange würden Sie die Leute brau chen?« »Sie müßten sich zwei oder drei Tage irgendwo auf dem Land aufhalten, damit ich sie einweisen kann. Der eigentliche Job wird höchstens drei bis vier Stunden dauern.« Roux atmete auf. »Sehr gut. Meine Bedingungen sind fo l 115
gende. Hunderttausend Franc für meine Dienste als Vermittler, und dafür besorge ich Ihnen acht Mann, die nicht mal davor zurückschrecken würden, ihre eigene Großmutter umzulegen. Sie kosten allerdings dreißigtausend pro Kopf.« »Ich hatte gleich das Gefühl, daß ich bei Ihnen richtig bin.« Bobst wandte sich zu Kemal, der an der Tür stand, und schnippte mit den Fingern. Der Türke näherte sich, stellte eine dunkelblaue Aktentasche auf den Tisch und klappte sie auf. Sie war mit Geldscheinbündeln gefüllt. Bobst schob ein Bündel nach dem anderen über den Tisch. »Zweihundertvierzigtausend für die Jungs, hundert für Sie. Runden wir auf dreifünfzig auf. Ich habe was gegen Wechsel geld.« »Im voraus?« sagte Roux. »Alles?« »Warum nicht? Nehmen Sie es als Vertrauensbeweis meine r seits.« Roux lächelte, wobei Goldkronen auf seinen Backenzähnen blitzten. »Sie gefallen mir, Monsieur. Ehrlich. Ich habe in Er wartung eines erfolgreichen Abschlusses bereits eine Voraus wahl getroffen. Sie brauchen sie sich nur anzusehen und die zu bestimmen, die Ihnen geeignet erscheinen. Wenn Sie möchten, können wir die Angelegenheit sofort regeln.« Zwei Straßen weiter blieben sie vor einem Hauseingang mit dem Firmenschild »Roux & Sohn, Bestattungen« stehen. Als Roux die Tür öffnete und voranging, sagte er: »Eine se riöse Firma. Ich habe sie eigentlich nur gegründet, um einigen meiner Unternehmen einen respektablen Hintergrund zu geben, aber mein Sohn Paul nimmt die Sache überraschend ernst.« »Nun, über Geschmack läßt sich nicht streiten«, bemerkte Bobst. Roux führte sie einen schummrigen Korridor entlang, von dem kleine Aufbahrungsräume abgingen. In einigen davon standen offene Särge, und die Luft war von betäubendem 116
Blumengeruch geschwängert. Hinter einer geschlossenen Tür am Ende des Korridors er klang gedämpftes Stimmengewirr. Roux machte auf und führte Bobst und Kemal in eine große Garage, in der drei Leichenwa gen und zwei Transporter standen. Wenigstens ein Dutzend Männer erwartete sie; vier hockten am Boden und spielten Kar ten, und die anderen lungerten rauchend herum. Sie sahen so abgebrüht aus, wie Bobst sich nur wünschen konnte, und waren Ende Dreißig bis Mitte Vierzig. Die meisten von ihnen mach ten, wenigstens auf den ersten Blick, einen sehr erfahrenen Eindruck. * Roux drehte sich um. »Wenn Sie ein paar Minuten draußen warten würden? Ich möchte ihnen nur in etwa erklären, worum es geht.« Er lächelte dünn. »Ich versuche immer, ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Leuten herzustellen, die ich anstel le. Eine besondere Basis zwischen ihnen und mir. Sie verste hen, Monsieur?« »Aber natürlich«, antwortete Bobst gutgelaunt. Er und Kemal traten durch eine kleine, in das Einfahrtstor eingelassene Tür in einen Hof. Bobst holte eine Zigarette her aus, und Kemal gab ihm Feuer. »Glaubst du, du wirst mit ihnen fertig werden? Sie sehen ziemlich gefährlich aus.« »Nicht, wenn man sie genauer betrachtet«, sagte Kemal. »Wir werden sehen.« Roux öffnete die Tür. »Kommen Sie, meine Herren.« Die Männer hatten sich nebeneinander aufgebaut, und Bobst musterte sie der Reihe nach. Roux sagte: »Ich habe die Situati on erklärt. Alle Männer wären einverstanden.« Er zeigte auf einen, der sich ein wenig abseits hielt. »Das ist der Funkexper te. Was die anderen betrifft, brauchen Sie nur Ihre Wahl zu treffen.« Bobst suchte einfach die Männer aus, die er für die ausge 117
kochtesten hielt, indem er ihnen kurz auf die Brust tippte. Als er das Ende der Reihe erreicht hatte, räusperte sich ein großer Mann mit einer gebrochenen Nase und kurzgeschorenen roten Haaren, einer von denen, die er ausgelassen hatte, sagte laut »Merde!« und spie auf Bobsts linken Schuh. Bobst schlug ihm ins Gesicht. Der Mann wich erschrocken zurück, brüllte dann wütend auf und holte aus, doch irgendwie stand Kemal im Weg. Er langte nach dem rechten Handgelenk des Mannes, riß es hoch und herum. Der Mann schr ie, als sein Fleisch aufplatzte, und ohne seinen schrecklichen Griff zu lok kern, schickte Kemal ihn mit ein paar Handkantenschlägen in einen Stapel leerer Kisten in der Ecke der Garage. Der Mann fiel mit blutüberströmtem Gesicht auf die Knie. »Möchte es sich jemand anders überlegen?« fragte Bobst und nickte Kemal zu. »Ich muß Sie warnen: Sie sind me inem Freund hier unterstellt.« Niemand rührte sich, und niemand sagte ein Wort, bis auf Roux, der schwer seufzte und Bobst eine Zigarette anbot: »Schrecklich, wie Geld die Menschen verdirbt, finden Sie nicht auch, Monsieur?« Ferguson war früh ins Bett gegangen, aber nicht, um zu schlafen, sondern um in bequemer Stellung weitere Papiere zu sichten. Er beschloß gerade, es für heute genug sein zu lassen, als das Telefon klingelte. Es war Harry Fox. »Habe eben von George Corwin in Paris gehört, Sir. Raul Montera ist pünktlich eingetroffen. Garcia hat ihn abgeholt und zu einer Wohnung in der Avenue de Neuilly gebracht, direkt am Bois de Boulogne. Er hat Gabrielle die Adresse gegeben.« »Gut«, sagte Ferguson. »Ich mache mir immer noch Sorgen um sie, Sir. Wir verlan gen eine ganze Menge von ihr.« »Ich weiß. Aber ich bin zufällig der Meinung, daß sie es schaffen wird.« 118
»Verflixt noch mal, Sir, entschuldigen Sie, aber im Grund wollen Sie doch, daß sie Ihren Zwecken dient und sich dabei selbst kaputtmacht.« »Vielleicht. Haben Sie aber auch bedacht, wie viele Men schen schon dort unten im Südatlantik gestorben sind, nicht nur auf unserer, sondern auch auf der anderen Seite, Harry? Wie viele haben den Tod gefunden, als die Belgrano unterging! Wir müssen dieses Massaker beenden. Finden Sie nicht, daß das vor allem anderen zählt?« »Ja, Sir.« Fox klang deprimiert. »Wann kommt Tony?« »Morgen gegen fünf Uhr nachmittags, französische Zeit.« »Dann fliegen Sie rechtzeitig hin. Sie und Corwin holen ihn ab. Ich möchte, daß Sie ihn über alles informieren, was wir wissen.« »Es wird ihm nicht gefallen, Sir. Ich meine, Gabrielles Teil nahme.« »Wollen Sie damit sagen, daß er sie noch liebt?« »So einfach ist es wohl nicht«, antwortete Fox. »Aber sie wa ren fünf Jahre verheiratet. Sicher, sie haben oft Krach gehabt, aber so eine Beziehung kann man nicht von heute auf morgen vergessen. Sie ist wichtig für ihn. Drücken wir es altmodisch aus: Er betrachtete sie immer noch als ein Stück von sich selbst.« »Wunderbar. Dann wird er sich um so mehr Mühe geben, da für zu sorgen, daß ihr nichts passiert. Ich möchte, daß Sie mor gen abend wieder hier sind, Harry.« »Sehr wohl, Sir.« »Noch etwas, bevor ich das Licht ausknipsen kann?« »Was ist mit unserem Draht nach Paris, Sir? Sollten wir die Leute nicht langsam alarmieren?« »Ich glaube nicht, wenigstens noch nicht jetzt. Wir wissen 119
immer noch nicht, was Bobst plant. Wenn die Franzosen ihn festnehmen, holt ihn ein guter Anwalt in einer Stunde raus.« »Reden Sie wenigstens mit Pierre Guyon, Sir.« »Ich werde darüber nachdenken. Gute Nacht, Harry. Gehen Sie schlafen.« Ferguson legte auf und lehnte sich in die Kissen und tat ge nau das, was er Fox gesagt hatte – darüber nachdenken. Der französische Sicherheitsdienst SDECE – Service de Do cumentation Exterieure et de Contre-Espionnage (»Amt für Auslandsinformationen und Spionageabwehr«) – ist in fünf Sektionen und viele Abteilungen unterteilt. Der wohl interes santeste Zweig des Dienstes ist Sektion Fünf, bekannter unter der Bezeichnung Aktionsdienst, die für die Vernichtung der OAS verantwortlich gewesen war. Diese Abteilung wurde ge leitet von Oberst Pierre Guyon, der nicht allein Fergusons Amtskollege, sondern auch einer seiner ältesten Freunde war. Ferguson griff nach dem Hörer und wählte die Pariser Vo r wahl, aber dann zögerte er und legte wieder auf. Er wußte, daß er ein Risiko einging und seine ganze Karriere aufs Spiel setz te. Aber sein in jahrelanger Geheimdienstarbeit geschulter In stinkt sagte ihm, daß er die Dinge vorerst laufen lassen sollte, und er vertraute seinem Instinkt immer. Er knipste das Licht aus, drehte sich auf die Seite und schlief ein. Raul Montera schlief in dieser Nacht überraschend gut, denn die Strapazen und die Anspannung der letzten Wochen forder ten ihren Tribut. So stand er am nächsten Morgen erst um zehn Uhr auf. Seit vielen Jahren hatte er sich angewöhnt, morgens einen Fitneßlauf zu machen, und bisher hatten ihn nur die Ein sätze von Rio Gallegos gezwungen, auf dieses Training zu ver zichten. Er sagte Gabrielle guten Morgen, inzwischen ein Rit ual, und ging ans Fenster. Als er die Vorhänge aufzog und hinausscha u te, regnete es in Strömen, und der Bois de Boulogne war in Dunst getaucht. Ihm wurde auf einmal leicht ums Herz. Ge 120
stern abend war er so erschöpft gewesen, daß er nicht einmal die Reisetasche ausgepackt hatte. Er tat es nun, nahm einen alten Jogginganzug und Laufschuhe heraus, trank ein Glas O rangensaft aus dem Kühlschrank und ging. Er mochte den Regen, der ihm ein Gefühl der Isolation gab, als befände er sich in einer eigenen, sicheren Welt. Er war bald klitschnaß, aber trotzdem lief er weiter und kostete jede Sekun de aus. Er war übrigens nicht der einzige im Bois. Andere Re genfans taten das gleiche wie er und liefen, andere führten ih ren Hund spazieren, und einer ritt sogar. George Corwin stand im Laderaum eines in der Avenue de Neuüly parkenden Milchwagens und beobachtete, wie Montera vom See aus in seine Richtung lief. Nur wenige Meter von ihm entfernt blieb der Argentinier schweratmend stehen, und er fotografierte ihn ein paarmal mit einer Spezialkamera durch ein winziges Loch in der Wagenseite. Als Montera die Straße überquerte, fuhr ein schwarzer Mer cedes vor dem Mietshaus an den Bordstein und hielt. Garcia stieg aus, und Bobst und Below folgten. »Sieh da«, sagte Corwin leise. »Der gute alte Nikolaj persön lich.« Wieder klickte der Kameraverschluß mehrmals, und dann betraten die drei Männer das Gebäude. Kemal stieg aus dem Mercedes und machte sich an den Scheibenwischern zu schaffen, so daß Corwin ihn der Voll ständigkeit halber ebenfalls aufnehmen konnte. »Alles Topleute«, murmelte er. »Wird nicht leicht sein.« Kemal stieg wieder ins Auto, und Corwin machte es sich be quem, rauchte eine Zigarette und wartete. Raul Montera fand Bobst ausgesprochen unsympathisch. Der Mann strahlte etwas Feindseliges aus, das ihn warnte. Dagegen akzeptierte er Below sofort. Er schien ein vernünftiger Mann zu sein, der für sein Land arbeitete, und obgleich Montera nie etwas für den Kommunismus übrig gehabt hatte, mußte er das wider Willen respektieren. 121
Er holte ein Tablett aus der Küche und stellte es ab. »Kaffee, meine Herren?« »Nehmen Sie keinen, Oberst?« fragte Bobst. »Ich rühr das Zeug nicht mehr an. Schlecht für die Nerven.« Montera ging wieder in die Küche und kam mit einem Porzel lanbecher in der Hand zurück. »Tee.« Bobst lachte, und das Lachen hatte einen Beiklang, der er kennen ließ, daß die Abneigung gegenseitig war. »Ziemlich ungewöhnlich für einen Südamerikaner, würde ich meinen.« »Oh, wir Dagos tun manchmal sehr überraschende Dinge«, erwiderte Montera. »Fragen Sie die britische Flotte.« Below griff diplomatisch ein: »Sie haben recht, Oberst. Tee trinken ist jedenfalls ein sehr zivilisierter Brauch. Wir Russen sind schon lange davon überzeugt.« Garcia sagte: »Vielleicht sollten wir zur Sache kommen. Wenn Senor Bobst nun bereit wäre, uns Einzelhe iten über die Operation mitzuteilen…« »Selbstverständlich«, sagte Bobst. »Ich habe nur auf Oberst Montera gewartet. Mit einigem Glück dürften wir das Ganze in wenigen Tagen hinter uns haben, und das ist gut, denn wie ich heute morgen in der Zeitung gelesen habe, bereiten sich die britischen Truppen in San Carlos auf den entscheidenden Vor stoß vor.« Montera zündete sich eine Zigarette an. »In Ordnung, was haben Sie also arrangiert?« Bobst hatte noch jedesmal einen auf Fakten beruhenden Aus gangspunkt gefunden, der eine unwahre Geschichte plausibel klingen ließ. »Wie Sie wissen, haben die Libyer einen reichlichen Vorrat an Exocets, doch aufgrund von Pressionen seiner arabischen Kollegen hat Oberst Ghaddafi sie entgegen seiner ursprüngli chen Absicht nicht an die Argentinier liefern können – ich soll te vielleicht sagen, nicht offiziell. Aber irgendeinen Umweg 122
gibt es immer, zumindest nach den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe.« »Und?« sagte Montera. »Ich habe in der Bretagne ein Haus nahe der Küste gemietet, nicht weit von einem Jägerstützpunkt aus dem Zweiten Welt krieg entfernt. Der Flugplatz heißt Lancy. Schon lange stillge legt, aber die Pisten sind noch in Ordnung. In zwei oder drei Tagen wird eine Hercules-Transportmaschine auf dem Weg von Italien nach Irland in Lancy landen, natürlich ohne Erlaub nis. Sie wird zehn Exocets neuester Bauart an Bord haben.« »Heilige Muttergottes!« sagte Garcia. »Sie, Oberst Montera, werden die Ladung überprüfen. Wenn Sie zufrieden sind, rufen Sie Senor Garcia in Paris an, der so fort dafür sorgen wird, daß mir in Genf drei Millionen Pfund in Gold überschrieben werden, und zwar genau nach meinen An weisungen.« »Ich muß Ihnen gratulieren, Senor«, sagte Montera gelassen. »Das ist die beste Art, einen Krieg zu führen.« »Der Meinung war ich schon immer«, sagte Bobst. »Ich nehme an, daß Sie mitwollen, wenn die Hercules weiterfliegt. Das wahre Ziel ist allerdings nicht Irland, sondern Dakar in Senegal. Die Leute dort sind sehr liberal, besonders wenn es um Geschäfte geht. Die Hercules wird auftanken und dann nach Rio weiterfliegen, wo sie für die letzte Etappe noch ein mal aufgetankt wird, und das Ziel dürfte dann irgendein Luft waffenstützpunkt in Argentinien sein, wenn ich mich nicht irre.« Nach kurzem Schweigen stieß Garcia ein bewunderndes »Großartig!« hervor. »Und Sie, Oberst?« Bobst fixierte Montera. »Finden Sie es auch großartig?« »Ich bin Berufssoldat«, sagte Montera. »Ich habe keine per sönliche Meinung. Ich tue nur, was mir befohlen wird. Wann 123
soll ich in Lancy sein?« »Übermorgen. Wir werden in einer Privatmaschine hinflie gen.« Bobst stand auf. »Bis dahin können Sie sich amüsieren. Immerhin sind wir in Paris. Ich würde sagen, Sie haben es nach Ihren Leistungen unten bei den Falklandinseln redlich ver dient.« Montera ging ihnen voran und öffnete die Tür. Bobst sagte im Hinausgehen: »Ich gebe Ihnen dann kurzfristig Bescheid.« Er und der Russe betraten den Flur, während Garcia stehe nblieb. »Was meinen Sie?« »Ich meine, daß ich ihn nicht mag«, sagte Montera. »Aber das spielt bei diesem Unternehmen wohl keine Ro lle.« »Ich gehe jetzt besser«, sagte Garcia. »Wenn etwas Wicht i ges ist, rufe ich Sie an. Ansonsten sollten Sie vielleicht das tun, was Bobst vorgeschlagen hat – amüsieren Sie sich.« Gabrielle fuhr mittags zum Bois de Boulogne, um zu reiten. Es hatte aufgehört zu regnen, aber es waren noch nicht viele Leute im Park. Sie hatte schlecht geschlafen, war bis in den späten Vormittag hinein im Bett geblieben und hatte sich noch nicht wieder richtig gefangen. Sie war müde und zerschlagen und fühlte sich der vor ihr liegenden Aufgabe kein bißchen gewachsen. Als abermals feine Tropfen vom Himmel fielen, trat Corwin unter eine schützende Eiche. Er beobachtete, wie Gabrielle zwischen den Bäumen zum See galoppierte, etwa auf der Ro u te, die Montera heute morgen benutzt hatte. Der Ritt hatte wie der Farbe in ihre Wangen gebracht, und sie sah fabelhaft aus. Sie zügelte das Pferd, als Corwin seine Deckung verließ. »Oh, Sie sind es.« Sie saß ab. Corwin holte Abzüge der Aufnahmen aus der Ta sche, die er am Morgen gemacht hatte, und gab sie ihr. »Sehen Sie sich die bitte genau an. Ich halte so lange das Pferd.« 124
Sie betrachtete das erste Foto. Corwin erklärte: »Der kleine Mann ist Juan Garcia. Der große ist Bobst, und der daneben ist Below, der KGB-Mann. Montera kennen Sie ja schon.« Sie starrte wie benommen auf das Bild und nahm dann die nächste Aufnahme. »Das ist Yanny Kemal, Bobsts rechte Hand. Sehr harter Bursche.« Dann kam sie zu den Fotos, die Corwin von Montera im Park gemacht hatte, und eines davon zeigte ihn bei einem Zwische nspurt, aber sein Gesicht spiegelte keine Anstrengung, sondern ungetrübte Lebensfreude, und in ihr wallte plötzlich eine bei nahe unerträgliche Zärtlichkeit auf. Sie gab die Bilder zurück und nahm die Zügel. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, warum sollte es nicht? Wann kommt Tony?« »Gegen fünf. Bis dahin wird Harry Fox auch da sein. Der Brigadier möchte, daß er Ihren Mann gründlich einweist, ehe Sie ihn sehen.« »Er ist nicht mein Mann, Mr. Corwin«, antwortete Gabrielle und zog sich in den Sattel. »Ein Irrtum, der folge nschwer sein könnte. Bei unserem Spiel kann man sich keine Irrtümer lei sten, nicht mal kleine.« Corwin war natürlich klar, daß sie recht hatte. Sonderbar, daß er keinen Ärger spürte, als er sie fortgaloppieren sah. Als Corwin, Jackson und Tony Villiers mit dem Lift zum zehnten Stock des luxuriösen Hauses in der Avenue Victor Hugo fuhren, sagte Corwin: »Es ist eine nette kleine Wohnung. Ich mußte sie allerdings für einen ganzen Monat mieten, das ist das Dumme.« »Ich bin sicher, daß der Brigadier das in seinem Budget un terbringen kann«, sagte Villiers. »Ich habe sie natürlich deshalb genommen, weil Gabrielle nur ein kleines Stück weiter wohnt. Alles sehr praktisch.« Sein angestrengtes Lächeln erstarb angesichts Villiers eisiger Mie 125
ne. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, wo sie wohnt. Oder denken Sie, ich hätte ein so kurzes Gedächtnis?« Er staunte selbst, daß er wegen dieser Lappalie wütend wer den konnte. Es mußte daran liegen, daß er müde war, viel zu müde. Und frustiert. Und, wenn er an Ferguson dachte, voll Haß. Der Fahrstuhl hielt, sie stiegen aus, und Corwin ging ih nen voraus den Korridor entlang, nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Er reic hte Villiers den Schlüssel. »Bitte.« Er führte die beiden hinein. Das Apartment war klein, ordent lich und funktionell, mehr wie ein gutes Zimmer in einem mo dernen Hotel als eine Privatwohnung. Harry Fox saß am Fenster und las Zeitung. Villiers blieb ste hen und sah ihn an. »Etwas Interessantes?« »Eigentlich nicht.« Fox legte die Zeitung hin. »Man rechnet jeden Augenblick mit dem Vorstoß von San Carlos.« Villiers warf seine Reisetasche aufs Bett. »So, Harry, und jetzt erzählen Sie mir bitte, was das alles soll. Als ich Ferguson das letztemal sah, sagte ich ihm, er solle Gabrielle in Frieden lassen. Was hat er vor?« »Es wird Ihnen nicht gefallen, Tony.« Villers wandte sich an Jackson. »Mach uns bitte einen Drink, Harvey, ich denke, ich werde ihn brauchen.« Er drehte sich wieder zu Fox. »In Ordnung, schießen Sie los.« Bei St. Martin stellten Maurice Gaubert, der alte Zigeuner, und sein Sohn im Wald oberhalb der Maison Blanche Kanin chenfallen auf, als ein Transporter auf den Hof zwischen Haus und Pferdestall fuhr und hielt. Die Gauberts sahen zu, wie eini ge Männer ausstiegen und zwei, die drinnengeblieben waren, verschiedene Gegenstände hinausreichten. Kemal sprang aus dem Fahrerhaus und entrie gelte die Türen des Hauptstalls. Paul Gaubert sagte: »Das ist Monsieur Bobsts Mann. Der mit 126
dem komischen Namen.« »Das ist aber das einzig Komische an ihm«, sagte sein Vater. »Kemal.« Er legte die Fallen, die er hielt, auf die Erde und nahm seine Flinte hoch. »Wir sehen mal nach, was das zu be deuten hat.« Kemal kam gerade aus dem Stall, als sie sich nähe rten. Er zündete eine Zigarette an, lehnte sich an den Wagen und warte te. »Bonjour, Monsieur«, sagte Maurice Gaubert. »Da sind Sie ja wieder.« »Stimmt.« »Und Monsieur Bobst, kommt er auch?« »Wahrscheinlich morgen.« Paul Gaubert trat unter Kemals abschätzendem Blick nervös von einem Fuß auf den anderen. Sein Vater sagte: »Können wir etwas für Sie tun, Monsieur?« »Paßt auf, ob sich hier Fremde rumtreiben.« Kemal nahm ei nige Tausendfranc-Scheine aus seiner Brieftasche und hielt sie hoch. »Sie verstehen?« »Sehr gut, Monsieur.« Gaubert nahm das Geld. »Was Sie hier machen, geht niemanden was an, ja? Wenn uns etwas auffällt, sage ich Ihnen Bescheid.« Kemal sah ihnen nach und ging dann wieder in den Stall, wo seine Leute die Dinge sortierten, die sie abgeladen hatten. »So, und jetzt aufstellen«, sagte er. »In Zweierreihe.« Sie gehorchten dem Befehl hastig und standen einen Moment später in Habtachtstellung in einer Doppelreihe da. Er schritt an ihnen auf und ab und musterte sie. »Für mich seit ihr jetzt wie der bei der Armee, gewöhnt euch also möglichst schnell daran, sonst gibt’s Zunder!« Corwin hatte einen Citroen besorgt, und als der Wagen am Abend vor Gabrielles Haus in der Avenue Victor Hugo hielt, 127
war Jackson am Steuer, während Harry Fox und Villiers hinten saßen. »Da wären wir«, sagte Fox. »Jetzt wissen Sie zumindest, worum es geht.« »So sollte es scheinen.« »Noch etwas. Dieser Professor Bernard, den ich erwähnt ha be. Ab und zu rufen sie ihn noch aus Buenos Aires an, wenn sie technische Probleme mit den Exocets haben, die noch da sind. Viele können es allerdings nicht sein. Unsere Spezialisten haben gestern abend zwei Gespräche mitgeschnitten.« »Das ist nicht sehr gut«, sagte Villiers. »Ich weiß. Brigadier Ferguson meint, es dürfe nicht weiter gehen. Er möchte, daß Sie sich darum kümmern, da Sie schon mal hier sind.« »In Ordnung«, sagte Villiers gleichgültig. »Gut. Und wenn es dem Sergeant Major nichts ausmachen würde, mich nun zum Flughafen Charles de Gaulle zu bringen, könnte ich die letzte Maschine nach London erwischen.« »In Ordnung. Harvey, fahr Captain Fox hinaus«, sagte Vil liers. »Du brauchst mich nicht abzuholen, ich kann zu Fuß zu rück. Bis nachher.« Er stieg aus, und als er sich gerade entfernen wollte, öffnete Fox die Wagentür einen Spalt weit. »Tony?« Villiers drehte sich um. »Was ist?« »Machen Sie’s ihr nicht zu schwer.« Villiers sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an und steckte die Hände in die Taschen. Nach einer Weile wandte er sich ab und ging, ohne noch etwas gesagt zu haben, ins Haus. »Du siehst gut aus«, sagte er. Sie stand am Kamin, in dem Gasflammen lodernde Scheite imitierten. Sie trug einen schwarzen Seidenoverall und hatte das Haar nach hinten gebunden und war barfuß. 128
»Du auch. Wie war es dort unten?« »So ungefähr wie im schottischen Hochland an einem beson ders schlechten Tag.« Er lachte rauh. »Meinetwegen können die Argentinier es haben. West-Falkland kann kaum etwas zu seinen Gunsten vorbringen. Ich würde jederzeit Nordirland oder Oman vorziehen.« »Was ist eigentlich los?« fragte sie. »Was spielen wir die smal, Tony?« Unvermittelt war wieder eine Vertrautheit zwischen ihnen, eine Wärme. Nicht Liebe, wenigstens nicht im strengen Sinne des Wortes, aber etwas, das – sie wußte es – nie ganz ver schwinden würde. Es würde mehr oder weniger bis zu dem Tag da sein, an dem sie sterben würde. »Spiele, meine Liebe.« Tony ging zum Sideboard und schenkte sich einen Cognac ein. »Das treiben wir doch auf je der Ebene, von der Premierministerin, Galtieri und Reagan angefangen.« »Und du, Tony, was für ein Spiel hast du all diese Jahre ge trieben? Das Todestrieb-Spiel?« Er lächelte leicht. »So wahr mir Gott helfe, Gabrielle, denkst du nicht, ich hätte schon tausendmal eine Antwort auf diese Frage gesucht?« Sie krauste die Stirn, wie um es selbst klarer zu sehen, und setzte sich in einen Sessel. »Weißt du, Tony… Kontrollieren wir das Spiel eigentlich noch, oder kontrolliert es nicht viel mehr uns? Können wir es beenden, wenn wir wo llen, oder muß es immer weitergehen?« Er hatte sich ihr nie näher gefühlt. Er setzte sich ihr gege n über und war sich wieder jener Vertrautheit bewußt. »Montera… Du liebst ihn, nicht wahr?« »Er ist das einzige wirklich Anständige, was mir je wieder fahren ist«, sagte sie einfach. »Glaubst du, du könntest diese Sache schaffen?« 129
»Ich hoffe es. Ich habe im Grunde keine Wahl, dafür hat Fer guson gesorgt.« »Früher oder später werde ich ihn mit einem ziemlich großen Lastwagen überfahren«, erklärte er. Sie lächelte, und er nahm ihre Hände. »So gefällst du mir schon besser. Und nun sollten wir uns un terhalten, wie wir dich wieder mit Montera zusammenbrin gen.« »Hast du eine Idee?« »Ja. Corwin hat gesagt, er habe Montera gestern morgen im Bois de Boulogne beim Jogging gesehen.« »Und?« »Offenbar läuft er sehr gut, was darauf schließen läßt, daß er es regelmäßig tut, und außerdem gehen nur Fanatiker bei strö mendem Regen hinaus. Ich vermute deshalb, daß er es morgen wieder tun wird.« »Und ich?« »Du könntest wieder reiten gehen. Laß mich erklären.« Als er ausgeredet hatte, lächelte sie widerstrebend. »Du ha t test schon immer eine blühende Phantasie, Tony.« »Leider nur in manchen Dingen.« Er stand auf. »Ich werde dich auf jeden Fall im Auge behalten. Bleib ruhig sitzen, ich finde den Weg allein.« Er zögerte und griff dann nach ihrer Hand. Sie drückte sie fest, und als sie aufblickte, war ihr Gesicht todtraurig. »Ich liebe ihn, Tony, ist das nicht absurd? Genauso wie all das, was ich in Romanen und Gedichtbänden lese. Liebe auf den ersten Blick. Ein totales Gefühl, ich muß ununterbrochen an ihn denken.« »Ich verstehe.« »Und nun das hier«, fuhr sie fort. »Durch das, was ich tun werde, zerstöre ich diese Liebe so gründlich, wie es nur geht, 130
und ich habe keine andere Wahl.« Tränen waren ihr in die Au gen getreten. »Würdest du nicht auch sagen, daß das eine schreckliche Ironie ist?« Er hatte natürlich keine Antwort, nicht einmal ansatzweise, und spürte nur tief in seinem Inneren eine verzehrende Wut, auf sich selbst und auf Ferguson und die Welt, in der sie lebten. Er küßte sie zärtlich auf die Stirn, drehte sich um und ging schnell hinaus. 11 Es regnete wieder, als Gabrielle das Pferd am nächsten Mor gen zum Rand des Parks führte; sie wartete, wie Villiers ihr gesagt hatte. Sie hö rte nur die Tropfen auf die Blätter und Zweige fallen, sonst war alles still, seltsam unwirklich. Sie hatte wieder das sonderbare Gefühl, sich wie in einem Traum selbst zu beobachten. Dann löste sich weit unten am See eine Gestalt in einem schwarzen Jogginganzug von den Bäumen und lief den Hang hinauf. Raul. Sie erkannte ihn sofort, wartete noch ein paar Augenblicke, wie man ihr gesagt hatte, und trieb das Pferd dann mit einem sanften Kniedruck voran. Rechts von ihr bewegte sich etwas, und zwei Männer traten zwischen den Bäumen hervor. Einer von ihnen war bärtig und trug einen Blouson. Der andere war jünger, hatte lange blonde Haare und trug Jeans und eine Jacke aus Denim-Patchwork. Der Bärtige rannte los und riß die Arme hoch, so daß das Pferd scheute. Währ end er nach dem Zügel griff, packte der andere Gabrielles rechten Arm. Sie schrie entsetzt auf, als er sie brutal aus dem Sattel riß. Der Bärtige drehte ihr die Arme auf den Rücken, und der Blonde trat nahe an sie heran und langte unter ihre Jacke nach ihren Brüsten. Während das Pferd forttrabte, sagte der Bärtige: 131
»Schaffen wir sie zu den Bä umen.« Sie schrie wieder laut, nicht vor Angst, sondern vor Wut auf den Mann, der sie ange faßt hatte, und trat wie wild um sich. Montera hatte den ersten Schrei gehört, war stehengeblieben und hatte rechtzeitig hinaufgeblickt, um zu sehen, wie sie vom Pferd gezerrt wurde. Er erkannte sie nicht, sah nur eine Frau, die in Not war, und rannte den Hang weiter hinauf, ohne mit seinen Laufschuhen ein Geräusch im nassen Gras zu machen. Sie lag auf der Erde, der Bärtige versuchte, sie weiterzuzie hen, der andere sah zu. Montera war wie ein Blitz über ihnen und versetzte dem Jüngeren einen fürchterlichen Hieb in die Nierengegend. Der Junge schrie und fiel auf die Knie. Als der Bärtige aufsah, trat Montera ihm ins Gesicht. Der weiche Laufschuh richtete nicht viel Schaden an, und der Mann rollte zur Seite, sprang und zog im selben Moment ein Messer aus der Tasche. Gleichzeitig drehte Gabrielle sich um und rappelte sich auf, und erst jetzt erkannte Montera sie. Starr vor Staunen hielt er inne, und dann griff er instinktiv nach ihr. Sie schrie warnend, denn der bärtige Mann schoß auf ihn los. Montera stieß sie fort und drehte sich zur Seite wie ein Stier kämpfer, so daß der Angreifer an ihm vorbeisauste. Raul Mon tera fühlte eisige Wut in sich aufsteigen. Er stellte sich breit beinig hin und wartete. Der Mann ging wieder auf ihn los, mit vorgehaltenem Messer. Als er es hochriß, packte Montera sein Handgelenk und bog den Arm mit einem wilden Ruck um. Der Mann schrie entsetzlich, Montera traf ihn mit der Handkante am Hals, und er stürzte zu Boden. Der Junge mit den blonden Haaren übergab sich konvuls i visch, und Gabrielle lehnte totenbleich, mit Dreck beschmiert, an einem Baum. »Gabrielle, mein Gott!« Der Name brach aus ihm hervor, und als er sie bei den Armen nahm und betrachtete, lachte er un vermittelt. Sie sagte stockend: »Du machst nie etwas halb, nicht wahr?« 132
»Das hätte keinen Sinn. Bei so etwas sollte man entweder gründlich arbeiten oder aber weglaufen. Ich hole dein Pferd.« Es graste ruhig in der Nähe, und er nahm den Zügel und führ te es zu ihr. »Möchtest du weiterreiten?« »Ich glaube nicht.« Der bärtige Mann stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen. Der Junge stand kreidebleich an einem Baum. »Was soll ich mit diesen Tieren machen? Die Polizei holen?« »Nein, laß sie laufen«, antwortete sie. »Du hast für heute ge nug Gerechtigkeit geübt.« Sie gingen zum Parktor. »Es ist unfaßlich, wirklich nicht zu glauben. Ich bin gestern angekommen. Ich konnte dich nicht im Telefonbuch finden, aber ich habe in der Londoner Woh nung angerufen. Niemand meldete sich.« »Natürlich nicht. Ich bin hier.« Und jetzt mußte sie das Rich tige sagen. »Aber was ist los, Raul? Du bist doch im Krieg! Warum bist du nicht in Bue nos Aires?« »Das ist eine lange Geschichte. Ich wohne in der Avenue de Neuilly, genau gegenüber. Und du?« »Avenue Victor Hugo.« »Auch nicht sehr weit.« Er lächelte. »Gehen wir zu mir oder zu dir?« Die Freude in ihr war so groß, daß sie einen Moment lang al les vergaß. »O Raul, es tut so gut, dich zu sehen.« Sie umarmte ihn und küßte ihn. Er hielt sie fest an sich ge preßt. »Ist das vielleicht das Gefühl, das die Dichter Seligkeit nennen? Ein Zustand, den man nur wenige Male im Leben spürt?« »Vermutlich.« Seine Augen leuchteten, und sein Mund verzog sich zu jenem unnachahmlichen Lächeln, das sie so gut kannte. »Ich würde sagen, daß du im Moment nichts so dringend 133
brauchen könntest wie ein heißes Bad.« Sie lächelte. »Mein Auto steht bei den Ställen.« »Worauf warten wir dann noch?« Sie gingen nebeneinander den Hang hoch, er hatte ihre Taille umfaßt und führte mit der anderen Hand das Pferd am Zügel. Als sie fort waren, verließen Tony Villiers und Harvey Jack son den Schutz der Bäume und gingen zu den beiden Strol chen. Der bärtige Mann stand inzwischen wieder auf beiden Füßen und umklammerte mit schmerzverzerrtem Gesicht sei nen Arm. Der Junge übergab sich erneut. »Ich hab euch gesagt, ihr solltet ihr ein bißchen Angst ma chen, mehr nicht«, zischte Villiers. »Aber ihr wolltet zu schlau sein. Ihr habt das bekommen, was ihr verdient habt.« Jackson nahm ein paar Scheine aus seiner Brieft asche und stopfte sie in die Hemdtasche des Bärtigen. »Fünftausend Franc.« »Nicht genug«, sagte der Mann. »Er hat mir den Arm gebro chen!« »Ihr Pech«, antwortete Jackson in seinem schlechten Franzö sisch. Villiers war vor Wut dunkelrot angelaufen, denn er sah sie wieder in ihren Händen zappeln, aber ein Teil des Zorns war gegen sich selbst gerichtet, weil letztlich er die Schuld hatte. »Wenn Sie unbedingt wollen, brechen wir Ihnen auch den anderen«, sagte er langsam und drohend. Der bärtige Mann riß seinen gesunden Arm schützend hoch. »Nein! Mir langt’s.« Er wandte sich zu dem Jungen, packte ihn mit der gesunden Hand an der Schulter, und sie entfernten sich auf unsicheren Beinen. »Blutige Amateure«, sagte Jackson. »Wir hätten es wissen sollen.« Aber Villiers hatte sich schon abgewandt und ging mit ge 134
senktem Kopf sehr schnell den Hügel hinunter zur Straße. Die Wohnung in der Avenue Victor Hugo war groß und son nig, hohe Decken, raumhohe Fenster. Die Dekoration war schlicht, teuer und geschmackvoll, Vorhänge vom hellsten Grün, unaufdringlich und beruhigend, und an den weißge tünchten Wänden einige farbenfrohe impressionistische Ge mälde. Montera saß an einem Ende einer riesigen grünen, in den Bo den eingelassenen Marmorbadewanne, und sie kam nackt, ein Tablett mit zwei Porzellanbechern Tee tragend, aus der Küche. Sie gab ihm einen Becher, stieg in die Wanne und setzte sich ans andere Ende. »Auf uns«, sagte er, den Becher hebend. »Auf uns.« Fürs erste konnte sie die verfahrene Lage noch vergessen, in der sie sich befand, und nur an den gegenwärtigen Moment denken, an die Tatsache, daß sie zusammen waren. Er lehnte sich in dem heißen Wasser zurück und nahm einen Schluck. »Haben wir das nicht schon mal irgendwo getan?« Sie runzelte die Stirn und fuhr mit einem Finger eine häßli che, erst halb verheilte, gut fünfzehn Zentimeter lange Narbe unter seiner rechten Schulter entlang. »Was ist passiert?« »Granatsplitter. Ich hatte an jenem Tag Glück.« Wieder mußte sie Unkenntnis heucheln. »Du meinst, du bist geflogen? Bei den Falklandinseln?« »Malwinen.« Er grinste. »Vergiß das bitte nicht. Ja, es stimmt, ich flog einen Skyhawk-Bomber namens Gabrielle. War täglich mehrmals in den Nachrichten im Fernsehen.« »Du machst Witze.« »Nein, das stimmt, dein Name war unter dem Cockpit quer über den Bug gemalt. Du bist viele Male in San Carlos gewe 135
sen, meine Liebe.« Plötzlich erinnerte sie sich an den Vorfall in der Fernsehab teilung von Harrods, an die Stimme des Kommentators, die Flugzeuge, die sich den Gewässern vor San Carlos näherten, die Rakete, die in die Skyhawk einschlug, und die Leute, die zuhörten und klatschten. »Ja«, fuhr er trocken fort. »Wer hätte gedacht, daß ich in meinem Alter sogar noch ein Fernsehstar werden würde?« Sie war echt zornig. »In deinem Alter einen Bomber fliegen, empörend. Ich hätte so etwas für undenkbar gehalten.« Sie be rührte sein Gesicht. »War es sehr schlimm, Raul?« »Ich war viele Male auf dem Weg zur Hölle und zurück«, sagte er. »Um mich herum wurden Jungen vom Himmel ge schossen… Und wozu?« Sein Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck. »Als ich Rio Gallegos verließ, hatten wir schon un gefähr die Hälfte unserer Piloten verloren. Alle tot. Was für ein Irrsinn.« Sie reagierte instinktiv auf seinen Schmerz. »Erzähl mir et was darüber, Raul. Damit ich es fühlen kann und damit du es loswirst. Du mußt es loswerden.« Sie griff nach seinen Händen und hielt sie fest, während sie einander gegenübersaßen. »Erinnerst du dich an den Onkel, von dem ich dir erzählt ha be, den Stierkämpfer?« »Ja.« »Er pflegte niederzuknien und zur Jungfrau zu beten, ehe er die Arena betrat. Schütze mich vor den Hörnern der Bestie, sagte er dabei immer. Ich hatte in den letzten paar Wochen viele Male die Hörner vor mir.« »Warum, Raul? Warum?« »Weil es das ist, was ich tue. Ich fliege. Und es ist das, was ich bin, und ich hatte keine andere Wahl. Konnte ich etwa am Schreibtisch sitzen, während die Jungs in den Tod flogen? 136
Weißt du, wie wir den Falkland-Sund nennen? Tal des Todes.« Seine Augen blickten starr, die Haut über den Wangenkno chen hatte sich gestrafft. »In der Arena gibt es eine rote Tür – die Tür, durch die der Stier kommt. Sie heißt ›Pforte der Angst‹. Durch diese Pforte kommt der Tod, Gabrielle, eine schwarze Bestie, die darauf abgerichtet ist, einen zu töten. Als ich nach San Carlos flog, warst du das einzige, was die Pforte geschlossen hielt. In einem der schlimmsten Augenblicke, als die Maschine nicht auf die Instrumente reagierte und ich schon den Schleudersitz betätigen wollte, hätte ich schwören können, daß ich auf einmal das Parfüm roch, das du benutzt. Es war vielleicht verrückt, aber ich hatte das Gefühl, du seist bei mir.« »Und dann?« Die Spannung war aus ihm gewichen. »Ich bin hier, nicht wahr?« Er lächelte. »Ich hätte ein Bild von dir im Cockpit ha ben sollen, ein Foto mit den Worten: ›Ich bin Gabrielle – ver trau dich mir an.‹ Du solltest mir eins geben, damit ich es mit zurücknehmen kann.« »Zurücknehmen?« Sie war entsetzt. »Du gehst doch nicht wieder dorthin zurück, um weiterzufliegen?« Er zuckte ausweichend mit den Schultern. »Ich bleibe noch ein paar Tage hier. Ich habe keine Ahnung, was sein wird, wenn ich zurückkehre.« »Was machst du hier?« »Etwas für unsere Regierung.« Das war die Wahrheit. »Das Waffenembargo, das die Franzosen gegen uns ve rhängt haben, macht uns Schwierigkeiten. Aber genug davon. Was ist mit dir?« »Ich mache eine Serie für Paris-Match.« »Mit Schützenhilfe deines reichen Papas?« »Sicher.« »Ja. An einer Wand ein Degas, an der anderen ein Monet.« Sie rutschte auf die Knie und küßte ihn sehr, sehr zärtlich auf 137
den Mund, und ihre Zunge erkundete ihn. »Ich hatte fast ver gessen, wie umwerfend du bist.« »Wieder dieses Wort«, antwortete er. »Fällt dir kein anderes ein?« »Vielleicht, wenn du mit mir ins Bett gehst.« Als sie später bei halb geöffneten Vorhängen im Zwielicht dalagen, stützte sie sich auf einen Ellbogen hoch und betrachte te ihn. Er schlief, sein Gesicht verkrampfte sich, Schmerz zeichnete sich darauf ab, er stöhnte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und küßte ihn zart, wie ein Kind. »Alles in Ordnung. Ich bin da.« Er lächelte schwach. »Ich hatte wieder diesen Traum. Ich ha be ihn so oft gehabt. Erinnerst du dich? Ich habe ihn dir damals in deiner Wohnung in London erzählt.« »Ein Adler stößt nieder«, sagte sie. »Ja, mit gespreizten Fängen.« »Nun, denk einfach daran, was ich dir gesagt habe. Lande klappen ausstellen. Auch Adler sausen vorbei.« Er zog sie an sich und küßte sie auf den Hals. »Wie gut du riechst. Warm und fraulich.« Sie erwachte wieder und sah, daß er nicht mehr da war. Die Panik, die sie ergriff, war schmerzhaft. Sie setzte sich auf und sah zu der Uhr auf dem Nachttisch. Es war vier. Dann kam er in seinem alten schwarzen Jogginganzug, eine Zeitung in der Hand, wieder herein. »Sie war in deinem Briefkasten.« Er setzte sich auf den Bettrand und schlug die Zeitung auf. »Etwas Interessantes?« fragte sie. »Ja, die britischen Truppen haben ihren Brückenkopf in San Carlos verlassen und sind vorgestoßen. Skyhawks haben sie zu Land angegriffen. Zwei wurden abgeschossen.« Er warf die 138
Zeitung hin und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Laß uns Spazierengehen.« »Gut. Gib mir fünf Minuten.« Er wartete im Wohnzimmer, rauchte eine Zigarette, und als sie zu ihm trat, hatte sie die Jeans und das T-Shirt an, an die er sich von London her erinnerte. Sie gingen nach unten, holten ihren Wagen und fuhren zum Bois de Boulogne. Dort schle nderten sie einfach dahin und hielten sich an der Hand. »Du siehst besser aus, entspannter«, sagte sie. »Das habe ich dir zu verdanken.« Sie saßen auf zwei Klapp stühlen, die jemand im Regen zurückgelassen hatte. »Manche Leute stehen auf Drogen, andere stehen auf Schnaps, aber ich stehe auf Gabrielle, das ist viel wirksamer.« Sie beugte sich vor und küßte ihn. »Du bist ein wunderbarer Mann, Raul. Der beste, den ich je gekannt habe.« »Ach, das ist nur dein Einfluß, verstehst du? Ich hab dir schon mal gesagt, daß ich mir bei dir irgendwie besser vor komme.« Sie standen auf und gingen Arm in Arm zum Parkplatz zu rück. »Aber was wird aus uns?«, fragte sie. »Du meinst, ob ich ernste Absichten habe? Natürlich. Ich werde dich zu gegebener Zeit heiraten, und sei es nur, um mir den Monet und den Degas unter den Nagel zu reißen.« »Und die unmittelbare Zukunft?« »Wenn wir Glück haben, ein paar Tage, dann muß ich zurück nach Argentinien.« Sie bemühte sich angestrengt, fröhlich zu sein. »Dann werden wir zumindest diesen Abend für uns haben. Laß uns irgendwo hingehen, wo man gut essen und tanzen kann… und an nichts anderes denken.« »Weißt du ein Lokal?« »Vielleicht Paco auf dem Montmartre. Er ist Brasilianer. Die 139
Musik ist ausgezeichnet.« »Also Paco. Ich hole dich um acht ab. In Ordnung?« »Sehr gut.« Sie erblickte Tony Villiers am Zeitungskiosk auf der anderen Seite des Parkplatzes, und Zorn wallte in ihr auf, als sie die Tür des Wagens aufschloß. »Ich setze dich bei deiner Wohnung ab.« Sie tat es und stieg aus dem Mercedes, um noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ehe sie weiterfuhr. Auf der anderen Straßenseite saß einer von Nikolaj Belows Männern auf einer Bank, notierte die Zulassungsnummer des Wagens, stand auf und entfernte sich, als Montera das Miets haus betrat. Wieder in ihrer Wohnung, ging Gabrielle unruhig im Wohn zimmer auf und ab und wartete auf das Klingeln an der Tür, das kommen mußte. Als es ertönte, eilte sie hin und ließ Vil liers herein. Sie ging ins Zimmer zurück und drehte sich wü tend zu ihm um. »Nun?« sagte er. »Hast du etwas zu berichten?« »Er ist im Auftrag seiner Regierung hier. Es hängt mit dem Waffenembargo der Franzosen zusammen.« »Das ist eine gute Beschreibung. Sonst noch etwas?« »Ja, ich will nicht, daß du mich ununterbrochen beschattest, Tony. Das ist mein Ernst. Diese Sache ist sowieso schon schwierig genug.« »Du meinst, es ist dir peinlich, wenn ich dich beobachte.« »Drück es meinetwegen aus, wie du willst. Aber he ute abend werde ich dich noch weniger brauchen als sonst. Wir essen auf dem Montmartre.« »Und ihr kommt dann wieder hierher?« Sie ging an ihm vorbei und öffnete die Tür. »Das war’s, To ny.« 140
»Keine Sorge«, sagte er. »Harvey und ich müssen uns heute abend um ein anderes Wild kümmern.« Er ging hinaus, und Gabrielle drehte sich um, ging ins Bade zimmer und ließ zum zweitenmal an diesem Tag he ißes Wasser ein. Sie freute sich auf den Abend. Was auch geschehen moch te, diesen Abend konnte ihr jedenfalls niemand nehmen. Bobst stand unter der Dusche, als Wanda mit dem Telefon in der Hand hereinkam. »Below möchte dich sprechen.« Bobst trocknete sich die Hände ab, beugte sich aus der Kabi ne und nahm den Apparat. »Nikolaj, was kann ich für Sie tun?« Er lauschte eine Weile mit ausdruckslosem Gesicht. »Das ist wirklich interessant. Ja, halten Sie mich auf dem laufenden. Wenn Sie heute abend zum Beispiel irgendwo hingehen soll ten, sagen Sie mir Bescheid.« Er gab ihr das Telefon zurück. »Schwierigkeiten?« fragte sie. »Unser Kriegsheld hat offenbar eine Puppe aufgegabelt. Laut Below ein sehr attraktives Mädchen, das in der Avenue Victor Hugo wohnt.« »Das bedeutet meist Geld.« »Eine logische Folgerung. Sie heißt Gabrielle Legrand. Be low will mich informieren, wie es weitergeht. Ich muß sagen, wenn sie so gut ist, wie er sagt, könnte sich ein näherer Blick lohnen.« »Typisch«, sagte sie bit ter und stellte den Apparat auf einen kleinen Tisch an der Tür. »Kann ich sonst was für dich tun?« »Wenn du willst.« Sie fing an, sich langsam auszuziehen und dachte bereits mit einer gewissen Angst an ein Mädchen, das sie noch nie gese hen hatte, denn ein sechster Sinn sagte ihr, daß ihr Gefahr dro hen könnte. Montera hatte nur einen passablen Anzug dabei, den er nun trug, dunkelblauer Mohair, einreihig, und dazu ein weißes 141
Hemd und eine weinrote Krawatte. »Du siehst blendend aus«, sagte sie, als sie hinten im Taxi saßen. »Neben dir verblasse ich.« Sie trug wieder das spektakuläre, silbern glitzernde kurze Kleid, das sie bei ihrem Kennenlernen in der Argentinischen Botschaft in London angehabt hatte, und ihr Haar war wie da mals zur coupe sauvage gebürstet. »Als wir letztes Mal zusammen ausgingen, hast du mir ge zeigt, wie romantisch die Themse um Mitternacht sein kann. Was hast du heute in petto?« Gabrielle lächelte und nahm seine Hand. »Nicht viel«, sagte sie. »Nur mich.« Bobst sah gerade die neuesten Nachrichten über die Falkland inseln, als Below wieder anrief. »Sie sind in die Stadt gefahren«, sagte der Russe. »Ein brasi lianisches Restaurant auf dem Montmartre, es heißt Paco.« »Klingt nicht übel«, sagte Bobst. »Ist das Essen genießbar?« »Einigermaßen, aber die Musik soll hervorragend sein. Die junge Dame ist übrigens die Tochter eines schwerreichen In dustriellen, er heißt Maurice Legrand.« »Was macht er?« »Fast alles. Hauptsitz ist Marseille. Wenn er pleite ginge, könnte die Bank von Frankreich Schwierigkeiten bekommen.« »Noch interessanter«, sagte Bobst. »In Ordnung, überlassen Sie das Weitere mir.« Er legte auf und drehte sich Wanda zu, die am Kamin eine Illustrierte las. »Los, zieh deinen besten Fummel an. Wir gehen tanzen.« Below blieb noch eine Weile nach dem Gespräch mit Bobst am Telefon sitzen und überlegte. Irana Wronsky brachte ein Tablett mit Kaffee aus der Küche und setzte es neben ihm ab. »Ist was?« 142
»Ich weiß nicht. Diese Legrand. Irgend etwas scheint da nicht zu stimmen.« »Was denn?« fragte sie, während sie ihm einschenkte. »Ich weiß nicht«, sagte er gereizt. »Das ist ja das Problem.« »Dann verschaff dir doch Gewißheit«, sagte sie und reichte ihm die Tasse. »Sicherheitsüberprüfung Stufe eins.« »Sehr gute Idee. Veranlaß morgen früh bitte das Nötige, wenn du in die Botschaft gehst. Höchste Priorität.« Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Montera hat recht, widerliches Zeug. Haben wir zufällig Tee im Haus?« 12 Paco, seit einiger Zeit ein In-Lokal, war voller Atmosphäre und Leben, die Tische standen dicht beisammen, die fünfköpfi ge Band war außergewöhnlich gut. Sie hatten eine kleine Ni sche für sich, von der aus sie den Trubel beobachten konnten. Sie bestellte Whisky-Sour, er Perrier mit Limone. »Du trinkst immer noch nichts?« »Ich muß fit bleiben, darf mich nicht gehenlassen. Ein Mann in den besten Jahren, eine jüngere Frau. Du weißt, wie das ist?« »Nimm einfach Potenzpillen«, sagte sie. »Dann schaffst du es. Ich habe es natürlich nur auf dein Geld abgesehen.« »Nein«, sagte er. »Im Gegenteil. Be i der gegenwärtigen Infla tion in Argentinien bin ich hinter deinem Geld her. Selbst die Monteras könnten die Misere zu spüren bekommen, wenn der Krieg vorbei ist.« Bei dem Wort Krieg kehrte die Wirklichkeit zurück, und das wollte sie nicht. Sie nahm seine Hand. »Tanzen wir«, sagte sie und zog ihn hoch. Die Band spielte einen Bossanova, und Montera war ein voll endeter Tänzer, er führte sie traumhaft. Als die Musiker ihre 143
Instrumente hinlegten, sagte Gabrielle: »Das war herrlich. Du hättest Gigolo werden sollen.« »Das hat meine Mutter auch immer gesagt. Ein Herr sollte nicht zu gut tanzen.« Er lachte. »Ich habe immer wahnsinnig gern getanzt. Schon als Junge trieb ich mich in den Tangokne i pen herum. Tango ist natürlich der einzige wahre Tanz für uns Argentinier. Er widerspiegelt alles, politische Auseinanderset zungen, Wirtschaftskrisen, die Liebe, das Leben – sogar den Tod. Kannst du Tango?« »Manche haben es behauptet.« Er wandte sich an den Bandleader und sagte: »He, Compadre, wie war’s mit einem richtigen Tango? Etwas, das wie Camba lache ins Blut geht?« »Oh, der Senor ist Argentinier«, antwortete der Musiker. »Ich kenne den Akzent. Fern der Heimat, besonders in diesem Au genblick. Deshalb spielen wir jetzt nur für Sie und die Senori ta.« Er ging nach hinten und kam mit einem Instrument zurück, das wie eine sechseckige Ziehharmonika aussah. »Ah«, sagte Montera freudig. »Wir werden etwas Authentisches hören. Das ist ein argentinisches Bandoneon!« »Sehr vielversprechend«, sagte Gabrielle. »Warte nur.« Der Bandleader fing an zu spielen und wurde nur vom Kla vier und der Geige begleitet, und die Musik berührte sie in ih rem tiefsten Innern, denn sie sprach von unsäglicher Traurig keit, vom Sehnen nach Liebe, von dem Wissen, daß alles, was das Leben lebenswert macht, in der Hand eines anderen Men schen liegt, der es geben oder verweigern kann. Sie tanzten wie aneinandergeschmiedet, auf eine Weise, die sie nie für möglich gehalten hätte. Er tanzte nicht nur großartig, sondern auch unendlich zärtlich, und wenn er lächelte, strahlte sein Gesicht Liebe aus, eine aufrichtige Neigung, die keine 144
Forderungen stellte. Sie waren ein Paar, das viele Gäste faszinierte, nicht zuletzt Ralph Bobst, der mit Wanda an der Bar saß. »Gott im Himmel«, sagte er. »Was für ein himmlisches Ge schöpf. So was hab ich noch nie gesehen.« Wanda fühlte, wie sie von Panik ergriffen wurde, als sie sein Gesicht und seine Augen musterte. »In so einem Fummel kann jede gut aussehen«, sagte sie schnippisch. »Ich scheiße auf den Fummel«, sagte Bobst ordinär. »Sie würde in allem gut aussehen – am besten aber mit nichts.« Als die Musik verklang, applaudierten einige Leute, aber Montera und Gabrielle blieben noch einen Moment, alles ringsum vergessend, stehen. »Du liebst mich wirklich sehr«, sagte sie leise, und in ihrer Stimme lag so etwas wie ein fragender Unterton. »Ich muß es einfach«, sagte er. »Du hast mich neulich ge fragt, warum ich fliege. Ich habe dir gesagt, es sei das, was ich tun muß. Frag mich, warum ich dich liebe, und ich kann nur dasselbe antworten. Es ist das, was ich tun muß.« Das Gefühl der Gewißheit, der namenlosen Freude, das sie durchflutete, war unglaublich. Sie nahm seine Hand. »Setzen wir uns.« Als sie wieder am Tisch waren, bestellte er eine Fla sche Dom Perignon. »Ja, Tango ist bei uns in Buenos Aires eine Art zu leben. Ich werde dir San Telmo zeigen, unsere Altstadt. Die besten Tangolokale der Welt. Wir gehen zu El Viego Almacen, dort werden sie dich an einem Abend in eine Meisterin ver wandeln.« »Wann?« sagte sie. »Wann wird das sein?« »Oh, ich will verdammt sein«, sagte Bobst neben ihnen. »Se nor Montera! Das nenne ich eine angenehme Überraschung.« Er stand mit Wanda am Tisch und blickte auf sie hinunter, und Montera blieb nichts anderes übrig, als sich zu erheben. 145
Es regnete, als Paul Bernard die Taxe an der Ecke der Straße, die parallel zur Seine verlief, halten ließ, bezahlte und ausstieg. Es war ein Stadtviertel mit kleinen Büros, Geschäften und Ge werbebetrieben, tagsüber sehr lebhaft, nachts jedoch me n schenleer. Er ging die Uferstraße entlang und suchte die Adres se, die Garcia vorhin in seinem Büro in der Sorbonne hinterlas sen hatte. Dann fand er die Nummer und blieb stehen. Auf dem Schild über der Tür stand »Gillet & Co. Gewürzimport«. Er drückte die Klinke einer kleinen, in das Tor eingelassenen Tür herunter. Sie ging sofort auf, und er betrat das Haus, das nur von einer Lampe in einem verglasten Büroraum im ersten Stock beleuchtet wurde. »Garcia?« rief er. »Sind Sie da?« Hinter der Milchglasscheibe bewegte sich ein Schatten, die Tür wurde geöffnet, eine Stimme sagte: »Hier oben.« Schnell ging er die altersschwache Holztreppe hoch. »Ich ha be nicht viel Zeit. Eine meiner Doktorandinnen, ein sehr hüb sches kleines Ding, hat mich für heute abend zum Essen einge laden, um ihre Dissertation durchzusprechen. Mit etwas Glück dürfte es bis morgen früh dauern.« Er ging durch die Tür und sah Tony Villiers, der an einem kleinen Schreibtisch saß. »Wer sind Sie?« fragte er. »Wo ist Garcia?« »Er hat es leider nicht schaffen können.« »Was geht hier vor?« Jackson packte ihn an den Schultern und drückte ihn auf ei nen Stuhl. »Setzen Sie sich und machen Sie nur den Mund auf, wenn Sie gefragt werden.« Villiers zog eine Smith & Wesson aus der Tasche, einen Carswell-Schalldämpfer aus der anderen und schraubte ihn auf. »Das bedeutet, daß nichts zu hören ist, wenn ich schieße, aber ich bin sicher, ich sage Ihnen nichts Neues, Herr Professor.« »Hören Sie, was soll das?« fragte Bernard. 146
Villiers legte die Smith & Wesson auf den Schreibtisch. »Ei ne große Sache, ungefähr so groß wie Ihre Telefonrechnungen für Gespräche mit Argentinien. Exocets. Oh, und Leute, die Bobst heißen.« Bernard hatte immer noch Angst, aber er war auch wütend. »Wer sind Sie?« »Ich war bis vor drei Tagen auf den Falklandinseln, ich habe also den Tod gesehe n. Ich bin Offizier des Special Air Service Regiment, eine Sondereinheit der britischen Luftwaffe.« »Scheißkerl!« sagte Bernard, unfähig, seine Wut zu zügeln. »Vielleicht. Irgend jemand hat boshafterweise gesagt, wir seien das beste Pendant zur SS, das es bei den britischen Streit kräften gibt. Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, daß ich Ih nen damit« – er zeigte auf die Smith & Wesson – »die linke Kniescheibe kaputtschießen werde, wenn sie mir nicht alles sagen, was ich wissen will. Ich weiß, es ist nicht die feine eng lische Art, aber es ist um so wirksamer, wir haben es in Nordir land von der IRA gelernt. Und wenn es nicht funktioniert, pro biere ich es eben mit der rechten. Dann würden Sie für den Rest Ihres Lebens an Krücken gehen müssen.« Auf dem obersten Regal am anderen Ende des Raumes stand eine Zimmerpflanze in einem Übertopf aus Keramik. Seine Hand mit der Smith & Wesson fuhr hoch, man hörte ein Ge räusch, das einem leisen Husten glich, nicht mehr, und der Topf sprang in tausend Scherben. Das reichte. Bernard sagte: »Kennen Sie einen gewissen Bobst?« »Ja. Ich weiß auch, daß er argentinischen Agenten in Frank reich für die nächsten Tage einige Exocet-Raketen versprochen hat. Wo will er sie herkriegen?« Bernard sagte: »Er hat es mir nicht erzählt. Soweit ich weiß, hat er es niemandem erzählt.« Villiers hob die Pistole und zielte, und Bernard fuhr hastig 147
fort: »Nein, bitte, hören Sie mir gut zu.« »Na gut, aber sagen Sie endlich was Konkretes.« »Vor der Bretagne ist eine Insel. Sie heißt Ile de Roc und dient als Versuchsgelände für Exocets. Der nächste Hafen ist St. Martin. Bobst hat in der Nähe ein Haus gemietet. Ich gla u be, er will einen der Aerospatiale-Lastwagen entführen, die Exocets nach St. Martin bringen, von wo sie dann mit dem Boot zur Ile de Roc transportiert werden.« Sein Gesicht war grau und in Schweiß gebadet; er sagte of fensichtlich die Wahrheit, zumindest, soweit er sie kannte. Vil liers nickte langsam und sagte dann zu Jackson: »Okay, Har vey. Du kannst im Wagen auf mich warten.« Jackson protestierte nicht. Er ging hinaus, machte hinter sich die Tür zu, und dann hallten seine Schritte auf den hölzernen Stufen. Kurz darauf war wieder alles still. Villiers legte die Smith & Wesson auf den Schreibtisch, zü n dete sich eine Zigarette an und stand, die Hände in die Taschen seines Regenmantels schiebend, auf. »Sie mögen die Engländer nicht sehr, stimmt’s? Warum eigentlich?« Bernard antwortete: »Sie sind 1940 davongelaufen und haben uns den Boches überlassen. Die haben meinen Vater erschos sen und unser Dorf niedergebrannt. Meine Mutter…« Er zuckte mit den Schultern, und in seinen Augen stand uralte Verzweif lung. Villiers drehte sich um und ging zum anderen Ende des Bü ros. Bernard warf einen nervösen Blick auf die Smith & Wes son. »Mein Vater war im Krieg in einer Sondereinheit, genau wie ich heute«, sagte Villiers. »Er ist dreimal mit dem Fallschirm über Frankreich abgesprungen, um mit der Resistance zu arbei ten. Zuletzt wurde er verraten, festgeno mmen und ins GestapoHauptquartier in der Rue des Saussaies in Paris verfrachtet. Eine gute Adresse für einen bösen Ort. Sie haben ihn drei Tage 148
lang so brutal verhört, daß er bis zum heutigen Tag einen ver krüppelten rechten Fuß hat.« Er wandte sich um, ohne die Hände aus den Taschen zu ne h men, und sah, daß Bernard am Schreibtisch saß und die Smith & Wesson umklammert hielt. »Oh, Sie sollten mich ausreden lassen, Herr Professor. Ich habe das Beste bis zuletzt aufgehoben. Sein Folterer war ein Franzose, der von der Gestapo bezahlt wurde. Einer von den Faschisten, die es überall gibt.« Bernard rief etwas Unverständliches und drückte ab. Doch Villiers hatte sich bereits auf die Knie fallen la ssen, und seine rechte Hand kam mit einer Walther PPK aus dem Regenmantel heraus. Er schoß Bernard in die Stirn. Villiers holte die Smith & Wesson, schaltete das Licht aus und verließ den Raum. Er ging die Treppe hinunter, öffnete die kleine Tür und trat in die Nacht. Ein Stück weiter leuchteten Scheinwerfer auf, und der Citroen mit Jackson am Steuer rollte ans Trottoir. Villiers stieg vorn ein. »Hast du ihm eine Chance gegeben?« fragte Jackson. »Selbstverständlich.« »Kann ich mir vorstellen. Warum den armen Kerl nicht gleich umlegen und es hinter sich haben, statt so zu tun, als ob? Gibt es dir ein besseres Gefühl? Jeder Mann verdient die Mög lichkeit, als erster zu ziehen, wie in irgendeinem Western?« »Konzentrieren Sie sich lieber auf die Straße, Sergeant Ma jor«, sagte Villiers förmlich und zündete sich eine neue Ziga rette an. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, erwiderte Jack son. »Ich hoffe, der Herr Major werden mir verzeihen. Ich hat te ganz vergessen, daß er ein Ehrenmann ist.« Bobst bestellte noch eine Flasche Champagner. »Sie trinken ja gar nicht«, sagte er zu Montera und wollte ihm einschenken. Montera wehrte mit einer Handbewegung ab. »Nein, danke. 149
Champagner bekommt mir nicht.« »Unsinn«, sagte Bobst. »Ein Mann, dem Champagner nicht bekommt, bekommt auch das Leben nicht, stimmt’s, Mademoi selle Legrand?« »Klingt vielleicht ganz witzig, aber ich sehe da keine Logik«, antwortete sie kühl. Er lachte. »Das gefällt mir. Eine Frau, die sagt, was sie denkt. Die redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Wanda ist da ganz anders, sie sagt nie, was sie denkt. Immer nur das, was man ihrer Meinung nach gern hören würde, stimmt’s, Wanda?« Die Demütigung war offensichtlich. Wandas Hände zitterten so sehr, daß sie ihre straßbesetzte Abendtasche umklammerte, um es zu kaschieren. Gabrielle machte den Mund auf, um Bobst eine passende Antwort zu geben, aber Raul legte seine Hand auf die ihre und beugte sich über den Tisch. »Bitte, Miss Jones, es wäre mir eine große Ehre, Ihnen zeigen zu dürfen, wie wir in Argentinien Tango tanzen.« Sie machte ein überraschtes Gesicht und sah Bobst an. Er ignorierte sie und schenkte Champagner nach. Sie stand auf. »Ich glaube, das wäre was für mich«, sagte sie und ging zur Tanzfläche. »Es wird nicht lange dauern«, sagte Montera zu Gabrie lle und lächelte. »Wenn du hier Arger bekommst, gib mir einen Wink, und ich mache es ungefähr so wie heute morgen.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie, als ob Bobst nicht dabei wäre, und folgte dann Wanda zur Tanzfläche. »Sehr hübsch«, sagte Bobst. »Eine gute Show. Ta nzen wir auch?« Gabrielle nahm einen kleinen Schluck Champagner. »Ich fürchte, Sie werden nicht das Vergnügen haben, mit mir zu tanzen, Mr. Bobst. Sie sind nämlich, offengesagt, nicht mein Typ.« Bobsts Zorn war nur in seinen Augen sichtbar, ansonsten be 150
hielt er sich in der Gewalt. »Ich bin aber sehr hartnäckig. Ich denke, Sie werden mich früher oder später schätzen lernen.« »Männer.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Arroganz. Diese unerträgliche männliche Arroganz. Ihr seid doch alle gleich. Egoistisch, rücksichtslos. Ihr behandelt uns Frauen wie Vieh, sind Sie sich dessen bewußt? Ihr Interesse ist im Grunde belei digend.« Er brachte es fertig, gute Miene zu machen. »Ich verstehe, dann haben Sie nicht nur etwas gegen mich, sondern gegen Männer im allgemeinen? Und wie steht’s mit unserem kühnen Oberst? Ich nehme an, er ist anders?« »Er ist er selbst. Er nimmt nicht, er gibt.« Es war, als sagte sie dies, um sich selbst Klarheit zu verschaffen, und auf ihrem Gesicht war so etwas wie Freude. »Das mag Ihnen wie ein Wi derspruch erscheinen, aber für mich ist es vollkommen plausi bel.« Ehe Bobst etwas erwidern konnte, trat der Oberkellner neben ihn. »Monsieur Bobst?« »Ja?« »Sie haben Ihren Namen an der Bar hinterlassen, falls ein Anruf kommt. Jemand möchte Sie sprechen.« Bobst folgte ihm zum Empfang und nahm den Hörer. »Ja, hier Bobst.« »Ich bin’s, Nikolaj. Hören Sie zu, Garcia hat eben angerufen. Bernard scheint ihm heute nachmittag eine Aufstellung der Konvois gegeben zu haben, die in den nächsten vier Tagen über St. Martin weiter zur De de Roc gehen sollen. Nur einer davon erfüllt Ihre Bedingungen. Er wird am Morgen des neun undzwanzigsten ganz in der Nähe sein.« »Das wäre übermorgen.« »Genau, können Sie es schaffen?« »Kein Problem. Wir fliegen morgen mit der Chieftain hin. Ich nehme den Oberst mit.« 151
»Ausgezeichnet. Wie finden Sie die Legrand?«
»Sehr beeindruckend. Ich könnte vorschlage n, daß sie mit kommt.« »Glauben Sie, sie würde es tun?« »Gut möglich. Montera und sie scheinen ganz wild aufeinan der zu sein.« »Eigentlich keine schlechte Idee«, sagte Below. »Wieso?« »Ich weiß nicht. Irgend etwas an ihr stört mich. Man entwik kelt einen Ins tinkt für solche Dinge.« »Dann sollten Sie sie gründlich durchleuchten.« »Oh, darauf können Sie sich verlassen. Ich rufe wieder an. Spätestens von der Maison Blanche aus.« Bobst legte auf, zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an, blickte zu Gabrielle hinüber und dachte darüber nach, was Be low gesagt hatte. Sie war wirklich eine Schönheit, aber es war noch mehr an ihr. Bisher hatte es ihm immer gereicht, Frauen zu benutzen, und er war froh gewesen, daß es nie zu einer ech ten Bindung gekommen war. Bewundernd und zugleich wider strebend schüttelte er den Kopf und merkte zu seiner Überra schung, daß er noch keine Frau so sehr begehrt hatte. Wanda warf ihm von der Tanzfläche einen Blick zu, sah den Ausdruck auf seinem Gesicht und sagte zu Montera: »Die Da me bedeutet Ihnen wohl sehr viel?« »Alles«, antwortete er einfach. »Dann passen Sie auf ihn auf«, sagte sie. »Er kriegt immer, was er haben will.« Als der Tanz zu Ende war, lächelte er und küßte ihr die Hand. »Sie sind zu gut für ihn.« Sie lächelte kläglich. »Sie irren sich. Ich bin für nichts ande res gut.« Sie erreichten den Tisch kurz vor Bobst. »Ich hatte eben ei 152
nen Anruf«, sagte er zu Montera. »Die Transaktion ist Sams tagmorgen. Wir müssen deshalb morgen nach Lancy fliegen. Ich habe in der Nähe eine alte Villa gemietet, die Maison Bla n che. Sehr stilvoll.« Montera sank das Herz. »Wie Sie wünschen.« Bobst wandte sich zu Gabrielle. »Was wurden Sie von ein paar Tagen auf dem Land halten?« »Nicht allzuviel«, antwortete sie, aber dann sah sie Monteras Gesicht und begriff, wie wenig Zeit sie nur noch haben wür den. Das vertrieb für den Moment alle Gedanken an den Auf trag, den Ferguson ihr gegeben hatte. »Überschlafen Sie es«, sagte Bobst. Sie stand auf. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wü r den. Ich bin sehr müde.« »Natürlich«, sagte Bobst. »Ich habe mich gefreut, Sie ken nenzulernen.« Stirnrunzelnd sah er ihnen nach und wartete noch eine Weile, ehe er zahlte, um dann ohne ein Wort an Wanda hinauszuge hen. Sie hastete hinter ihm her und hatte Mühe, auf ihren hoch hackigen Pumps das Gleichgewicht zu ha lten. Als sie ihn einholte, stand er am Bordstein, zündete sich mit einem Streichholz eine Zigarette an und wartete auf ein Taxi. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, sagte er: »Du hast mich da drinnen schön blamiert, ist dir das klar?« »Tut mir leid, Felix.« »Ich werde mir etwas einfallen lassen«, sagte er. »Etwas Be sonderes. Was du nicht so schnell vergißt.« Er stieß ihr Kinn mit den Fingerspitzen hoch. »Damit du zur Abwechslung auch mal was hast, worüber du nachdenken kannst!« Wieder in ihrer Wohnung, mixte Gabrielle sich einen Whis ky-Sour und ging zornig im Zimmer auf und ab. »Dieser Mann ist das widerlichste Stück, das ich je kennengelernt habe. Er verkörpert all das, was ich verabscheue. Hast du geschäftlich 153
mit ihm zu tun?« »Leider ja. Vergiß ihn am besten«, antwortete er. »Ich habe etwas für dich.« Er zog ein winziges Päckchen aus der Tasche. »Als wir uns heute nachmittag trennten, bin ich ein bißchen einkaufen gegangen.« Auf dem luxuriösen Papier stand »Cartier«. Sie wickelte eine kleine Schatulle aus und öffnete sie. Sie enthielt einen wunder schönen Ring, vielmehr drei ineinander verschlungene Ringe, einer in Weißgold, der andere in Gelbgold, der dritte in Rot gold. »Man nennt ihn russischen Ehering«, erklärte er. »Er wird meist am kleinen Finger der linken Hand getragen.« »Ich weiß.« »Die Größe habe ich raten müssen. Wenn er nicht paßt, ruf einfach bei Cartier an und verlang Monsieur Bresson. Er wird ihn ändern lassen. Darf ich?« Sie streckte die Hand aus, und er streifte ihr den Ring auf den kleinen Finger. »Er scheint ein bißchen groß zu sein.« Sie schüttelte den Kopf und starrte auf das bezaubernde Schmuckstück. »Nein«, sagte sie leise. »Er paßt ausgezeic h net.« »Ein Unterpfand«, sagte er. »Für…« Er zögerte und lächelte verschmitzt. »Mein großer Augenblick, und ich finde nicht die richtigen Worte. Gott steh mir bei, aber ich muß dies ord nungsgemäß hinter mich bringen. Glaubst du, es bestünde eine entfernte Möglichkeit, daß du erwägen könntest, einen altern den Bomberpiloten zu heiraten, der nun, wo er für Jets zu alt wird, seine Macken bekommen könnte?« In ihren Augen standen Tränen, und sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Raul, würdest du mir einen Gefallen tun?« »Was du willst.« »Geh ein bißchen spazieren. Ich möchte eine Weile allein sein.« 154
Er war besorgt. »Entschuldige. Ich gehe zu mir. Vie lleicht sehe ich dich morgen, bevor ich fliege.« »Nein.« Ihre Stimme hob sich wie in Panik. »Ich möchte, daß du wiederkommst.« »Natürlich, Liebes.« Er küßte sie zärtlich. »In einer ha lben Stunde«, sagte er und ging hinaus. »Ich bin’s«, sagte sie, als Villiers abgehoben und sich geme l det hatte. »Hast du was für mich?« Sie holte tief Luft und sagte: »Bobst ist vorhin an unseren Tisch gekommen. Ich habe gehört, wie er Raul sagte, die Transaktion solle Samstagmorgen stattfinden, und sie müßten morgen nach Lancy fliegen. Ich habe keine Ahnung, wo das ist.« »In der Bretagne«, sagte er. »Es paßt zu dem, was wir bereits wissen.« »Er hat mich eingeladen mitzukommen. Das Haus, wo sie wohnen, heißt Maison Blanche.« »Hast du angenommen?« »Ich will nicht mehr, Tony. Ich bin am Ende.« »Ich weiß, es ist hart«, sagte er. »Aber es muß sein. Ich weiß, wie du zu Montera stehst. Als Menschen bewundere ich ihn uneingeschränkt, aber er ist unser Feind, Gabrielle, und hier geht es nicht um private Dinge. Es geht darum, daß sie keine Exocets mehr kriegen.« »Es ist nicht gut«, sagte sie. »Meinetwegen. Ich will dich auf keinen Fall zwingen. Ich werde versuchen, ohne dich klarzukommen. Aber du wirst es Ferguson selbst sagen müssen. Ruf mich mo rgen früh an, falls du es dir doch noch anders überlegst.« Er legte auf, nahm wieder ab und wählte die Nummer der Wohnung am Cavendish Square in London. Harry Fox meldete 155
sich. »Schlechte Nachrichten von der Front«, sagte Villiers. »Ich hab eben mit Gabrielle gesprochen. Bis jetzt hat alles ganz gut geklappt, aber sie sagt, sie kann nicht mehr. Sie will raus.« »In Ordnung«, sagte Fox. »Überlassen Sie das mir.« Gabrielle schenkte sich noch einen Drink ein und trank ein paar Schluck, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie mußte es hin ter sich bringen. Sie setzte sich hin und wählte Fergusons Nummer. Er nahm schon nach dem ersten Klingeln ab. »Ferguson.« »Gabrielle.« Seine Stimme änderte sich. »Sind Sie aus gewesen, meine Liebe? Ich habe vorhin ein paarmal versucht, Sie zu errei chen.« »Ja, wir waren essen«, sagte sie. »Warum?« Er antwortete nicht gleich, und eine bange Vorahnung be schlich sie. »Sehen Sie, dies ist nicht leicht«, sagte er dann. »Wir haben schon versucht, Ihre Mutter und Ihren Stiefvater zu erreichen, aber sie sind anscheinend auf einer Segeljacht, bei den griechi schen Inseln.« Es konnte natürlich nur eines bedeuten. »Richard?« flüsterte sie. »Ja, meine Liebe. Es tut mir schrecklich leid, daß ich es bin, der Ihnen die Nachricht überbringt. Er wird ve rmißt, und man nimmt an, daß er bei einem Einsatz bei Port Stanley abge schossen worden ist.« »O Gott«, sagte Gabrielle und sah ihren Bruder einen Auge nblick bei der letzten Parade vor dem Auslaufen vor sich, voll Stolz auf seine schmucke Marineuniform, ein gutaussehender, strahlender Junge. »Mir ist natürlich klar, wie dieses unglückliche Ereignis auf 156
Sie wirken muß«, fuhr Ferguson fort. »Unter diesen Umstän den wäre es wahrscheinlich besser, Sie erfänden Montera ge genüber irgendeinen Vorwand und kämen nach London zu rück.« »Nein«, sagte sie müde. »Das wäre töricht. Jetzt nicht mehr. Vielen Dank, Brigadier, und gute Nacht.« Sie starrte auf das Telefon hinunter, nahm wieder ab und wählte noch einmal Villiers’ Nummer. Er meldete sic h sofort. »Ich hab’s mir anders überlegt, Tony. Ich fliege mo rgen doch mit Raul und Bobst nach Lancy. Aber ich weiß die Adresse von dem Haus da unten nicht.« »Kein Problem«, sagte er. »Harvey und ich fahren heute nacht hin. Wir werden es finden.« Er hielt inne. »Ist was nicht in Ordnung? Warum willst du nun doch weitermachen?« »Richard ist tot«, sagte sie. »Bei einem Einsatz abgeschossen. Es muß endlich aufhören, Tony. Um unseretwillen und um der anderen willen. Es gibt schon zu viele Tote.« »O mein Gott«, sagte Villiers, als sie auflegte. Ferguson seufzte. »Ein bemerkenswertes Mädchen.« Harry Fox fragte: »Sie macht doch weiter?« »Ja.« »Wie hat sie es aufgenommen?« »Wie zum Teufel soll ich das wissen, Harry? Wichtig ist, wie lange sie es noch durchstehen wird.« Als Montera die Tür erreichte, stand sie einen Spalt weit of fen. Er trat ein, machte hinter sich zu und ging ins Wohnzim mer. »Gabrielle?« »Ich bin hier.« Sie lag im dunklen Schlafzimmer im Bett. Er langte nach dem Lichtschalter, aber sie sagte schnell: »Nein, bitte nicht, Raul. Kein Licht.« 157
Er setzte sich auf den Bettrand und sagte besorgt: »Sieh mal, Liebes, wenn du dich nicht gut fühlst, gehe ich am besten. Wir haben noch soviel Zeit für uns…« »Nein.« Sie griff nach ihm. »Geh nicht. Ich möchte, daß du bei mir bist.« Er zog sich aus, warf seine Sachen über einen Stuhl und legte sich neben sie. Sie drehte sich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals, und dann war es plötzlich wie ein Dammbruch, und aller Schmerz, alle Pein strömten aus ihr heraus, und sie fing an, bittere Tränen zu weinen. »Was ist denn?« fragte er. »Nichts, Raul. Sag nichts mehr. Halt mich nur fest.« Er drückte seine Lippen auf ihre Stirn und tröstete sie wie ein kleines Kind. Nach einer Weile schlief sie ein. 13 Villiers und Jackson waren in der Nacht über Orleans und Tours nach Nantes gefahren und hatten dort die Straße nach Süden genommen. Es war noch früh, erst acht Uhr, als sie La n cy endlich fanden. Jackson verlangsamte den Citroen, als sie sich der Umzäunung näherten, fuhr im Schrittempo zum Haupttor, an dem ein großes Vorhängeschloß baumelte, gab dann wieder Gas und parkte den Wagen hinter einer Straßen biegung unter einer Baumgruppe. Sie gingen zwischen den Bäumen zurück und sahen zum Flugfeld hinunter. »Sieht ganz so aus wie eine Basis aus dem Krieg«, sagte Villiers. »Keine Menschenseele zu sehen«, Jackson erschauerte. »Ich hasse solche Plätze. Zu viel gute Männer gingen damals drauf.« Villers nickte. »Ich weiß, was du meinst.« Er sah zu dem 158
grauen Himmel hoch, der Regen ankündigte. »Hoffentlich ha ben unsere Freunde keine Probleme mit dem Wetter, wenn sie landen.« Jackson sagte: »Was machen wir jetzt?« »Wir fahren in dieses Kaff, St. Martin, und versuchen, das Haus zu finden, das Bobst gemietet hat.« Sie gingen durch den Wald zum Auto zurück. Gabrielle lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Nach einer Weile wandte sie den Kopf und sah, daß Montera sie beobachtete. »Wie geht es dir heute?« fragte er ernst. »Sehr gut.« Erstaunlich, wie ruhig sie war, wie beherrscht. »Tut mir leid, daß ich mich gestern abend so gehen ließ.« Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Möchtest du darüber re den?« »Da gibt es nichts zu reden«, sagte sie. »Gespenster der Ver gangenheit, nicht mehr und nicht weniger.« Sie griff nach sei ner Hand und hielt sie ganz fest. »Diese Sache mit Bobst in der Bretagne. Ist es wichtig?« »Ja«, sagte er. »Sagen wir, er kann uns bestimmten Nach schub liefern, den meine Regierung braucht, weil die üblichen Kanäle wegen des Waffenembargos blockiert sind.« »Und wenn du fertig bist, kehrst du nach Argentinien zurück? Wie lange haben wir noch, Raul? Zwei Tage? Drei?« »Es liegt nicht bei mir«, sagte er nur. »Ich habe auch keine Wahl. Ich muß die Zeit nutzen, die ich mit dir habe, selbst wenn ich gezwungen bin, sie mit diesem widerlichen Bobst zu teilen. Ich komme mit nach Lancy.« Er begann zu strahlen. »Wirklich?« »Ja.« Sie drehte sich wieder auf den Rücken, und er vergrub das Gesicht an ihrem Hals. Sie streichelte sein Haar und starrte 159
erneut zur Decke hoch. Erstaunlich, wie leicht all das war, die Lügen, der Betrug. Auf dem Flugplatz von Brie-Comte-Robert lief Bobst, eine Zigarette rauchend, ungeduldig auf und ab. Wanda lehnte an der Hangarwand, und Rabier wartete neben der Chieftain. »Wo zum Teufel steckt er?« fragte Bobst. Doch da kam schon ein Taxi durchs Haupttor und fuhr über das Vorfeld auf sie zu. Raul Montera, in Jeans und seiner abgewetzten Fliegerjacke, stieg aus. Er half Gabrielle aus dem Wagen. Bobst war ent zückt, sein Ärger verflog im Nu, und er eilte ihnen entgegen. »Sie haben also doch beschlossen, uns zu begle iten?« »Ja«, sagte sie. »Mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß ich nichts Besseres vorhatte.« Montera nahm das Gepäck und bezahlte den Fahrer. Gabrie l le sah in ihren Jeans und der blauen Matrosenjacke hinreißend aus. Bobst wurde sich verwundert bewußt, daß es diesmal an ders war als sonst. Er wollte, daß diese Frau ihn begehrte. Das kleine Lokal am Hafen von St. Martin war leer, bis auf Villiers und Jackson, die am Ende der Theke standen und die Croissants verschlangen, die die Besitzerin, eine stattliche Blondine, ihnen serviert hatte. »Noch einen Kaffee?« fragte sie. Villers nickte. »Wo bleiben die Gäste?« »Die Stammgäste arbeiten, Monsieur, und neuerdings kom men nicht mehr viel Touristen. Es ist nicht mehr das, was es mal war.« »Ich dachte, es gibt hier in der Nähe einen Flugplatz?« »Ach, ja, das stimmt, in Lancy, aber er ist schon lange stillge legt.« Sie schenkte dampfenden Kaffee nach. »Haben Sie hier geschäftlich zu tun?« »Nein«, sagte Villiers. »Wir sind seit einer Woche mit dem 160
Auto in der Bretagne unterwegs. Man hat uns gesagt, man kön ne hier gut fischen.« »Das stimmt, am besten nahe der Küste.« »Wo könnten wir wohnen?« »Weiter oben an der Straße ist ein Hotel, Pomme d’Or, aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, gehen Sie da nicht hin. Es ist schmuddelig. Wenden Sie sich am besten an den Makler hier, er heißt Hugo und ve rmietet Ferienhäuser und Bungalows. Er wird sich freuen, etwas für Sie zu tun, glauben Sie mir. Wie ich schon sagte, die Touristen sind weniger ge worden. Sein Büro ist fünfzig Meter weiter am Wasser.« »Vielen Dank für den Tip.« Villiers schenkte ihr sein bestrik kendstes Lächeln. »Wir werden gleich hingehen. « Monsieur Hugo, ein freundlicher weißhaariger Herr, war äu ßerst zuvorkommend. An der einen Wand des Büros hing eine große Karte der Gegend, an der kleine rote Fähnchen die Lage seiner Mietobjekte anzeigten. »Ich könnte Ihnen ohne weiteres etwas im Ort besorgen«, sagt er. »Die Mindestmietdauer ist allerdings eine Woche.« »Kein Problem«, sagte Villiers. »Mir wäre aber etwas auf dem Land lieber. Ein Freund in Paris, der vor ein paar Jahren hier gewesen ist, hat von einem Haus gesprochen, das Maison Blanche heißt.« Der alte Herr nickte, nahm seine Brille ab und zeigte auf ei nes der Fähnchen. »O ja, ein sehr schönes Anwesen, aber viel zu groß für Ihre Zwecke, und außerdem habe ich es erst vor kurzem an einen Herrn aus Paris vermietet.« »Ich verstehe.« Villiers studierte die Karte und deutete auf ein Fähnchen zwischen Maison Blanche und Lancy. »Und was ist das?« »Das ginge. Ich bin sicher, daß Sie sich dort wohl fü hlen werden. Ein kleiner moderner Bungalow, er heißt ›Flüsternder Wind‹, vor fünf Jahren von einem Lehrer aus Nantes gebaut, 161
der dort seinen Ruhestand verbringen will. Im Augenblick be nutzt er es nur in den Ferien. Komplett möbliert, zwei Schlaf zimmer. Ich könnte es Ihnen für tausend Francs in der Woche geben, zuzüglich fünfhundert Francs Kaution, falls etwas ka puttgehen sollte. Natürlich im voraus zahlbar.« Er lächelt ent schuldigend. »Es ist traurig, Monsieur, aber ich habe die Erfa h rung machen müssen, daß es Leute gibt, die abreisen, ohne zu zahlen.« »Ich verstehe vollkommen.« Villiers zog seine Brieftasche und zählte das Geld auf den Schreibtisch. »Soll ich mitfahren und Ihnen alles zeigen?« fragte der alte Herr. »Nicht nötig. Sie haben sicher genug Arbeit. Sie brauchen mir nur den Schlüssel zu geben.« »Selbstverständlich, Monsieur.« Hugo nahm einen Schlüssel vom Brett und reichte ihn Villiers. »Ein paar Häuser weiter ist unser kleiner Supermarkt, wo Sie alles finden werden, was Sie brauchen. Madame Dubois wird Ihnen gern helfen.« Villiers ging zum Citroen und stieg ein. Harvey Jackson frag te: »Alles in Ordnung?« »Ich denke ja. Ich weiß jetzt, wo Maison Blanche ist, und ich habe einen Ferienbungalow in der Nähe gemietet.« Er hielt den Schlüssel hoch. »Flüsternder Wind.« »Allmächtiger Gott«, sagte Jackson. »Halt bitte bei dem Laden dort. Wir werden ein paar Dinge brauchen.« Villiers lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an. Bis jetzt lief alles glatt. Nun mußten nur noch Bobst, Raul Montera und Gabrielle erscheinen. Und das Spiel konnte weitergehen. Als die Chieftain kurz vor Mittag in Lancy aufsetzte, wartete Kemal schon mit einem großen Peugeot-Kombi auf die Insas sen. Villiers, der unter Bäumen auf dem Hügel hockte und die Maschine durch einen Feldstecher beobachtete, sah die Passa 162
giere aussteigen und das Flugzeug in den Hangar rollen, dessen Tor Kemal bereits geöffnet hatte. Nun half er Rabier, es zu schließen, während die anderen in den Peugeot stiegen. »Ist Gabrielle dabei?« fragte Jackson. Villiers nickte. »Okay, fahren wir zum Bungalow und essen wir einen Hap pen. Ich muß den Brigadier anrufen. Geben wir unseren Freun den die Gelegenheit, sich häuslich einzuric hten. Um Maison Blanche kümmern wir uns später.« Sie standen auf, reckten sich und gingen zum Auto zurück. Harry Fox nahm gerade einen frühen Lunch, als Villiers an rief. Fox sagte: »Er ist nicht da, Tony. Bei einer Besprechung der Befehlshaber im Verteidigungsministerium. Wo sind Sie?« »Mitten in der Bretagne. In einem Ferienhaus, ob Sie’s glau ben oder nicht.« »Und Bobst?« »Nur ein Stück weiter.« »Gut. Geben Sie mir Ihre Nummer, und ich rufe an, sobald er wieder da ist.« Bobst öffnete die Tür eines der Schlafzimmer im ersten Stock der Maison Blanche und führte Montera und Gabrielle hinein. Es war ein altmodisch eingerichteter Raum mit schmalbrüsti gen Fenstern, der wegen der weinroten Tapete düster wirkte. Das sehr hohe Bett machte keinen einladenden Eindruck. »Das Bad ist dort nebenan«, sagte Bobst. »Jeder Komfort. Kemal hat gesagt, das Mittagessen sei in einer halben Stunde fertig. Wir sehen uns dann unten.« Er ging hinaus, und Montera setzte sich auf das Bett und fe derte auf und ab. »Heilige Madonna, das quietscht ja fürchter lich. Die ganze Welt wird hören, wie verrückt ich nach dir bin.« Sie setzte sich neben ihn. »Ich mag dieses Haus nicht, Raul, 163
ebensowenig wie ihn.« »Ich weiß«, sagte er. »Aber du magst mich, und das wiegt al les andere auf.« Er küßte sie. Villiers saß mit einem Glas in der Hand im Wohnzimmer und wartete auf Fergusons Anruf, als Jackson aus der Küche kam. »Ich hab gerade Nachrichten gehört. Eine neue Meldung von den Falklands. Die Fallschirmjäger haben heute mo rgen Goose Green angegriffen.« »Und?« »Den amerikanischen Quellen zufolge gibt’s erbitterte Kämp fe.« Villiers sprang auf. »Und wir sitzen hier und spielen Schul jungenspiele.« »Sei kein Idiot«, sagte Jackson barsch. »Es sind ve rdammt wichtige Spiele. Übrigens, ich habe eine Dosensuppe heiß ge macht, und dazu gibt’s Baguette und Käse. Wenn du Hunger hast, komm in die Küche. Wenn du lieber in der Offiziersmesse bleiben willst, bitte.« Er ging hinaus, und fast im selben Moment klingelte das Te lefon. Es war Ferguson: »Wie steht’s, Tony?« »Bis jetzt okay«, antwortete Villiers und informierte ihn dann ausführlich. Als er ausgeredet hatte, sagte Ferguson: »Gut, rufen Sie mich bitte sofort an, wenn sie herausbekommen haben, was Bobst vorhat. Ich glaube, es ist am besten, wenn Sergeant Major Jackson Telefondienst macht, falls ich Sie schnell brauchen sollte.« »Sehr wohl, Sir«, sagte Villiers. »Wir haben gerade in den Nachrichten gehört, daß in Goose Green gekämpft wird.« »Großer Gott«, sagte Ferguson. »Für unsere Medien ist es noch nicht freigegeben worden.« »Wie steht es?« 164
»Nicht so gut, Tony. Der Nachrichtendienst hat Mist gebaut. Viel mehr Argentinier, als wir dachten. Ich fürchte, der kom mandierende Offizier ist gefallen, aber die Info rmationen sind momentan noch spärlich. Ich rufe Sie auf jeden Fall wieder an.« Mit grimmigem Gesicht legte Villiers auf und ging dann in die Küche. Das Mittagessen bestand aus reichlichen Portionen Räuche r lachs und Beluga-Kaviar, dazu gab es Champagner der Marke Krug. »Ich mache eine Schlankheitskur«, erläuterte Bobst. »Wenn ich leide, müssen meine Gäste mitleiden. Sie trinken wieder nicht, Oberst?« »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, daß Champagner mir nicht bekommt.« »Was würden Sie vorziehen? Ein guter Gastgeber sollte sich bemühen, auch schwierige Gäste zufriedenzustellen.« Montera warf einen Blick auf Gabrielle, die wissend lächelte, denn sie kannte seine Antwort im voraus. Er erwiderte das Lä cheln. »Am liebsten wäre mir eine Ta sse Tee.« »Du meine Güte.« Bobst stöhnte und sah zu Kemal hoch, der an der Tür stand. »Sieh zu, was du tun kannst.« Kemal ging hinaus, und Montera sagte: »Ich muß mit Ihnen reden, Bobst. Um das Geschäftliche zu regeln. Natürlich nur, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben.« »Dafür immer.« Bobst wandte sich zu Gabrielle und Wanda. »Würdet ihr uns kurz entschuldigen?« »Sicher«, sagte Gabrielle. »Ich gehe ein bißchen spazieren.« Sie sah Wanda an. »Möchten Sie nicht mitkommen, Miss Jo nes?« Bobst lachte. »Wanda und Spazierengehen? Den Tag werde ich im Kalender ankreuzen. Es sei denn, es ist ein Schaufe nsterbummel.« 165
Das Mädchen verfärbte sich dunkelrot und stand auf. »Vielen Dank, aber ich denke, ich muß auspacken.« Sie verließ das Zimmer, und Bobst sagte zu Gabrielle: »Übri gens, noch etwas. Der Hof und die Ställe sind aus geschäftli chen Gründen tabu. Ansonsten können Sie sich überall frei bewegen.« Er lächelte maliziös. Sie öffnete eine der Fenstertüren und trat ins Freie. Bobst und Montera saßen im Wohnzimmer am Kaminfeuer. Montera sagte: »Sie garantieren wirklich, daß es kein Malheur geben kann?« »Absolut. Meine italienischen Agenten haben mir noch, heute morgen versichert, daß alles soweit klar ist. Die Exocets wer den morgen früh hier sein. Ich hoffe, Ihr Gold ist bis dahin in Genf ebenso verfügbar.« »Da wird es keinerlei Schwierigkeiten geben.« Bobst steckte sich eine Zigarette an. »Dann werden Sie mit der Hercules fliegen. Was ist mit Mademoiselle Le grand? Kommt sie mit?« »Vermutlich«, antwortete Montera. »Ich denke doch, daß ich sie überreden kann.« Er stand auf. »Ich glaube, ich gehe auch ein bißchen an die Luft.« »Ich komme mit«, sagte Bobst. »Ein kleiner Spaziergang könnte mir nicht schaden.« Montera konnte schlecht ablehnen, und so gingen sie beide hinaus. Tony Villiers, der sich hinter einer Mauer oberhalb des Besit zes in einem Gebüsch versteckt hatte, sah verschiedene interes sante Dinge. Zum Beispiel ging Kemal einige Male von der Rückseite des Hauses zu den Ställen. Dort war jemand, denn jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, schimmerte dahinter ein heller Fleck – ein Gesicht. Dann erschien Gabrielle, ging über die Terrasse und schritt über den Rasen zu den Bäumen. Er beobachtete sie durch den 166
Feldstecher und verlor sie ein paarmal aus den Augen. Schließ lich kam sie an einem Teich ins Freie und folgte einem schma len Weg, der zu einem verfallenen Gartenhaus auf der anderen Seite führte. Villiers’ geübtes Auge machte eine Bewegung in den Bäumen oberhalb des Wassers aus. Er stellte die Gläser ein, während eine Gestalt in geflickten Jeans und langem Haar unter einer Tweedmütze, mit einer Flinte unter dem Arm, aus den Büschen hervorkam. Der Unbekannte ging hinter Gabrielle her, hielt sich aber außerhalb ihrer Sicht. Villiers richtete sich auf und rannte durch den Wald hinunter. Gabrielle stieß die zerbrochene Tür des Gartenha uses auf und ging hinein. Es gab einen Holztisch, ein paar Stühle und einen gemauerten Kamin. In den Fenstern fehlten einige Scheiben, und wo Regen hereingetrieben war, zeichneten sich große feuchte Flecken auf dem Fußboden ab. Sie hörte Schritte hinter sich und fuhr herum. Der junge Mann, der dort stand, war mittelgroß und hatte fe minine Züge. Er war unrasiert. Seine Sachen waren ihm zu groß, und unter seiner Mütze standen heftige Strähnen hervor. Er hielt mit beiden Händen eine doppelläufige Flinte. »Was wollen Sie?« sagte sie. Er legte eine Hand auf den Mund und musterte sie mit fun kelnden Augen. »Oh, das frage ich Sie. Ich soll das Gut hier bewachen.« »Ich verstehe.« Sie lehnte sich an den Tisch. »Wie he ißen Sie?« Er grinste. »Das ist schon freundlicher. Paul Gaubert.« Sie drängte sich an ihm vorbei und ging nach draußen. »He, kommen Sie zurück«, rief er; er rannte hinter ihr her und pack te ihren rechten Arm. Sie sagte: »Seien Sie vorsichtig. Ich bin bei Monsieur Bobst zu Gast.« Sie riß sich los und stieß ihn mit beiden Händen heftig fort. 167
Er kam ins Taumeln und sperrte überrascht den Mund auf, und dann war nur noch Zorn auf seinem Gesicht. Er ließ die Flinte fallen und griff nach ihr, und sie rammte ihm ein Knie in den Schritt. Bobst und Montera kamen rechtzeitig über den Kamm ober halb des Teichs, um die Szene, einschließlich Villiers’ Eingrei fen, zu beobachten, doch die kalte Wut in seinen Augen konn ten sie aus dieser Entfernung nicht sehen. Mit einer Hand pack te er Paul Gaubert am Kragen, mit der anderen am Gürtel. Er schwenkte ihn herum und schleuderte ihn mit dem Kopf zuerst in den Teich. Der Junge tauchte unter, kam prustend wieder hoch und krabbelte ans Ufer. »Gaubert!« rief Bobst, während er mit Montera den Hügel hinunterlief. Der junge Zigeuner blickte sich erschrocken um und ergriff die Flucht. Villiers sagte zu Gabrielle: »Alles in Ordnung?« »Ja, danke«, sagte sie. »Aber wie war’s mit einer Änderung des Drehbuchs? Immer wieder die gleiche Einstellung, es wird allmählich langweilig. Und paß auf, wir bekommen Gesell schaft.« »Ich bin Ire und habe hier in der Nähe ein Ferienhaus gemie tet. Michael O’Hagan.« Die Lage in Nordirland hatte das SAS veranlaßt, ein hoch spezialisiertes Sprachlabor zu gründen, in denen seinen Män nern verschiedene regionale irische Akzente beigebracht wur den. Villiers konnte reden, als wäre er zehn Kilometer von Crossmaglen entfernt geboren und aufgewachsen, und Michael O’Hagan war ein Pseudonym, das er schon vorher benutzt hat te. Montera näherte sich im Laufschritt und fragte besorgt: »Ga brielle, ist dir etwas passiert?« »Nein, aber nur dank diesem Herrn.« 168
»O’Hagan«, sagte Villiers leutselig. »Michael O’Hagan.« »Ich muß Ihnen danken, Sir.« Bobst schüttelte ihm die Hand. »Ralph Bobst. Ich wohne hier zeitweise. Das ist Mr. Montera, und die Dame, die Sie gerettet haben, ist Miss Legrand. Der Kerl, der sie belästigt hat, ist übrigens ein Zigeuner namens Gaubert. Ich habe einer Gruppe von ihnen erlaubt, auf dem Land hier zu kampieren, und da sieht man wieder einmal, was geschieht, wenn man solche Leute menschlich behandelt.« »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Villiers. »Woher kamen Sie eigentlich, Mr. O’Hagan?« »Von dort oben, wo die Bäume bis an die Straße stehen.« Villiers zeigte hin. »Ich hatte gerade die Karte genommen und versuchte, mich zu orientieren, und da sah ich, daß der Bursche offensichtlich die junge Dame verfolgte. Der Rest ist bekannt, wie man so sagt.« »O ja. Wohnen Sie in der Gegend?« Es hatte keinen Sinn, etwas anderes vorzutäuschen. Villiers sagte: »Ja, in einem kleinen Bungalow etwas weiter an der Straße. Mit einem Freund. Wir sehen uns die Bretagne an.« Er hatte sich bemüht, harmlos und aufrichtig zu klingen, und es schien ihm gelungen zu sein. Bobst sagte: »Kommen Sie doch auf einen Drink ins Haus.« Villiers sagte: »Sehr freundlich von Ihnen, aber vielleicht ein andermal. Ich habe mich bereits verspätet.« Bobst insistierte. »Dann kommen Sie doch heute abend zum Essen. Bringen Sie Ihren Freund mit.« »Ich fürchte, ich habe keinen einzigen anständigen Anzug dabei«, sagte Villiers, um das Image des Provinz- Iren zu wah ren. »Ich bitte Sie, das spielt doch keine Rolle. Alles vollkommen zwanglos. Ihren Freund erwarten wir natürlich auch.« »In Ordnung. Aber ich kann nicht für ihn garantieren, wo möglich hat er schon etwas anderes vor.« 169
»Bis nachher. Zwischen halb acht und acht.«
Villiers drehte sich um und ging schnell fort. Montera sagte:
»Ein Glück, daß er in der Nähe war.« »Ja«, erwiderte Bobst und krauste ein wenig die Stirn. Als Villiers wieder im Bungalow war, rasierte er sich und duschte. Er zog eine Wollhose, ein dunkles Hemd und ein Tweedsakko an und ging in die Küche. In einer Hand hatte er eine Walther PPK, in der anderen eine Rolle Pflaster. Er stellte den linken Fuß auf einen Stuhl, krempelte das Hosenbein hoch und befestigte die Waffe kurz über dem Knöchel mit Pflaster streifen. »Daniel in der Löwengrube?« bemerkte Jackson. »Na ja, man kann nie wissen. Es ist immer beruhigend, ein As im Ärmel zu haben. Bis später. Sei nicht unartig.« Er verließ das Haus, stieg in den Citroen und fuhr los. Jack son schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und langte zum Radio, um es anzustellen. Er spürte einen kalten Luftzug im Nacken, als ob die Tür geöffnet wo rden sei. Er wirbelte herum, und Yanni Kemal trat mit einer Pistole in der Hand ins Zim mer. Hinter ihm standen zwei von Roux’ Ganoven. Die Buchen oberhalb des Rasens zeichneten sich durch die Fenstertüren zur Terrasse wie schwarze Scha ttenrisse vor dem orangegesäumten Himmel ab. Drinnen war es warm und ge mütlich. Gabrielle trug ihre gelbe Latzhose, Montera war in Jeans und einem blauen Flanellhemd nach unten gekommen. Bobsts Konzession an den vorgeschlagenen Freizeitlook war ein Mohairpullover anstelle eines Sakkos. Er blickte aus einer der Türen, bevor er sie zumachte. »Wir könnten morgen Schwierigkeiten mit dem Wetter haben.« »Hoffentlich nicht«, antwortete Montera. »Das Essen war üb rigens hervorragend.« »Das ist Wandas Ressort, nicht meins. Wenn sie sich Mühe gibt, bringt sie was ganz Passables zustande.« 170
Der herablassende Tonfall war nicht zu überhören. Gabrielle sagte: »Es war mehr als passabel. Es war große Klasse. Ich würde sagen, sie hat den Bogen wirklich raus.« »Erzählen Sie ihr das bloß nicht. Sie wurde es nicht verkraf ten.« In diesem Augenblick kam Wanda mit einem Tablett herein. Sie war mit ihrem Hosenanzug aus schwarzem Samt auffallend elegant gekleidet. Sie brachte Tee für Gabrielle und Montera. Bobst sagte: »Du gibst dir Mühe, nicht wahr, aber was ist mit Mr. O’Hagan? Die Iren trinken doch auch Tee, stimmt’s, O’Hagan?« »Oh, die meisten«, sagte Villiers leichthin. »Mir ist momen tan mehr nach Kaffee.« Die Hand des Mädchens zitterte, als es ihm und Gabrielle ei ne Tasse reichte, und Gabrielle wurde wieder ärgerlich und wandte sich an Montera. »Ich würde gern etwas Luft schnap pen. Machen wir einen Spazie rgang?« »Warum nicht?« Er öffnete eine Terrassentür, und sie gingen hinaus. Bobst sagte: »Ein attraktives Paar, finden Sie nicht auch?« Villiers zog milde überrascht die Augenbrauen hoch. »Ja, ich denke, Sie haben recht.« »Sagen Sie, was sind Sie von Beruf, Mr. O’Hagan?« »Verkaufsrepräsentant. Hauptsächlich Ölpumpen.« »Mit all dem Nordseeöl sicher ein gutes Geschäft.« »O ja.« Villiers sah auf seine Uhr. »Es war wirklich ein netter Abend, aber ich fürchte, ich muß jetzt gehen. Wir wollen früh aufstehen.« »Schade. Aber es war nett, Sie hier zu haben.« Bobst begle i tete ihn zur Haustür und öffnete. »Nochmals vielen Dank für das, was Sie heute nachmittag getan haben. Ich habe vorhin Kemal, meinen besten Mann hier, losgeschickt, um sich diesen 171
Zigeuner zu schnappen, aber als er das Lager erreichte, hatten sie ihre Zelte schon abgebrochen.« Sie verabschiedeten sich per Handschlag, und Villiers ging die Stufen hinunter. Bobst kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Kann ich etwas für dich tun?« sagte Wanda. »Nein«, sagte er. »Geh schlafen.« »Aber es ist noch früh, Felix.« Er schüttelte den Kopf. »Du lernst es nie, nicht wahr?« Er fuhr ihr mit dem Handrücken das Gesicht entlang, und sie zuckte zurück, als erwarte sie einen Schlag. »So ist’s richtig«, sagte er. »Tu, was ich gesagt habe, und geh schlafen.« Als sie das Zimmer verließ, kam Kemal herein. Bobst fragte: »Hast du den Wagen vorgefahren?« »Ja.« Bobst ging zu der offenen Terrassentür. An der anderen Seite des Rasens, wo Montera und Gabrielle miteinander redeten, sah er den aufglühenden Punkt einer Zigarette. »He, ihr beide dort. Ich muß noch mal kurz fort. Macht euch einen Drink, wenn euch danach ist, ja?« Er trat ins Zimmer zurück und sagte zu Kemal: »In Ordnung, gehen wir.« Beide eilten aus dem Haus. Montera rauchte seine Zigarette und lehnte sich neben ihr an die Brüstung. »Ich hab wohl ununterbrochen von meiner Mut ter und meiner Tochter geredet. Du mußt dich zu Tode lang weilen.« »Aber sie sind ein Teil von dir, Raul. Ich möchte so viel über sie wissen. Sie sind wichtig.« »Ja«, sagte er. »Was ist das Leben, wenn man keine Wurzeln hat? Wir brauchen alle einen Platz, wohin wir dann und wann zurückkehren können, um auszuruhen. Einen Platz, wo wir Verständnis und Trost finden.« »Ich wünschte, ich hätte auch einen«, sagte sie, und der 172
Schmerz in ihrer Stimme berührte ihn zutiefst. Er sagte: »Aber du hast jetzt einen, Liebes. Ich fliege morgen direkt von hier nach Argentinien.« »Ich verstehe nicht.« »Von Lancy. Wir erwarten ein Flugzeug mit Kriegsnach schub. Eine Hercules-Transportmaschine. Du könntest mit kommen.« Sie könnte mitkommen, das stimmte. Es wäre ganz leicht. Noch nie war sie so nahe daran gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, wie jetzt. Villiers betrat den Bungalow und rief: »Harvey, wo bist du?« Er hörte keine Antwort, nur leise, irgendwie unheimliche Ra diomusik aus einem hinteren Zimmer. Merkwürdigerweise erkannte er das Lied sofort. Ein nostalgischer Schlager, AI Bowlly, die Heulboje der dreißiger Jahre, sang »Moonlight on the Highway«. Die Schlafzimmertür stand offen, und Villiers blieb auf der Schwelle stehen. Jackson saß auf der anderen Seite des Betts am Tisch, neben ihm spielte ein kleines Radio. »He, Harvey«, sagte Villiers. »Was zum Teufel führst du im Schilde?« Und dann sah er, daß Jackson an den Stuhl gefesselt war. Seine Wangen wiesen häßliche Brandblasen auf, wahrschein lich von einem brennenden Feuerzeug. Über dem rechten Ohr war eine Einschußwunde, kleines Kaliber, denn die Kugel war nicht ausgetreten. Die toten Augen starrten zur Wand. Villiers ließ sich auf das Bett sinken und betrachtete ihn. Aden, Oman, Borneo, Nordirland. So viele Kämpfe, so viele Tote, und Harvey Jackson war immer derjenige gewesen, der mit heiler Haut davonkam. Um das hier durchzumachen, dieses schreckliche Ende zu erleben. Die Tür schlug gegen die Wand hinter ihm. Seine Hand griff bereits nach dem Kolben der Walther, als er herumfuhr und 173
Kemal mit zwei bewaffneten Männern erblickte. »Eine harte Nuß«, sagte Kemal. »Ich hab nichts aus ihm he rausbringen können.« »Ja, der Drill beim SAS scheint sehr gut zu sein, Major Vil liers«, sagte Ralph Bobst. »Das muß man euch lassen.« Montera und Gabrielle saßen am Kamin und unterhie lten sich leise, als die Tür aufging und Bobst hereinkam. Er machte hin ter sich zu, trat näher und stellte sich mit dem Rücken an die Flammen. »Sehr anheimelnd. Ziemlich kühl draußen, heute abend.« »Sind Sie weit fort gewesen?« fragte Montera höflich. »Weit genug. Ich bekam vorhin einen Anruf von einem Be kannten in Paris. Er hat ein paar Nachforschungen über Ihre Freundin hier angestellt.« »Was zum Teufel soll das heißen?« sagte Montera zo rnig. »Ja, Mademoiselle Legrand, oder wäre Ihnen Mrs. Gabrielle Villiers lieber. Haben Sie nicht gewußt, daß sie verheiratet ist?« »Geschieden«, sagte Montera eisig. »Ihre Informationen sind überholt, mein Bester.« Gabrielle saß wie versteinert, wartete, daß das Beil fiel, Bobst sagte: »Ja, aber wer ist Mr. Villiers, oder sollte ich sagen Major Villiers? Ein bemerkenswerter Mann. Grenadier Guards und Special Air Service Regiment. Was sagen Sie nun? Als mein Freund mir die Beschreibung am Telefon vorlas, paßte auf einmal vieles zusammen.« Er ging zur Tür und öffnete sie, und Kemal stieß seinen Ge fangenen ins Zimmer. »Oberst Raul Montera, darf ich Sie mit Major Anthony Villiers bekannt machen? Ich würde sagen, Sie beide haben eine Menge gemeinsam.« 14 174
Zwei von Roux’ Männern bauten sich mit ArmaliteGewehren an der Wand auf. Kemal stieß Villiers weiter ins Zimmer und warf Bobst die Walther PPK zu, der sie elegant auffing. »Die hatte er sich ans Bein gepflastert.« Bobst wandte sich an Montera. »Sehen Sie, ein echter Profi. Ich nehme an, Sie sind sich darüber klar, daß dies gewisse Fra gen über Gabrielles Rolle bei der Sache aufwirft, Oberst. Ich habe irgendwie das Gefühl, Ihre schöne Freundin ist nicht ganz aufrichtig zu Ihnen. Ich meine, die einzig mögliche Erklärung ist, daß sie sehr geschickt für die andere Seite spioniert.« Montera sagte ruhig zu ihr: »Stimmt das?« »Ja«, sagte sie. »Heilige Muttergottes!« preßte er hervor. »Jetzt verstehe ich alles. Es fing schon in Lo ndon an, nicht wahr? Alles ging so schön glatt. Und dann Paris und der Bois de Boulogne.« Ihre Augen brannten unerträglich. Sie wollte etwas sagen und konnte nicht, sie stand nur da und starrte ihn an. Sie machte den Mund auf, aber kein Ton kam. Villiers sprach für sie: »Versuchen Sie doch zu begreifen, Montera. Sie hat einen Halbbruder, einen Hubschrauberpiloten, der vor Stanley gefallen ist.« Sie versuchte, ihren inneren Aufruhr unter Kontrolle zu be kommen, und ihre Fingernägel gruben sich in die Handflächen. Sie fing an zu zittern, und da tat Raul Montera etwas Unfaßli ches. Er griff nach ihren Händen und hielt sie ganz fest. Dann zog er sie ein Stück zu sich her. »Schon gut«, sagte er. »Sag nichts.« Er sprach, als ob sie allein wären, und legte ihr den Arm um die Schultern. Bobst sagte: »Mein Gott, das ist ja Tierquälerei.« Er durch querte das Zimmer und öffnete eine mit grünem Filz verkleide te Tür. »Bitte hier hinein, Oberst. Macht euren Frieden oder was immer ihr tun müßt. Ich habe sowieso ein Wort mit unse 175
rem tapferen Major zu reden.« In Paris hatte Below sich gerade zum Schlafengehen fertig gemacht, als das Telefon klingelte. Irana nahm ab. »Es ist Bobst, für dich«, sagte sie. Below nahm den Hörer. »Wie steht’s?« »Mehr als interessant. Hören Sie zu.« Bobst bericht ete schnell, was am Abend geschehen war. Zuletzt sagte er: »Ha ben Sie sich mit Ihren Freunden beim französischen Geheim dienst in Verbindung gesetzt, damit sie herumhören, ob etwas gegen mich läuft?« Zwar waren die meisten in den französischen Nachrichten dienst eingeschleusten KGB-Agenten infolge des Saphirskan dals enttarnt worden, doch Below hatte dort immer noch gut plazierte Kontakte. »Wir haben alles gründlich überprüft und sind auf dem neue sten Stand. Ich habe erst vor einer halben Stunde den abschlie ßenden Bericht bekommen, hätte Sie morgen früh sowieso an gerufen. Nirgends im System eine Spur von Ihren Aktivitäten. Kein Mensch kümmert sich um Sie, keiner wartet auf Sie, kei ne Fallen.« »Aber der britische Geheimdienst muß Lunte gerochen ha ben. Ich möchte wissen, wie.« »Es muß diese Person sein und ihr Interesse für Montera. Montera war das Verbindungsglied. Sie hat ihn in London ken nengelernt und dann scheinbar zufällig in Paris wiedergetrof fen. Wie wir jetzt wissen, war es aber alles andere als ein Zu fall, und es war zeitlich so gut abgepaßt, daß wir annehmen müssen, die Briten sind über seine Ankunft informiert gewe sen. Wenn man uns verpfiffen hat, dann meiner Meinung nach am argentinischen Ende und nirgendwo anders.« »Klingt logisch.« »Wollen Sie trotzdem weitermachen?« »Es spricht nichts dagegen.« 176
»Gut. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Ja, in der Tat. Ich denke, es ist Zeit für einen Heimaturlaub, wenn dieser Fall irgendwelche Kreise ziehen sollte. Die Chief tain schafft es ohne weiteres bis nach Finnland. Wissen Sie dort einen sicheren Flugplatz?« »Gewiß. Perinö. Wir benutzen ihn oft. Ich werde dafür sor gen, daß Vorbereitungen für den Anschlußflug getroffen wer den. Übrigens, heute abend kam eine interessante Durchsage in den Nachrichten. Professor Bernard ist mit einem Kopfschuß in einem Lagerhaus an der Seine gefunden worden.« »Wirklich? Spektakuläre Einzelheiten?« »Die Polizei ermittelt noch. Sie wissen, wie das ist?« »Sicher. Ich rufe wieder an.« Below legte auf und blieb nachdenklich auf dem Bettrand sit zen. Irana sagte: »Was war denn?« Er lächelte und nahm ihre Hand. »Ich habe dieses Jahr noch keinen einzigen Tag Urlaub genommen und du auch nicht. Wie war’s mit einer kleinen Reise nach Moskau?« »Wann?« »Am besten sofort. Wir könnten die Aeroflot-Maschine mo r gen früh um sieben nehmen.« »Ich verstehe. Du hast ein schlechtes Gefühl bei der Sache?« »Nur so eine Ahnung, und ich bin zu alt, um Risiken einzu gehen.« Er lächelte wieder. »Du rufst am besten gleich an und läßt Plätze reservieren.« Der Raum, in den Bobst Montera und Gabrielle geschoben hatte, diente offenbar zum Aufbewahren des Tafelsilbers und des Nachschubs für die Hausbar und hatte ein kleines Fenster mit einem massiven Gitter davor. Sie setzte sich auf eine Kiste, und Montera zündete eine Zigarette an und wartete. Sie holte tief Luft und sah zu ihm hoch. »Darf ich es dir er zählen?« 177
»Das wäre eine gute Idee.« »Tony und ich waren fünf Jahre verheiratet. Wir haben uns vor sechs Monaten scheiden lassen. Alles andere, was ich dir über mich gesagt habe, ist wahr. Ich habe allerdings noch aus gelassen, daß meine Mutter Englä nderin ist und daß sie wieder heiratete, als ich noch klein war – einen Engländer.« »Was den Halbbruder erklärt.« »Ja«, sagte sie nur. »Ich sollte versuchen herauszufinden, ob irgend etwas gegen die Falklandinseln geplant ist.« Er lachte laut auf. »Mein Gott, ich hatte keine Ahnung davon. Das heißt, bis ich dann von einem Tag zum anderen zurückbe ordert wurde.« »Und dann ist alles schiefgegangen«, fuhr sie fort. »Ich wuß te nicht, was Liebe ist, und dann sah ich dich im Ballsaal eurer Botschaft.« »Ja, es war ein großer Augenblick…« »Und ich mußte immerfort an dich denken. Ich habe mir schreckliche Sorgen um dich gemacht, als der Krieg ausbrach, obgleich ich keine Ahnung hatte, daß du flogst. Und dann fing diese verdammte Exocet-Geschichte an, und Ferguson be drängte mich wieder. Du seist der Feind, sagte er.« »Er hatte recht.« »Ich wollte aussteigen, ich konnte dich nicht weiter belügen und hintergehen, nachdem du mir den Ring geschenkt hattest.« »Und dann hast du das mit deinem Bruder erfahren?« »Ich möchte, daß es aufhört, Raul«, sagte sie flehend. »Das Töten auf beiden Seiten. Um unserer aller willen. Wenn du diese Exocets morgen nach Argentinien bringst, bedeutet es noch mehr Blutvergießen.« Er seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Aber wir verlie ren, Gabrielle. Vielleicht ist die Exocet alles, was wir noch haben. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Ich bin Argentinier. Dein Brigadier Ferguson hat recht. Ich bin der 178
Feind.« Sie stand auf und trat zu ihm und legte ihm den Arm um die Taille. »Ich bin müde, Raul, furchtbar müde. Es gibt nur noch eines, was ich mit Sicherheit weiß…. daß ich dich liebe.« Ihr Kopf sank an seine Schulter, er küßte das goldene Haar und sagte nichts. »Und was nun?« sagte Villiers, als Bobst ins Wohnzimmer zurückkam. »Noch ein bißchen mit dem Feuerzeug spielen?« »Nicht nötig«, erwiderte Bobst. »Meine Pariser Kontakte ha ben mir versichert, ich könne wie geplant weitermachen. Wa ren Sie übrigens dafür verantwortlich, daß der arme alte Ber nard die Reise ins Jenseits angetreten hat?« »Wer ist das?« fragte Villiers. »Ja, ich hab’s mir gedacht.« Bobst lächelte. »Was hat er Ih nen gesagt? Konvois auf der Straße nach St. Martin? Ein Hin terhalt im Morgengrauen? Kindermärchen. Ich versichere Ih nen, daß mir etwas viel Besseres vo rschwebt.« Er schenkte sich einen Whisky ein. »Und ich denke nicht im Traum daran, Ih nen in diesem Stadium der Partie weh zu tun, Major. Man möchte Sie heil und unversehrt im KGB-Hauptquartier am Dserschinski-Platz sehen. Was für eine Goldgrube an Informa tionen Sie sein werden. Und sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie würden nicht reden. Wir haben neuerdings einige sehr bemer kenswerte Drogen.« Er nickte Kemal zu. »Hol die beiden wie der her.« Kemal öffnete die Tür zur Pantry, und nach einer Weile ka men Montera und Gabrielle ins Zimmer. Montera sagte: »Was haben Sie mit ihnen vor?« »Ist es nicht wichtiger, was ich mit Ihnen vorhabe, Oberst?« Montera wartete. Dann sagte er sehr gelassen: »Ja, ich hätte wissen sollen, daß an dieser Sache mehr dran ist.« »In der Tat. Major Villiers glaubte, ich wollte morgen früh einen Aerospatiale-Konvoi nach St. Martin überfallen, um Ih 179
nen die Exocets zu besorgen. Die Raketen werden nämlich von dort zur Ile de Roc gebracht, einer kleinen Insel unweit der Küste, die als Testgelände dient.« »Und?« »Und Sie denken, daß morgen eine Hercules mit zehn Exo cets von Oberst Ghaddafi aus Italien kommt und in Lancy la n det.« Er lächelte. »Sie irren sich beide.« Er schritt zu einer Tür in der anderen Ecke, öffnete sie und verschwand. Kurz darauf kam er mit einem französischen Offi ziersrock zurück, den er lächelnd anzog. »Paßt gut, nicht wahr?« sagte er, während er ihn zuknöpfte. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Hauptmann Henri Le clerc. Ich führe ein neun Mann starkes Sonderkommando des Dreiundzwanzigsten Lenkwaffenregiments, morgen früh nach St. Martin beordert, wo ein Landungsboot der französischen Kriegsmarine uns an Bord nehmen und zur Ile de Roc bringen wird.« Villiers sagte: »Lassen Sie mich raten. Die Männer werden nicht mal bis St. Martin kommen. Sie werden für einen kleinen Zwischenfall sorgen?« »Sagen wir, wir leiten sie hierher um und übernehmen.« »Und fahren dann an Ihrer Stelle zur Ile de Roc?« »Auf der Insel sind nur achtunddreißig Mann stationiert. Ich glaube nicht, daß wir große Schwierigkeiten haben werden. Die Herren hinten im Stall eignen sich vorzüglich für solche Kom mandounternehmen.« »Und Sie nehmen die Exocets, die Sie brauchen, einfach vom Testvorrat? Sie werden sie nie fortschaffen können.« »Warum nicht? Alles, was wir dann noch brauchen, sind ein paar Stunden Zeit. Bei einem bestimmten Signal kommt ein gut motorisierter Trawler und nimmt die Raketen und die Männer an Bord. Er fährt übrigens unter panamesischer Flagge. Drau ßen auf See ist er dann nur noch einer von Hunderten von Kut 180
tern aus allen möglichen Lä ndern, die in diesen Gewässern fischen.« Villiers suchte eine schwache Stelle und sagte: »Zwischen dem Hauptquartier der französischen Raketengruppen und den Testplätzen muß es irgendeine Kontrollprozedur geben. Wenn die Funkstation der Ile de Roc schweigt, werden sie den Grund wissen wollen.« »Die Station wird aber nicht schweigen.« Hobst kostete das Frage- und-Antwort-Spiel sichtlich aus. »Wir werden den not wendigen den Funkkontakt aufrechterhalten. Ich habe zu die sem Zweck einen ehemaligen Armeefunker angeheuert. Und noch etwas: Notfallmaßnahmen werden normalerweise erst nach dreistündiger Funkstille ergriffen. Wir hätten also selbst dann reichlich Zeit, wenn etwas dazwischenkommt.« Raul Montera, der alles mit undurchdringlicher Miene ange hört hatte, mischte sich ein: »Es wird nicht gehen, und Sie wis sen es.« »Das stimmt. Die ganze Welt wird mit Empörung auf den Verzweiflungsschritt der argentinischen Regierung reagieren. Ich kann mir gut vorstellen, was für ein Gezeter es in den Ver einten Nationen geben wird, und ich möchte nicht wissen, was die Franzosen unternehmen werden.« »Aber dies ist kein Verzweiflungsschritt der argentinischen Regierung«, sagte Montera. »Natürlich nicht, aber solange es den Anschein hat, läuft es auf dasselbe hinaus, und wenn wir dafür sorgen, daß man nach unserem Verschwinden die Leiche eines der größten Fliege rasse Argentiniens findet, unterstützen wir den Anschein ga nz gewaltig. Unfälle kommen immer wieder vor, verirrte Kugeln, Querschläger und all das.« Er schenkte sich nach. »Warum hab ich wohl Ihrer Meinung nach darauf bestanden, daß Ihre Regie rung mir jemanden wie Sie schickt?« Montera hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. »Wozu all die Komplikationen?« 181
»Sehr einfach. Sie haben den Krieg schon verloren, mein Be ster. Wenn Sie heute abend Nachrichten gehört hätten, wußten Sie, daß britische Fallschirmjäger bei einem Ort namens Goose Green einen Überraschungssieg errungen haben. Der Rest ihrer Truppen hat den langen Marsch nach Port Stanley angetreten. Ich bedaure, es sagen zu müssen, aber die Briten sind die best trainierten Soldaten der Welt. Galtieri hat einen Fehler ge macht. Seine Regierung wird sowieso stürzen, aber ein Skandal von den Ausmaßen, die ich voraussehe, könnte das ganze Land spalten.« »Angst, Chaos und Ungewißheit«, sagte Villiers. »Die klassi schen Voraussetzungen für Ihre Art von Machtübernahme.« »Drücken wir es anders aus: Die Möglichkeit, daß Einheiten der sowjetischen Flotte von Stützpunkten eines befreundeten Staates im südlichen Atlantik operieren, ist zweifellos sehr verlockend.« Gabrielle sagte: »Sie haben sich ziemlich viel vorgenommen, nicht wahr?« »Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie wurden mich noch schätzen lernen.« »Und was passiert dann?« fragte Villiers. »Sehr einfach. Der kommandierende Offizier der üe de Roc hat ein schnelles Boot, mit dem Kemal und ich nach St. Martin zurückkehren werden. Dann nehmen wir die Chieftain. Erster Stopp in Finnland, dann die gute alte Heimat. Ich bin seit Jah ren nicht mehr da gewesen. Sie kommen mit, wie ich schon sagte. Man wird Sie in Moskau sehr herzlich begrüßen. Sie natürlich auch«, sagte er, zu Gabrielle gewandt. »Ich kann Sie doch schlecht zurücklassen, und dafür, daß man Ihnen den Schädel einschlägt, sind Sie wohl zu schade.« Zum erstenmal verlor Montera die Beherrschung. Er trat blitzschnell vor, und seine Fäuste fuhren hoch, doch Kemal hatte bereits einem der Posten ein Gewehr entrissen und ramm te ihm den Kolben in den Unterleib. Montera stürzte zu Boden. 182
Gabrielle lief zu ihm und kniete sich neben ihm hin. Bobst lachte, während er sie betrachtete. »Das einzig Gute, was ich über die Kellerräume hier sagen kann, ist, daß es viele sind, daß sie dicke Türen haben und daß die Fenster vergittert sind. Sie sind jedoch feucht und ziemlich kalt.« Er wandte sich an Kemal. »Schaff sie alle drei runter. Eine interessante Situation. Vielleicht müssen sie sich aneina nder kuscheln, um nicht zu frieren.« Wanda, die sich an das Treppengeländer im ersten Stock ge drückt hatte, wo es dunkel war, bekam eine ganze Menge mit. Sie sah, wie Kemal und die beiden Gangster Villiers, Montera und Gabrielle zur Tür brachten, die in den Keller führte. Kurz danach kamen Kemal und einer der Männer zurück. Während der Gangster das Haus verließ, trat Bobst aus dem Wohnzim mer. Er fragte: »Alles in Ordnung?« »Ja«, antwortete Kemal. »Die Türen sind mehr als sicher. Drei Zentimeter dicke Riegel, und vorsichtshalber habe ich einen Posten im Gang gelassen.« »Schön«, sagte Bobst. »Sag den Leuten, sie sollen sich mo r gen früh um sechs bereithalten, und sorg dafür, daß Rabier nüchtern bleibt.« »Wird gemacht. Was ist mit Wanda?« »Ach ja, Wanda«, sagte Bobst. »Ich hab ihr etwas Besonde res versprochen. Ich habe beschlossen, daß sie dich haben kann.« »Ist das Dir Ernst?« »Selbstverständlich. Mach das Beste draus«, sagte Bobst und ging wieder ins Wohnzimmer. Wanda wurde speiübel, als Abscheu und namenlose Angst sie packten. Während Kemal durch die Halle zur Treppe eilte, richtete sie sich auf und hastete blindlings den dunklen Korri dor entlang, bis sie die Tür zur Hintertreppe gefunden hatte. 183
Als sie aufmachte, fiel Licht in den Flur, und Kemal, der in zwischen den Treppenabsatz erreicht hatte, sah sie. »Wanda!« rief er. Sie rannte weiter, schlug die Tür hinter sich zu, lief die Trep pe hinunter und streifte im Laufen ihre Pumps ab. Sie riß die Hintertür auf, war draußen und keuchte über den Rasen zu den Bäumen, als er das untere Ende der Treppe erreicht hatte. In ihrer Panik lief sie mit gesenktem Kopf, die Hände gegen peitschende Äste vorgestreckt, durch den Wald. Endlich hielt sie inne und lauschte. In einiger Entfernung, etwas rechts von ihr, knackten Zweige. Dann rief er wütend ihren Namen, und sie lief so leise wie möglich weiter. Einige Augenblicke später ragten schattenhafte Konturen in der Nacht auf, und ihr wurde klar, daß sie im Kreis gelaufen war und vor den Ställen hinter dem Haus stand. Sie war inzwi schen klitschnaß und durchgefroren. Sie ging einige Schritte weiter und sah eine Leiter, die an einem Heuboden stand. Sie stieg so leise wie möglich hinauf und hörte von unten aus dem Stall das Gemurmel der Männer. Sie betrat den Heuboden, drehte sich um und stieß die Leiter fort. Sie machte so gut wie kein Geräusch, als sie auf den vom Regen aufgeweichten Boden fiel, und Wanda machte die Luke zu. Unten wurde laut gelacht, und als sie sich an das Dunkel ge wöhnt hatte, sah sie schwache Lichtstreifen durch ein paar Rit zen zwischen den Planken nach oben dringen. Sie fand eine alte Pferdedecke, kroch darunter und deckte sich außerdem noch mit muffig riechendem Heu zu. Sie zitterte wie Espenlaub und war immer voll Angst und Abscheu, wenn sie an Kemal dachte. Dann bekam sie sich allmählich wieder unter Kontrolle und schlief zuletzt vor Erschöpfung ein. Kemal sagte: »Weiß der Himmel, wo sie hingelaufen ist. Es regnet, und bei der Dunkelheit kann man kaum die Hand vor den Augen sehen.« 184
»Hier kann sie nirgends hin, und außerdem wird sie uns so wieso nicht schaden«, sagte Bobst geringschätzig. »Ich kenne meine Wanda. Das dumme Ding wird zurückgekrochen kom men, wenn sie vom Regen genug hat. Geh jetzt besser zu den Leuten und sag ihnen Bescheid.« Kemal entfernte sich, und Bobst probierte den Uniformrock noch einmal an. Er paßte wirklich recht gut, und er stand ihm. Sein offizieller KGB-Rang war Oberst. In Moskau wurden sie ihn für all die geleisteten Dienste wahrscheinlich zum General befördern. Er fragte sich, wie ihm die Uniform stehen würde. Gabrielle hatte sich Villiers’ Jacke über die Schultern gelegt und döste in einer Ecke vor sich hin. Montera holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und stellte fest, daß sie leer war. Villiers bot ihm eine von seinen an. Er gab ihm Feuer und sagte: »Sie erinnern mich an eine Reklame, die ich als Junge gesehen habe. Darauf rauchte ein Mann, der von schö nen Frauen umringt war, Pfeife. Der Text lautete: ›Was hat er bloß, das andere Männer nicht haben?‹ Die Antwort war die Tabakmarke. Was ist Ihr Geheimnis?« »Beziehungen sind im Grund sehr einfach«, sagte Montera. »Entweder funktionieren sie, oder sie funktionieren nicht. So bald man sich Mühe geben muß, ist es schon aus.« »Dann war ich von Anfang an auf verlorenem Posten«, gab Villiers zu. »Ich mußte mir anscheinend die ganze Zeit Mühe geben.« Er warf einen Blick auf Gabrielle. »Ein unglaubliches Mädchen.« »Ich weiß«, entgegnete Montera. »Das nehme ich auch an«, sagte Villiers bitter und ging in ei ne Ecke, wo er sich auf eine Bank setzte und die Knie an die Brust zog, um sich etwas ge gen die Kälte zu schü tzen. Er schlief ein und wurde schließlich vom Geräusch von Schritten im Hof geweckt. Er blickte auf und sah durch das Fenstergitter einen Landrover aus der Garage fahren. Kemal saß am Steuer, daneben Bobst. 185
»Es geht los«, sagte Montera. »Scheint so.« Gabrielle stand auf und trat, sich Villiers’ Jacke um die Schultern ziehend, zu ihnen. »Was machen wir?« »Im Augenblick gar nichts«, antwortete Villiers. »Oder siehst du vielleicht eine Möglichkeit?« Das Sonderkommando des 23. Lenkwaffenregiments fuhr mit einem Drei-Tonnen-Armeelaster; der Offizier saß vorn neben dem Fahrer. Es goß in Strömen, als das Fahrzeug kurz nach sechs Uhr morgens bei Lancy um eine Straßenbiegung kam, wo der Landrover den Weg blockierte. Bobst, der einen Mili tärregenmantel übergezogen hatte, kam winkend auf den Offi zier zugelaufen. Der Lkw verlangsamte, der Offizier kurbelte das Fenster hinunter und beugte sich hinaus. »Was gibt’s?« »Hauptmann Leclerc?« fragte Bobst. »Ja.« »Major Dubois, im Moment auf der Ile de Roc stationiert. Bin gestern abend mit dem Boot nach St. Martin gefahren, um Sie heute morgen abzuholen, aber das Sauwetter droht, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ein Erdrutsch hat die Hauptstraße versperrt, und ich dachte, ich fahre Ihnen am besten entgegen, um sie auf eine Umleitung zulotsen.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Ledere. »Ist doch selbstverständlich. Fahren Sie einfach hinter dem Landrover her, dann schaffen wir es rechtze itig.« Montera stand auf Zehenspitzen am Kellerfenster und spähte durch die Gitterstäbe, als der Landrover, gefolgt von dem Ar meelaster, auf den Hof rollte. Villiers und Gabrielle traten ne ben ihn. »Sieh da«, sagte Villiers. Bobst und Kemal stiegen aus dem Landrover, und Haup t mann Leclerc sprang aus dem Lkw-Fahrerhaus und ging zu ihnen. Er war blond, noch ziemlich jung und trug eine Brille, die bei dem heftigen Regen seine Sicht trübte. 186
»Wo sind wir hier eigentlich?« fragte er. Die Stalltüren wurden geöffnet, und Roux’ Männer, nun alle in Uniform und mit Gewehren oder Maschinenpistolen be waffnet, liefen heraus. Das Ganze war in wenigen Sekunden vorbei, und die restlichen Männer des Kommandos sprangen auf Kemals Befehl mit erhobenen Händen von der Ladefläche des Lasters und wurden mit Ledere fortgebracht. Villiers drehte sich zu Montera: »Ein gerissener Halunke, das muß man ihm lassen.« Sie hörten Schritte von Stiefeln auf der steinernen Kellertrep pe, Türen wurden geöffnet und zugeschlagen, Riegel zurückge schoben, und dann machte sich jemand an ihrer Tür zu scha f fen, sie wurde aufgerissen, und Kemal erschien, flankiert von zwei Männern. »Los, Oberst, kommen Sie raus.« Montera zögerte. Seine Hand griff nach Gabrielle, umkla m merte sie kurz, und dann ging er. Sie sagte kein Wort, während die Tür zugeschlagen wurde und Villiers ihr einen Arm um die Schultern legte. Die Schritte entfernten sich im Gang und hallten abermals auf der Treppe. Villiers trat zu der kleinen vergitterten Luke in der Tür und erblickte auf der anderen Seite des Gangs den jungen französischen Offizier, den er im Hof gesehen hatte. Der ande re Gefangene starrte ihn durch die Luke in seiner Tür an. »Wer sind Sie?« fragte Villiers. »Hauptmann Henri Leclerc, Dreiundzwanzigstes Lenkwaf fenregiment. Was zum Teufel hat das alles zu bedeuten?« »Ich glaube fast, sie wollen Ihre Rolle spielen, damit sie auf der Ile de Roc landen können.« »Großer Gott!« entfuhr es Leclerc. »Wozu?« Villiers informierte ihn. Als er ausgeredet hatte, sagte Leclerc: »Und wie will er von hier weg, wenn er zurückgekommen ist?« 187
»Auf der alten Jägerbasis in Lancy wartet eine Maschine auf ihn. Eine Navajo Chieftain.« »Er hat offenbar an alles gedacht.« »Und wir können im Moment überhaupt nichts machen. Selbst wenn wir hier rauskommen sollten und die Behörden alarmierten, würde es wahrscheinlich nichts nützen. Flugzeuge können nicht auf der Ile de Roc landen, und sogar Hubschrau ber haben Schwierigkeiten.« »Nicht ganz«, sagte Ledere. »Als man mir die Versetzung mitteilte, hat man mich sehr gründlich eingewiesen und sagte dabei auch etwas über die Flugbedingungen. Es interessierte mich, weil ich selbst Pilot bin, habe beim Luftwaffenkorps der Armee einen Lehrgang für leichte Maschinen gemacht. Sie haben letztes Jahr kleine Landeplätze am Nordende der Insel getestet.« »Ich dachte, da wären die steilsten Klippen.« »Ja, aber bei Ebbe wird davor ein großes Stück Watt aus festem Sand frei. Sie haben festgestellt, daß man dort ohne weit eres landen kann. Leider ist die Stelle ziemlich weit draußen, so daß sie schnell wieder von der Flut bedeckt wird. Desha lb wurde die Lösung als unpraktisch verwo rfen.« »Solange wir hier sind, ist sie das auch«, sagte Villiers und trat wütend gegen die Tür. Wanda zog sich die Pferdedecke um die Schultern und lugte aus einem runden Fenster des Heubodens, während die Män ner, über denen sie die ganze Nacht geschlafen hatte, auf die Ladefläche des Lasters kletterten. Bobst, Kemal und Rabier, der Pilot, standen am Hauseingang, und Kemal fesselte Monte ra gerade mit einem schwarzen Seidenschal die Hände vor dem Bauch. »Wie Sie sehen, sind wir sehr rücksichtsvoll«, sagte Bobst. »Aber wir tun es nicht aus Liebe zu Ihnen. Wir möchten ver hindern, daß man Sie mit verräterischen Striemen an den Handgelenken findet.« 188
»Ein feiner Herr«, sagte Montera, und dann stopfte Kemal ihm ein Taschentuch in den Mund. Bobst sagte zu Rabier: »Und jetzt lassen wir Sie allein. Diese Keller sind so sicher wie die Bastille, aber beha lten Sie sie trotzdem ein bißchen im Auge. Wir dürften in fünf oder sechs Stunden wieder da sein.« »Sehr gut, Monsieur, Sie können sich auf mich verlassen.« »Und wenn diese verdammte Wanda aufkreuzt, sperren Sie sie auch in den Keller, jedenfalls bis ich zurück bin.« Kemal saß schon am Steuer. »Von mir aus kann’s losgehen, Sir.« Bobst kletterte ins Fahrerhaus, und der Laster fuhr ab. Rabier drehte sich um und ging ins Haus. Im Hof war jetzt nur noch das leise Prasseln des Regens zu hören, und Wanda blieb am Fenster kauern und wartete. 15 Bobst stand im Ruderhaus des Landungsbootes und betrach tete das Fahrzeug durch ein Bullauge. Der offene Laderaum war nichts weiter als eine Stahlhülle. Die Ladung bestand aus zahlreichen Kisten und dem Laster mit seinen Leuten, die sich noch nicht gezeigt hatten. Dahinter waren die Bugklappen, die zum Landen auf den Strand geklappt wurden. Die See war et was kabbelig, denn es ging eine frische Brise, doch obgleich Dunst und Regen die Sicht trübten, waren sie seit dem Ablegen von St. Martin gut vorangekommen. Der Kapitän, ein junger Oberleutnant zur See, kam von der Brücke herunter und befahl dem Rudergänger etwas. »Backbord fünf.« »Backbord fünf, verstanden.« »Und nun Kurs halten.« 189
»Kurs halten, bis auf zwei Komma drei, Kapitän.« Der Oberleutnant sagte zu Bobst: »Jetzt dauert’s nicht mehr lange. Höchstens zwanzig Minuten.« »Vielleicht darf ich Sie auf der Insel zu einem Glas einla den?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber ich bleibe nur, bis Sie und Ihre Leute an Land sind, dann muß ich weiter nach St. Nazaire. Ich hab noch Elektronik für das Lenk waffenhauptquartier.« Bobst nickte unbekümmert. »Dann vielleicht ein andermal.« Er trat auf die Brücke, hakte die Öljacke zu, die sie ihm ge geben hatten, und schaute zu den Klippen von Ile de Roc, die in der Ferne drohend aus dem Meer ragten. Der Hafen war klein, und das Boot wurde an einem Anleger aus Stein vertäut. Zwei Segelboote waren über die Flutlinie auf den Strand gezogen, und das einzige nennenswerte Fahrzeug war ein schnittiges, grüngestrichenes Motorboot. Als die Bugklappen geöffnet waren, rollte der Laster über ei ne Betonrampe auf eine asphaltierte Straße, und Bobst ging neben ihm her. Ein paar Meter weiter parkte ein SimcaGeländewagen, dessen einziger Insasse, ein großgewachsener Mann mittleren Alters mit grau werdendem Haar, der eine Wetterjacke mit dickem Pelzkragen trug, ausstieg, als sie sich näherten. »Hauptmann Leclerc?« »So ist es«, sagte Bobst. »Bloß raus aus diesem verdammten Regen. Major Espinet, ich habe hier das Kommando. Ich nehme Sie mit zum Stütz punkt. Ihr Laster kann hinterherfahren.« Bobst nickte Kemal zu und stieg ein. Als der Gelä ndewagen losfuhr, sagte er zu Espinet: »Ein schönes Boot da unten im Hafen. Ihres, nicht wahr?« Espinet lächelte: »Mein großes Hobby. Bei Akerboon gebaut. 190
Stahlrumpf, Doppelschraube. Macht fünfunddreißig Knoten.« »Fabelhaft«, bemerkte Bobst. »Hilft einem, auf dieser gottverdammten Insel die Zeit totzu schlagen«, fuhr Espinet fort. »Ich könnte mir ein besseres Kommando vorstellen.« »Wenn wir die Kolonien noch hätten, sähe es anders aus«, antwortete Bobst liebenswürdig. An der gewundenen Straße, die vom Hafen hinaufführte, standen alte Katen aus Feldsteinen, von denen die meisten ei nen verwahrlosten Eindruck machten. »Die Leute sind schon vor Jahren aufs Festland gegangen, auch von den anderen klei nen Inseln vor der Küste«, erklärte Espinet. »Hier hat es kaum noch zum Leben gereicht. Fischen und ein bißchen Viehzucht. Sie bekamen manchmal ein Jahr lang keinen HundertfrancSchein zu Gesicht.« Sie erreichten den Kamm oberhalb des Hafens, und Bobst sah die Basis, die kaum diese Bezeichnung verdiente, eine An sammlung häßlicher, schuppenähnlicher Betonhäuser mit Flachdächern, dafür gebaut, den wütenden Stürmen zu wider stehen, die in den Wintermonaten vom Atlantik über die Insel peitschten. Sie wurden überragt von einem etwa zwölf Meter hohen, turmartigen Bauwerk, ebenfalls aus Beton, um dessen verglastes Obergeschoß eine schmale Galerie lief. An der Seite führte eine eiserne Feuerleiter hinunter. Bobst, der sehr wohl wußte, worum es sich handelte, fragte: »Was ist das? Ich meine, der Turm dort.« »Die Funkstation«, sagte Espinet. »Außerdem betreiben wir da oben noch einen neuen Kurzwellenmonitor für die Testflü ge. Darum brauchen wir die Höhe.« Ein Stück weiter war eine Reihe niedriger, bunkerähnlicher Bauwerke. »Sind das die Raketensilos?« fragte Bobst. »Ja. Sie müssen hier unter der Erde sein. Da draußen ist der Atlantik, was die Insel zu einem idealen Versuchsgelände 191
macht, aber die Orkane sind manchmal unglaublich. Vor zwei Jahren war es so schlimm, daß wir die Insel einen Monat lang evakuieren mußten.« »Ich habe gehört, die Hälfte der Leute hier seien Zivilisten.« »Das stimmt. Wir haben im Augenblick achtzehn Mann mili tärisches Personal. Nur drei Offiziere, machen Sie sich also darauf gefaßt, daß es mit der Messe nicht weit her ist.« Espinet bog auf den Komplex ein. »Erlauben Sie mir eine Bemer kung… Ich kann Ihren Akzent einfach nicht unterbringen.« »Meine Mutter«, sagte Bobst. »Sie war Australierin, und ich habe lange da unten gelebt. So was wird man nicht leicht wie der los.« Espinet lachte. »Das erklärt alles.« Er hielt vor einem kleinen Betongebäude, vor dem zwei Männer mit Tarnuniform und schwarzen Baskenmützen stan den. Einer war ein Sergeant, der andere trug Hauptmannsstrei fen. Der Hauptmann kam ihnen entgegen, und Espinet sagte: »Pierre Jobert, mein Stellvertreter.« Sie stiegen aus, und Espinet machte bekannt. Jobert, ein freundlicher, abgeklärt wirkender junger Mann mit einem dün nen Schnurrbart, lächelte, als er Bobst die Hand schü ttelte. »Haben Sie je Beau Geste gelesen, Hauptmann Leclerc?« »Selbstverständlich«, entgegnete Bobst. Jobert zeigte mit einer schwungvollen Handbewegung auf die Basis. »Dann werden Sie verstehen, warum wir dieses entzük kende Höllenloch Fort Zinderneuf nennen. Kaffee wartet in der Schreibstube, Monsieur.« »Ausgezeichnet«, sagte Espinet. »Hoffentlich auch Cognac?« Er wandte sich an Bobst. »Sergeant Deville wird sich um Ihre Männer kümmern.« »Ich bin gleich wieder da«, sagte Bobst. »Muß vorher noch kurz mit ihnen reden.« Die beiden Offiziere traten ins Haus und Bobst ging zu Ke 192
mal, der neben dem etwas weiter parkenden Laster stand. »Montera noch gut verstaut?« »Ja, hinten bei den Jungs.« »Gut. Ich trinke jetzt ein Glas mit dem kommandierenden Of fizier. Sobald ich drinnen bin, kümmere dich um den Turm mit der Funkeinrichtung, und dann alles Schritt für Schritt, wie besprochen. Momentan sind nur achtzehn Militärs hier. Die anderen sind Zivilisten. Weniger, als ich dachte.« »Wahrscheinlich haben ein paar Landurlaub«, sagte Kemal. Bobst lächelte. »Gut für sie.« Er drehte sich um und trat durch die Tür, die Sergeant Deville ihm aufhielt. Kemal ging zur Rückseite des Lasters, und der Mann, den er zu seinem Stellvertreter bestimmt hatte, ein Gangster namens Jarrot, reichte ihm einen großen Sege ltuchbeutel herunter. In diesem Augenblick trat Sergeant Deville zu ihnen. »Zuerst zur Unteroffiziersmesse, dann kümmer ich mich um die anderen.« Kemal rammte ihm das Knie in die Hoden. Der Sergeant kippte nach hinten, und kräftige Hände zogen ihn blitzschnell auf die Ladefläche. Kemal sagte zu Jarrot: »In Ordnung, Claude, fangen wir an.« Jarrot und Faure, der Furikexperte, sprangen jeweils mit ei nem Segeltuchbeutel in der Hand von der Ladefläche, und die drei gingen zur Funkstation. Kemal machte die Tür auf und stieg als erster die schmale Wendeltreppe hoch. Als er auf die Galerie trat, drückte der he ftige Wind ihn gegen die Mauer, und er griff mit der freien Hand zum Geländer. Er konnte den Hafen gut erkennen, aber das Meer dahinter war genauso in Dunst gehüllt wie der höher gelegene Teil der Insel. Jarrot und der andere Mann hatten die Galerie ebenfalls er reicht, und sie blickten durch die panzerverglaste Tür in die Funkräume. Sie sahen drei Funker und, in der Mitte an einem Schreibtisch, zwei Sergeanten. Die Männer blickten überrascht 193
auf, als Kemal die Tür öffnete und mit den beiden anderen hi neinging. Kemal ließ seinen Segeltuchbeutel zwischen den Sergeanten auf den Schreibtisch fallen, und einige Papiere flat terten davon. Er grinste frech. »Tag, Jungs«, sagte er, zippte den Reißve r schluß des Beutels auf und nahm eine Schmeis serMaschinenpistole heraus. »Das hat die SS durch den Zweiten Weltkrieg gebracht. Funktioniert immer noch ganz gut, also quasselt nicht lange und tut, was ich sage.« Einer der Sergeanten sprang auf und griff nach der Pistole in seinem Gürtelhalfter, aber Jarrot, der ein AK-Kampfgewehr aus seinem Beutel geholt hatte, knallte ihm den Kolben an den Kopf. Der Sergeant fiel stöhnend zu Boden. Der andere Sergeant und die Funker hoben sofort die Hände. Kemal langte in seinen Beutel, holte Handsche llen heraus und warf sie auf den Tisch. »Originalmodell für französische Militärgefängnisse.« Das Ganze machte ihm sichtlich Spaß. »Überschußware, wir haben sie sehr günstig bekommen.« Er wandte sich an Jarrot. »Das Weitere kannst du erledigen.« In Minutenschnelle lagen die vier Männer, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, neben dem bewußtlosen Sergeanten mit dem Gesicht nach unten am Boden. Faure untersuchte bereits die Funkausrüstung. »Probleme?« fragte Kemal. Faure schüttelte den Kopf. »Fast alles Standardgeräte der Armee.« »Gut. Du weißt, was du zu tun hast. Setz dich mit dem Traw ler in Verbindung, sag ihnen, sie können beruhigt herkommen, und rechne aus, wann sie ungefähr da sein werden.« »In Ordnung.« Faure setzte sich vor eines der Funk geräte. Kemal wandte sich an Jarrot. »Insgesamt achtzehn Soldaten, hat Mr. Bobst gesagt. Fünf haben wir, bleiben also noch drei 194
zehn.« Er grinste. »Nehmen wir uns als nächstes die Unteroffi ziersmesse vor, Claude. Du gehst vor.« Bobst stand mit einem Cognacschwenker in der Hand am Fenster von Major Espinets Büro und beobachtete, wie die bei den Männer aus der Funkstation kamen. Sie gingen zum La ster, Kemal setzte sich ans Steuer, Claude stellte sich auf das Trittbrett, und sie fuhren los. Bobst sagte: »Wann sollen wir mit der Arbeit anfangen, Ma jor?« »Das hat keine Eile«, antwortete Espinet. »Akklimatisieren Sie sich erst mal. Auf unserer charmanten Insel spielt Zeit kei ne Rolle.« »Für mich aber, mein Bester.« Bobst holte eine Walther mit aufgeschraubtem Schalldämpfer aus der Tasche. Espinet machte große Augen, stand auf und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. »Was, zum Te ufel, soll das heißen?« »Ganz einfach«, sagte Bobst. »Ich übernehme das Komman do.« »Sie müssen verrückt geworden sein.« Espinet wandte sich an Jobert. »Pierre, rufen Sie sofort in der Wachstation an!« Bobst schoß ihn in den Hinterkopf, und die Kugel tötete ihn auf der Stelle und schleuderte ihn quer über einen in der Ecke stehenden Schemel. Die Tatsache, daß der Schuß wegen des Schalldämpfers beinahe lautlos gefallen war, verstärkte die Obszönität seines Todes. Jobert sagte: »Um Himmels willen, wer sind Sie?« Bobst sagte: »Benutzen Sie Ihre Intelligenz. Ich sage nur, daß mein Land im Krieg ist und daß wir mehr Exocets brauchen. Gleich kommt ein Schiff von uns, und wir werden so viele la den, wie wir kriegen können, und Sie werden uns dabei he l fen.« »Ich werde den Teufel tun«, sagte Jobert. 195
»Oh, macht ihr heute alle auf Helden?« Bobst stieß ihm das Ende des Schalldämpfers zwischen die Augen. »Sie werden genau das tun, was ich sage, weil ich sonst Ihre ganze Einheit aufmarschieren und jeden dritten Mann erschießen lasse.« Er hatte richtig kalkuliert: Jobert glaubte ihm. Verzweiflung trat in seine Augen, und seine Schultern sackten nach unten. Bobst schenkte sich Cognac nach und prostete ihm zu. »Ma chen Sie nicht so ein Gesicht«, sagte er. »Immerhin könnten Sie jetzt auch da sein, wo Espinet ist. Tot. Los jetzt.« Sie gingen die Straße hinauf zu dem Laster, der vor einem der Betonschuppen stand. Kemal und Jarrot traten aus einem anderen Gebäude, und sie trafen sich, als aus der Hütte gege nüber drei andere Gangster kamen. Kemal sagte: »Fünf in der Funkstation, sechs in der Unterof fiziersmesse, zwei Unteroffiziere in der Schreibstube des Hau ses da drüben. Alle in Handschellen am Boden.« »Bleibt noch der Rest.« Bobst wandte sich zu Jobert. »Wo sind sie, Hauptmann?« Jobert zögerte, aber nur einen Augenblick. »Sie haben Dienst im Raketensilo.« »Wie viele sind in den Silos?« »Wahrscheinlich fünf. Sie arbeiten in drei Schichten. Die an deren werden gerade essen oder schlafen.« »Ausgezeichnet. Wenn Sie nun die Güte hätten, uns den Weg zu zeigen, wir werden uns dann selbst bekannt machen, in Ordnung?« Wanda konnte durch das Heubodenfenster in die Küche se hen, wo Rabier seit einiger Zeit am Tisch saß und Brot und Käse aß und Cognac trank – eine ganze Menge Cognac. Sie fror und hatte schrecklichen Hunger. Sie ging zur Ecke des Speichers, klappte die Falltür hoch und stieg eine altersschwa che Holztreppe hinunter. Sie war nun in dem Pferdestall, in dem Roux’ Leute kampiert hatten. In den Boxen lagen Schlaf 196
säcke, und auf einem rohgezimmerten Tisch sah sie verschie dene Ausrüstungsgegenstände und ein Sortiment von Waffen. Sie öffnete die Tür nach draußen und spähte hinaus. Es reg nete immer noch, und sie schlich auf Zehenspitzen über den kopfsteingepflasterten Hof zur Hintertür. Gabrielle, die durch das Kellerfenster schaute, sah sie kommen. »Wanda«, flüsterte sie eindringlich. »Hier drüben.« Villiers sprang auf. »Was ist?« Wanda hielt inne, trat dann zur Hausmauer und hockte sich ans Fenster. »Sie sind alle weggefahren, bis auf Rabier, den Piloten.« »Ich weiß«, sagte Gabrielle. »Kommen Sie herunter und la s sen Sie uns raus, und machen Sie bitte so schnell wie mö g lich.« Wanda nickte: »Ich werd’s versuchen. Aber Rabier hält Wa che.« Sie richtete sich auf und lief zur Hintertür, öffnete sie langsam, betrat den Gang und blieb an der einen Spalt geöffne ten Küchentür stehen. Rabier stand am Tisch und entkorkte eine neue Flasche Cognac. Wanda schlich weiter und machte die Tür zur Eingangshalle auf. Obgleich sie sich Mühe gab, sie leise hinter sich zu schließen, knarrte sie vernehmlich, und Ra bier, der sich gerade ein Glas einschenkte, hielt inne und horch te stirnrunzelnd, den Kopf zur Seite geneigt. Er trat in den Gang, ohne die Flasche abgestellt zu haben. Wanda wartete kurz in der Halle. Alles war still. Sie ging zur Kellertür, machte auf und eilte die Treppe hinunter. Unten ta stete sie nach dem Lichtschalter und rief ve rhalten: »Gabrielle, wo sind Sie?« »Hier, Wanda! Hier!« rief Gabrielle. Wanda blieb vor der Tür stehen, blickte durch das Gitter und sah Gabrielle und, neben ihr, Villiers. Oben an der Tür war ein großer, rostiger Riegel, den sie ohne weiteres bewegen konnte, doch der Riegel unten an der Tür ließ sich nicht fortziehen, 197
obgleich sie sich hinkniete und mit beiden Händen daran ruck te. Plötzlich trat jemand von hinten an sie heran, packte sie an den Haaren, zerrte sie zurück und riß sie hoch. Sie drehte sich um und erblickte Rabier, der sie schmutzig grinsend musterte. »Unartig«, sagte er. »Sehr unartig. Ich sehe, daß ich streng mit dir sein muß.« Er war betrunken. Gewaltsam schob er ihr den Flasche nhals in den Mund. Das Glas stieß heftig an ihre Zähne, und sie würgte, als die scharfe Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann. Er lachte wieder drohend, mit verzerrtem Gesicht, ehe er sich bückte und die Flasche auf ein Regal neben ihnen stellte. »Und jetzt werde ich dir beibringen zu gehorchen«, sagte er, preßte seinen Mund auf ihre Lippen und drückte sie an die Wand, ohne ihr Haar loszulassen. Mit der anderen Hand be tatschte er ihre Brüste. Gabrielle schrie wütend auf, und Villiers zog sie zur Seite, langte mit einer Hand durch das Gitter und bekam Rabier an den Haaren zu fassen, riß ihn mit aller Kraft an die Tür. »Die Flasche, Wanda!« befahl er. »Die Flasche.« Für Wanda war Rabier nun jeder Mann, der sie jemals miß braucht hatte, und die Demütigungen all der Jahre wallten in ihr auf und weckten eiskalten, mörderischen Zorn. Sie ergriff die Cognacflasche und knallte sie Rabier auf den Kopf. Er schrie auf und taumelte zurück, aber da schlug sie noch einmal zu, und er sank auf die Knie. Sie rollte ihn mit ein paar Fußtrit ten zur Seite, und ihre Wut war immer noch so groß, daß sie den Riegel, als sie sich diesmal bückte, beim ersten Versuch öffnete. Gabrielle und Villiers stürzten in den Gang. Als das Telefon klingelte, hatte Ferguson gerade zu Ende ge duscht. Er hörte sich an, was Villiers berichtete, und sagte dann: »Sehr gut, Tony. Sie bleiben am besten, wo Sie sind. Wir übergeben jetzt an die Franzosen. Gute Arbeit.« Er knallte den Hörer auf und lief, das Badetuch um seine 198
Taille festhaltend, ins Wohnzimmer. »Harry, wo, zum Teufel, sind Sie?« Fox kam aus dem Arbeitszimmer. »Sie wünschen, Sir?« »Tony hat es geschafft. Jetzt brauchen wir nur noch ein biß chen Aktion von den Franzosen. Verbinden Sie mich mit Oberst Guyon in Paris. Höchste Priorität. Sehr dringend.« Er lief ins Schlafzimmer zurück und zog sich an. Rabbier lag gefesselt und geknebelt in der Pantry, und Vil liers nahm ihm die Walther ab, die er bei sich hatte. »Ich ne h me an, der Brigadier telefoniert inzwischen mit Paris.« »Trotzdem wird es seine Zeit dauern, bis sie auf der Insel sind«, sagte Gabrielle. »Was wird mit Raul? Du mußt etwas unterne hmen, Tony. Bitte.« »Ja, ich weiß.« Villiers wandte sich an Leclerc: »Es wird nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie die Chieftain ne hmen und versuchen, auf jenem Strand vor der Ile de Roc zu landen.« Ledere lächelte. »Das wäre eine hübsche Überraschung für Bobst, und wir könnten ein halbes Dutzend von meinen Leuten mitnehmen.« Villiers blickte sich um und betrachtete die Männer. Sie schienen ganz tüchtig zu sein, wirkten aber intellektueller als gewöhnliche Soldaten, und zwei waren Brillenträger. »Ihre Jungs sind Techniker, nicht wahr? Elektronikspezialisten?« »Aber auch gute Soldaten, glauben Sie mir. Was uns fehlt, sind Waffen.« Wanda sagte: »In dem Stall, wo die Leute von Bobst geschla fen haben, liegen welche. Ich hab sie vorhin gesehen.« Ledere wandte sich an seine Männer. »Also los, worauf war ten wir noch?« Er ging als erster hinaus. Gabrielle legte Villiers die Hand auf den Arm. »Gib auf dich acht, Tony. Und versuch, rechtzeitig da zu sein.« »Das werden wir.« Er küßte sie impulsiv auf die Stirn und 199
ging dann zur Tür. Sie rief ihm nach: »Tony.« »Ja?« »Ich glaube, du bist immer etwas Besseres wert gewesen.« »Als dich?« »O nein. Um das zuzugeben, bin ich doch zu eingebildet.« Sie lächelte. »Als das, was du tust, Tony. Du hast mehr ver dient als diesen Ferguson und alle seine dunklen Spiele. Ein bißchen Freude. Und das mit uns tut mir leid – mir tut eine ganze Menge leid.« Er lächelte sie an und sah plötzlich wieder so hinreißend aus wie bei ihrer ersten Begegnung. »Mir nicht. Wenn es geklappt hat, war es verdammt gut. Ich hätte dich für nichts auf der Welt hergegeben.« Er ging hinaus. Einen Moment später hörte sie, wie der Peu geot angelassen wurde und davonfuhr, und dann war wieder alles still. Raul Montera saß, die Hände immer noch mit dem Seiden schal gefesselt, in Espinets Büro auf einem Stuhl. Der tote Ma jor lag unter einer Decke in der anderen Ecke des Raums. Bobst wandte sich von einem Büfett ab und hielt eine Flasche Champagner hoch. »Der Mann war Kenner, das muß man ihm lassen. Krug 1971. Ein außergewöhnlicher Jahrgang. Schade, daß wir nicht genug Zeit haben, um ihn zu kühlen.« Er drückte den Korken mit dem Daumen aus der Flasche und lachte, als der Champagner überschäumte. »Trinken Sie ein Glas mit?« »Ich sagte Ihnen schon, daß Champagner mir nicht be kommt«, antwortete Montera eisig. »Mir aber, alter Freund.« Bobst schenkte ein Glas ein, ging zum Fenster und sah hinaus. »Bis jetzt ist alles beme rkenswert glatt gegangen, das müssen Sie zugeben. Alles eine Frage der Organisation.« »Ich habe eine kleine Schießerei gehört.« »Nicht der Rede wert. Die Posten bei den Raketens ilos haben 200
ein bißchen rumgeknallt, ehe meine Leute sie umlegten. Sehr nützlich. So wird alles plausibel ersche inen, wenn wir Sie mit einer Kugel in der Brust liegenlassen… natürlich mit einer Ku gel aus einer von ihren Waffen.« Die Tür wurde geöffnet, und Kemal kam herein. Bobst sagte: »Habt ihr Kontakt mit dem Trawler?« »Ja, er müßte in etwa fünfunddreißig Minuten hier sein.« »Alles andere unter Kontrolle?« »Alle hinter Schloß und Riegel, das heißt, bis auf zehn Zivili sten, die gerade in den Silos die Exocets auf den Transporter laden.« »Ausgezeichnet«, sagte Bobst. »Geh wieder hin und paß gut auf, daß alles klappt. Wir kommen in ein paar Minuten nach. Vielleicht findet der Oberst es lehrreich.« Kemal verließ das Büro. Bobst schenkte sich wieder ein und prostete Montera spöttisch zu. Regen prasselte an die Scheiben. »Jetzt dauert‘s nicht mehr lange, alter Freund.« Villiers, der neben Leclerc in der Kanzel der Chieftain saß, sah am Horizont die Ile de Roc als grauen Klumpen unter dräuenden Wolken, die Klippen am Nordende von Dunst ver hangen. Sie flogen nur hundert Meter über dem Meeresspiegel, Leclerc hatte die Maschine fast vom ersten Moment an sicher in der Hand gehabt, und auf der graugrünen Weite unter ihnen leuchteten weiße Wellenkämme. Villiers sagte: »Was ist mit der Windrichtung? Werden wir gut landen können?« »So einigermaßen, denke ich. Wir müssen nur auf die Böen achten, die von den Klippen dort nach unten fegen.« Die Insel schien nun wie ein graues Tier auf sie zu lauern, die Klippen am einen Ende ragten über hundert Meter senkrecht aus dem Wasser, und die zerklüftete Landmasse dahinter fiel steil zum Hafen ab. 201
»Sind Sie sich darüber klar, daß man uns sehen wird?« sagte Ledere. »Das ist nicht zu vermeiden.« »Ich weiß«, sagte Villiers. »Da wir nichts daran ändern kön nen, fliegen wir am besten als erstes über die Insel, um zu se hen, wie das Spiel steht. Ein bißchen Verwirrung oder gar Pa nik kann nicht schaden.« Die Chieftain flog über den Klippen ein, zerschnitt den Dunstschleier vor sich, brauste über eine ungastliche, rege nnasse Landschaft, die mit ihren scharfen Schrunden im grauen Fels etwas Mondähnliches hatte und nur hier und da von klei nen grünen Wiesen getupft war. Leclerc zog den Steuerknüppel zurück, die Maschine gewann Höhe und flog über einen Kamm, und im nächsten Moment sahen sie, nicht weiter als dreißig Meter unter sich, die Raketensilos und Betonschuppen des Stützpunkts. Bobst und Raul Montera gingen die Straße zu den Raketens i los hinauf. Bobst schaute alarmiert hoch und stieß Montera vor sich her zur Einfahrt des schützenden Tunnels, der zu den un terirdischen Silos führte, als Leclerc in Schräglage ging, die Maschine herumzog und diesmal in nur fünfzehn Metern Höhe über sie hinwegflog, um dann zum Meer abzudrehen. Kemal hatte vom Tunneleingang aus zugesehen. Als Bobst und Montera an ihm vorbei hineinliefen, sagte er: »Das verste he ich nicht. Es ist unsere Maschine! Was zum Teufel geht da vor?« »Villiers, du Idiot«, sagte Bobst. »Wer sollte es sonst sein? Was in Maison Blanche schiefgelaufen ist, weiß ich allerdings nicht.« Er beobachtete von der Tunneleinfahrt aus, wie die Chieftain über dem Meer wendete und zu den Klippen flog, wo sie aus seinem Gesichtskreis verschwand. »Was sie bloß vorhaben?« rief Kemal. »Sie können unmög lich auf diesem Felsen landen.« 202
»Vielleicht doch«, sagte Bobst. »Bei Niedrigwasser ist unten bei den Klippen mehr als genug Strand. Die französische Luft waffe ist dort letztes Jahr probeweise gelandet. Sie haben es nur nicht wieder getan, weil es auf die Dauer unpraktisch ist, mehr nicht.« »Was machen wir also? Wenn es Villiers ist, muß er die fran zösischen Behörden benachrichtigt haben. Wir könnten Fall schirmjäger am Hals haben, ehe wir wissen, was los ist.« »Sehen wir mal nach, wie weit sie drinnen sind«, sagte Bobst gelassen. Er stieß Montera vor sich her. Sie gingen den Tunnel entlang und betraten dann eine von Flutlichtern hell beleuchtete Beton halle. An einer Laderampe standen vier Spezialtransporter, und Zivilisten in Aerospatiale-Overalls luden, überwacht von den Gangstern, mit hydraulischen Hebearmen Exocets auf. Jarrot trieb sie zur Eile. »Wie weit seid ihr?« fragte Bobst. »Schwer zu sagen. Mit etwas Glück können wir in zwanzig Minuten zum Hafen runterfahren.« Bobst wandte sich an Kemal. »Ich bleibe hier. Du schnappst dir ein paar Männer und gehst zu den Klippen. Wenn irgend welche Typen versuchen, zu uns herunterzukommen, halt sie auf. Du mußt uns unbedingt die Zeit verschaffen, die wir brau chen.« Kemal grinste tückisch. »Ich verbürge mich dafür.« Er nickte Jarrot zu. »Los, Claude, an die Arbeit.« Sie liefen den Tunnel zurück. Bobst nahm eine Zigarette und zündete sie an. »Villiers«, sagte er. »Ein toller Bursche.« Er lachte anerkennend. »Der verfluchte Kerl muß beinahe so gut sein wie ich.« »Was sagten Sie doch noch?« frotzelte Montera. »Alles eine Frage der Organisation?« »Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, erwiderte Bobst freund 203
lich. »Und was passiert nun?« »Wir warten ab, alter Freund, aber besser in Espinets gemü t lichem Büro. Ich habe den Champagner auf seinem Schreib tisch stehen gelassen, und er ist zu schade, um schal zu werden, selbst wenn er nicht gekühlt ist.« »Sie sind erledigt«, sagte Montera. »Und Sie wissen es.« »Wir werden sehen, alter Freund, wir werden sehen.« Bobst lächelte und schob ihn durch den Tunnel zurück. Leclerc machte einen Probeanflug, um den Wind zu testen. Eine Gegenströmung von der Insel erwischte sie, und sie wak kelten in der Turbulenz bedrohlich hin und her. Er riß die Chieftain in einem engen Kreis herum, flog fast unmittelbar über den Wellen an, drosselte und fuhr die Landeklappen aus. Die Räder schienen das Wasser zu berühren, und dann zischten sie durch den nassen Sand und durch einige Priele, wirbelten auf beiden Seiten hohe Gischtwolken auf. Leclerc rollte bis ans andere Ende des Strands, drehte in den Wind und stellte die Motoren ab. »Wir haben auflaufendes Wasser. In etwa einer Stunde wird nicht mehr genug Sand zum Starten übrig sein.« »Spielt keine Rolle«, sagte Villiers. »Ist ja nicht unser Flug zeug.« Er zog die Walther, die er Rabier abgenommen hatte, aus der Tasche, prüfte den Verschluß, steckte sie dann wieder ein. Le clercs Männer hatten bereits die Tür geöffnet und kletterten, jeweils mit einer Waffe aus dem Vorrat im Stall von Maison Blanche versehen, nebeneinander aus der Maschine. Villiers nahm ein Armalite-Gewehr, steckte sich eine Handgranate in die Tasche und sprang hinterher. Kalter Wind fegte über die Lachen mit stehendem Wasser, während die Männer ihn um ringten. »Wie viele von euch haben Kampferfahrung?« fragte er. 204
Leclerc zeigte auf einen großgewachsenen, muskulösen jun gen Mann mit Bürstenschnitt, dessen Brillengläser schon vom Regen beschlagen waren. »Sergeant Albray war vor zwei Jah ren bei der Fremdenlegion im Tschad. Er hat mehr als einmal im Kampf gestanden. Wir anderen…« Er zuckte mit den Schul tern. »Na gut«, sagte Villiers. »Eines möchte ich noch betonen, für mehr reicht die Zeit nicht. Bitte keine Pfadfinderethik, den Kerlen eine faire Chance geben und diesen Mumpitz. Schießt sie ruhig in den Rücken, wenn es sein muß, denn genau das würden sie auch bei euch machen. Und jetzt los!« Er drehte sich um und lief über den Strand auf die Klippen zu. Beim Anflug von See hatten sie unüberwindlich gewirkt, doch aus der Nähe sah man eine schluchtartige, wasserführen de Rinne, die sie durchschnitt und einen guten, wenn auch an strengenden Zugang vom Strand her bot. Zehn Minuten später waren sie oben und suc hten sich dann einen Weg durch ein Labyrinth grauer Felsblöcke, nur dann und wann von spärli chem Gras unterbrochen, den Abhang hinunter. Alles war in feuchten Dunst gehüllt. Villiers meinte, von unten Stimmen zu hören, und hob die Hand, damit Leclerc und die anderen sich nicht durch Geräusche verrieten. Sie schlichen weiter und erreichten den Rand einer Bö schung. Unmittelbar unter ihnen mühten sich Kemal, Jarrot und drei andere Männer den steilen Hang hinauf. Villiers hatte nur Augen für Kemal, der das Schlußlicht bildete, und sah wieder das gepeinigte Gesicht Harvey Jacksons vor sich, der in jenem schäbigen Ferienbungalow bei Lancy an den Stuhl gefesselt war. Er nahm die Handgranate aus der Tasche und zog mit den Zähnen den Stift. Dieses eine Mal ließ er zu, daß sein Zorn über seine antrainierte Gelassenheit und rigorose Ausbildung siegte. »Kemal, du Schuft!« rief er. »Hier ist ein Geschenk von Har 205
vey Jackson!« Im selben Moment schleuderte er die Granate hinunter. Kemal, der scnon viele Gefahren überstanden hatte, warf sich bei seinen ersten Worten instinktiv herum und rollte den Hang hinunter. Nicht so die anderen. Auf die Detonation folgten la u te Schreie, und Villiers trat mit vorgehaltenem Armalite an den Rand der Böschung. Die Granate hatte ein Blutbad angerichtet; Jarrot und seine drei Begleiter waren alle schwer verletzt. Als die jungen französischen Soldaten zu Villiers aufgeschlossen und einen Blick nach unten geworfen hatten, zeichnete sich Entsetzen in ihren Gesichtern ab. Villiers zielte kurz und feuer te auf einen Mann, der fortzukriechen versuchte. Leclerc packte ihn an der Schulter und riß ihn herum. »Um Gottes willen, Mann, haben Sie noch nicht genug?« Ein Schuß knallte, die Kugel traf Leclerc in die linke Schä delhälfte, und man hörte Knochen zersplittern, ehe sie über seinem rechten Ohr austrat. Er stürzte in die Schlucht. Einer der Sergeanten feuerte mit seiner Maschinenpistole ei ne Salve auf Jarrot ab, der aus der Hüfte geschossen hatte. Die Kugeln warfen ihn herum und ze rfetzten den Rücken seiner Tarnjacke, auf der sich Brandringe bildeten. Keiner der Männer sagte ein Wort, als sie neben Villiers standen und auf die scheußlich zugerichteten Leichen und den toten Leclerc hinun terstarrten. »Wäre es das?« fragte ein jüngerer Sergeant. Villiers schüttelte den Kopf. »Unten auf dem Stützpunkt sind noch mehr, vor allem der Mann, den wir in erster Linie haben wollen, Ralph Bobst. Das mit eurem Hauptmann tut mir leid. Er war ein guter Soldat, aber wenn man im Krieg immer nur anständig und fair ist, überlebt man nicht. Ich hoffe, ihr habt die Lektion gelernt. Beherzigt sie, wenn wir dort unten sind.« Er rammte ein neues Magazin in sein Armalite. »Wir müssen weiter. Haltet euch hinter mir und tut das, was ich sage, dann werdet ihr vielleicht ewig leben.« 206
Bobst, in Espinets Büro, hörte die Detonation der Handgrana te und das Gewehrfeuer. Er ging mit dem Sektkelch in der Hand ans Fenster und sah, wie Kemal auf der anderen Seite der Häuser den Hang hinunterlief. Montera sagte: »Glauben Sie nicht, daß noch etwas anderes schiefgegangen ist?« Bobst lächelte immer noch, als er sich umdrehte, aber seine Augen waren kalt und sehr dunkel. Er sagte: »Sie verlassen sich in der Tat auf meine Gutmütigkeit, nicht wahr, alter Freund?« Er trat schnell auf ihn zu und schlug ihn brutal ins Gesicht, traf ihn so heftig unter dem rechten Auge, daß er rückwärts vom Stuhl flog. Bobst ging zur Tür und trat nach draußen, als Kemal über die Straße zum Eingang des Tunnels zu den Raketensilos lief. »Was hat’s gegeben?« fragte Bobst, nachdem sie ins Büro gegangen waren. »Villiers hat uns in einer Schlucht erwischt. Hatte mindestens ein halbes Dutzend Männer bei sich.« »Jarrot und die anderen?« »Handgranate. Ich bin nur knapp davongekommen. Was ma chen wir nun?« Bobst schien zu überlegen, obgleich er seine Entscheidung, zumindest was seine eigene unmittelbare Zukunft betraf, be reits getroffen hatte. Eine Katastrophe, das war der einzig ric h tige Ausdruck, und eines stand fest: Wenn Villiers da war, würde auch bald eine übermächtige Verstärkung zur Stelle sein. Kampf bis zum letzten war etwas für Narren, und die Chieftain am Strand unterhalb der Klippen war ungleich ver lockender. Er sagte zu Kemal: »Geh zur Funkstation und setz dich mit dem Kapitän des Trawlers in Verbindung. Sag ihm aber auf keinen Fall, was hier los ist, weil er sonst einfach abdreht und das Weite sucht. Sag nur, mein Befehl laute, daß er so schnell 207
wie möglich herkommen soll. Und dann hol die anderen. Ich treffe euch unten am Hafen.« »Und die Exocets?« fragte Kemal. »Schnee vom letzten Jahr. Wir können von Glück sagen, wenn wir hier mit heiler Haut wegkommen. Beeil dich!« Kemal entfernte sich, und Montera sagte: »Sie können mich als Zyniker bezeichnen, aber ich habe ganz den Eindruck, daß Sie eben Ihren Freund ans Messer geliefert haben.« »Sein Risiko.« Bobst langte nach der Champagnerflasche. »Sollte das vorher austrinken.« »Sie können nirgends mehr hin«, sagte Montera le ise. »Es ist aus, haben Sie das noch nicht begriffen?« »Es ist niemals aus, mein Freund, vor allem dann nicht, wenn man am Strand ein Flugzeug hat – und dazu den Stolz der ar gentinischen Luftwaffe, der es fliegen wird.« Mit einem langen Zug leerte er das Glas und warf es dann an die Wand, wo es in tausend Splitter zersprang. Villiers befahl seinen Männern, in Deckung zu gehen, lief al lein ein Stück weiter und sah, wie Kemal zu dem Betonturm rannte, darin verschwand und einige Auge nblicke später auf die Galerie trat und die Glastür zur Funkstation öffnete. Der Stützpunkt war wie eine Landkarte vor ihnen ausgebreitet. Villiers zeigte auf die Öffnung des Tunnels zu den Raketens i los. »Sie sind doch sicher gründlich eingewiesen worden, ehe Sie hierher versetzt wurden«, sagte er zu Sergeant Albray. »Irre ich, oder sind dort die Exocets?« »Ja«, sagte Albray. »Und auf dem Turm ist die Funkstation.« Rechts stand ein langes, niedriges Gebäude aus Beton, wo zwei von Bobsts Männern Wache zu halten schienen. »Und das?« fragte Villiers. »Da sind die Treibstofftanks untergebracht.« Villiers nickte. »Wahrscheinlich haben sie dort die me isten 208
Leute eingesperrt.« »Von dem Kutter ist noch nichts zu sehen«, bemerkte Albray, der zum Hafen hinuntersah. »Muß aber bald kommen. Wenn Bobst inzwischen überzeugt ist, daß die Sache nicht so läuft, wie er gedacht hat, wird er nicht länger als unbedingt nötig hier bleiben wollen. Oder, wenn er tatsächlich ein russischer Agent ist, könnte er be schließen, den vaterländischen Helden zu spielen und sich für die Sowjetunion zu opfern. Dann könnte er dem Kutter befe h len, sich aus dem Staub zu machen, und das wäre schade. Bes ser, wenn wir so viele erwischen, wie wir können.« »Was sollen wir also tun?« fragte Albray. »Wir beide übernehmen den Turm. Wahrscheinlich ist nur der feige Halunke da, der eben hineingelaufen ist, dieser Ke mal, und außerdem natürlich noch ein Funker.« Er wandte sich an die anderen Soldaten. »Gebt Sergeant Albray und mir fünf Minuten Zeit, und dann greift an, aber ohne Rücksicht auf Ver luste. Erledigt die beiden Posten am Treibstofflager und blok kiert die Einfahrt zum Tunnel. Wenn jemand versucht rauszu laufen, schießt ihr. Und denkt daran, was ich gesagt habe. Gebt den Kerlen keine Chance, weil sie euch auch keine geben wür den.« Sie schlichen um einen Betonschuppen und blieben, kaum zehn Meter vom Turm entfernt, in seiner Deckung stehen. Vil liers zeigte auf die Feuerleiter, die außen zur Galerie hinauf führte. Er eilte weiter, zog die schußbereite Walther und stieg die Leiter hinauf. Albray wartete, bis er vier oder fünf Meter weit oben war, lief dann zur Tür und betrat den Turm. In diesem Moment kam Yanni Kemal um die letzte Biegung der Wendeltreppe. Seine Pistole steckte noch im Halfter, aber er hatte hervorragende Reflexe. Im Bruchteil einer Sekunde registrierte er Albray und seine Uniform, drehte sich um, lief und war bereits außer Sicht, als der Sergeant mit seiner MP feuerte. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, rannte Albray 209
hinter ihm her. Villiers war erst auf halber Höhe des Turms, als er die Schü s se von drinnen hörte. In einer Hand die Walther, hielt er sich mit der anderen an einer Sprosse fest und wartete kurz. Er sah nach unten, und wieder war ihm, als würde er von einem Stru del ins Leere gerissen, denn die Höhenangst regte sich erneut. Die Posten vor dem Treibstofflager blickten hoch und zielten, aber da kamen Leclercs Männer zwischen zwei gegenüberlie genden Betonschuppen hervor, feuerten und mähten sie von hinten nieder. Über ihm beugte sich der Funker mit einer Maschinenp istole über das Geländer der Galerie, und Villiers vergaß den drohe nden Schwindel und folgte nur noch seinem Kampfinstinkt, fe u erte einhändig, und der Mann schrie auf und taumelte zurück. Villiers kletterte weiter. Bobst rannte bei den ersten Schüssen ans Fenster, zog seinen Revolver und blickte auf die Straße. Raul Montera lachte leise. »Mir scheint, Sie haben zu lange gewartet, mein Bester.« Bobst würdigte ihn keiner Antwort, sondern öffnete die Tür und spähte hinaus. Die beiden Posten vor dem Treibstofflager lagen am Boden, und einer von Leclercs Männern war im Be griff, die Tür aufzuschließen. Da knallten am Ende der Straße weitere Schüsse, und er sah zwei seiner Leute zum Hafen flie hen. Er machte die Tür zu, zog Montera hoch und stieß ihn in die Küche an der Rückseite des Hauses. Seelenruhig öffnete er die Hintertür. »Marsch, wir gehen jetzt zur Maschine!« befahl er. Villiers blickte vorsichtig über den Rand der Galerie, aber außer dem toten, an der Mauer kauernden Funker, dessen Ma schinenpistole ein paar Meter weitergerutscht war, sah er nichts. Er kletterte über das Geländer, nahm die MP und ging zur Tür der Funkstation, die sich im Wind in den Angeln be wegte. In dem Funkraum war niemand. Er hörte hinter sich einen schnellen Schritt, sauste herum und 210
riß die Maschinenpistole hoch, als Kemal, eine Pistole in der Hand, wie angewurzelt in der Türöffnung stehenblieb. Kemals Gesichtsausdruck wechselte von Wut zur kalten Berechnung des Überlebensprofis. Er schätzte seine Chancen gegen die Maschinenpistole ab und traf seinen Entschluß. Er legte die Pistole sehr behutsam auf den Boden. Villiers zielte, sein Finger umspannte den Abzug, und Kemal lächelte. »O nein, das werden Sie nicht tun, Major Villiers, ich meine, es wäre nicht sehr britisch, nicht wahr? Die Erziehung in Eton und all das Getue mit Fair play…« Villiers trat näher. »Sie meinen, ich sei ein Gentleman?« »So ungefähr.« Das Fischermesser mit dem Beingriff, das Kemal seit Jahren im rechten Ärmel trug, glitt in seine Hand, es klickte, als sein Daumen den Knopf gefunden hatte, der Arm schoß aufwärts, die Klinge sauste zu dem weichen Fleisch unter Villiers’ Kinn. Villiers, der mit etwas Derartigem gerechnet, es fast herbeige betet hatte, ließ die MP fallen, wehrte den Arm blitzschnell ab, packte mit beiden Händen das Handgelenk des anderen und riß es so brutal zur Seite, daß Kemal das Messer mit einem lauten Schrei fallen ließ. Villiers drehte den Arm langsam und gna denlos herum und hörte Muskeln reißen, und dann schrie Ke mal wieder, und er schrie immer noch, als Villiers ihn mit dem Kopf voran durch die Tür stieß und über das Geländer auf den Beton zwölf Meter darunter warf. In diesem Augenblick traten Bobst und Montera hinten aus der Offiziersmesse. Kemal schlug auf, und Bobst sah Villiers am Geländer stehen. Sergeant Albray trat gerade hinter ihn. Er hob seine MP, um zu feuern, und Bobst zog Montera als Schild vor sich. Villiers schlug Albrays Arm fort. »Nein, überlassen Sie das mir.« Er drehte sich um und rannte die Wendeltreppe hinunter. Bobst und Montera rannten die Schlucht hinter dem Stütz punkt hoch, erreichten den Kamm und liefen über das Plateau 211
zum Rand der Klippen. Bobst stieß den Argentinier vor sich her. »Ich sage Ihnen, wir haben nicht genug Platz zum Starten«, sagte Montera. »O doch. Sie werden uns hier rausbringen, Oberst.« Sie erreichten den Felsrand. Die Chieftain war trotz des Dun stes gut zu erkennen und wirkte seltsam unwirklich in dieser Umgebung. Und da war noch etwas, das nicht stimmte: Die See näherte sich in einer langsamen, hungrigen Dünung dem Sandstreifen, auf dem die Maschine gelandet war. Die Hälfte stand schon unter Wasser, die andere wurde von Ausläufern angena gt. »Da haben Sie’s«, sagte Montera. »Sehen Sie selbst.« »Weiter!« Bobst stieß ihn den Einschnitt hinunter, und sie verloren bei de den Halt und rutschten inmitten von Geröll und Sand weiter zum Strand, wo ihnen die frische Brise vom Meer ins Gesicht blies. Montera konnte sich, durch seine gefesselten Hände be hindert, nicht so schnell aufrappeln wie Bobst, der ihn unge duldig hochzog, und in diesem Moment rollten wieder Steine und Schotter von oben herab. Bobst wandte sich um, feuerte blindlings in den Dunst, packte Montera dann am Kragen und lief mit ihm zum Flugzeug. Als sie die Chieftain erreicht hatten, stieß er Montera an den Rumpf und rammte ihm den Revolverlauf unter das Kinn. Dann zog er ein Messer aus der Tasche, ließ es aufschnappen und zerschnitt den Seidenschal. Er trat einen Schritt zurück. »Los, hinein mit Ihnen und dann nichts wie weg hier!« Monteras Gesicht blieb unbewegt, aber etwas in seinen Au gen veranlaßte Bobst, sich umzudrehen. Er sah, wie Villiers mit der Walther in der rechten Hand heruntergesaust kam. Et wa zehn Meter von ihnen entfernt blieb er stehen. 212
»Los, Bobst, lassen Sie ihn laufen.« Bobst wandte sich halb zu Montera und seufzte. »Wie ich schon sagte, es ist einer von diesen Tagen.« Montera erwiderte: »Versuchen Sie’s lieber nicht, nicht bei ihm.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Bobst. »Andererseits habe ich es satt davonzulaufen, alter Freund.« Er fuhr herum, der Revolver in seiner Rechten sauste hoch. Villiers zog dreimal hintereinander ab, eine Kugel traf Bobst in die rechte Schulter und riß ihn herum, die anderen zerschmet terten sein Rückgrat, und er fiel gegen die Maschine, glitt ab und stürzte mit dem Gesicht nach oben auf den Sand, und das auflaufende Wasser, das bereits um die Fahrwerksräder der Chieftain gurge lte, schwappte über ihn hinweg. Montera stand da und betrachtete ihn. »Alles eine Frage der Organisation«, sagte er leise. »Was meinen Sie?« fragte Villiers. »Nicht weiter wichtig. Was ist mit Gabrielle?« »Ihr geht’s gut, sie wartet in der Maison Blanche. Wir hatten dort ein bißchen Glück. Wanda Jones hat uns freigelassen, den Rest haben wir dann selbst besorgt.« »Wer hat die Maschine geflogen?« »Der Franzose, Rabier.« Sie hörten ein Brummen, und Montera zeigte auf drei Hub schrauber, die hintereinander die niedrige Wolkendecke durch brachen. »Wer ist das?« »Die Franzosen, wenn mich nicht alles täuscht. Sie kommen einen Moment zu spät. Wahrscheinlich Fallschirmjäger. Gla u ben Sie, Sie können das Ding noch starten?« Montera sah sich um. »Wir haben keine freie Piste mehr. Überall Wasserarme, wie Sie sehen. Warum fragen Sie?« »Weil ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Sie hier 213
schleunigst verschwänden, und unter den gegebenen Umstän den bin ich bereit, es mit Ihnen zu versuchen. Diese Sache wird verdammt viel Staub aufwirbeln, und ich würde mich da lieber heraushalten. Ich schulde den Franzosen nichts. Sie haben euch die Exocets verkauft, mit denen die Sheffield die Coventry und die Atlantic Conveyor versenkt worden sind.« »Sie haben sie auch Ihnen verkauft, mein Freund.« »Stimmt. Was irgend etwas beweisen sollte, obgleich ich nicht sicher bin, was. Also, probieren wir’s oder nicht? Man stirbt nur einmal.« »In Ordnung«, sagte Montera. »Nichts wie weg.« Er kletterte hinter den Steuerknüppel, während Villiers sich auf den Platz neben ihm setzte und die Tür verriegelte. Die Motoren spuckten und husteten, um dann gleichmäßig und beruhigend, alles andere übertönend, zu dröhnen. »Was meinen Sie?« schrie Villiers. Montera machte sich nicht die Mühe zu antworten. Seine Lippen waren zu einem merkwürdig starren Lächeln verzogen. Er rollte in den Wind und gab Vollgas. Die Chieftain bebte und hüpfte an, parallel zum Meer, so daß sie den längsten freien Sandstreifen vor sich ha tte, der noch da war. Sie sausten durch einen Priel, noch einen und einen dritten und schickten jedesmal Wasserwirbel hoch. Montera drückte mit aller Kraft auf den Leitwerkhebel, um die Maschine gerade zu halten. Dann hob sie endlich ab, eine Tragfläche schnitt durch einen Gischtkamm, und einen Augenblick später streif ten nur noch die Räder die Schaumkronen. Plötzlich flogen sie sehr schnell, und das Motorengeräusch wurde zu einem tiefen Brummen. Erst jetzt zog Montera den Knüppel ganz zurück. Als Gabrielle einige Stunden im Haus gewartet hatte, hielt sie es nicht länger aus und fuhr mit Wanda nach Lancy zum Flug platz. Es regnete immer noch in Strömen, und sie liefen über 214
das Vorfeld und stellten sich in einem Hangar unter. Gabrielle sagte: »Was werden Sie tun, wenn das hier zu Ende ist?« Wanda zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ralph hat mich praktisch von der Straße aufgelesen. Es war wie ein Traum. Von der Gosse ins Luxusleben, genauso. Ich nehme an, ich werde langsam aufwachen müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Er war ein Hund, wissen Sie das? Ich hatte die ganze Zeit schreckliche Angst vor ihm.« »Warum sind Sie dann bei ihm geblieben?« »Weil ich noch mehr Angst davor hatte, wieder in die Gosse zurückzukehren.« »Und jetzt?« Wanda antwortete: »Oh, ich weiß nicht. Plötzlich sieht es aus, als könnte es ganz lustig sein.« »Ich habe nachgedacht«, sagte Gabrielle. »Ich habe eine Menge gute Freunde in der Illustriertenbranche, und ich habe so das Gefühl, Sie würden sich vor der Kamera sehr gut ma chen. Vielleicht könnten wir etwas arrangieren.« »Sie meinen, so was wie Wanda Jones als Vogue-Mate des Monats?« Wanda lachte. »Das wäre wirklich nicht übel.« In der Ferne ertönte Motorengeräusch, und die Chie ftain flog aus westlicher Richtung niedrig an, drehte dann zum Landen in den Wind. Wanda sage: »Ich mußte gerade an etwas denken. Wenn sie es nun nicht sind? Wenn es Ralph ist?« Gabrielle wandte sich zu ihr und sah sie erstaunt an. »Glau ben Sie wirklich, ein Mann wie Bobst könnte es mit Tony Vil liers aufnehmen?« Sie lachte auf. »Mein Gott, Wanda, Sie müssen sich noch ein bißche n Menschenkenntnis zulegen.« Dann drehte sie sich um und lief dem ausrollenden Flugzeug entgegen. Die Chieftain hielt, aber Montera stellte den Motor nicht ab, 215
sondern starrte durch die Windschutzscheibe geradeaus. »Könnten Sie schnell machen?« sagte er. »Ich möchte hier weg.« »Sie bleiben nicht?« »Wofür?« »Ich würde sagen, für das da, genau neben der linken Trag fläche.« Montera schob das Seitenfenster zurück und blickte zu ihr hinunter. Gabrielle lachte, grenzenlos erleichtert, glücklich. Sie winkte aufgeregt. Er wandte sich zu Villiers. »Tony, bitte.« Zum erstenmal hatte er ihn mit seinem Vornamen angeredet, und seine Stimme hatte einen gequälten Unterton. »Schon gut, aber ich fliege mit«, sagte Villiers. »Wohin soll’s gehen?« »Nach Brie-Comte-Robert, wo wir hergekommen sind.« »Und dann?« »Heute abend geht eine Air-France-Maschine nach Buenos Aires. Ich habe vor, darin zu sitzen.« Er wendete die Chieftain, gab Gas und rollte an, und nun lä chelte Gabrielle nicht mehr, sondern öffnete den Mund zu ei nem Schrei, der vom Röhren der Motoren erstickt wurde, und dann war sie schon weit hinter ihnen… In der Eingangshalle des Flughafens Charles de Gaulle war nicht besonders viel los, als Tony Villiers am Bücherkiosk vor der Halle für internationale Abflüge wartete. Montera stand am Schalter der Air France und gab seine Segeltuchtasche auf. Er drehte sich um und hielt inne, um eine Zigarette anzustecken; trotz der alten schwarzen Fliegerjacke und der Jeans wirkte er merkwürdig elegant. »Großer Gott«, sagte Villiers vor sich hin. »Ich mag den Bur schen tatsächlich.« »Alles in Ordnung?« fragte er, als Montera sich näherte. 216
»Ja, nur daß ich in Rio umsteigen muß. Hängt mit der Mal winenkrise zusammen. Offenbar will niemand ein Risiko ein gehen. Aber es ist kein Problem, ich dürfte trotzdem in sieb zehn oder achtzehn Stunden in Buenos Aires sein.« »Und dann was? Wieder nach Rio Gallegos zur SkyhawkStaffel?« »Was denken Sie?« »Daß Sie genau der Narr sind, der so etwas tut. Ihr habt den Krieg verloren, Raul. Es ist vorbei. Sie haben doch die Abend zeitungen gesehen. Wir sind unterwegs. Unsere Kommandos marschieren über Ost-Falkland nach Stanley. Alle haben ge sagt, es sei unmöglich zu schaffen, aber es ist zu schaffen, und wir tun es. Das einzige, was jetzt noch zwischen den Briten und dem uneingeschränkten Sieg steht, sind eure neun- oder zehntausend Mann, die sich um Stanley eingegraben haben, und das, was von eurer Luftwaffe übrig ist.« »Genau. Und während ich hier in Europa Spiele gespielt ha be, mußten sich meine Jungs überm Südatlantik vom Himmel holen lassen.« »Dann wollen Sie also tatsächlich wieder fliegen?« Villiers stellte überrascht fest, daß er wirklich wütend war. »Ich weiß es auch ohne Ihre Antwort. Ehrensache, nicht wahr?« »So ungefähr.« »Und Gabrielle? Sie liebt Sie, das wissen Sie, und was sie be trifft, bin ich Experte. Oh, vielleicht ein Experte, der sich ein mal geirrt hat, aber eines weiß ich: Sie hat mich nie so angese hen wie Sie. Und nie so angelächelt.« »Nach all dem, was passiert ist, gibt es für Gabrielle und mich nichts Gemeinsames mehr«, sagte Montera. »Begreifen Sie denn nicht?« fuhr Villiers ihn an. »Sie saß in einer Falle, aus der sie nicht heraus konnte. Ferguson hatte alle Karten in der Hand.« Montera lachte. »Ich verstehe sehr gut, aber denken Sie an 217
Ihren Bruder.« Er schauderte ein wenig. »Er würde immer zwi schen uns stehen, Tony, sehen Sie das nicht ein?« Sein Name wurde über den Lautsprecher ausgerufen. Er warf die Zigarette hin und lächelte. »Das wäre es also.« Er streckte die Hand aus, und Tony hielt sie einen Auge n blick fest. »Viel Glück. Ich fürchte, Sie werden es brauchen.« »Was, zum Teufel, macht es schon, wenn es nur schnell geht?« Montera ging zur Sperre und drehte sich dort um. »Pas sen Sie gut auf sie auf, Tony.« Dann war er fort. Villiers ging in die Bar, setzte sich in eine Ecke und bestellte Kaffee und Cognac. Er war unruhig und ärgerte sich. Dieser verdammte Bursche. Wie er sich immer wieder sagte, er war der Feind, und doch schien es so absurd. Er trank noch einen Cognac, ging hinaus, suchte eine Telefonzelle für Auslandsge spräche und wählte die Nummer vom Cavendish Square. Ferguson sagte: »Ich nehme an, Sie sind in Charles de Gaulle? Sie haben Raul Montera zum Flughafen gebracht?« »Woher, zum Teufel, wissen Sie das?« »Pierre Guyon und Sektion Fünf des SDECE haben Sie beide observiert, seit Sie in Brie-Comte-Robert la ndeten, Tony.« »Warum haben sie ihn dann nicht an der Abreise gehindert?« »Weil der einzige Platz, wo sie ihn haben wollen, Argentini en ist. Die Franzosen wollen die Sache unbedingt vertuschen. Sie ist nie geschehen, kapiert?« »Selbstverständlich, Sir« sagte Tony Villiers. »Ich nehme an, er will wieder den Helden spielen?« »So ähnlich.« »Nun ja, das ist nicht mehr unsere Sorge. Übrigens, es gibt noch einen ziemlich wichtigen Punkt, den Sie bitte für mich übernehmen wollen, Tony. Es geht um Gabrielle. Nach meinen Informationen wird sie noch heute abend wieder in Paris sein.« »Worum handelt es sich, Sir?« 218
»Verstehen Sie, Tony, sie hat mittendrin auf einmal schlapp gemacht, wie Sie wissen. Wollte aussteigen, erinnern Sie sich?« »Und?« sagte Villiers und hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen, als wüßte er instinktiv, daß etwas Übles kommen würde. »Ich mußte etwas Drastisches tun, um sie bei der Stange zu halten, und mir fiel in der Eile nichts Besseres ein, als ihr zu sagen, Richard sei auf einem Flug vermißt und werde für tot gehalten.« »Sie meinen, es stimmt gar nicht?« sagte Villiers. »Nach meinen neuesten Informationen geht es ihm ganz gut«, sagte Ferguson. »Natürlich ist er noch im dicksten Schlamas sel.« »Sie verdammter Mistkerl«, sagte Villiers und knallte den Hörer auf. Er lief durch die Halle zu den internationalen Abflügen, hielt dann aber inne und blieb stehen. Zu spät, um Montera noch zu erwischen. Viel zu spät. Müde wandte er sich um und schritt zum Ausgang und fragte sich, was, um Himmels willen, er Gabrielle erzählen sollte. 16 Dona Elena Llorca de Montera saß auf der Terrasse der Villa oberhalb des Rio Plata in ihrem Korbsessel und stickte. Es war etwas, das sie seit ihrer Mädche nzeit nicht mehr getan hatte, aber sie hatte kürzlich entdeckt, daß es half, wenn sie ihre Hände beschäftigt hielt. Eines der Hausmädchen kam aus dem Wohnzimmer: »Je mand möchte Sie sprechen, gnädige Frau. Eine Dame.« Dona Elena blickte auf und zog die Augenbrauen hoch. »So, 219
eine Dame.« »Eine Dame aus Frankreich. Senorita Legrand.« Elena de Montera sagte gemessen: »Ich lasse bitten.« Gabrielle blieb an der Balkontür stehen und näherte sich dann langsam. »Dona Elena?« Die alte Frau sah sie eine Weile ausdruckslos an und nickte. »Ja, ich sehe, was er gemeint hat. Jetzt verstehe ich alles.« »Wo ist er?« fragte Gabrielle. »Ich muß ihn sehen. Ich muß ihm etwas sagen, etwas sehr, sehr Wichtiges.« »Aber das geht nicht. Raul ist in Rfo Gallegos und fliegt mit seiner Staffel. Oder was davon noch übrig ist.« Gabrielle ließ sich in einen Sessel an der anderen Seite des Tisches fallen. »Ist Linda da? Er hat so viel über Linda und Sie gesprochen.« »Ich habe sie zu Freunden aufs Land geschickt. Es schien in Anbetracht der Umstände das Beste zu sein.« »Sie meinen, Sie rechnen jeden Augenblick mit der Nach richt, daß er abgeschossen worden ist?« »Es wäre keine Überraschung.« Sie zündete sich eine Ziga rette an und schob Gabrielle die Schachtel hin. »Billige, die Sorte, die unsere Hafenarbeiter rauchen, aber ich mag keine anderen. Als mein Sohn aus Frankreich zurückkam, hat er sich über die Geheimhaltungsvorschriften hinweggesetzt, weil ihm einfach alles egal war. Er hat mir alles erzählt. Er liebt Sie sehr.« »Ich weiß.« »So sehr, daß er Ihre Tätigkeit für den britischen Geheim dienst als unbedeutend betrachtet, eine Meinung, die unser ge schätzter Präsident sicher nicht teilen würde. Der Tod Ihres Bruders hat ihn jedoch sehr mitgeno mmen. Er denkt, er würde immer zwischen Ihnen stehen.« »Aber sie haben mich belogen!« Gabrielle breitete die Hände 220
aus. »Meine Leute haben mich belogen, damit ich weitermach te. Richard geht es gut, er dient immer noch als Hubschrauber pilot auf der Invincible, und er ist gesund und unversehrt.« »Heilige Muttergottes.« Elena de Montera legte einen Mo ment die Hand vor die Augen und sah sie dann wieder an. »Haben Sie gewußt, daß mein Sohn seine Maschine auf Ihren Namen getauft hatte?« »Ja«, sagte Gabrielle. »Ich habe dort unten Freunde, die mich über ihn auf dem lau fenden halten. Als er zurückkam, ließ er ein Wort hinzufügen. Offenbar heißt sie jetzt ›Gabrielle, wohin?‹« Gabrielle atmete tief ein und umklammerte mit beiden Hän den den Rand der Tischplatte, um nicht zu sehr zu zittern. »Ich muß ihn unbedingt sehen. Ich fahre nach Rio Gallegros.« »Meine Liebe, Sie würden nicht weit kommen. Es ist militä risches Sperrgebiet. Andererseits ist General Dozo, der Be fehlshaber unserer Luftwaffe, einer meiner besten Freunde. Gehen wir doch ins Haus, damit ich telefonieren kann!« »Hoffentlich tut er es«, sagte Gabrielle. »Männer, meine Liebe, sind leicht genug zu behandeln, so lange man nur ihren Hochmut einkalkuliert.« Sie legte Gabriel le den Arm um die Schultern, während sie über die Terrasse gingen. »Sie sehen müde aus. Ich sage Rose, sie soll Ihnen ei nen Tee machen. Sie trinken doch Tee, nicht wahr?« Als sie durch die Terrassentür traten, fing Gabrielle an, hilf los zu lachen. Kurz vor vier Uhr morgens ging Paul Montera ans Fenster des Einsatzraums in Rio Gallegos und spähte hinaus. Es goß, und die drei Skyhawks, die draußen von der Bodencrew gewar tet wurden, spiegelten sich im Licht der Bogenlampen in dem Wasserfilm, der das Vorfeld überzog. Die jungen Piloten, die mit ihm fliegen sollten, verließen den Raum, und Montera kehrte schnell an den Tisch zurück und 221
trank seinen Tee aus. Der Raum war nun leer, nur noch die Stühle, die Tische, die Spezialkarten von den Malwinen, Ziga rettenqualm. Jemand hatte eine brennende Zigarre auf dem Rand eines Aschers liegengelassen. Er drückte sie sorgfältig aus, nahm dann seinen Helm und folgte den anderen. Er war erschöpft, erschöpfter, als er je zuvor gewesen war. Während er tief Luft holte und zu den Maschinen ging, kam ein Stabswagen um die Ecke und hielt neben ihm. Die Tür öffnete sich, und Lami Dozo stieg aus, sich einen dicken Mantel um die Schultern ziehend. »Raul, wie geht es Ihnen?« »Könnte schlimmer sein. Gestern haben wir wieder drei ve r loren. Man könnte sagen, wir kratzen die letzten Reserven zu sammen.« Lami Dozo reichte ihm eine Zigarette. »Wieder nach San Carlos?« »Ja.« »Vielleicht ist es das letztemal, Raul. Die Briten haben die Hügel vor Port Stanley genommen. Wir nehmen an, daß sie mindestens vierhundert Mann gefangengeno mmen haben. Ich glaube, es ist nur noch eine Frage von Tagen, daß Menendez sich ergeben muß.« »Und wozu dann das alles?« »Ich weiß nicht«, sagte General Dozo. »Es gab da ein paar Leute, die sagten, wir brauchten einen Krieg, um uns zu bewei sen. Ich gehörte nicht zu ihnen. Ich hoffe, sie sind jetzt ebenso gewillt, für ein neues Argentinien zu arbeiten.« »Aber wir machen trotzdem weiter?« »Ja, das ist manchmal notwendig.« »Ich denke oft an meinen verstorbenen Onkel, den Bruder meiner Mutter, der von der Familie geschnitten wurde, weil er in der Arena kämpfte. Ich weiß noch, wie er in seinem Torero kostüm auf seinen Auftritt in der Plaza von Mexico City warte 222
te, und ein Trompeter spielte ›La Virgen de la Macarena‹.« Montera lächelte. »Ich bilde mir in letzter Zeit oft ein, daß ich das gleiche fühle wie er damals. Als ob dort draußen die Bestie auf mich wartete. Mein Onkel wußte auch nicht, wann der ric h tige Moment war, mit all dem aufzuhören.« Lami Dozo sah ihn ernst an. »Das ist nicht gut, Raul.« »Im Gegenteil, Herr General. Verstehen Sie, ich habe das große Geheimnis gefunden. Es ist mir gleichgültig geworden, ob ich lebe oder sterbe. Deshalb wissen die da oben nicht, was sie mit mir machen sollen, wer immer sie auch sein mögen.« »Raul, bitte«, sagte Dozo. »Keine Sorge. Zwei Ohren und ein Schwanz, wie bei den To reros, wenn ich wieder da bin.« Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. Dozo sagte: »Übrigens, jemand möchte Sie unbedingt spre chen, bevor Sie fliegen. Dort am Zaun.« Er deutete in die Ric h tung, und Montera sah eine schwarze Limousine. »Gehen Sie, Sie haben nicht viel Zeit.« Als Montera zu der hohen Maschendrahtumzäunung ging, stieg ein Chauffeur aus der Limousine und öffnete den hinteren Wagenschlag. Dona Elena stieg aus. »Mama!« sagte Montera erstaunt. Sie lächelte. »Du siehst ein bißchen müde aus.« »Ich bin auch müde.« Er lächelte kläglich. »Ich ne hme an, du wirst mir jetzt sagen, ich sei zu alt für diese Spiele.« »Nein, dazu habe ich keine Zeit, aber ich habe jemanden mit gebracht.« Sie drehte sich zu dem Wagen, und Gabrielle stieg aus und starrte ihn an. Man hatte ihr einen alten Militärmantel geliehen, und sie wirkte im gelben Flutlicht mitleiderregend blaß. Er war einen Augenblick vollkommen verblüfft, und dann lächelte er das unnachahmliche Lächeln, das sie so gut kannte. 223
»Du siehst hinreißend aus. Hat dir das kürzlich jemand ge sagt?« »Niemand, von dem ich es gern gehört hätte.« Sie trat näher und musterte ihn, prägte sich jede Einzelheit ein: den gelben Fliegeranzug, den Schulterhalfter, den Helm in seiner linken Hand, das zerwühlte, regenfeuchte Haar. Er sagte ernst: »Das ist nicht gut. Du hättest nicht kommen dürfen.« »Es gibt keinen anderen Platz auf der Welt, wo ich sein soll te«, antwortete sie. »Die Frage, die du auf deine Maschine ge schrieben hast, ist beantwortet. Und Richard ist nicht tot. Er ist gesund und unversehrt. Brigadier Ferguson hat mich belogen. Er tat es, weil ich Schluß machen wollte, verstehst du?« Er krauste die Stirn, betrachtete sie einen langen Moment und sagte dann leise: »O mein Gott, was für Schufte das sind, menschliche Wesen wie Schachfiguren hin und her zu schie ben, wenn es ihnen in den Kram paßt.« Er lachte auf und legte seine Hand auf ihre, die sich an den Zaun gekrampft hatte. »Ich komme zurück, verstehst du? Ich liebe dich, und ich komme zurück. Glaub es bitte.« Er küßte ihre Hand, wandte sich ab und lief zu den wartenden Skyhawks. Sekunden später dröhnten ihre Triebwerke auf. Do fia Elena stand neben Gabrielle, als die Maschinen nacheina nder zur Piste rollten. Kurz danach hoben sie ab, und dann ver klangen die Düsen allmählich in der Ferne. Sie erreichten West-Falkland bei Morgengrauen und flogen so niedrig, wie sie es wegen der Raketen verantworten konn ten, um dann kaum zwanzig Meter über dem Meer zum Tal des Todes abzuschwenken. Wie immer geschah es unglaublich schnell. Zuerst die Berge, dann der Falkland-Sund mit den Schiffen der Eingreiftruppe, dann weitere Schiffe vor San Carlos. Montera sah, daß die Skyhawk rechts von ihm verzweifelte Ausweichmanöver 224
machte, um der Rapier-Rakete, die ihr auf den Fersen war, zu entweichen. Dann kam die Detonation, und ein Feuerball färbte den Himmel rot. Montera ging in Schräglage und flog durch einen Hagel von Geschossen an, denn die Schiffe unter ihm schienen alles abzu feuern, was sie hatten. Die Skyhawk erzitterte, als Schrapnells gegen ihren Rumpf trommelten. Unten näherte sich eine schnelle Fregatte, und er klinkte seine Bomben aus und stieg schnell höher, schwenkte und schaute zurück. Es gab keine Explosionen, und er lachte bitter über die Absurdität des ga n zen Unternehmens. »Heilige Muttergottes, sie werden die Zünder erst in Ordnung bringen, wenn wir längst kapituliert haben!« Dona Elena und Gabrielle saßen im Einsatzraum in Rio Gal legos am Ofen. Land Dozo stand am Fenster und spähte durch den Regen in das graue Licht des Morgens, nahm dann und wann einen Schluck Kaffee. Ein junger Oberleutnant trat ein, salutierte und gab ihm einen Funkspruch. Der General las, nickte, und der Oberleutnant ging wieder hinaus. Dona Elena sagte: »Sie sehen nicht glücklich aus. Schlechte Nachrichten?« »Sie hatten wieder einen Treffer. Eine Skyhawk abgescho s sen.« »Raul?« sagte Gabrielle. »Nein, nicht Raul. Als wir zuletzt von ihm hörten, waren er und der andere Pilot schon auf dem Rückflug.« Raul Montera verließ die Wolkendecke in viertausend Fuß Höhe und ging noch tiefer, folgte der Skyhawk, die eine Rauchwolke nach sich zog und rasch an Höhe verlor. Montera scherte sich nicht um die Funkvorschriften und rief in sein Mikrofon: »Enrico, hörst du mich? Wie schlimm ist es?« Keine Antwort, und dann sah er plötzlich, wie eine Sidewin 225
der-Rakete scheinbar aus dem Nichts auf die andere Maschine zuraste. Eine grelle Flammenzunge gebar einen Feuerball, als die Skyhawk sich in tausend Teile auflöste. Irgendwo da oben mußte ein Harrier-Bomber sein, etwas an deres war nicht möglich. Was für ein verdammtes Pech, denn sie hatten fast die Grenze des Harrier-Einsatzradius für Seege fechte erreicht. Seinem bei vielen Luftkämpfen geschärften Instinkt folgend, ging er augenblicklich in engen Windungen tiefer, und die nächste Sidewinder raste rechts von ihm vorbei, kam ins Trudeln, kippte ab und stürzte ins Meer. Ein Irrläufer, dessen Suchsystem verrückt spielte, ein Glück für ihn, weil die Harrier nicht mehr als zwei Sidewinder tragen konnten. Jetzt würde er es nur noch mit den Dreißig-MillimeterBordgeschützen zu tun haben. Sie näherte sich von hinten, und die Skyhawk erzitterte unter dem Aufprall von Geschossen. Das Dach der Kanzel zersprang, und Montera spürte einen scharfen Schlag am linken Arm, dann einen am rechten Bein. Die Harrier schwenkte wieder auf ihn zu, und dann kam der Traum, nur daß er diesmal Wirklichkeit war, der Adler stieß herab, Fänge spreizten sich, um den Tod zu bringen. Abermals erbebte die Maschine unter den Geschossen, die Harrier sauste vorbei, drehte nach Steuerbord und nahm Kurs auf sein Heck, um ihm den Rest zu geben. Er war bereits auf tausend Fuß, und Gabrielle schien ihm das gleiche ins Ohr zu flüstern, was sie beim erstenmal gesagt hat te, nachdem er den Traum in der Wohnung in Kensington ge habt hatte. »Denk daran, deine Landeklappen auszufahren. Auch Adler sausen vorbei.« Montera tat es. Es war, als prallte er gegen eine Mauer, und einen Augenblick lang glaubte er, jegliche Kontrolle verloren zu haben. Der Harrier-Pilot mußte blitzschnell ausweichen, um eine Kollision zu vermeiden, und stieg steil auf, und Montera 226
nutzte die Chance und schob den Steuerknüppel so weit vor, wie es ging. Es war wahrscheinlich das riskanteste Manöver, das er in seiner ganzen Fliegerlaufbahn ausgeführt hatte, als er die Maschine dreißig Meter über dem Wasser abfing, denn der Wind peitschte zwölf bis fünfzehn Meter hohe Wellen auf. Er blickte nach oben und sah den Gegner hoch über sich. Im Funkgerät knackte und rauschte es. Eine Stimme sagte auf eng lisch: »Hals- und Beinbruch, wer Sie auch sein mögen. Sie haben es verdient«, und die Harrier, die ihren Aktionsradius wohl schon überschritten hatte, drehte ab zu den Falklandin seln. Gabrielle saß völlig übermüdet im Einsatzraum und döste ab und zu gegen ihren Willen ein. Dona Elena und Lami Dozo standen am Fenster und rauchten. »Mein Sohn ist ein Narr«, sagte sie. »Wissen Sie das?« »Natürlich, aber ich danke Gott, daß es Narren wie ihn gibt. Es ist gut für uns andere, wenn wir uns gelegentlich schämen müssen.« Die Tür wurde geöffnet, und der junge Oberleutnant hastete herein. Dozo riß ihm den Funkspruch aus der Hand und las. »Wir haben noch eine Skyhawk verloren, aber es ist nicht Rauls Maschine. Achtzig Kilometer weit draußen.« Gabrielle setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Etwas Neues?« »Ja«, sagte Lami Dozo. »Dona Elena wird es Ihnen sagen. Sie bleiben am besten hier.« Er machte die Tür auf und ging hinaus. Die Skyhawk flog in fünfhundert Fuß Höhe an, und der Wind pfiff durch das zerschmetterte Cockpit. Raul Montera bot mit seinem blutverschmierten Gesicht, das von zahlreichen Per spexsplittern zerschnitten war, und dem ebenfalls rot gefärbten Ärmel seines Fliegeranzugs einen beängstigenden Anblick. Er hielt den Steuerknüppel umklammert und lächelte starr vor sich 227
hin, als er den Stützpunkt sah. »Bring mich sicher runter, Ga brielle«, betete er laut. »Laß mich nicht im Stich.« Dann sah er die Pistenbefeuerung im grauen Morgenlicht aufblitzen. Lami Dozo stand mit einem Feldstecher vor den Augen im Kontrollturm. Raul Monteras Stimme klang brüchig. »Ich gehe sofort runter. Keine Zeit für Landeformalitäten.« Dozo beobachtete, wie die Skyhawk beinahe die Gebäude am nördlichen Pistenende streifte. Montera sah die Fahrzeuge, die insektengleich vom Kontrollturm in seine Richtung aus schwärmten. Die Skyhawk drohte abzuschmieren. Er gab noch einmal Saft und machte dann die schlimmste Landung seiner Karriere, hüpfte zweimal wieder hoch, ehe er richtig Boden kontakt hatte, und schleuderte um die eigene Achse, fegte das Wasser auf der Piste in einem sprühenden Schleier vor sich her. Er blieb mit gesenktem Kopf sitzen und hörte die Stimmen und fühlte die Hände, die ihn behutsam aus der Kanzel hoben. Er machte die Augen auf, sah die Gesic hter, viele Gesichter, darunter das von Lami Dozo. Er lächelte: »Zwei Ohren und ein Schwanz, ja, General?« Dann verlor er das Bewußtsein. So ging es zu Ende. Die Argentinier legten in Port Stanley die Waffen nieder, und in Buenos Aires ließen aufgebrachte Menschenmengen keinen Zweifel daran, daß Galtieris Tage als Regierungschef gezählt waren. In Westminster City erhob sich die Premierministerin von ihrem Platz im Unterhaus, um den versammelten Parlamentariern den britischen Triumph in ei nem der erstaunlichsten Waffengänge seit dem Zweiten Welt krieg offiziell bekanntzugeben. Gabrielle und Dona Elena warteten im Hospital der barmhe r zigen Schwestern in Buenos Aires vor Monteras Zimmer. End lich ging die Tür auf, und der Chefchirurg kam heraus. Sie standen auf. »Nun?« fragte Dona Elena. 228
»Sieht böse aus, aber er wird es schaffen. Selbstverständlich muß er seinen Beruf an den Nagel hängen. Er wird nie wieder eine Düsenmaschine fliegen können. Sie dürfen jetzt zu ihm.« Gabrielle sah Dona Elena fragend an, und diese läche lte. »Ich habe meinen Sohn wieder. Für lange, lange Zeit. Sie gehen als erste. Ich kann warten.« Als Gabrielle das Zimmer betrat, saß er aufgestützt im Bett, und die Schnittwunden in seinem Gesicht hatten sich durch irgendeine Tinktur purpurrot gefärbt. Sein linker Arm steckte in einem Gipsverband, und unter der Decke zeichnete sich ein konisches Gebilde ab, das sein verletztes Bein schützte. Sie trat an sein Bett, ohne etwas zu sagen, und als ob er ihre Anwesen heit gespürt hätte, schlug er die Augen auf und lächelte. »Du siehst ja schrecklich aus«, sagte sie. »Wird schon werden, keine Sorge. Der Arzt hat gesagt, ich wurde bald wieder imstande sein, Geige zu spielen. Sehr lustig. Verstehst du, ich kann nämlich gar nicht Geige spielen.« Und dann war sie neben dem Bett auf den Knien, drückte das Gesicht an seines und lachte und weinte gleichzeitig.
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