Nr. 303
Die Strasse der Mächtigen Revolte gegen die Herren der Zwillingsstädte von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrunge...
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Nr. 303
Die Strasse der Mächtigen Revolte gegen die Herren der Zwillingsstädte von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten durch die SolAb, die USO und die Solare Flotte noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und ihre technische Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg bringt sie in Kontakt mit dem »Gralshüter von Gorrick« und führt sie auf DIE STRASSE DER MÄCHTIGEN …
Die Strasse der Mächtigen
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Gefangene auf Pthor. Mäjesto - Ein kleiner Dieb mit einem tapferen Herzen. Elementemagier, Teilchenkenner und Phantasieritter - Herren der Zwillingsstädte. Eisenkaiser und Aminomeister - Technos von Zbahn.
1. DIE STRASSE DER MÄCHTIGEN »Hierher!« flüsterte Mäjesto. Ich sah nur einen dürren braunen Arm, der sich in die kühle Morgenluft reckte und von dem der Umhang bis zur Schulter gerutscht war. Der kleine Dieb schien in einem Loch zu stecken, das ich von meinem Standort aus wegen der Dornensträucher und kniehohen Gräser nicht sah. Ein Blick nach links bewies mir, daß Razamon sowohl den Ruf Mäjestos gehört als auch dessen Arm gesehen hatte. Wir nickten uns zu, dann sprangen wir auf und eilten geduckt zu der Stelle, an der sich der Kleine befand. Sekunden später standen wir neben Mäjesto in einem zirka zwei mal zwei Meter großen und anderthalb Meter tiefen Loch. Mauerreste zeigten, daß es entstanden war, als die Decke eines unterirdischen Raumes einstürzte. Mäjesto deutete zwischen zwei Sträuchern hindurch auf den freien Platz zwischen unserem Standort und der Vorstadt Emzig. Ich sah zuerst die beiden Zugors, aus denen sechs Technos gestiegen waren, danach entdeckte ich die drei reglosen Gestalten. Bei ihnen handelte es sich ebenfalls um Technos. Ich erkannte es an den zweiteiligen Lederausrüstungen und den unterarmlangen Lähmwaffen, die in ihrer Nähe lagen. Die Körper selbst waren durch böse Verletzungen fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. »Opfer der Bestie«, stellte Razamon fest und preßte fest die Lippen zusammen. Ich nickte. Zweifellos waren diese drei Bedauernswerten dem Amoklauf des Ungeheuers zum
Opfer gefallen, das sich von den Horden der Nacht entfernt hatte und trotz eines strikten Verbotes in eine Stadt, nämlich Zbahn, eingedrungen war. Und das später den Gorrick Ichtbar getötet hatte! Ich sah, daß die aus ihren Fluggleitern gestiegenen Technos die Leichen in Plastikplanen einwickelten und in die Zugors luden. Zu meinem Bedauern nahmen sie auch die Lähmwaffen mit. Als die Zugors abhoben, duckten wir uns in unser Versteck, damit die beiden an den Instrumentensockeln stehenden Technos uns nicht zufällig entdeckten. In zirka fünfzig Metern Höhe beschleunigten die Fahrzeuge und hielten Kurs nach Nordwesten. Dabei flogen sie an dem riesigen Schneckenhaus des Patorghs vorbei und verließen das Stadtgebiet von Zbahn. »Wohin bringen sie die Toten?« wandte ich mich an den Kleinen. Mäjesto deutete nach Nordosten. »Zur FESTUNG, Atlan. Alle toten Technos werden dorthin gebracht. Von dort kommt auch der Ersatz. Die beiden Zugors dürfen nur nicht direkt zur FESTUNG fliegen, weil der entsprechende Luftkorridor einen Bogen macht, der einen Teil der Ebene von Kalmlech überquert.« Ich blickte nachdenklich hinter den Zugors her. Nur zu deutlich erinnerte ich mich an das nächtliche Erlebnis, bei dem ein Techno im Schein des Erdmonds seltsam durchscheinend geworden war. Dabei hatte ich in seinem Innern ein stählernes Gerüst zu sehen geglaubt, um das klumpenähnliche Ballungen angeordnet waren. Der Schluß, daß es sich bei den Technos deshalb um Roboter oder Androiden handelte, war durch das Argument entkräftet worden, daß die Technos nicht nur normale Nahrung zu sich nahmen,
4 sondern auch gefühlsbedingt reagierten. Aber die Tatsache, daß alle toten Technos zur FESTUNG gebracht wurden, und daß von dort der Ersatz für sie kam, weckte den Gedanken an Roboter und Androiden erneut. Dazu kam, daß ich noch nie einen halbwüchsigen Techno gesehen hatte, ganz zu schweigen von Frauen und Kindern. Frauen und Kinder können in der FESTUNG leben! gab der Logiksektor meines Extrasinns zu bedenken. Ich zuckte die Schultern. In diesem Augenblick stieß Razamon eine Verwünschung aus. Ich blickte auf ihn und sah sofort, was den Atlanter erbitterte. Von dem alles beherrschenden Patorgh aus näherte sich ein großer Schwarm jener schalenförmigen, offenen Fluggleiter, die von den Technos benutzt wurden. Sie flogen alle ungefähr in unsere Richtung. »Wie können sie wissen, daß wir uns hier verbergen?« fragte ich. Sie suchen nicht nach euch, sondern nach der Bestie! teilte mir der Logiksektor mit. Ihre Spur ist überdeutlich zu sehen. Wenn ihr nicht schnell verschwindet, werden die Technos euch allerdings aufgreifen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Erst jetzt vermochte ich die breite Spur zu sehen, die das Ungeheuer bei seinem Amoklauf hinterlassen hatte. Sie bestand aus zertrampelten Sträuchern, herausgerissenen und fortgeschleuderten Grasfetzen und umgestoßenen Mauerresten. Und diese Spur führte so dicht an unserem Versteck vorbei, daß die Technos, wenn sie einigermaßen gründlich suchten, praktisch über uns stolpern mußten. »Wohin können wir verschwinden, Mäjesto?« fragte ich. Der Kleine zitterte vor Angst. Wahrscheinlich gingen die Technos von Zbahn nicht gerade sanft mit den Gesetzlosen um, wenn sie ihrer habhaft wurden. »Wir kommen nicht mehr weg«, sagte er. »Der nächste Eingang in die Unterwelt ist dort drüben.« Er deutete nach Süden, wo sich ein von Schlingpflanzen überwucherter
H. G. Ewers Turmstumpf emporreckte. Die Entfernung von uns aus betrug zirka dreißig Meter. Auf der Strecke gab es einige wenige Sträucher und dazwischen kniehohes vergilbtes Gras. »Es ist nicht unmöglich«, erwiderte ich. »Wir müssen eben auf dem Bauch kriechen, dann bietet das Gras uns Deckung genug.« Ich sah Mäjestos zweifelnde Miene. Der Dieb war eben nicht gewohnt, sich am Tage durchs Gelände zu bewegen. Deshalb kannte er in erster Linie die Deckung, die die Dunkelheit ihm bot. Kurz entschlossen kletterte ich aus dem Loch und machte den Anfang. Als ich nach wenigen Metern zurückblickte, sah ich, daß Razamon mir folgte. Er bewegte sich ebenso rasch und sicher durchs Gelände wie ich – oder wie ein erfahrener Kämpfer, der auch die kleinste Deckung zu nutzen wußte. Dadurch wurde ich wieder daran erinnert, daß der Atlanter rund zehntausend Jahre auf der Erde und zwischen Menschen gelebt hatte. Seine diesbezüglichen Abenteuer mußten noch viel reichlicher gewesen sein als meine, denn ich war nur ab und zu aus meiner Tiefseekuppel gekommen. Irgendwann mußte ich ihn auffordern, etwas aus seinem bewegten Leben zu erzählen …
* Razamon und ich schafften es, ungesehen von den Technos, die inzwischen in unserer Umgebung gelandet waren und ausschwärmten, zu dem Turmstumpf zu gelangen. Mäjesto dagegen hatte Pech. Er bewegte sich zu ungeschickt. Offenkundig wußte er nicht, wie man durch hohes Gras kriecht, ohne daß die Halme in heftige Bewegung geraten. Infolgedessen zog er so etwas wie eine Bugwelle aus schwankenden Halmen hinter sich her. Er war noch rund drei Meter von dem finsteren Loch in der Turmmauer entfernt, als mehrere Technos ihn gleichzeitig erblickten. Ohne Warnung hoben sie ihre Lähmwaffen
Die Strasse der Mächtigen und feuerten auf den Kleinen. Mäjesto schnellte einen halben Meter hoch, dann fiel er reglos ins Gras zurück. Die Technos riefen sich gegenseitig Worte zu, die wir nicht verstanden. Aber sie kümmerten sich nicht weiter um den Gelähmten, da sie offenbar erkannt hatten, daß er nicht mit dem Wild identisch war, das sie jagten. Ich bedachte die Technos mit einer gemurmelten Verwünschung. Sie wußten bestimmt genau, daß jemand, der gelähmt und daher hilflos einige Stunden lang in diesem Gelände lag, unweigerlich das Opfer der kleinen räuberischen Tiere wurde, die es hier überall gab. Am schlimmsten war dabei, daß die Lähmwaffen der Technos nicht betäubten, so daß ein Gelähmter bei vollem Bewußtsein alles hörte, sah und fühlte, was mit ihm geschah. Die Technos setzten den Kleinen also absichtlich einem grauenvollen Schicksal aus. Selbstverständlich ließen Razamon und ich Mäjesto nicht im Stich. Wir krochen behutsam zu dem kleinen Kerl und zogen ihn hinter uns her zum Turmstumpf. Als wir ihn durch das finstere Loch hoben, mußten die Technos dennoch etwas gemerkt haben. Jedenfalls hörten wir das charakteristische Knistern, das auftrat, wenn Lähmstrahlen sich an einem Hindernis entluden. Glücklicherweise wurden weder Razamon noch ich getroffen. Wir duckten uns jenseits des Mauerlochs und lauschten angespannt auf Geräusche. Nach einer Weile hörten wir die Geräusche von Schritten und eine leise Unterhaltung. »Sie kommen«, meinte der Atlanter trocken. »Dann müssen wir uns weiter zurückziehen«, erwiderte ich und spähte in die Dunkelheit, die uns gleich einer Mauer umgab – abgesehen von dem Loch, durch das etwas Licht hereindrang, soweit die Schlingpflanzen es zuließen. »Mäjesto bezeichnete den Turmstumpf als einen Eingang in die Unterwelt, folglich gibt es hier so etwas wie eine
5 Treppe.« »Ich habe es satt, mich immer nur zu verkriechen!« stieß der Atlanter zornig hervor. »Wenn der erste Techno seinen Kopf durch das Loch steckt, drehe ich ihm den Hals um!« »Das wäre idiotisch!« gab ich zurück. »Wenn wir einen von ihnen umbringen, ziehen wir die ganze Bande auf uns. Tauchen wir dagegen unter, geben die Technos sicher bald auf und konzentrieren sich wieder auf die Suche nach dem Ungeheuer.« »Niemand nennt mich ungestraft einen Idioten!« begehrte Razamon auf. »Auch du nicht, Atlan!« Ich seufzte. Der Jähzorn meines pthorischen Freundes würde mir noch oft zu schaffen machen. Er konnte vor allem dann gefährlich werden, wenn seine Erregung das böse Erbe aus der Zeit in ihm erweckte, in der er noch ein Berserker gewesen war. »Ich habe nicht dich einen Idioten genannt, sondern nur deine Absicht, den Helden spielen zu wollen, als idiotisch bezeichnet«, erklärte ich. »Das ist ein fundamentaler Unterschied.« Da meine Augen sich unterdessen an die hiesigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, entdeckte ich in der Mitte der Turmruine die abgebrochene steinerne Spindel einer Wendeltreppe. »Es müssen mindestens zwei Gesetzlose gewesen sein«, hörten wir von draußen die harte Stimme eines Technos. »Da einer von ihnen gelähmt ist, können sie nicht schnell fliehen.« »Was kümmern uns die Gesetzlosen!« entgegnete eine andere Stimme. »Es sind Mörder und Diebe«, erklärte der erste Techno. »Hole Verstärkung. Wir werden die Burschen einholen und mitnehmen. Aminomeister kann Versuchstiere gebrauchen.« »Ich helfe euch!« flüsterte Razamon heiser. »Sei kein Narr!« flüsterte ich ihm zu und zog Mäjesto in Richtung der Wendeltreppe. »Wir wollen die Herren von Atlantis be-
6 kämpfen und uns nicht damit aufhalten, untergeordneten Helfern eine Prügelei zu liefern.« Das half, denn Razamon befand sich plötzlich wieder in meiner Nähe. Er faßte den Kleinen an den Füßen. Inzwischen hatte ich die Treppe erreicht. Sehr wohl fühlte ich mich nicht, als ich die Steinstufen rückwärts hinabstieg. Unter uns konnten Gesetzlose lauern, die nicht so harmlos waren wie Mäjesto. Oder es gab eine Lücke in der Treppe, die ich vielleicht nicht rechtzeitig erkannte. Aber vordringlich mußten wir uns so weit wie möglich zurückziehen, damit die Technos, die in den Turmstumpf eindrangen, uns mit ihren Lähmwaffen nicht erreichten. Als wir fünf Windungen hinter uns gebracht hatten, hörten wir von oben das Knistern von Lähmwaffenentladungen. Offenbar feuerten mehrere Technos von draußen gleichzeitig durch das Mauerloch. Wenn sie sich geschickt anstellten, hätte niemand, der sich oben aufhielt, eine Chance gehabt, sich gegen sie zu wehren – jedenfalls nicht mit bloßen Fäusten. Das schien auch Razamon einzusehen, denn er sagte nichts weiter von Widerstand. Er erklärte sich sogar bereit, Mäjesto allein auf den Schultern zu tragen, damit ich mich darum kümmern konnte, daß wir nicht plötzlich von Gesetzlosen angegriffen wurden. Während wir Windung um Windung hinabstiegen, hörten wir von oben etwa zehn Minuten lang die Schritte der Verfolger und ab und zu ein paar Schüsse. Da die Technos aber anscheinend keine Lampen bei sich trugen und sich deshalb ebenfalls durch die Finsternis zu tasten hatten, kamen sie nicht schneller als wir vorwärts. Und nach zehn Minuten entfernten sich die Schritte nach oben. Razamon und ich aber tasteten uns noch mindestens eine halbe Stunde lang die gleiche Wendeltreppe abwärts. Als wir ihr Ende erreichten, fanden wir einen schmalen Korridor – und irgendwo in ihm erblickten wir einen blassen Lichtschimmer. Da wir es satt hatten, noch länger im Dun-
H. G. Ewers keln zu tappen, wandten wir uns in diese Richtung. Etwas anderes blieb uns ja auch nicht übrig.
* Als ich den ersten Blick in die Halle warf, holte ich unwillkürlich tief Luft. Razamon hörte es und drängte sich begierig neben mich. »Eine Bahnhofshalle für Eisenbahnschienen!« sagte er überrascht. »Das war es einmal«, erwiderte ich und musterte die teilweise eingebrochene Decke, die unter Hitzeeinwirkung verfärbten und verbogenen Schienen sowie die Trümmerhügel, in denen man nur noch mit einer gehörigen Portion Phantasie ehemalige Einschienenwagen erkannte. Ich blickte den Atlanter an, dessen Gesicht im Schein der birnenförmigen Lampe lag, wie ich sie in Zbahn schon mehrmals kennengelernt hatte. Da sie teilweise an Träger geheftet waren, die erst durch den Absturz von Deckenteilen freigelegt worden sein konnten, mußten sie erst lange nach der Katastrophe angebracht worden sein. Die Falten in Razamons Gesicht schienen sich vertieft zu haben. Er wirkte so, als dächte er angestrengt nach – und ich konnte mir denken, was ihm Kopfzerbrechen bereitete. »Dieser Anblick holt keine Erinnerung ans Licht, wie?« erkundigte ich mich. Razamon schüttelte den Kopf. »Ich scheine nie etwas von dieser zerstörten Anlage gewußt zu haben«, sagte er tonlos. »Allmählich gewinne ich den Eindruck, daß Pthor unterhalb seiner Oberfläche mehr Geheimnisse birgt als oberhalb. Hochwertiges Metallplastik rostet natürlich nicht; aber auch hier unten kommt es zu Ablagerungen von Feuchtigkeit und Staub, an denen man auf die Zeit schließen kann, die seit der Zerstörung der Anlage vergangen ist.« Er trat in die Halle, legte den Kleinen auf den Boden und ging zu einem der Bahnwracks. Mit einem herumliegenden Metall-
Die Strasse der Mächtigen keil kratzte er an einer Strebe herum. Als er sich umwandte, blickten seine schwarzen Augen unergründlicher als jemals zuvor. »Fünf Zentimeter!« sagte er. »Das ist für diese Umgebung ein enormer Wert. Ich schätze, daß seit der Katastrophe oder der gewaltsamen Zerstörung dieses Bahnhofs viele Jahrtausende vergangen sind – vielleicht sogar viele Jahrzehntausende.« Ich erschauderte und trat ebenfalls in die Halle. »Vielleicht hat Pthor nicht immer den Herren der FESTUNG gehört«, sprach ich meine – allerdings spekulativen – Gedanken aus. »Sie könnten es den früheren Besitzern gewaltsam entrissen haben – und bei den Kämpfen kamen die Zerstörungen zustande. Während hier unten alles so gelassen wurde, haben die Herren der FESTUNG die Spuren der Kämpfe an der Oberfläche beseitigen und neue Bauwerke errichten lassen.« »Das ist aber weit hergeholt, Atlan«, meinte der Atlanter. »Ebensogut könnten die Zerstörungen von Machtkämpfen früherer Beherrscher Pthors unter sich zeugen – oder davon, daß Pthor irgendwann vor langer Zeit einmal fast besiegt worden ist.« Er sah mich durchdringend an. »Wenn du dich nur daran erinnern könntest, was du in der dritten Kristallhöhle fandest! Grundlos hast du bestimmt nicht von einem Gral und einem Gralshüter gesprochen. Du mußt etwas sehr Wichtiges erfahren haben.« Ich zuckte hilflos die Schultern. »Ich sagte schon, daß die Erinnerungen in meinem Unterbewußtsein zu schlummern scheinen, daß ich sie aber einfach nicht hervorholen kann«, erwiderte ich. »Möglicherweise gelingt mir das später einmal. Jetzt ist es unmöglich.« Ich deutete in den Tunnel, der von der Halle nach rechts führte und der ebenfalls beleuchtet war. »Wenn wir uns in diese Richtung wenden, kommen wir sicher irgendwo heraus, wo sich keine Technos aufhalten. Ich schlage
7 vor, wir gehen weiter. Ich möchte endlich die Straße der Mächtigen erreichen, die nach Mäjestos Aussage einst von Odin beherrscht worden sein soll.« Razamon lächelte. »Du brennst natürlich darauf, konkrete Spuren von Odin, Sleipnir und anderem Beiwerk zu finden, Atlan. Schön, du sollst deinen Willen haben!« Ich ging zu Mäjesto, lud ihn mir auf die Schultern und folgte dem Atlanter, der bereits auf die Tunnelmündung zueilte und dabei sein linkes Bein nachzog, an dem – unsichtbar – ein Zeitklumpen hängen sollte. Nach ungefähr drei Kilometern versperrten die Trümmer eines Einsturzes unseren Weg. Aber jemand hatte dafür gesorgt, daß dieser Tunnel keine Sackgasse blieb. Links von uns entdeckten wir den Eingang zu einem Stollen, der offenkundig mit chemischem Sprengstoff in den Fels gesprengt und danach mit einfachen Werkzeugen grob bearbeitet und mit Holzstempeln abgestützt worden war. Die Erbauer dieses Stollens hatten allerdings keine Lampen angebracht – ein Beweis dafür, daß diese Leuchtkörper aus einer früheren Zeit stammten. Mit aller gebotenen Vorsicht tappten wir durch den dunklen Stollen. Wir stellten fest, daß er lediglich als Verbindungsgang zu einem weiteren alten Treppenschacht diente. Auch hier war es dunkel. Mehr als eine halbe Stunde lang mühten Razamon und ich uns die Treppen hinauf – und wir waren froh, als wir über uns endlich einen winzigen Lichtschimmer sahen. Wenig später krochen wir aus einem Loch im Boden, das von dichtem und hohem Strauchwerk umgeben war. Als wir uns durch das Gesträuch gezwängt hatten, erblickten wir links von uns den Patorgh und davor eine der sechs Vorstädte – und rechts von uns zog sich ein breites Band dahin, das von Trümmern, undefinierbaren Wracks und Abfallhaufen gesäumt war und eigentlich erst dadurch erkennbar wurde. »Die Straße der Mächtigen!« sagte Razamon träumerisch.
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Ich setzte den immer noch gelähmten Mäjesto ab. »Das soll die Straße der Mächtigen sein?« fragte ich zweifelnd. »Mir erscheint das da eher wie eine bandförmig angelegte Mülldeponie.« »Seit die Horden der Nacht über diesen Straßenabschnitt getrieben werden, wenn sie auf eine okkupierte Welt losgelassen werden, ist die herrliche Straße der Mächtigen verwahrlost«, erklärte der Atlanter. Und hier soll Odin geherrscht haben! dachte ich enttäuscht.
2. AUF ODINS SPUREN Die Sonne brannte heiß von einem blauen wolkenlosen Himmel herab und veranlaßte die lanzettförmigen Blätter des Baumes, sich so zu drehen, daß sie ihr die Schmalseite zuwandten. Ich saß in einer Astgabel im unteren Teil der Baumkrone und schaute nach Razamon aus. Der Atlanter war vor gut einer Stunde aufgebrochen, um Nahrungsmittel und Wasser zu »organisieren«. Nachdem er sich erinnert hatte, daß die Straße von Zbahn nach Zbohr rund fünfundfünfzig Kilometer lang war, war es uns nicht ratsam erschienen, uns ohne Vorräte auf den Marsch zu machen. Allmählich wurde ich jedoch unruhig. Razamon mußte sich immerhin in die Nähe anderer intelligenter Wesen begeben, wenn er innerhalb des weiten Stadtgebiets von Zbahn Lebensmittel und Wasser erbeuten wollte. Zweifellos würde er sich von den Technos fernhalten, aber die Bewohner der Schlupfwinkel zwischen den Vorstätten waren ebenfalls gefährlich, wie wir aus den Erfahrungen der letzten Nacht wußten. Vor zirka zehn Minuten hatten sich die Zugors der Technos, die zur Suche nach dem Ungeheuer ausgeschwärmt waren, an einer Stelle des Stadtgebiets zusammengezogen. Es war dies die Ruine, in der sich der Anfang des Weges zu Ichtbars Kammer befand. Aus diesem Verhalten schloß ich, daß das Ungeheuer gefunden worden war – und
natürlich auch der Leichnam des ehemaligen Sklaven. Nach einiger Zeit sah ich, wie eine Gruppe von Technos den leblosen Körper des Ungeheuers zu einem der Zugors trugen. Sie schoben ihn über die Bordwand. Zwei andere Technos brachten kurz darauf den Leichnam Ichtbars. Auch er wurde in einen Fluggleiter verfrachtet. Anschließend bestiegen alle Technos ihre Fahrzeuge und starteten. Sie flogen in die gleiche Richtung wie die, die die drei Opfer des Untiers fortgebracht hatten, deshalb nahm ich an, daß die Bestie und Ichtbar ebenfalls zur FESTUNG gebracht werden sollten. Ein Warnimpuls meines Extrasinns ließ mich nach unten schauen, wo der gelähmte Mäjesto im Schatten eines Baumes lag. Er rührte sich immer noch nicht, aber in seiner Nähe rührte sich etwas im Strauchwerk. Ich erblickte eine Gestalt, die ähnlich gekleidet war wie der kleine Dieb, mit dem Unterschied, daß sein weites Gewand von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde, und daß sie keine Sandalen, sondern weite Lederstiefel trug, in die die Hosenbeine geschoben waren. An dem Gürtel hing die Lederscheide eines Krummdolchs, und in der rechten Hand hielt die Gestalt einen Kurzspeer mit Plastikschaft und langer geflammter Klinge. Während die Gestalt geduckt auf Mäjesto zuschlich und ich lautlos meine Position veränderte, überlegte ich, wie ich den Speerträger einstufen sollte. Er war ein Humanoide und hatte schwarzes Haar wie die Technos, aber sein Gesicht wies nicht die seltsame Unfertigkeit der Techno-Gesichter auf, sondern war scharf geschnitten, hatte starke Brauenwülste, ein vorspringendes Kinn und eine große gebogene Nase. Die Handlungsweise des Mannes ließ mir keine Zeit für weitere Betrachtungen. Als er seinen Speer in der unmißverständlichen Absicht hob, ihn auf den Kleinen zu schleudern, sprang ich. Ich prallte mit den Füßen gegen die rechte Schulter des Mannes und stieß ihn dadurch
Die Strasse der Mächtigen um. Wir stürzten beide – und sprangen beide wieder auf. Der Speer war fortgeflogen und steckte schräg im Boden. Der rechte Arm des Räubers hing kraftlos herab, aber der Bursche riß mit der linken Hand den Dolch aus der Scheide und griff ohne einen Laut an. Ich wartete bis zum letzten Augenblick und setzte dann einen Dagorgriff an. Der Krummdolch fiel aus kraftlosen Fingern, und der Kerl brach bewußtlos zusammen. Ich wollte mich nach dem Bewußtlosen bücken, als mehrere schrille Pfiffe ertönten. Instinktiv griff ich nach dem Dolch des Räubers, wirbelte herum und stieß die rechte Hand nach vorn, als eine hohe Gestalt auf mich zuflog. Der Kerl raste praktisch in den Dolch hinein. Mit einer Verwünschung zog ich die Waffe heraus und wandte mich den drei anderen Räubern entgegen, die aus dem Gebüsch auf mich zustürmten. Sie waren alle genauso gekleidet wie der erste Angreifer, aber ihre Gesichter unterschieden sich voneinander. Eine Minute lang mußte ich alle Tricks anwenden, um nicht von Lanzen aufgespießt und von Dolchen durchbohrt zu werden. Die Räuber beherrschten das Mordhandwerk und griffen kompromißlos an. Sie kamen nicht im Traum auf den Gedanken, mich nur bewußtlos zu schlagen. Nein, sie wollten töten. Nach wildem Kampf lagen schließlich zwei dieser Burschen ebenfalls reglos auf dem Boden. Aber auch ich war angeschlagen, denn eine Lanze hatte meinen rechten Oberschenkel durchbohrt. Ich spürte, wie das warme Blut mir am Bein herablief. Der Schock machte mich für wenige Sekunden benommen. Ich sah den dritten Räuber plötzlich nicht mehr – und als ich ihn wieder sehen konnte, war es beinahe zu spät. Die Hand mit dem Dolch schwebte über mir und würde herabsausen, bevor ich entsprechend reagieren konnte. Aber sie kam nicht herab. Statt dessen riß der Räuber den Mund weit auf, bog den Oberkörper nach hinten – und kippte nach
9 einem letzten Aufbäumen seitlich um. In seinem Rücken steckte ein kleiner gekrümmter Dolch. Als ich in die Richtung blickte, aus der der Dolch gekommen sein mußte sah ich, daß Mäjesto sich aufgesetzt hatte und mit großen Augen zu mir starrte. Seine rechte Hand war geöffnet und befand sich noch in der Stellung, in der sie den Dolch geworfen hatte. Rasch sah ich mich nach weiteren Angreifern um. Aber unser Versteck zwischen den Sträuchern war wieder ruhig. Auch bei dem Loch, aus dem wir vor einigen Stunden gestiegen waren, rührte sich nichts. Ich wandte mich wieder an den Kleinen, humpelte ein paar Schritte in seine Richtung und sagte: »Danke, Mäjesto! Du hast mir das Leben gerettet.« Der Kleine strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe dir das Leben gerettet Atlan!« sagte er stolz. »Und ich dachte immer, ich würde mich nicht zum Krieger eignen. Jetzt zweifelst du sicher nicht mehr daran, daß ich ein zuverlässiger und nützlicher Gefährte bin.« »Nein, ich zweifle nicht mehr daran, Mäjesto«, gab ich zu. Ein Rascheln ließ mich erneut aufblicken. Aber es war kein Räuber sondern Razamon, der sich durchs Gebüsch zwängte, eine prallgefüllte Tragtasche über der Schulter und einen ebenfalls prallgefüllten Lederschlauch in der Hand. »Endlich!« entfuhr es mir, »ich fürchtete schon, dir wäre etwas zugestoßen, Razamon.« Der Atlanter überflog die Szene mit einem Blick und lächelte ironisch. »Statt dessen scheint euch beinahe etwas zugestoßen zu sein, wie ich sehe«, meinte er. Dann fiel sein Blick auf die blutgetränkte Netzkleidung über meinen rechten Oberschenkel. »Du bist verwundet, Atlan!« sagte er erschrocken. »Leg dich hin! Ich muß mir deine Wunde ansehen! So kannst du nicht gehen.«
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* Razamon untersuchte meine Wunde und nickte anerkennend. »Die Blutung hat schon aufgehört, und von den Wundrändern aus wächst neues Gewebe hinein. So ein Zellaktivator ist wirklich eine nützliche Sache, Arkonide.« Er verband die Wunde mit einem Stoffstreifen, den Mäjesto aus der Kleidung des Räubers geschnitten hatte. Ich brauchte dank meines Zellaktivators keine Wundinfektion zu befürchten und wußte, daß mich die Verletzung nach etwa zwei Stunden nicht mehr behindern würde. Inzwischen war der Tag vorbei. Als die Sonne unterging, bewölkte sich der Himmel. Es wurde fast völlig dunkel. »Was ist mit dem Räuber, den ich nur niedergeschlagen hatte?« fragte ich. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte Razamon und tauchte in der Dunkelheit unter. Als er zurückkehrte, legte er einige Kurzspeere sowie Gürtel neben mich. In den Gürtelscheiden staken die Dolche der Räuber. »Ich denke, die Waffen können wir gut gebrauchen, wenn wir auf der Straße der Mächtigen marschieren, Atlan«, meinte er. »Was macht der Räuber?« erkundigte ich mich. »Nichts mehr«, gab der Atlanter finster zurück. Ich erschauderte vor der Gnadenlosigkeit in seiner Stimme. Manchmal vergaß ich doch, daß Razamon kein Mensch, sondern ein Atlanter beziehungsweise Pthorer war. Auch wenn er äußerlich einem Menschen der Erde glich, war er etwas völlig anderes, und auch seine Mentalität wies noch mehr als genug nichtmenschliche Züge auf. »Woher kommen die Räuber?« wandte ich mich an Mäjesto, der die ganze Zeit über regungslos an meiner linken Seite gehockt hatte. »Ich weiß es nicht«, gab der Kleine zurück. Aber ich bemerkte das kurze Zögern vor
seiner Antwort. Demnach wußte oder ahnte der Kleine doch etwas über die Herkunft dieser Humanoiden. Er schien jedoch sehr starke Hemmungen zu haben, darüber zu sprechen – und das, obwohl er mir ansonsten offenbar vertraute. Ich drang nicht länger in ihn, sondern richtete mich mit Razamons Hilfe vorsichtig auf. »Ich spüre nur noch ein dumpfes Gefühl im rechten Oberschenkel«, erklärte ich nach einigen Schritten. »Meiner Meinung nach sollten wir aufbrechen, damit wir am nächsten Morgen weit genug von Zbahn weg sind, um nicht zufällig von den Technos entdeckt zu werden.« »Das ist richtig, aber wir können ruhig noch ein paar Stunden warten«, erwiderte der Atlanter. »Es ist gefährlich hier«, warf Mäjesto ein. »Wieso?« fragte Razamon. »Geister«, antwortete der Kleine lakonisch. Razamons Hand schoß vor, packte Mäjestos Gewand und zerrte den Kleinen brutal zu sich heran. »Antworte gefälligst ausführlicher!« schnauzte er ihn an. »Laß das!« sagte ich scharf. »Mäjesto ist unser Freund – und auch du wirst ihn entsprechend behandeln!« Ich hatte Widerspruch oder gar Drohungen erwartet, aber zu meiner Verwunderung ließ Razamon den Kleinen los und sagte: »Entschuldige bitte, Mäjesto! Manchmal geht es mit mir durch, ohne daß ich es will. Kannst du uns nicht verraten, was es mit den bewußten Geistern auf sich haben soll?« Mäjesto schaute in die Richtung, in der sich das Ausstiegsloch in der Dunkelheit verbarg. »Ich erinnere mich an eine Geschichte, die über diesen Ort erzählt wird«, flüsterte er. »Zbahn und Zbohr sollen von Zwillingen gleichen Namens erbaut worden sein, berichtet die Legende. Sowohl Zbahn als auch Zbohr wollten die schönste Stadt errichten. Aber als die Städte fertig waren, hielt jeder die Stadt des Zwillingsbruders für die beste.
Die Strasse der Mächtigen Hier, an diesem Ort, sollen die beiden Brüder sich getroffen haben. Sie wollten miteinander kämpfen – und der Sieger sollte seine Stadt die schönste nennen dürfen. Der Kampf soll tatsächlich stattgefunden haben. Er endete unentschieden – und aus Verzweiflung darüber, daß jeder der Zwillingsbrüder schließlich die Stadt seines Konkurrenten als die schönere empfand, töteten sie sich an diesem Ort selbst. Seitdem sollen die Geister der beiden Zwillingsbrüder, deren Leichen übrigens nie gefunden wurden, in manchen Nächten hierher zurückkehren. Gemeinsam fangen sie jeden, der sich zu dieser Zeit hier befindet. Sie fragen ihn, welche Stadt die schönste ist. Nennt er Zbahn wird er von Zbohr umgebracht; nennt er Zbohr, bringt Zbahn ihn um.« Razamon hob einen Speer und schüttelte ihn. Herausfordernd rief er: »Beide Städte sind Mißgeburten! Wer sich daran stößt, soll gegen mich antreten! Dann wird sich zeigen, ob Geister fähig sind, einen ehemaligen Berserker zu besiegen!« Ich lachte leise, brach aber ab, als es schlagartig so finster wurde, daß ich weder Razamon noch Mäjesto sehen konnte. Auch als ich nach oben schaute, sah ich nicht den kleinsten Lichtschimmer. Außerdem waren die vielfältigen kleinen Geräusche der Nacht verstummt. Es war still und dunkel wie in einem Grab. »Razamon! Mäjesto!« flüsterte ich und streckte die Arme aus. Meine linke Hand bekam einen schlotternden Arm zu fassen: Mäjesto. Die rechte Hand stieß ins Leere. »Razamon!« rief ich lauter. Als der Atlanter wieder nicht antwortete, hob ich zwei Speere und zwei Gürtel auf. Danach führte ich den zitternden Kleinen in die Richtung, in der ich den Rand unseres Verstecks vermutete. Kurz darauf stießen wir auf Strauchwerk, zwängten uns hindurch und blieben im Freien stehen. »Die Geister haben Razamon getötet«,
11 flüsterte Mäjesto. Aus der Dunkelheit hinter uns drang ein gellender, absolut unmenschlicher Schrei, schwoll bis zum höchsten Diskant an und brach ab. Ein eisiger Windstoß streifte uns. »Bleib hier!« sagte ich zu Mäjesto und drückte ihm einen Gürtel und einen Speer in die Hand. Dann wandte ich mich um, entschlossen, es mit allen möglichen Geistern aufzunehmen, um Razamon beizustehen. Aber ich brauchte nicht mehr einzugreifen. So schlagartig, wie die Dunkelheit hereingebrochen war, wich sie wieder dem ungewissen Licht, das durch die Wolken schimmerte. Vor mir sah ich die Umrisse von Strauchwerk – und ich hörte, daß jemand durch Zweige und Äste brach. Sekunden später stand Razamon vor mir, mit verzerrtem Gesicht und unnatürlich geweiteten Augen, die den Eindruck erweckten, als könnte man durch sie in unendliche Abgründe schauen. »Razamon!« flüsterte ich, befürchtend, der Pthorer könnte seine Umgebung nicht erkennen. Razamon holte tief und geräuschvoll Luft. Sein Blick wandte sich wieder nach außen, und sein Gesicht zeigte ein erstes Anzeichen des Erkennens. »Er ist ein Dämon!« flüsterte Mäjesto. Razamon stieß ein bellendes Lachen aus, dann sagte er: »Unsinn, ich bin Razamon. Aber ich glaube, beinahe wäre es ausgewesen mit mir.« »Was ist da drinnen geschehen?« fragte ich. Razamon schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr, aber es wäre möglich, daß die Geister von Zbahn und Zbohr mich umbringen wollten. Da ich noch lebe, muß ich sie vertrieben haben. Aber es wird tatsächlich besser sein, wenn wir nicht länger hierbleiben, sondern mit unserer Wanderung auf der Straße der Mächtigen anfangen.« »Hier würde ich auch nicht länger bleiben«, erwiderte ich mit einem nachdenklichen Blick auf die düsteren Umrisse des
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Strauchwerks, hinter dem sich etwas Grauenhaftes abgespielt haben mußte.
* Es war ein seltsames Gefühl, auf einer Straße zu gehen, die vor langer Zeit angeblich von Odin beherrscht und kontrolliert worden sein soll. Ich zweifelte – nach all dem, was ich bisher auf dem Neuen Atlantis erlebt hatte – nicht länger daran, daß Odin oder Wodan Lebewesen aus Fleisch und Blut gewesen waren, die vor rund zehntausend Jahren von Pthor auf die Erde gingen, um in den chaotischen Verhältnissen nach der Sintflut als Götter zu herrschen beziehungsweise ihr Unwesen zu treiben. Ihre Herrschaft konnte jedoch nicht allzulange gewährt haben, denn als ich zum erstenmal aus meinem Tiefschlaf geweckt wurde und meine Unterseekuppel verließ, hatte ich auf der Erde keine Zeugen ihrer Herrschaft vorgefunden. Das stellte mich vor die Frage, was aus Odin und seinen Begleitern geworden war. Ihre Macht war sicher so groß gewesen, daß keiner der Überlebenden der Sintflut ihnen entgegentreten konnte. Es hatte auch keine Besuche von fremden Welten gegeben, denn das wäre von meinen Ortungssatelliten registriert und an mich weitergemeldet worden. Sollten die »Götter« von Pthor trotz all ihrer schrecklichen Machtmittel und des furchteinflößenden Rufes, der sie begleitete, von ehemaligen Eingeborenen der Erde umgebracht worden sein? Vielleicht von Menschen, die zu ihnen gekommen waren, mit dem Vorwand, ihnen zu opfern – und die sie dann mit schnellen Schwerthieben erledigt hatten? Eine Hand umspannte meinen linken Unterarm, und Razamons Stimme sagte: »Du träumst mit offenen Augen, Atlan! Das ist nicht gut auf der Straße der Mächtigen!« Ich merkte, daß ich tatsächlich geträumt hatte, während meine Füße sich gleich ei-
genständigen Lebewesen über den lockeren, von Felsbrocken durchsetzten Sand bewegt hatten. In der Dunkelheit ragten bizarre Umrisse von Trümmern, uralten Wracks und Abfallhaufen auf. Links rauschte der Nachtwind im Steppengras der riesigen Ebene Kalmlech; von rechts kam Plätschern und Raunen, die Geräusche des Meeres. Normalerweise wäre die Brandung des Atlantischen Ozeans geräuschvoller gewesen. Doch die Paratronschirme, die Pthor gegen die Erde abkapselten, hielten auch die Dünung und Strömungen des Ozeans von Pthor ab. Plötzlich blieb Mäjesto stehen. Razamon und ich hielten ebenfalls an, da wir annahmen, daß der Kleine etwas Verdächtiges bemerkt hatte. Nach wenigen Sekunden streckte Mäjesto seinen rechten Arm aus und wies auf ein großes stählernes Gerippe am rechten Straßenrand. »Dort befindet sich mindestens ein Uchzo«, flüsterte er. »Diese Tiere ernähren sich von Abfällen, greifen aber auch jedes Lebewesen an, das sich nachts auf diese Straße wagt.« »Was ist ein Uchzo?« erkundigte ich mich. »Es ist ein großes Raubtier, so lang wie zwei Männer, mit einem Rückenkamm, aus dem giftige Hornspitzen ragen, mit harten Schuppen auf dem Körper, langen Krallen an den Füßen und einem fürchterlichen Gebiß«, antwortete der Kleine. »Eine Echse?« meinte Razamon ungläubig. »Nicht, wenn der Uchzo nur nachts angreift«, erklärte ich. »Da Echsen Wechselwarme sind, ist ihre Bewegung von der Außentemperatur abhängig, so daß sie nachts zur relativen Bewegungslosigkeit verurteilt sind.« Der Atlanter wog seinen Speer in der Hand. »Ob Warmblüter oder Wechselwarmer wird sich herausstellen, wenn wir den Uchzo getötet haben«, erklärte er zuversichtlich. »Ich nehme an, Mäjesto hätte uns nicht
Die Strasse der Mächtigen nachts hierher begleitet, wenn er nicht sicher wäre, daß wir mit einem oder mehreren Uchzos fertig werden.« Mäjesto antwortete nicht, was auch eine Antwort war. Auch ich war zuversichtlich, denn schließlich besaßen wir die von den Räubern erbeuteten Waffen – und ich konnte mit primitiven Waffen genausogut umgehen wie mit Energiewaffen. Wir beobachteten die Umgebung aufmerksamer als zuvor, während wir uns den Überresten des Wracks näherten. Als ein scharrendes Geräusch ertönte, blieben wir stehen. Razamon und ich bewegten uns einige Schritte in entgegengesetzten Richtungen, dann standen wir wieder still. Nur wenige Sekunden später löste sich aus dem Schatten des Gerippes ein kleinerer, länglicher Schatten. Er bewegte sich auf vier kurzen Beinen langsam in unsere Richtung. Deutlich waren auf seinem Körper die Umrisse von acht großen, dreieckigspitzen Knochenplatten zu sehen. »Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Stegosaurier der Erde«, meinte Razamon. »Eine entfernte Ähnlichkeit«, erwiderte ich. Auch ich kannte – ebenfalls nicht aus eigener Anschauung – die urzeitlichen Echsenrassen der Erde. Stegosaurier waren allerdings höher gebaut als dieses Tier. Außerdem hatten sie sich überwiegend von Pflanzen ernährt, besaßen einen kleinen Kopf mit geradezu winzigem Gehirn und ein Gebiß wie eine Kuh. Ich hob meinen Speer, wartete aber noch ab. Ohne Not wollte ich das Tier nicht töten. Es war auf jeden Fall harmloser als die intelligenten Bewohner von Atlantis. Doch der Uchzo hatte sich offensichtlich in die Absicht verrannt, an uns seinen Hunger zu stillen. Er näherte sich uns relativ langsam bis auf eine Entfernung von etwa acht Metern, dann schnellte sein echsenähnlicher Körper herum und rannte mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes auf Mäjesto zu.
13 Der Kleine stieß einen Schrei aus schleuderte einen Speer, der allerdings wirkungslos von einer Rückenplatte abprallte, und flüchtete. Razamon und ich warteten, bis das Tier zwischen uns war. Wir warfen unsere Speere gleichzeitig – und beide Klingen bohrten sich in den weniger stark geschützten Hals des Raubtiers. Der Uchzo rannte noch etwa zwanzig Meter weiter – immer verfolgt von Razamon und mir –, bevor er seine Verletzungen spürte. Beinahe hätte er dabei Mäjesto erwischt. Dann blieb er ruckartig stehen und schüttelte den Kopf. Anschließend drehte er sich im Kreis und versuchte, einen der Speerschäfte mit dem tatsächlich furchterregenden Gebiß zu packen. Der Atlanter und ich handelten wiederum gleichzeitig und auf die gleiche Weise. Unsere Dolchklingen bohrten sich durch die Augen des Tieres. Sofort zogen wir sie wieder heraus und sprangen zurück, denn wir wußten nicht, wie der Uchzo reagieren würde. Das Tier hörte auf, sich zu bewegen. Es riß das Maul auf und stieß ein heiser klingendes Fauchen aus. Dann brach es zusammen. Es war zweifellos tot, aber seine Beine ruderten noch minutenlang durch den Sand. »Halb Echse, halb Warmblüter«, konstatierte Razamon. »Zwischen den Schuppen sprießen Haarbüschel hervor, und das Gebiß könnte einem Tiger von Elefantengröße gehören.« Ich nickte, widmete meine Aufmerksamkeit aber nicht länger dem toten Tier, sondern sah mich nach Mäjesto um. Der Kleine war verschwunden. »Ich fürchte, wir werden Mäjesto suchen müssen«, stellte ich fest. Razamon schaute sich um. »Mäjesto!« rief er mit seiner kräftigen Stimme. »Komm her, du Feigling! Der Uchzo ist tot!« Aber der Kleine antwortete nicht. Wahrscheinlich litt er unter dem Schock der Erkenntnis, daß er es tatsächlich gewagt hatte,
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den Uchzo mit einem Speer anzugreifen – eine Handlungsweise, die er sich früher wohl nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Ich setzte mich auf einen Felsbrocken und meinte: »Wir werden warten, bis er sich wieder gefangen hat, Razamon. Er kommt bestimmt wieder.« Der Atlanter lachte. »Klar, weil er einen abgestürzten Zugor ausräubern will. Warten wir also!«
3. DIE HALLE DER GEISTER Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde vergeblich auf den Kleinen gewartet hatten, wurde ich unruhig. Ich stand auf und sagte: »Hier gibt es bestimmt noch mehr räuberische Tiere, Razamon. Hoffentlich ist Mäjesto nicht angefallen worden. Ich werde mich mal etwas umsehen.« Der Atlanter nickte. »Ich bleibe hier«, erwiderte er. »Falls Mäjesto auftauchen sollte, und du noch nicht zurück bist, pfeife ich.« Ich wandte mich in die Richtung, in die meiner Meinung nach Mäjesto verschwunden war. Dort ragte ein anderes Wrack auf. In der Dunkelheit sah es aus wie ein auf dem Boden hockendes Untier. Für mich hatte es jedoch nichts Furchterregendes an sich. Ich wünschte mir nur, ich hätte eine Lampe bei mir. Es war nicht zum erstenmal, daß ich ohne die übliche technische Ausrüstung in einen Einsatz ging, aber hier entbehrte ich sie besonders stark. Ich kam mir zeitweise vor, als wären Razamon und ich zwei Höhlenwilde, die auf den höchsten erreichbaren Berg gestiegen wären, um von dort aus mit einem Sprung in den Weltraum zu gelangen, wo sie gegen eine Raumflotte kämpfen wollten. Und ich hielt dieses Beispiel nicht einmal für abwegig. Immerhin waren wir nackt am Ufer einer Insel geschwommen, die keine gewöhnliche Insel, sondern ein Fahrstuhl
durch die Dimensionen war. Dennoch hatten wir nicht für einen Augenblick in unserem Entschluß geschwankt, dieses Gebilde, das bereits unzählige Zivilisationen zerstört hatte und die derzeitige menschliche Zivilisation auf der Erde bedrohte, unschädlich zu machen. Aber im Unterschied zu den beiden hypothetischen Höhlenwilden war es nicht Unwissen, was uns so handeln ließ. Es war auch weder Vermessenheit noch fehlende Einsicht. Es war eine Mischung aus Verzweiflung, Neugier und Trotz, aus dem Wissen geboren, daß uns gar nichts anderes übrigblieb, als den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Bei dem Wrack angekommen, stellte ich fest, daß es sich nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, um ein ehemaliges Fahrzeug handelte, sondern um die Ruine eines burgähnlichen Bauwerks. Allerdings wirkte die Ruine in meinen Augen wie eine ehemalige Spielzeugburg, denn sie konnte auch in intaktem Zustand nicht höher als fünf Meter gewesen sein, während die Grundfläche etwa vier mal sieben Meter betrug. Deutlich waren die abgebröckelten Mauerzinnen und fünf Reste von Türmen zu erkennen, von denen vier an den Ecken des Bauwerks gestanden hatten, während einer in der Mitte aufragte. Es sah nicht so aus, als ob jemand in den Resten der Spielzeugburg hauste, aber vielleicht hatte sich Mäjesto hier verkrochen. »Mäjesto!« rief ich. »Wenn du hier bist, dann komm heraus! Wir wollen weiter!« Doch der Kleine antwortete nicht. Langsam ging ich um die Ruine herum. Doch ich vermochte keinen Eingang zu sehen, auch keine Öffnung, durch die der Kleine eventuell gekrochen sein könnte. Ich stieg über die Steinhalde einer zusammengesunkenen Mauer hinauf, bis ich das Oberteil der Ruine überblicken konnte. Da der Mond inzwischen durch die Wolken schien, hätte ich den Dieb sehen müssen, wenn er sich hier oben befunden hätte. Aber auch hier war er nicht.
Die Strasse der Mächtigen Ich duckte mich unwillkürlich, als ich einen Luftzug dicht über meinen Kopf wahrnahm. Als ich nach oben schaute, entdeckte ich ein Flattertier mit einer Flügelspannweite von zirka einem Meter: eine übergroße Fledermaus beziehungsweise eine Art Flughund. Das Tier kehrte zurück und flatterte noch einmal lautlos über mich hinweg, dann strich es weiter. Ich schaute ihm eine Weile nach und sah plötzlich, daß sich zu dem einen Tier immer mehr gesellten. Zuerst waren sie nur schemenhaft zu sehen, doch dann flatterten sie höher und höher – und bewegten sich von meinem Standpunkt aus unmittelbar vor der bleichen Scheibe des Mondes. Bald waren es mindestens hundert dieser lautlosen Flattertiere. Immer höher stiegen sie, als wollten sie hinauf zum Mond, angelockt von einer unbekannten und vielleicht undefinierbaren Komponente seines Lichtes. Nachdenklich schaute ich zum Mond hinauf, dessen Kraterlandschaft deutlich zu sehen war. Ich vermochte nicht das kleinste Kennzeichen dafür zu sehen, daß der Mond vom Menschen erobert war, daß in seinem Innern nicht nur Raumschiffe aller Größen von vollrobotischen Fabriken am Fließband hergestellt wurden, sondern daß sich dort auch NATHAN befand, das inpotronische Riesengehirn, das die umfassendste Informationssammlung aller Zeiten enthielt und das direkt oder indirekt viele lebenswichtige technische Funktionen auf dem Planeten Erde steuerte. Obwohl also der Vollmond zum hilfreichen Bruder der Menschheit geworden war, schien es dort oben noch Geheimnisse zu geben, von denen die Menschheit nichts ahnte. Es konnte einfach nicht von ungefähr kommen, daß Technos in Lunas hellem Schein ihr Innenleben enthüllten, und daß die großen Flattertiere Pthors sich auf rätselhafte Weise von seinem Licht angezogen fühlten, so daß sie den vergeblichen Versuch unternahmen, zu ihm hinaufzufliegen. Inzwischen waren die Tiere noch so gestiegen, daß sie für meine Augen nur noch
15 ein kleiner dunkler Fleck vor der Mondscheibe waren, der mehr und mehr schrumpfte. Ich fragte mich, ob die starken Teleskope der Mondobservatorien in dieser Zeit auf die Erde gerichtet waren, um das Neue Atlantis zu beobachten – und ob sie inzwischen vielleicht schon mehr erkannt hatten, als Razamon und ich bisher wußten. Schulterzuckend wandte ich mich ab. Solche Überlegungen waren fruchtlos. Razamon und ich würden für absehbare Zeit auf uns allein gestellt bleiben – und wir mußten notgedrungen in winzigen Schritten vorgehen. Als mein Blick an der Straße der Mächtigen entlang in Richtung Zbohr ging, stutzte ich. Irgendwo dort hinten blitzte es im Dunkeln bläulich auf. Es war nur ein winziger Lichtpunkt, den ich sah, und infolge fehlender Anhaltspunkte ließ sich nicht bestimmen, wie groß die Lichtquelle in Wirklichkeit war und welche Entfernung mich von ihr trennte. Aber irgendwie fühlte ich mich von diesem blinkenden Licht angezogen – und möglicherweise war es Mäjesto so ergangen wie mir. In dem Falle mochte er sich in diese Richtung gewandt haben, getrieben von der Neugier, von der er eine gehörige Portion besaß. Ich beschloß, mich ebenfalls in diese Richtung zu wenden.
* Es waren noch keine fünfhundert Meter, die ich zurückgelegt hatte, als vor mir etwas Dunkles auftauchte. Ich blieb stehen. Das Dunkle ließ die vagen Konturen eines Turmes erkennen, eines Turmes von quadratischem Grundriß. Aber die Konturen waren nicht glatt, sondern wiesen zahllose Vorsprünge auf, die an die Köpfe von Phantasieungeheuern erinnerten. Und in zirka zwei Metern Höhe befand
16 sich die Lichtquelle, die in kurzen Intervallen aufblinkte. Sie war auch aus der Nähe nicht größer als eine menschliche Faust, besaß aber eine starke Leuchtkraft. Unwillkürlich schaute ich zurück, bevor ich weiterging. Selbstverständlich hatte ich Razamon Bescheid gesagt, bevor ich in Richtung der Lichtquelle aufgebrochen war. Es war mir längst in Fleisch und Blut übergegangen, bei gefahrvollen Unternehmungen meine Gefährten über meine Schritte zu unterrichten. Als ich nur noch drei Schritte vom Fuß des klotzigen Bauwerks entfernt war, sah ich, daß das Licht von einem halbkugelförmigen Leuchtkörper ausgestrahlt wurde, der sich auf einer mit reliefartigen Symbolen bedeckten Metallplatte befand. Immer, wenn das Licht aufblitzte, konnte ich die unheimlichen Fratzen der Monsterköpfe genau erkennen. Mir schien, als schauten sie genau auf mich – und ich vermochte ein Frösteln nicht zu unterdrücken. Aber ich schüttelte dieses Gefühl ab. Mein Extrasinn schien anderer Ansicht zu sein, denn er strahlte einen starken Warnimpuls aus. Ich war ein wenig verärgert darüber, denn ich wußte ja ohnehin, daß ich ständig mit bedrohlichen Überraschungen rechnen mußte. Dementsprechend vorsichtig bewegte ich mich. Etwas stimmt nicht! teilte mir mein Extrasinn mit. Das Bauwerk ruft einen Eindruck von Unwirklichkeit hervor. Ich lachte grimmig. Alles hier erscheint unwirklich! gab ich zurück. Dennoch ist es Realität – es sei denn, Atlantis-Pthor wäre nur ein Traumgebilde von mir und ich läge in Wirklichkeit in meinem Bett und schliefen. Dieser Gedanke ist gefährlich, denn er schläfert die Wachsamkeit ein! gab mein Logiksektor zu bedenken. Ich ignorierte daraufhin die Mitteilungen meines Extrasinns, da sie mich von meiner eigentlichen Aufgabe ablenkten. Aufmerksam musterte ich die Symbole auf der Me-
H. G. Ewers tallplatte. Ich konnte sie immer nur dann erkennen, wenn das blaue Licht aufblitzte; deshalb dauerte es einige Zeit, bis ich begriff, worum es sich bei den Symbolen handelte. Sie stellten Zahlzeichen dar! Die einzelnen Zahlzeichen erinnerten mich mehr oder weniger an jene, die ich bei meinem Auftritt während der Blütezeit des Römischen Reiches kennengelernt hatte. Sie waren nur nicht von der nüchternen Sachlichkeit, die die römischen Zahlzeichen ausgezeichnet hatte sondern wirklich verspielt durch Schnörkel, Zusätze und gewisse Andeutungen bildhafter Darstellungen. Dennoch fiel es mir nicht schwer sie alle zu deuten – und die Bedeutung der pthorischen Zahlzeichen ging aus der Anordnung in neun quadratischen Zellen hervor, die wiederum ein Quadrat bildeten. Und abermals erschauderte ich, als mir klar wurde, daß das Ganze ein magisches Quadrat darstellte, das ich aus einer alten chinesischen Handschrift kannte! Irgendwie mußte dieses magische Quadrat nach der Sintflut vor rund zehntausend Jahren überliefert worden sein, bis es schließlich in genau der ursprünglichen Bedeutung schriftlich festgehalten worden war. Ein weiterer Beweis, daß Pthor-Atlantis bei der damaligen Katastrophe seine Hände im Spiel gehabt hatte! Ich unterdrückte diese Gedanken, da sie mich ablenkten, und konzentrierte mich auf das magische Quadrat. Es enthielt die Ziffern eins bis neun, die in drei Reihen zu je drei Zahlquadraten angeordnet waren – und zwar so, daß man, ob man die Zahlen von links nach rechts von oben nach unten oder diagonal addierte, stets die Summe fünfzehn herausbekam. Zählte man alle Zahlen zusammen, erhielt man die Zahl fünfundvierzig, was wiederum der Summe jeder einzelnen Reihe entsprach. Wenn dieses magische Quadrat eine Bedeutung besaß, die über die bloße Darstellung eines mathematischen Phänomens hinausging, dann mußten auch die Felder, die
Die Strasse der Mächtigen den Rand der Stahlplatte bildeten und die unterschiedliche Mengen von erhabenen Punkten enthielten, bedeutsam sein. Eine praktische Bedeutung? Ich fand das Feld, das fünfzehn Punkte enthielt und beschloß, die Probe aufs Exempel zu wagen. Dreimal hintereinander berührte ich mit dem Zeigefinger alle fünfzehn Punkte – denn drei mal fünfzehn war die magische Zahl, die das Quadrat darstellte. Als ich den letzten Punkt zum drittenmal berührt hatte, erlosch das blaue Licht. Im nächsten Augenblick schwang die Stahlplatte zur Seite – und ich blickte in eine von düsterrotem Licht erhellte Kammer, in der eine Wendeltreppe zu sehen war. Ob Mäjesto diesen Zugang entdeckt hatte und diesen Weg gegangen war? Dieser Pthorer ist zu einfältig, um das magische Quadrat zu verstehen und praktisch anzuwenden, du Narr! teilte mir der Logiksektor meines Extrasinns mit. Ich mußte gegen meinen Willen grinsen. Mäjesto mochte einfältig im Sinne eines wissenschaftlich Ungebildeten sein, aber er besaß eine ausreichende Portion Bauernschläue, um auch etwas, das er nicht mathematisch begriff, zu seinem Vorteil zu nutzen – und wenn er nur herumprobierte. Schließlich hatte die solare Menschheit auch vieles nur deshalb ge- und erfunden, weil sie immer wieder an allem herumprobierte! Ich gab mir einen Ruck und trat durch die Öffnung.
* Da der Weg über die Wendeltreppe nach oben schon sehr bald endete, wandte ich mich nach unten. Ich befand mich ungefähr fünfzehn Meter unter der Oberfläche, als die Treppe in einer Kammer endete, die der oberen glich. Die untere Kammer besaß allerdings nur drei Wände. An der vierten Seite öffnete sie sich in einen großen Saal, dessen Boden aus einer roten, nebelartigen Substanz zu bestehen
17 schien und an dessen Wänden in kurzen Abständen Statuen aufgestellt waren. Geh nicht weiter! kam ein Impuls meines Extrasinns durch. Er war so stark, daß ich den bereits angehobenen rechten Fuß wieder auf den Boden setzte. Warum nicht? wollte ich wissen, denn ich sah nichts Bedrohliches. Die Gefahr ist unnennbar, aber sie ist vorhanden! teilte mir mein Extrasinn mit. Ich wollte diese Warnung nicht leichtfertig ignorieren, deshalb rief ich: »Mäjesto, bist du hier?« Ein klagender Ruf antwortete mir. Er mochte von dem Kleinen stammen oder auch nicht, aber ich durfte die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Mäjesto irgendwo vor mir war und sich in Gefahr befand. Ich stieß mit dem Speer, den ich der Echse wieder aus dem Körper gezogen hatte, durch den roten Nebel über dem Boden. Als die Spitze gegen etwas Festes prallte, trat ich langsam in den Nebel. Meine Füße fanden genau dort Halt, wo ich den Boden vermutete. Als ich mich nach drei Schritten umwandte, hatte sich die offene Wand der Kammer nicht geschlossen, deshalb ging ich weiter. Plötzlich hörte ich einen Ton. Er klang wie der Laut einer Katze, die einen so großen Haarklumpen verschluckt hatte, daß sie ihn nicht wieder herauswürgen konnte. Es war nur ein Ton, aber obwohl mir diese Tatsache bewußt war, fühlte ich schlagartig lähmendes Entsetzen. Ich kämpfte mit aller Willenskraft gegen das Entsetzen und konnte schließlich die Lähmung abschütteln. Aber in den wenigen Augenblicken, in denen ich mich nicht zu rühren vermochte, hatte sich die Umgebung auf gespenstische Weise verändert. Der Saal – beziehungsweise die Halle – hatte sich ringförmig gekrümmt. Doch das wurde mir erst klar, als ich auf dem Boden, der sich gleich einem Transportband bewegte, fast eine ganze Runde »gefahren« war. Die wichtigste Veränderung war aber mit den Statuen vor sich gegangen. Jedesmal,
18 wenn ich mich einer von ihnen näherte, erwachte sie zu gespenstischem Leben. Dann streckten die monströsen Dinger schuppenbesetzte Arme mit krallenbewehrten Fingern oder Klauen nach mir aus, glühende Augen rollten in dunklen Höhlungen und fremdartige Stimmen raunten, wisperten, hauchten, murmelten und flüsterten unverständliche Botschaften, bei denen es mir kalt über den Rücken lief. Immer schneller raste der unsichtbare Boden mit mir im Kreis, bis mir schwindlig wurde. Furcht und Zorn stritten sich in mir – und der Zorn siegte. »Zum Teufel!« schrie ich den geisterhaften Gestalten zu. »Ich bin Atlan – und ich lasse mich nicht durch diesen faulen Zauber erschrecken!« Mit Wucht schleuderte ich den Speer auf die nächste Gestalt, die nach mir griff. Etwas klirrte laut dann hörte meine Bewegung auf. Statt dessen drehten sie die Wände der Halle um mich – und es schien, als zerbröckelten sie nach und nach. Plötzlich stand ich wieder in einer vom Mondlicht mit silbrigem Schein übergossenen Landschaft. Die Konturen der Umgebung verrieten mir, daß ich mich noch immer am Rand der Straße der Mächtigen befand. Und vor mir ragte die dunkle, metallisch blinkende Gestalt eines bewegungslosen Roboters auf, der aus Drähten geflochten zu sein schien. Mein Speer stak etwa zwanzig Zentimeter tief in dem kastenförmigen Schädel des Roboters und hatte das offenbar gläserne Material, das von Drähten durchwoben war, größtenteils zersplittern lassen. In einer der Greifklauen, die an drei langen Armen befestigt waren, hing die reglose Gestalt Mäjestos. Eine zweite Klaue war in meine Richtung ausgestreckt und hatte sich geöffnet. Da der Roboter nicht mehr aktionsfähig zu sein schien, eilte ich zu dem Kleinen. Ich atmete auf, als seine Augen sich öffneten und mich ansahen. In ihnen flackerte noch Furcht und Entsetzen, aber ein Schimmer
H. G. Ewers der Erleichterung brach bereits durch. Es war nicht einmal schwierig, die Klaue des Roboters auseinanderzubiegen, so daß Mäjesto freikam. Ich wollte ihn auf den Boden legen, doch er schüttelte seine Erstarrung plötzlich ab und strebte von dem Roboter fort. »Du brauchst dich vor dem Ding nicht mehr zu fürchten, Mäjesto«, sagte ich, während ich mir zusammenreimte, was sich wirklich abgespielt hatte. »Wahrscheinlich bist du ebenfalls von einem blauen Blinklicht angelockt worden, nicht wahr?« Der Kleine warf einen Blick auf den Roboter und entdeckte dabei meinen Speer. Seine Gestalt straffte sich, und ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Du hast das Ungeheuer getötet«, stellte er fest. »Ja, ich ging einem blauen Leuchten nach, fand einen Turm und kam über eine Treppe in eine Halle.« Er erschauderte. »Eine Halle voller Geister und Dämonen. Wohin sind sie gegangen?« »Ich denke, sie existieren nur in unserer Einbildung und wurden uns von dem Roboter suggeriert, nachdem er uns mit seinem blauen Blinklicht in Hypnose versetzt hatte«, erklärte ich – mehr an mich selbst als an Mäjesto gerichtet, denn der Kleine konnte kaum wissen, was ich mit »Roboter«, »suggerieren« und »Hypnose« meinte. Mäjesto schaute mich denn auch verständnislos an. »Wir wurden von dem Licht angelockt und in einen Zustand versetzt, in dem wir etwas träumten, es aber für Wirklichkeit hielten«, erläuterte ich. Aber warum hatte der Roboter uns angelockt, anstatt zu uns zu kommen? fragte ich mich. Ein weiterer Blick auf ihn verriet mir, warum. Der Roboter besaß weder Beine noch Gleisketten oder sonstige Fortbewegungsmittel, sondern wuchs direkt aus dem lockeren Sand. Vielleicht hatte er früher eine Wächterfunktion erfüllt – oder er war einfach nur das Werk eines technisch hochbegabten, aber verwirrten Geistes.
Die Strasse der Mächtigen Ich packte den Schaft meines Speeres und zog ruckartig. Mit einem hellen Klirren glitt die Klinge aus dem gläsernen Roboterschädel, ein Gespinst bunter Drähte hinter sich herziehend. Da die Klinge sich in den Drähten verfangen hatte, zog ich nochmals. Diesmal rissen die Drähte und gaben die Speerklinge frei. Im nächsten Moment überzog sich die Oberfläche des Roboters mit einem dichtmaschigen Netz von Sprüngen. Knisternd löste sich die Maschine in winzige Fragmente, auf die sich in den Sand bohrten, und spurlos darin verschwanden. Innerhalb von höchstens dreißig Sekunden verriet nichts mehr, daß es diesen Roboter überhaupt gegeben hatte. »Das ist das Werk eines mächtigen Zauberers«, erwiderte ich. Aber ich war mir klar darüber, daß auch meine Definition weit an der Wahrheit vorbeigehen mochte. Doch das interessierte mich zur Zeit nicht. Was mich noch interessierte, war, ob ich Razamon tatsächlich gesagt hatte, wohin ich ging – oder ob mir das auch nur einsuggeriert geworden war. Ich hatte ihm nichts gesagt, wie sich herausstellte, als wir den Atlanter erreichten.
4. DER HÖLLENHUND Luna blieb uns auch weiterhin treu und goß ihr weiches Licht über uns und unsere Umgebung, so daß wir besser vorankamen als während der ersten Stunde unserer Wanderung. Manchmal kamen wir an übelriechenden Abfallhaufen vorbei und hörten das Huschen und Wühlen kleiner Tiere. Am Rand dieser Abfallhaufen waren auch die einzigen Pflanzen zu sehen, die es auf der Straße der Mächtigen gab: breitblättrige niedrige Gewächse mit silberweißen Stacheln und zahllosen kleinen blauen Blüten in der Mitte der Blattrosetten. Hin und wieder sahen wir uns eines der Wracks am Straßenrand aus der Nähe an. Meist handelte es sich um halb vom Sand
19 verwehte Überreste von Zugors oder ähnlichen Fluggleitern. Manchmal fanden wir aber auch die Wracks von Fahrzeugen, die wir nirgends einordnen konnten. In einigen entdeckten wir riesige spinnenähnliche Tiere, die sich aber nicht zum Angriff provozieren ließen, sondern sich bei unserer Annäherung in den dunkelsten Winkel zurückzogen. Wahrscheinlich waren es ausgesprochene Tagtiere. Als wir einen Straßenabschnitt erreichten, der sich auffallend von dem bisher erkundeten Teil unterschied blieben wir stehen. Vor uns erstreckte sich ein breiter Streifen, der zirka einen halben Meter tiefer lag als die übrige Straße. Außerdem befanden sich hier an den Straßenrändern weder Wracks noch Trümmer oder Abfallhaufen. »Ist die Straße hier zu Ende?« fragte Razamon überrascht. »Nein«, antwortete Mäjesto. »Es ist eine der Schneisen, die entstanden, wenn die Horden der Nacht über die Straße der Mächtigen auf eine fremde Welt hinausgetrieben wurden.« Als hätte er damit ein Stichwort gegeben, erscholl von Westen her ein grauenerregendes Konzert heller, dumpfer und röhrender Schreie, dazu lautes Brüllen und ein höhnisch klingendes Kichern. »Die Horden der Nacht!« flüsterte Razamon mit einer Stimme, die mir das Blut in den Adern zu erstarren lassen schien. In den dunklen Augen des Atlanters funkelten zwei irre Lichter, als er den Kopf wandte und landeinwärts schaute. Das Gesicht veränderte sich auf schreckliche Art und Weise. Zitternd zog sich die Oberlippe nach oben und gab die beiden oberen Schneide und Reißzähne frei. Ein dumpfes, vor Wildheit bebendes Grollen drang aus der Kehle. Ich legte die Hand auf den linken Unterarm Razamons, um den Freund zu beruhigen. Er schüttelte ihn mit solcher Heftigkeit ab, daß ich in den Sand geschleudert wurde. Im nächsten Augenblick stürmte der Atlanter mit der Schnelligkeit eines rasenden Stie-
20 res in Richtung Westen davon. Ich rappelte mich auf und rief hinter ihm her. Vergebens. Undeutlich war zu sehen, wie an der Grenze meines Sichtbereichs ein schlanker, raubkatzenähnlicher Körper auf Razamon zuschnellte. Beide Lebewesen prallten zusammen, aber während der Körper des Raubtiers seltsam verdreht durch die Luft flog und nach dem Aufprall reglos liegen blieb, stürmte der Atlanter unbeirrt weiter und wurde kurz darauf von der Finsternis verschluckt. »Razamon ist immer noch ein Berserker, Atlan«, sagte Mäjesto mit zittriger Stimme. »Meist schläft der Berserker in ihm«, gab ich zurück. »Aber die Stimmen der Horden der Nacht haben den Berserker geweckt.« Wahrscheinlich ist der Instinkt, die Horden der Nacht in den Kampf zu treiben und sie zu beherrschen, immer noch in ihm vorhanden! überlegte ich. Razamon stellte eine Gefahr dar! meldete sich der Logiksektor meines Extrasinns. Er sollte für immer unschädlich gemacht werden! Ich schüttelte grimmig den Kopf. Mein Logiksektor kannte eben nur die Logik und deren pragmatische Umsetzung. Ethische Werte waren für ihn immer nur vorhanden, sofern sie in seiner Logik eine nützliche Rolle spielten. Es war also Unsinn, wenn ich mich darüber aufregte, daß mein Logiksektor die Beseitigung eines Wesens vorschlug, das er als gefährlichen Faktor einstufte. Ich dachte nicht im Traum daran, ein Wesen kaltblütig zu beseitigen, das ich achtete und als meinen Freund betrachtete – und das von den gleichen ethischen Werten ausging, wenn es nicht gerade von dem Bösen in ihm überwältigt wurde. Du wirst es noch bereuen! meinte mein Logiksektor, dem natürlich meine Gedanken nicht verborgen geblieben waren. Das nehme ich in Kauf! gab ich zurück. »Mit wem sprichst du, Atlan?« fragte Mäjesto.
H. G. Ewers Der Kleine starrte mich voller ehrfürchtiger Angst an, und ich lächelte ihm beruhigend zu. »Mit mir selbst, Mäjesto«, antwortete ich. »Das ist eine alte Angewohnheit von mir.« Ich schaute in die Richtung, in die Razamon verschwunden war und aus der noch immer in unterschiedlichen Abständen das Brüllen der Horden der Nacht erscholl. »Wir dürfen uns nicht zu weit entfernen, damit Razamon uns bei seiner Rückkehr findet«, sagte ich. Nachdenklich musterte ich die über die Straße der Mächtigen führende Schneise. Hunderttausende unbeschreiblicher Bestien hatten hier bei Ausfällen gegen die Zivilisationen anderer Welten den Boden einen halben Meter tief zusammengepreßt und dabei zur Härte von Beton zusammengestampft. Hier wuchs nicht ein einziger Grashalm. Und wie mochte es erst dort aussehen, wo die Horden der Nacht gehaust hatten, nachdem die Zivilisation unter dem Anprall Pthors zusammengebrochen war? Unzählige Tragödien mußten sich auf den heimgesuchten Planeten abgespielt haben. Und doch hatte Razamon mir berichtet, daß jede Zerstörung einer Zivilisation durch die Invasion Pthors schon den Keim für das Heranwachsen der nächsten Zivilisation gelegt hätte. Welcher Sinn lag hinter dem allen? Und vor allem: Wer hatte Pthor dazu bestimmt, durch die Jahrhunderttausende als Weltenzerstörer zu wirken, gleich einem Steppenfeuer Tod und Chaos über andere Welten zu bringen, dabei aber die Saat, die neue Zivilisationen hervorbrachte, zu verschonen?
* Mäjesto und ich waren am Rand der Schneise entlang gegangen, bis wir vor uns die weite Fläche des Atlantischen Ozeans sahen. Ich blickte sehnsüchtig über die im Mondlicht schimmernde und funkelnde See. Ab
Die Strasse der Mächtigen und zu schossen fliegende Fische aus dem Wasser, segelten ein Stück weit durch die Luft und tauchten wieder in ihr Element. Ein einzelner Delphin tauchte ganz in der Nähe des Ufers auf. Plötzlich stieg er unter heftigem Schlagen der Schwanzflosse zu zwei Dritteln aus dem Wasser, wedelte mit den Brustflossen und hielt sich fast eine Minute lang so, wobei er in unsere Richtung zu sehen schien. Danach ließ er sich zurückfallen, stieß einige klägliche Schreie aus und schwamm langsam nach draußen. Ich verlor den Meeressäuger nach einiger Zeit aus dem Blick, deshalb vermochte ich nicht festzustellen, wie weit er sich vom Ufer entfernte. Aber in dieser Zeit keimte in mir die Idee, irgendwann zu versuchen, schwimmend von Pthor fortzukommen. Vielleicht wurden Razamon und ich dabei von robotischen Untersee-Einheiten entdeckt, die meiner Meinung nach in großer Zahl außerhalb der Paratronschirme lauern mußten – und vielleicht veranlaßten sie, daß für uns eine Strukturlücke geschaltet wurde, so daß wir nach draußen kamen. Aber noch wußte ich nicht, ob das überhaupt einen Sinn hätte. Noch wußten wir längst nicht genug über Pthor und die Herren des Dimensionsfahrstuhls, um entscheidende Maßnahmen dagegen einleiten zu können. Aber wenn es uns möglich wäre, mit einer Gruppe Mutanten nach Pthor zurückzukehren, ließen sich wahrscheinlich bessere Erkundungsergebnisse erzielen. Doch diese Gedanken ließen sich so lange nicht ernsthaft erörtern, wie der Atlanter verschwunden blieb. Ich konnte nur hoffen, daß er überhaupt zurückkam und nicht etwa in seine frühere Mentalität zurücksank und sich den Horden der Nacht anschloß. Bei dieser Überlegung fiel mir auf, daß es geisterhaft still geworden war. Das Brüllen der Monster war verstummt. Dafür war Wind aufgekommen. Er strich aus dem Innern von Pthor über die Straße der Mächtigen, fing sich an den Wracks und anderen Dingen, die die Straße säumten, wirbelte kleine Staubwolken auf und erzeugte ein an
21 und abschwellendes klagendes Heulen. Als es dunkler wurde, blickte ich nach oben. Der Nachthimmel hatte sich mit streifigen Wolkengebilden überzogen, die auch den Mond teilweise verdeckten. Taumelnd senkte sich ein Schwarm riesiger dunkler Flattertiere herab. Ob es dieselben waren, die ich einige Zeit zuvor beobachtet hatte? »Wir sollten weitergehen!« drängte Mäjesto. »Hier ist es unheimlich.« Ich schüttelte nur den Kopf, ohne zu überlegen, ob der Kleine die Geste überhaupt verstand. Plötzlich horchten wir beide auf. Aus dem Landesinnern erscholl ein lauteres Heulen als das des Windes. Kam etwa Sturm auf? Doch nein! Ich erkannte das Heulen. Bei meinen Abenteuern während der Zeit meiner zehntausendjährigen Verbannung hatte ich es oft gehört. Es war das Heulen von Wölfen, die sich zur gemeinsamen Jagd sammelten. Oder doch nicht? Etwas stimmte an diesem Heulen nicht. Es kam permanent aus ein und derselben Richtung und wurde dabei lauter. Das waren keine Wölfe, die sich sammeln wollten. Es konnten aber auch keine bereits zum Rudel versammelten Wölfe sein, denn die hätten keinen Grund mehr zum Heulen gehabt. Ich packte unwillkürlich meinen Speer fester, denn ich ahnte, daß sich uns eine Gefahr näherte. Als aus der Richtung des Heulens eine Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte, holte ich zum Wurf aus. Doch dann erkannte ich die humanoide Körperform, das lockere netzartige Gewand und den Speer in der rechten Hand. »Razamon!« Der Atlanter wandte den Kopf in unsere Richtung, dann eilte er zu uns. Er sah schlimm aus. Der ganze Körper war mit schweißdurchtränktem Staub bedeckt. Quer über das Gesicht zog sich eine blutverkrustete Schramme. Razamon keuchte schwer, taumelte die letzten Schritte und stützte sich danach auf
22 seinen Speerschaft. Es dauerte einige Zeit, bis sein Atem etwas ruhiger ging und er sprechen konnte. »Ein Kther!« stieß er hervor. »Er hat mich verfolgt!« Abermals erscholl das Heulen, diesmal ganz in unserer Nähe, und plötzlich ging es in ein dreistimmiges Kläffen über. Ich wandte mich zu Mäjesto um und sagte: »Halte dich immer hinter uns, wenn es zum Kampf kommt. Dieser Kther ist wahrscheinlich ein Ungeheuer aus den Horden der Nacht.« Razamon nickte. »Er sieht so ähnlich aus wie ein terranischer Hund, ist aber so groß wie ein Stier und hat drei Köpfe. In den Horden der Nacht gibt es viele Kthers. Sie dienen dazu, die Spuren von geflüchteten Eingeborenen aufzunehmen und sie in die Enge zu treiben.« »Ein dreiköpfiger Hund!« entfuhr es mir. »In der Mythologie der alten Griechen gibt es so etwas: Zerberus den Höllenhund, der den Eingang der Unterwelt bewacht.« Razamon lächelte verzerrt. »Richtig, der grimmige Hund des Hades. Die Erinnerung an ihn muß sich über viele Generationen erhalten haben, bis sie irgendwann in die griechische Mythologie eingefügt wurde. Aber ein Kther ist kein Hund, obwohl er so aussieht. Er ist ein blutdürstiges Ungeheuer.« Aus der Dunkelheit kam ein drohendes dreifaches Knurren. Razamon und ich stellten uns nebeneinander so auf, daß wir in diese Richtung schauten. Wir hielten unsere Speere stoßbereit. Mäjesto war klug genug, nicht fortzulaufen, sondern sich wenige Meter hinter uns zu halten. Sekunden später schälten sich vor uns die Konturen eines riesigen hundeähnlichen Untiers aus der Dunkelheit. Die Bestie war tatsächlich so groß wie ein Torro, ein spanischer Kampfstier, aber er hatte die Körperform eines Hundes. Die drei Köpfe glichen denen von Deutschen Doggen, waren aber so groß wie Kalbsköpfe – und als sie ihre
H. G. Ewers Mäuler öffneten und die Fänge entblößten, glaubte ich in drei Tigerrachen zu schauen. Abermals drang gefährliches Knurren aus drei Kehlen. Die sechs Augen des Kthers flammten gelblich auf, dann überwand das Ungeheuer die Entfernung zu uns mir drei weiten Sätzen. Razamon und ich stießen mit unseren Speeren gleichzeitig zu. Aber diese Taktik, die bei angreifenden Wölfen erfolgreich gewesen wäre, weil diese Räuber beim Angriff auf einen Menschen hochspringen, schlug bei dem Höllenhund fehl denn er duckte sich beim Angriff. Drei Mäuler schnappten zu – und wir vermochten uns nur durch jähes Zurückschnellen zu retten. Ich packte dabei Mäjesto und schleuderte ihn weit von mir. Danach wandte ich mich wieder dem Kther zu. Das Ungeheuer griff zum zweitenmal an …
* Diesmal änderten Razamon und ich unsere Taktik. Während der Atlanter versuchte, in die rechte Flanke des Kthers zu gelangen, packte ich den Schaft meines Speeres mit beiden Händen und führte einen schräg nach unten gerichteten Sichelschlag. Der Kther reagierte zu schnell, sonst hätte ich ihm einen Kopf abtrennen müssen. So schlitzte ich ihm nur ein Ohr auf. Zwar fuhr die Speerklinge auch über das kurze Nackenfell, aber sie vermochte es nicht einmal zu ritzen. Unter der Behaarung schien die Haut so fest wie die eines Nashorns zu sein. Razamon hatte ebenfalls kein Glück. Das lag daran, daß die Köpfe des Kthers auf relativ langen beweglichen Hälsen saßen. Einer dieser Köpfe schnellte zu dem Atlanter herum und packte mit seinem Gebiß den Speerschaft. Anschließend riß das Untier den Kopf so hart zurück, daß Razamon den Speer loslassen mußte, um nicht in den Aktionsbereich des mittleren Kopfes gezogen zu werden.
Die Strasse der Mächtigen Mir gab das immerhin Zeit genug, zu einem Stoß gegen die äußere Halsseite des linken Kopfes auszuholen. Aber bevor ich den Stoß ausführen konnte, peitschte der lange und überaus kräftige Schwanz des Untiers gegen meine Unterschenkel und brachte mich zu Fall. Ich riß den Dolch aus der Scheide, als der Kther sich mit dreifachem Knurren auf mich stürzte. Da ich gegen drei zahnbewehrte Mäuler keine Chance hatte, rollte ich mich vorwärts. Dadurch entging ich den zuschnappenden Gebissen, aber als ich mich hochrecken und den Dolch in die Unterseite des Untiers stoßen wollte, wirbelte es mit rasender Geschwindigkeit herum. Diesmal hätte es mich erwischt, wenn nicht Mäjesto gewesen wäre. Der Kleine stand seitlich zu dem Kther und war von dem Ungeheuer bisher nicht beachtet worden. Mit einem gellenden Schrei rannte er auf den Kther los und rammte ihm seinen Speer in die linke Flanke. Das Tier heulte auf, fuhr abermals herum – und biß zu. Ich hörte Mäjestos Schmerzensschrei und wußte, daß der Kleine verloren war, wenn ich den Kther nicht sofort von ihm ablenkte. Deshalb schnellte ich mich hoch, sprang auf den Rücken der Bestie, krallte mich mit der linken Hand in dem zähen Fell fest und stieß wieder und wieder mit dem Dolch zu. Ich traf auch, aber die Dolchklinge drang höchstens zehn Zentimeter ein. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Razamon meinen Speer, der mir entfallen war, aufhob und mit dem Schaft wütend auf den Schädel einhieb, zwischen dessen Zähnen der leblose Körper Mäjestos hing. Im nächsten Moment führte der Kther einen so wilden Tanz auf, daß ich meine ganze Kraft darauf verwenden mußte, mich an seinem Fell festzukrallen, um nicht abgeworfen zu werden. Ich hörte und sah kaum noch etwas, so wurde ich gebeutelt. Meine Dolchstöße schienen den Kther doch entnervt zu haben. Jedenfalls hätte er mehr als einmal Gelegen-
23 heit gehabt, mich mit den Fängen eines Schädels zu packen. Aber er tat es nicht, sondern sprang schlimmer als ein wilder Mustang herum, der eingeritten werden soll. Irgendwann erlahmte die Kraft in meinen Fingern. Ich war beinahe froh, als ich abgeworfen wurde und in hohem Bogen durch die Luft flog. Nur der Gedanke daran, daß das Untier mich zerfleischen würde, sobald ich gelandet war, bereitete mir keine Freude. Plötzlich klatschte es laut. Ich hatte noch nicht begriffen, daß dieses Klatschen von mir verursacht worden war, als mir salziges Wasser in Mund, Nase und Augen drang. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft und schluckte einige Liter Seewasser. Dann begriff ich, was vorgefallen war. Der Kther hatte mich ins Meer geworfen! Im nächsten Augenblick befand sich mein Kopf wieder über Wasser. Ich hustete, würgte und spuckte und vermochte endlich wieder Luft zu holen. Ungefähr fünf Meter vor mir sah ich die riesige Gestalt des Höllenhunds am Ufer stehen. Die gelblich leuchtenden Augen starrten mich an, aber das Untier traf keine Anstalten, mir ins Wasser zu folgen. Ich schwamm auf dem Rücken vom Ufer fort, um die Entfernung zwischen mir und dem Kther zu vergrößern, bevor er es sich anders überlegte und mir nachsprang. In zirka zwanzig Metern Entfernung hielt ich an. Das Untier reckte alle drei Köpfe empor und stimmte ein schauriges Heulen an dann wandte es sich ab und trabte landeinwärts. Meine beiden Gefährten fielen mir wieder ein. Zumindest Mäjesto mußte schwer verletzt sein. Wenn der Kther sie suchte und fand, tötete er sie vielleicht beide. Ich schwamm so schnell wie möglich zum Ufer zurück. Speer und Dolch hatte ich verloren; deshalb bewaffnete ich mich mit ein paar faustgroßen Steinen, die am Strand lagen. Meine Beine fühlten sich schwer wie Blei an, dennoch eilte ich unverzüglich hinter dem Untier her. Doch ich konnte es nicht mehr sehen. »Atlan!«
24 Das war Razamons Stimme – und sie kam von links. Ich fuhr herum und sah den Atlanter rund zwanzig Meter von mir entfernt in der Nähe des Ufers stehen. Er trug Mäjesto über den Schultern. Ich setzte mich in Richtung auf die Gefährten zu in Bewegung. Da erscholl lautes Kläffen. Aus der Dunkelheit tauchte abermals die schreckliche Gestalt des Kthers auf. Sie hetzte auf meine Gefährten zu. Mir blieb keine andere Wahl, als das Untier auf mich zu lenken, da Razamon durch Mäjesto schwer behindert war. Ich warf zwei Steine – und traf den Kther am mittleren Kopf. Aufheulend fuhr das Untier herum und starrte in meine Richtung. »Ins Meer!« rief ich Razamon zu. Als der Atlanter sich in Bewegung setzte, überwand der Kther seine Verwirrung. Obwohl der mittlere Kopf – anscheinend bewußtlos – herabhing, sprang die Bestie auf mich zu. Ich warf noch einen Stein, dann wandte ich mich ebenfalls zur Flucht in Richtung Meer. Als ich lautes Hecheln hinter mir hörte, hielt ich mich für verloren. Aber plötzlich schwand die Dunkelheit. Mit blutrotem Leuchten kündigte sich die aufgehende Sonne an. Ich warf mich zur Seite, rollte herum und bereitete mich auf meinen letzten Kampf vor. Doch der Höllenhund beachtete mich nicht mehr. Wie zu einem Denkmal erstarrt, stand er drei Meter von mir entfernt auf dem hartgetrampelten Sand, die Augen nach Osten gerichtet. Nach einiger Zeit legte er die beiden äußeren Köpfe in den Nacken und stimmte ein kurzes Heulen an. Dann wandte er sich um und lief mit eingeklemmtem Schwanz nach Westen. Aufatmend erhob ich mich. Aber die Freude darüber, daß ich dem Tode gerade noch entkommen war, wich schnell der Sorge um die Gefährten. Als ich mit ihnen zusammentraf, hatte
H. G. Ewers Razamon den Kleinen auf den Boden gelegt. Er besaß ebenfalls keine Waffe mehr; deshalb riß er die Kleidung Mäjestos dort, wo sie blutgetränkt war, mit den Händen auseinander. Ich sah, daß die rechte Schulter Mäjestos von den Zähnen des Kthers förmlich zerfleischt war. Mit den Hilfsmitteln der modernen terranischen Medizin wäre die Verletzung nicht lebensgefährlich gewesen, aber so sah es böse aus. Razamon und ich verbanden die Wunden Mäjestos mit Stoffstreifen, die wir von seinem Gewand abrissen. Der Kleine war bei Bewußtsein und sah uns aus großen Augen zu. Unwillkürlich griff ich an die Stelle meiner Brust, wo früher mein Zellaktivator gehangen hatte. Wenn ich ihm dem Kleinen auf die Brust hätte legen können – und sei es nur für eine Stunde –, wären seine Heilungsaussichten gut gewesen. Vor allem hätten wir keine Wundinfektion zu fürchten brauchen. Aber der Aktivator war bei Annäherung an Pthor auf rätselhafte Weise durch Haut und Fleisch und Knochen in meinen Brustraum gewandert. »Bald geht es dir wieder besser, Mäjesto«, sagte ich wider besseres Wissen.
5. DAS GRAB AM MEER Ich hatte aus einem Trümmerhaufen neben der Straße mehrere Metallplastikstangen und Plastikhautfetzen geborgen. Daraus war von Razamon und mir eine Trage zusammengebastelt worden, auf die wir Mäjesto betteten. Leider war unsere Suche nach den Waffen vergeblich gewesen. Obwohl wir ungefähr zu wissen glaubten, wo sie uns abhanden gekommen waren, hatten wir sie nicht wiedergefunden. So zogen wir denn waffenlos weiter, die Trage mit Mäjesto zwischen uns. Nachdem wir die breite Schneise überschritten hatten, bewegten wir uns wieder über lockeren Sand.
Die Strasse der Mächtigen Der Kleine bereitete mir Sorgen. Er war kurz nach dem Aufbruch in einen unruhigen Schlaf gefallen und fieberte. Razamon und ich konnten nicht viel dagegen tun. Wir durften keinesfalls nach Zbahn zurückkehren und die Technos um Hilfe bitten. Sie hätten sich bestimmt nicht um Mäjesto gekümmert, und der Atlanter und ich wären nur abermals zum Streitobjekt von Eisenkaiser und Aminomeister geworden. Nach zwei Stunden bog die Straße der Mächtigen nach Osten ab und führte direkt ins Meer hinein. Allerdings sahen wir, daß sie rund einen Kilometer weiter wieder aus dem Meer herauskam und wieder in die alte Richtung verlief. »Ich schlage vor, wir legen eine Pause ein«, sagte ich. »Einverstanden«, erwiderte Razamon. Wir setzten die Trage ab. In diesem Augenblick schlug der Kleine die Augen auf und sah mich flehend an. »Der Zugor!« flüsterte er mit spröden Lippen. »Habt ihr den abgestürzten Zugor schon gefunden?« »Du hast vielleicht Sorgen!« grollte Razamon. »Wir haben ihn noch nicht gefunden, Mäjesto«, antwortete ich. »Wie fühlst du dich?« »Mir ist heiß«, sagte der Kleine. Unser Wasserschlauch hatte den Kampf mit dem Höllenhund gut überstanden. Ich flößte Mäjesto etwas Wasser ein und erntete dafür einen tadelnden Blick Razamons. Der Atlanter hatte natürlich recht. Wir würden unseren knappen Wasservorrat noch bitter nötig haben, wenn wir nach Zbohr wandern wollten. Aber ich konnte nicht untätig zusehen, wie der Kleine fieberte und nach Wasser lechzte. Razamon und ich aßen getrocknete Brotfladen und etwas Dörrfisch. Mäjesto hatte keinen Appetit und verweigerte die Nahrungsaufnahme. Bald darauf sank er wieder in einen Schlaf, der kaum noch von einer Bewußtlosigkeit zu unterscheiden war. Nach der Mahlzeit riß ich ein weiteres Stück Stoff von Mäjestos Gewand ab. Ich
25 tauchte es ins relativ kühle Meerwasser und legte es auf Mäjestos Stirn. »Es ist sinnlos«, meinte Razamon. »Ohne ärztliche Hilfe wird er sterben. Er ist ja auch nur ein kleiner Dieb.« »Ich würde ihm auch dann beistehen, wenn er unser Todfeind wäre«, entgegnete ich scharf. »Das ist er aber nicht. Er hat uns beide vor dem Ungeheuer gerettet, das in den Unterschlupf Ichtbars eindrang. Mich hat er außerdem zweimal gerettet, einmal beim Überfall der Banditen und dann vor dem Kther. Aber das ist nicht einmal entscheidend für mich. Entscheidend ist, daß ein Mensch in Not ist.« »Ein Mensch?« fragte der Atlanter ironisch. »Selbstverständlich kein Erdmensch«, gab ich zurück. »Dennoch dürfte es nicht falsch sein, ihn als Menschen anzusehen. Sein Verhalten ist sogar menschlicher als deines.« Ich prüfte das Tuch auf Mäjestos Stirn. Es war heiß und fast trocken. Ich tauchte es wieder ins Wasser. Insgesamt fünfmal erneuerte ich die Kompresse, danach brachen wir auf. Während wir dicht am Ufer des Meeres entlanggingen, entdeckte ich wiederum einen einsamen Delphin. Er schwamm langsam neben uns her hielt dabei immer einen Abstand von etwa zwanzig Metern und beobachtete uns. Vielleicht erhoffte er sich von uns Hilfe. Schließlich war er genau wie wir ein Gefangener von Atlantis, abgeschnitten von seinen Freunden und von der Weite des Atlantischen Ozeans. Wir legten alle zwanzig Minuten eine Pause ein, damit ich das Tuch naßmachen konnte. Glücklicherweise zogen nach ungefähr einer Stunde Wolken auf, so daß die Luft abkühlte und Mäjestos Kompresse nicht so schnell austrocknete. Nach einiger Zeit sank das Fieber Mäjestos. Als der Kleine die Augen aufschlug, blickte er sogar einigermaßen klar in die Gegend. »Wo sind wir jetzt?« fragte er und wollte sich aufrichten.
26
H. G. Ewers
»Bleib liegen!« sagte ich. Razamon und ich setzten die Trage ab, und ich beschrieb Mäjesto den Teil der Umgebung, den er im Liegen nicht sehen konnte. Als ich geendet hatte, meinte er: »Wir müssen ganz in der Nähe des abgestürzten Zugors sein, Atlan. Das Steinpodest, das rund fünfhundert Meter vor uns zu sehen ist, wurde mir beschrieben. Genau hundertfünfzig Meter danach im rechten Winkel nach links abbiegen, dann dreihundertzehn Meter in die Ebene hinein. Dort soll sich eine Senke befinden, in der der Überrest eines uralten Bauwerks steht – und direkt neben dem Überrest müßte der abgestürzte Zugor liegen.« Mäjestos Augen funkelten vor Erregung, als er den Zugor erwähnte. Er mußte sich viel von dem Inhalt des Wracks erhoffen, wenn ihm die Aussicht darauf, bald dort zu sein, solchen Auftrieb gab. Razamon und ich nahmen wieder die Trage auf. Bald hatten wir das Steinpodest erreicht. Es war von quadratischem Grundriß mit etwa zwanzig Metern Seitenlänge und stand unmittelbar am Straßenrand. Von dem Podest an versuchten Razamon und ich, mit Halbmeterschritten die angegebenen hundertfünfzig Meter möglichst genau abzuschreiten. Mäjestos Augen blieben offen. Der Kleine schien sich zusehends zu erholen. Endlich hatten wir die Stelle erreicht, an der wir nach Mäjestos Angaben im rechten Winkel abbiegen sollten. Ich war wirklich sehr gespannt darauf, welche Schätze das Wrack des Zugors barg.
* Auf halbem Wege zu der Senke ahnte ich bereits, daß Mäjesto sich zu früh gefreut hatte. Im hüfthohen gelben Steppengras der Ebene Kalmlech war nämlich eine Spur zu sehen, die schräg von links kam und dort, wo wir auf sie stießen, in Richtung der Senke abbog.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Razamon, sagte aber dem Kleinen noch nichts von der Spur, die offensichtlich von humanoiden Zweibeinern ins Gras getreten worden war. Falls meine Befürchtung mich trog, hätte ich ihm grundlos einen Schock versetzt; falls sie sich als berechtigt erwies, würde die Enttäuschung noch früh genug kommen. Wenige Minuten später sichtete ich die Senke. Sie war beinahe kreisrund, ungefähr acht Meter tief und durchmaß etwa dreißig Meter. Auf ihrem Boden wuchs das Gras spärlicher als oben. Aus einer großen sandigen Kahlfläche ragte eine kurze Steinsäule, an der das Bruchstück einer schwarzen Tafel hing, auf der Symbole eingemeißelt waren. Und neben diesem Artefakt lag ein Zugor auf der Seite. Bug und rechte Seite waren eingedrückt und teilweise aufgerissen. Das Oberteil des Instrumentensockels war abgeknickt. Überall im Innern lag Sand. Von einer Ladung aber war nichts zu sehen. »Amici, diem perdidi!« entfuhr es mir, und ich sah, daß Razamon mir einen vielsagenden Blick zuwarf. Konnte es sein, daß wir uns flüchtig begegnet waren, als ich zur Zeit des Römischen Reiches meine Tiefseekuppel verlassen hatte? »Was sagtest du, Atlan?« fragte Mäjesto und versuchte, sich hochzustemmen. »Freunde, ich habe einen Tag vertan!« übersetzte ich. »Es handelt sich um ein Zitat, das Titus zugeschrieben wird – und Titus war ein Römer.« »Die spinnen, die Römer!« meinte der Kleine. Razamon und ich mußten lachen. »Warum lacht ihr?« wollte Mäjesto wissen. Unser Lachen verstummte. »Eigentlich gibt es nichts zu lachen für uns«, erklärte ich. »Der Zugor liegt zwar dort unten, aber er ist leer. Wir haben nur über deine Bemerkung über die Römer gelacht.« Der Kleine wurde blaß.
Die Strasse der Mächtigen »Der Zugor ist leer?« fragte er. »Reg dich nicht auf, Mäjesto«, sagte ich. »Keine Schätze der Welt sind es wert, daß man ihnen nachtrauert – außer, wenn es sich um ideelle Schätze handelt.« Mäjesto, der sich bereits halb aufgerichtet hatte, sank kraftlos zurück und schloß resignierend die Augen. »Wir wollen wenigstens die Umgebung absuchen«, sagte ich zu dem Atlanter. »Vielleicht haben die Räuber etwas vergessen oder auf ihrem Rückweg verloren.« Razamon zuckte die Schultern, hob aber die Trage ebenfalls auf und ging mit mir hinab zur Senke. Dort stellten wir die Trage ab und umkreisten die Absturzstelle des Zugors in immer größeren Kreisen. Doch außer den Spuren der abgezogenen Räuber fanden wir nichts. Als wir zum Wrack zurückkehrten, war Mäjesto verschwunden!
* Wir riefen, aber der Kleine meldete sich nicht. »Ich hätte ihm die Kraft, sich von der Trage zu erheben und fortzugehen, nicht zugetraut«, meinte Razamon. »Er hat seine letzten Energien zusammengerafft, um selber nach den Schätzen zu suchen, die ihm soviel bedeuten«, erwiderte ich. »Das ist gefährlich, denn da seine Suche erfolglos verlaufen muß, wird er am Ende zusammenbrechen und seinen Lebenswillen verlieren. Wir müssen ihn bald finden.« Abermals umkreisten wir den Zugor in immer größeren Kreisen. Da das Gras und der Sand in seiner Umgebung aber sowohl durch die Räuber als auch durch Razamon und mich zertrampelt worden waren, ließ sich keine Spur Mäjestos erkennen. Schließlich brachten uns drei große geierartige Vögel mit Echsenköpfen auf seine Spur. Die Vögel waren plötzlich da. Sie kreisten in zirka fünfhundert Metern Höhe über einem Punkt der Ebene, der sich ungefähr achthundert Meter westlich der Senke
27 befand. Ich machte Razamon auf die Vögel aufmerksam. Da ihr Verhalten dem terranischen Geier glich, schlossen wir daraus, daß sie ein Opfer erspäht hatten, aber noch abwarteten, weil es sich bewegte. Das konnte natürlich nur Mäjesto sein. Wir eilten an die bewußte Stelle – und entdeckten dort tatsächlich den Kleinen. Aber Mäjesto war nicht allein. Er lag bewußtlos zwischen zwei toten Technos, deren schwere Verletzungen zweifellos beim Aufprall ihres Fluggleiters entstanden waren. Das waren also die beiden Piloten des Zugors. Ich beugte mich über den Kleinen und stellte fest, daß er noch atmete. Da er auf dem Bauch lag, drehte ich ihn herum, setzte mich so, daß der Schatten meines Oberkörpers auf meine Oberschenkel fiel, und bettete Mäjestos Kopf darauf. Dabei öffnete sich die rechte Hand des Kleinen halb. Ich sah ein Glitzern und griff zu. Sekunden später hielt ich einen taubeneigroßen, grasgrünen, facettenartig geschliffenen Smaragd in der Hand. Erst durch die Berührung merkte ich, daß der Stein in eine vollkommen durchsichtige, etwa drei Millimeter starke und glasharte »Haut« gehüllt war. Als meine Fingerspitzen darüber glitten, spürte ich an einer Stelle der »Haut« zwei winzige, dicht nebeneinander liegende Löcher auf. Mäjesto öffnete die Augen, sah den Smaragd in meiner Hand und sagte: »Das Tbayirah – es fehlt!« Ich erriet, daß er mit »Tbayirah« eine Kette meinte, die offenbar mittels eines Ringes, der durch die beiden Löcher gezogen wurde, an dem Stein befestigt war. »Der Schmuck wird auch ohne Kette wertvoll genug sein«, erwiderte ich. »Du bist also nicht vergebens hierher gekommen, Mäjesto.« »Der Kreeh – kein Schmuck«, widersprach der Kleine mühsam. »Ein magischer Stein. Aber der Zauber funktioniert nur, wenn Kreeh und Tbayirah verbunden sind.«
28 »Ein magischer Stein?« Ich sah den Smaragd plötzlich mit anderen Augen an. Deutlich erinnerte ich mich infolge meines photographischen Gedächtnisses daran, daß wir – das heißt, Perry Rhodan, unsere gemeinsamen Freunde und ich – während unseres Kampfes gegen die verbrecherischen Meister der Insel mit grünschimmernden Kristallen von großer Härte zu tun gehabt hatten, die zuerst auf dem Planeten Greenish7 gefunden wurden. Später waren sie auf vielen Planeten der Milchstraße und Andromedas entdeckt worden. Da sie auf keinem der Fundplaneten natürlich entstanden waren, wie unsere Untersuchungen bewiesen, hatten wir angenommen, daß sie vor langer Zeit von Unbekannten verstreut worden waren – und zwar wahrscheinlich überall im Kosmos. Diese Kristalle waren Illusionskristalle genannt worden – nach ihrer Eigenschaft, den Betrachter in eine Art hypnosuggestiven Bann zu ziehen und ihm Illusionen vorzugaukeln, in deren unwirklicher Welt er Pseudohandlungen ausführt, während er sich innerhalb der realen Welt bewegt. Der Inhalt der jeweiligen Illusionen wurde stets aus dem Unterbewußtsein des Betroffenen entnommen – und das Opfer blieb so lange in der Illusion gefangen, bis entweder Dritte eingriffen oder bis es sich der Illusion bewußt wurde. Ich selbst hatte einen solchen Illusionskristall in der Hand gehalten war aber infolge meiner Mentalstabilisierung seinem psionischen Einfluß nicht erlegen. Aber bis auf den glasklaren Überzug hatte er diesem magischen Stein auf Pthor verblüffend ähnlich gesehen. Gab es da etwa Zusammenhänge? Waren die Illusionskristalle ehemalige magische Steine, die von Pthor zurückgelassen worden waren, wenn es seine Aufgabe auf der betreffenden Welt erfüllt hatte? Aber der Kreeh sollte nur zusammen mit dem Tbayirah funktionieren; während ein Illusionskristall ohne jegliches Zubehör funktionierte.
H. G. Ewers Oder funktionierte ein Illusionskristall wie ein Kreeh, wenn er mit einem Tbayirah verbunden wurde? Und würde ein Kreeh ohne Tbayirah wie ein Illusionskristall funktionieren? »Was vermag der magische Stein, Mäjesto?« erkundigte ich mich erregt. »Nichts«, flüsterte der Kleine. »Ich habe nichts erreicht.« Erschrocken bemerkte ich, daß sein Blick sich trübte, während er immer mehr erschlaffte. Sekunden später war Mäjesto tot. Aus einem Grunde, der mir bis heute nicht klar geworden ist, trugen Razamon und ich den Toten bis zum Ufer des Atlantischen Ozeans. Dort legten wir ihn mit der Trage in den Sand und häuften so viele Steinbrocken um und über ihn, bis wir sicher waren, daß der Leichnam vor Raubtieren geschützt war. Den magischen Stein aber legte ich ihm auf die Brust. Ich wollte nichts mehr davon wissen, denn Mäjesto war auch seinetwegen gestorben und es interessierte mich plötzlich nicht mehr, welche Beziehungen zwischen dem magischen Stein und den Illusionskristallen bestehen mochten. Nachdem Razamon und ich eine Weile schweigend neben dem Grab am Meer gestanden hatten, setzten wir unsere Wanderung auf der Straße der Mächtigen fort.
6. UNSICHTBARE KERKERMAUERN Gegen abend erreichten wir eine Anhöhe, die nach Westen flach auslief, nach Osten aber senkrecht zum Meer hin abfiel. Die Straße der Mächtigen führte nur zehn Meter vom Rand der Steilküste entfernt über die Anhöhe. Wir verließen die Straße und traten dicht an die Steilküste, um aufs Meer zu schauen. Aber wir sahen nicht viel. Wie bei unserer Ankunft auf Pthor war das Eiland von einer düsteren Nebelbank umgeben, die sich in durchschnittlich hundert Metern Entfernung
Die Strasse der Mächtigen von der Küste offenbar um das ganze Gebilde zog. Was dahinter lag, ließ sich nicht einmal ahnen. »Seltsam, daß sich immer noch nichts getan hat«, bemerkte ich. »Was sollte sich denn deiner Meinung nach tun?« fragte Razamon ohne eine Spur von Ironie. Ich zuckte die Schultern. »Wenn schon die Verantwortlichen der Erde abwarten und sich vor Handlungen hüten, die unberechenbare Reaktionen auslösen könnten, dann sollten doch die Herren von Atlantis etwas gegen die Schutzschirme unternehmen, die ihnen den Zugang zur Erde versperren und sie dadurch an der Durchführung ihrer Pläne hindern. Da Pthor schon unzählige Zivilisationen zerstört und unzählige Male den Widerstand der betreffenden Zivilisationsträger gebrochen hat, müßte für die Herren von Atlantis das alles Routine sein.« Razamons Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Wenn ich mich nur erinnern könnte!« stieß er hervor. »Ich bin keine Hilfe für dich, Atlan. Ebensogut hättest du einen beliebigen Terraner mitnehmen können.« Ich lächelte. »Du vergißt, daß nicht ich dich mitgenommen habe, sondern daß du mich mitgenommen hast, Razamon. Und bin ich dir etwa eine Hilfe gewesen?« Diesmal zuckte Razamon die Schultern, aber er erwiderte nichts auf meine Frage, weil es nichts zu erwidern gab. Wer hätte schon sagen können, wie alles gekommen wäre, wenn Razamon oder ich allein nach Pthor gegangen wäre! Ich wandte mich um und überschaute die Straße der Mächtigen nach beiden Seiten, soweit meine Augen reichten. »Wer hat diese Straße zerstört?« fragte ich mich laut. »Und warum wurde sie zerstört? Razamon, wir finden überall nur Rätsel, aber keine Antworten. Vieles, was wir hier sehen, erscheint mir sinnlos. Dennoch denke ich, daß alles auf Pthor seinen tiefen
29 Sinn hat, denn dieser Moloch, der zahllose Zivilisationen fraß, muß sinnvoll funktionieren, sonst könnte er überhaupt nicht funktionieren.« Razamon bewegte sich ein Stück durch den Sand und trat gegen das Teil eines riesigen Skeletts, das halb aus dem Sand ragte. »Hier werden wir die Antworten auf unsere Fragen nicht finden«, meinte er. »Hier finden wir nur tote Zeugen einer toten Vergangenheit wie dieses gewaltige Gerippe, von dem wir nicht einmal wissen, ob es einem Tier oder einem intelligenten Wesen gehörte.« »Es wird das Skelett eines Ungeheuers aus den Horden der Nacht sein«, erwiderte ich. »Oder das Skelett eines Lebewesens, das von drinnen oder draußen kam und vom Wächter über diesen Abschnitt der Straße der Mächtigen im Kampf getötet wurde«, sagte der Atlanter. »Von Odin«, ergänzte ich in einer Aufwallung von Sarkasmus. »Dem einäugigen Gott der indogermanischen Sagenwelt. Ich wollte, ich stünde ihm gegenüber: Er mit seinen Waffen – und ich mit meiner modernen USO-Kampfausrüstung! Dann würde sich herausstellen, ob Odin in der Lage wäre, seinen angemaßten Titel zu verteidigen!« Razamon lachte leise. »Vielleicht bekommst du Gelegenheit, gegen einen von Odins Söhnen anzutreten: gegen Balduur, Honir, Heimdall oder Sigurd, die nach Mäjestos Aussagen über die anderen Abschnitte der Straße der Mächtigen herrschen sollen.« Ich zeigte meine leeren Hände vor. »So, Razamon?« »Wir werden uns sicher bald gute Waffen beschaffen«, meinte der Atlanter. Ich seufzte. »Alle diese Namen – Odin, Balduur, Honir, Heimdall und Sigurd – kommen mir wie die Namen von Spukgeistern vor. Wußtest du, daß die Menschen in der Vorstellungswelt der Nordländer ›Söhne Heimdalls‹ genannt wurden? Wußtest du, daß, wenn
30 Heimdall in sein Gjallarhorn bläst, dies der Anfang von Ragnarök sein soll, die damit endet, daß die Sonne verlischt, die Erde verbrennt und ins Meer sinkt?« »Aber danach soll die Erde ewig grünend erneuert aus dem Wasser steigen – und in dieser neuen Welt sollen Glück und Frieden herrschen«, erwiderte Razamon. Ich lachte ironisch. »Kann von einem so mörderischen Ding wie Pthor ein anderer Friede kommen als der eines Totenhauses?« fragte ich. »Viele irdische Mythologien stammen von Pthor«, entgegnete Razamon ernst. »Zumindest haben sie in der Begegnung zwischen Pthor und den Menschen der Erde ihren Ursprung gehabt. Und irgendwie haben alle diese Mythologien die Menschheit auf ihrem neuen Aufstieg begleitet und vielleicht befruchtend mitgewirkt.« Ich setzte mich auf einen riesigen Beckenknochen, der im Sand lag und schaute nach Westen, wo die Sonne unterging. »Welche neuen Mythologien würden wohl auf der Erde entstehen, wenn es Pthor abermals gelänge, eine Katastrophe heraufzubeschwören?« fragte ich nachdenklich. »Wie würden sie sich auf die Weltanschauung späterer Generationen auswirken? Würde nicht die Vernunft in das Dunkel von Mythen und Magie herabgezerrt werden? Würde denn daraus einmal etwas entstehen, das man Zivilisation nennen könnte? Ich fürchte eher, der Aberglaube würde die Menschen späterer Zeitalter so verdummen, daß sie nie über das Stadium primitiver Völker hinauskämen.« »Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht«, meinte der Atlanter sinnend. »Aber das kann nicht der Zweck von Pthor sein, denn die Macht dieses Dimensionsfahrstuhls ist sicher stark genug, um nicht nur die Zivilisationen der Zielwelten zu zerstören, sondern alles Leben darauf zu vernichten. Dennoch beschränkt sich Pthor auf die Zerstörung der Zivilisationen.« »Ich wollte, es würde sich auf die Erhaltung seiner Existenz beschränken«, sagte ich
H. G. Ewers bitter.
* Wir rasteten drei Stunden, dann brachen wir im Schein des Mondes wieder auf. Schätzungsweise hatten wir erst zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt. Da dieser Abschnitt aber fünfundfünfzig Kilometer lang sein sollte, lag der größte Teil des Weges nach Zbohr noch vor uns. Etwa gegen Mitternacht stießen wir auf die zerbrochenen Teile einer Rüstung, die einem Riesen gehört haben mußte. Die Teile lagen weit verstreut im Sand, als hätte der Träger der Rüstung sie auf einer Flucht nach und nach weggeworfen. Dann mußten sie allerdings erst nachträglich zertrümmert worden sein. Nachdenklich blieb ich vor einem Brustharnisch stehen, der zu drei Vierteln erhalten war und dessen Oberfläche im Mondlicht silbrig schimmerte. In diesem Harnisch hätten die Oberkörper dreier durchschnittlicher Terraner Platz gefunden. Noch stärker als die Größe aber faszinierte mich die glänzende Oberfläche des Harnischs. Sie wirkte fabrikneu, so, als wäre sie erst gestern weggeworfen und zertrümmert worden. Das Material war nicht korrodiert und noch nicht einmal stumpf geworden, obwohl die Niederschläge von Jahrhunderten oder vielleicht sogar von Jahrtausenden auf jedem mir bekannten Material ihre Spuren hinterlassen hätten. Zumindest hätten sich die festen Substanzen des Regenwassers als Belag niederschlagen müssen. Ganz abgesehen von dem Salz, das die Meeresluft enthält und das sich an festen Gegenständen kristallisieren müßte, wenn sie so dicht am Meer lagen wie diese Rüstungsteile. »Was mag das für Material sein?« sagte ich und trat gegen den Harnisch. »Wahrscheinlich Metallplastik mit einer abstoßenden Komponente«, meinte Razamon. Er lächelte. »Das gibt es doch auch in
Die Strasse der Mächtigen der terranischen Zivilisation.« Ich runzelte verärgert die Stirn. »Aber der abstoßende Effekt hält nur eine begrenzte Zeit vor und erlischt, wenn nicht in gewissen Abständen neue Aufladungen erfolgen. Willst du mir weismachen, jemand hätte die zertrümmerten Teile dieser Rüstung immer wieder aufgeladen?« »Du reagierst leicht gereizt, Atlan«, stellte Razamon fest. »Ich wollte doch nur klarstellen, daß eine Partikelabstoßung prinzipiell möglich ist. Was spricht eigentlich dagegen, daß es den Erbauern dieser Rüstung möglich war, die abstoßende Komponente in die Atome der Rüstung ›einzubauen‹, so daß sie wirkt, solange die Rüstung existiert?« Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn. »Entschuldige bitte!« sagte ich müde. »Ich bin gereizt, das stimmt, aber ich sollte meine Stimmung nicht an dir auslassen. Weißt du was? Ich werde morgen hinausschwimmen und versuchen, durch die Barriere zu kommen.« »Das ist Irrsinn!« entgegnete der Atlanter heftig. »Erstens einmal kommt niemand durch einen Paratronschirm hindurch, wenn keine Strukturlücke geschaltet ist – und zweitens würdest du in den Hyperraum abgestoßen, sobald du den Schirm berührst.« Ich schüttelte den Kopf. »Dagegen ist vorgesorgt, Razamon. Perry Rhodan hat veranlaßt, daß alle Paratronschirme gleich nach unserem Durchgang durch die Strukturlücke eine Prallfeldkomponente zugeschaltet bekommen. Sie bewirkt, daß nichts und niemand unmittelbar mit den Paratronschirmen in Berührung kommen kann, sondern vorher zurückgehalten wird. Das war unbedingt erforderlich, um Neugierige, die sich an den Absperrungen vorbeischleichen, vor Schaden zu bewahren – und natürlich auch die Seetiere und Vögel des Grenzbereichs.« »Das leuchtet mir ein«, meinte Razamon. »Aber es nützt dir nicht viel – außer, daß du nicht umkommen kannst, wenn du hinausschwimmst. Da niemand auf der Erde weiß, ob und wann wir zurückkehren wollen, wird
31 auch niemand eine Strukturlücke für dich schalten. Der Zeitpunkt, zu dem eine zweite Strukturlücke für unsere Rückkehr geschaltet wurde, ist längst verstrichen.« »Nach terranischer Zeitrechnung – ja«, erwiderte ich. Razamon nickte. »Du spielst darauf an, daß die Zeit auf Pthor anders abläuft als auf der Erde. Das halte ich sogar für wahrscheinlich, aber wir kennen den Unterschied nicht. Folglich sind wir nicht in der Lage, zu berechnen, ob die Schaltung der Rückkehrlücke noch bevorsteht oder schon erfolgt ist. Wir können natürlich sofort dorthin zurückkehren, wo die Strukturlücke entstehen soll, und warten dort so lange, bis sie entsteht oder bis wir erkennen, daß wir vergeblich warten.« »Untätig warten kommt überhaupt nicht in Frage!« sagte ich heftig. »Ich will auch keineswegs endgültig zurückkehren. Wenn es mir gelingt, nach draußen zu kommen, dann nur zu dem Zweck, einen vorläufigen Bericht zu geben, Möglichkeiten kooperativer Einsätze mit NATHAN durchzurechnen und mit meinen Freunden zu planen und nach einigen Stunden – möglichst mit neuer Ausrüstung – wieder hierher zu kommen.« »Ich wußte nicht, daß du Pthor nur für kurze Zeit verlassen möchtest«, erwiderte Razamon. »Wenn es so ist, komme ich mit dir, obwohl ich dir schon jetzt sagen kann, daß dein Plan, irgendwelche Ausrüstungen mit nach Pthor zu nehmen, so wie beim erstenmal scheitern wird.« »Darauf lasse ich es ankommen«, sagte ich. »Vielen Dank, daß du mich begleiten willst, Razamon.«
* Der Sonnenaufgang sah uns an einer Stelle der Straße, die nach unseren Schätzungen ungefähr in der Mitte zwischen Zbahn und Zbohr lag. Aber die Tatsache, daß wir die Hälfte des Weges nach Zbohr geschafft hatten, interessierte uns in diesem Augenblick nicht – und
32 das nicht nur, weil wir beabsichtigten von hier aus auf die Erde zurückzukehren. Es gab einen anderen Grund. Aus dem Sand und den Felsbrocken tauchte hier nämlich ein breites metallisches Band auf, eine schimmernde Bahn, die eine Zeichnung undefinierbarer Muster aufwies – und die schon nach etwa fünfzig Metern wieder im Boden verschwand. Wir waren bei diesem Anblick beide stehengeblieben. Lange Zeit brachten wir kein Wort heraus. Dann sagte Razamon beinahe andächtig: »Das, Atlan, ist die wirkliche Straße der Mächtigen! Sie wurde also gar nicht zerstört, sondern ist nur irgendwann durch innere Verschiebungen von Pthor abgesunken und danach vom Sand zugeweht worden!« Ich schloß unwillkürlich die Augen, als in meiner Phantasie das Bild einer endlosen Kette von Heerscharen entstand, die mit schimmernden Rüstungen und Waffen über ein breites metallisches Band marschierten, das irgendwo aus der Unendlichkeit kam und irgendwo in der Unendlichkeit verschwand. Fast glaubte ich, den dröhnenden Marschtritt der gepanzerten Kolonnen zu hören … Als ich aus meinem Tagtraum erwachte, streifte ich entschlossen mein Netzgewand ab und zog die Sandalen aus. Träume von einer hypothetischen Vergangenheit Pthors halfen nicht weiter. Sie lähmten nur den Unternehmungsgeist. Was wir brauchten, waren Taten. Razamon folgte, wenn auch nur zögernd, meinem Beispiel. Anschließend wickelten wir die Sandalen in unsere Kleidung, rollten alles zu zwei Bündeln zusammen und banden sie uns auf den Rücken. Als wir langsam ins Wasser wateten, tauchte wenige Meter vor uns wieder der Delphin auf – und als wir mit langen kräftigen Stößen nach draußen schwammen, umkreiste er uns. Ich winkte ihm zu, und Sekunden später schwamm er zwischen Razamon und mir. Wir hatten einen neuen Gefährten gefunden.
H. G. Ewers Diesmal gab es keine Strömung – wie bei unserer Ankunft –, die uns zum Ufer trieb. Wir kamen alle drei gut voran. Zwar lag auch heute eine dünne Dunstschicht über dem Wasser, aber wir hatten sie bereits nach hundert Metern hinter uns gelassen. Hundert Meter – das war die Entfernung der unsichtbaren Raum-Zeit-Barriere von Pthor, jenes Wölbmantels, der zehn Kilometer weit in die Höhe reichte und dort oben eine Kuppel bildete! Jeder Mensch, der in die Nähe dieser Barriere kam, verlor augenblicklich sein Gedächtnis. Er gewann es erst zurück, wenn er aus dem Gefahrenbereich gebracht worden war. Razamon und ich unterlagen diesem Effekt nicht, wie wir bereits festgestellt hatten: Razamon, weil er ein Atlanter – beziehungsweise Pthorer – war und ich wahrscheinlich, weil ich einen Extrasinn besaß. Wir hegten also auch diesmal keine diesbezüglichen Befürchtungen. Um so aufmerksamer beobachteten wir den Delphin. Delphine verfügten, wie Forschungen schon lange erwiesen hatten, über die gleiche potentielle Intelligenz wie Menschen. Sie wandten sie nur hauptsächlich auf andere Art und Weise an, was mehrere Gründe hatte. Ihr Gedächtnis aber funktionierte ausgezeichnet. Würde »unser« Delphin sein Gedächtnis verlieren, sobald er die Raum-Zeit-Barriere durchschwamm? Tatsächlich bemerkte ich, wie er beim Erreichen dieser unsichtbaren Wand zögerte, als erinnerte er sich an ein unangenehmes Erlebnis. Aber als wir zügig weiterschwammen, zögerte er nicht länger. Sein weiteres Verhalten ließ nicht auf einen Gedächtnisschwund schließen. Anscheinend unterlagen Delphine diesem Effekt ebenfalls nicht. Wir sahen schon von weitem den doppelten Schaumstreifen, der die Linie markierte, an der die terranischen Schutzschirme das Gefahrengebiet oberhalb und unterhalb der Meeresoberfläche abriegelten. Es waren die Prallschirmkomponenten, an denen sich die langen Wellen des freien Ozeans und die
Die Strasse der Mächtigen kurzen Wellen auf der anderen Seite brachen. Als Razamon und ich wenige Meter vor dem inneren Schaum-Streifen anhielten, reckte der Delphin seinen Kopf aus dem Wasser, sah uns an und gab auffordernde Laute von sich, die bald darauf in klagende Pfeiftöne übergingen. Wassertretend streckte ich mich und spähte nach draußen. Aber ich sah weder Menschen noch Boote noch Robotgeräte auf dem Wasser. Schlief die irdische Menschheit denn, anstatt alle Kräfte gegen den Hort des Bösen aufzubieten? Vielleicht ist dort draußen nur eine Stunde vergangen, während für euch auf Pthor viele Tage verstrichen! gab der Logiksektor meines Extrasinns zu bedenken. Das ist reine Spekulation! dachte ich zurück. Wir haben keine Anhaltspunkte für das Ausmaß des Zeitablaufunterschieds. Noch einmal reckte ich mich hoch winkte mit beiden Armen und ließ mich dann wieder zurücksinken. Wenn es draußen Beobachter gab – für uns unsichtbare Beobachter – mußte meine Geste bemerkt und nach Information der höchsten Kommandostellen richtig gedeutet werden. Razamon dachte ebenso wie ich, deshalb war keine Absprache erforderlich, um unser Verhalten abzustimmen. Wir wiederholten das Winken in kurzen Zeitabständen und warteten wassertretend darauf, daß etwas geschah. Doch nachdem wir schätzungsweise drei Stunden gewartet hatten, wußten wir, daß unsere Hoffnung getrogen hatte. Der Energieschirm um Pthor riß nirgends auf. Wir erhielten nicht einmal ein Zeichen, das uns verraten hätte, daß wir nicht umsonst hier warteten. Allerdings war es denkbar, daß der Zeitunterschied zwischen innen und draußen extrem groß war. In dem Falle würden für Razamon und mich vielleicht Tage oder Wochen vergehen, bis man »drüben« rea-
33 gierte und eine Strukturlücke für uns schaltete. So lange aber konnten wir nicht im Wasser bleiben. Nach zirka fünf Stunden kehrten wir um. An Razamons Gesicht war deutlich zu erkennen, welche Gefühle er ob des Mißerfolgs hegte. Ich aber war tief enttäuscht. Der Delphin begleitete uns, bis wir an Land gingen. Dort streiften wir unsere Kleidung wieder über, zogen die Sandalen an und setzten uns ans Ufer. Wir spähten bis Sonnenuntergang angestrengt hinaus. Als wir dann immer noch keine Reaktion feststellten, gaben wir auf. »Morgen geht es weiter – bis wir Zbohr erreicht haben!« sagte ich.
7. PHANTASIERITTERS ENDE »Ich denke, der Luftkorridor verläuft viel weiter landeinwärts!« rief ich Razamon zu, als ich den Zugor sah, der in zirka dreihundert Metern Höhe nur etwa fünfhundert Meter westlich der Straße in Richtung Zbohr flog. »Das dachte ich auch«, erwiderte der Atlanter, nachdem er den Fluggleiter gesehen hatte. »Aber vielleicht werden die Luftkorridore von Zeit zu Zeit verlegt. Hoffentlich hat der Pilot uns nicht gesehen.« Wir befanden uns auf einem Straßenabschnitt, der auf eine Strecke von einigen hundert Metern nicht von Trümmern, Wracks oder Abfallhaufen gesäumt war, hinter denen wir uns hätten verstecken können. Natürlich hätten wir uns flach auf den Boden legen können, doch das verbot sich angesichts dessen, daß die Maschine uns bereits überholt hatte, von selbst. Waren wir von dem Piloten gesichtet worden, würde er nur Verdacht schöpfen, wenn wir uns plötzlich hinwarfen. So hielt er uns vielleicht für Diebe oder Plünderer. Wir gingen weiter, beobachteten aber nunmehr ständig den Luftraum, um anfliegende Zugors so rechtzeitig zu entdecken, daß wir eine beliebige Deckung aufsuchen konnten. Zwar hatte Aminomeister sich un-
34 serer entledigen wollen, was aber nur darauf hindeutete, daß er eine Untersuchung befürchtete. Wahrscheinlich hatte man sich höheren Orts für die beiden Fremden interessiert – und falls man uns nicht in Zbahn fand, vermutete man vielleicht, daß wir aus dieser Niederlassung geflohen waren. Als der nächste Zugor – und zwar aus Richtung Zbohr – kam, befanden wir uns in der Nähe einer aus Trümmern gebauten primitiven Hütte. Wir überlegten nicht lange, sondern schlüpften durch den Eingang, um uns vor einer Entdeckung aus der Luft zu schützen. Zwei verwahrlost aussehende Gestalten fuhren herum, als wir die Hütte betraten. Sie waren humanoid und trugen weite schmutzige Umhänge, aber keine sichtbaren Waffen. Unser überraschendes Auftauchen hatte sie erschreckt. Sie wichen an die gegenüberliegende Wand des kleinen Raumes zurück, in dem sich eine gemauerte Kochstelle und allerlei Gerümpel befanden. »Keine Sorge, wir gehen gleich wieder«, sagte ich. »Wer seid ihr?« fragte eine der Gestalten mit zahnlosem Mund. »Wir sind besitzlose Pilger, die ein Gelübde abgelegt haben«, antwortete Razamon. Da der Zugor inzwischen vorbeigeflogen sein mußte, verließen wir die Hütte wieder. Der Gestank, der in ihr herrschte, lud nicht zu längerem Verweilen ein. Draußen atmeten wir erst einmal tief durch, dann setzten wir unseren Weg fort. Bald entdeckten wir noch mehr dieser primitiven Hütten. Es schienen jedoch nur wenige von ihnen benutzt zu werden, denn die meisten waren eingefallen oder von umherstreifenden Ungeheuern aus den Horden der Nacht zertrampelt worden. Als wir eine Erhöhung erreichten, sahen wir das Ziel unserer Wanderung in höchstens zehn Kilometern vor uns aufragen. Am meisten beeindruckte mich ein riesiges palastähnliches Bauwerk von quadratischem Grundriß, dessen Seitenlänge etwa 1500 Meter betragen mochte. An den Ecken
H. G. Ewers befanden sich vier schlanke, verspielt wirkende Türme. Westlich dieses gewaltigen Bauwerks lag ein Park – und noch weiter westlich entdeckte ich eine große Anzahl bungalowähnlicher kleiner Gebäude. Nördlich, also von uns aus gesehen hinter diesen Anlagen, standen lange, gleichmäßige Reihen von Bäumen und Sträuchern, wahrscheinlich Obstplantagen. »Das ist also Zbohr«, stellte ich fest. »Ehrlich gesagt, gefällt es mir besser als Zbahn, aber mein Geschmack dürfte vom Geschmack der Pthorer abweichen.« Razamon lächelte. »Von meinem Geschmack ganz sicher, Atlan. Mich beeindruckt Zbahn stärker. Sein Konstruktion ist von düsterer Kühnheit, die Zbohr abgeht. Eigentlich …« Er unterbrach sich – und ich hatte ebenfalls das Summen gehört, mit dem die Triebwerke des Zugors arbeiteten. Als wir uns umwandten, entdeckten wir einen Pulk von etwa zwanzig Fluggleitern, die aus Richtung Zbahn kamen und den Palast von Zbohr ansteuerten. Dabei näherten sie sich der Straße der Mächtigen bis auf zirka fünfzig Meter. Da sich auf der Erhöhung keine Deckung befand, warfen Razamon und ich uns flach in den Sand. Das konnte allerdings nur dann etwas nützen, wenn die Zugor-Piloten uns nicht bereits gesehen hatten. Aber die Gleiter flogen vorüber, ohne den Kurs im geringsten zu ändern. Wir sahen noch, wie sie senkrecht auf den Palast niederschwebten, dann erhoben wir uns wieder. »Die Straße ist nicht mehr sicher genug für uns«, meinte Razamon. »Ich schlage vor, wir gehen mindestens zwei Kilometer weit auf die Ebene hinaus und nähern uns Zbohr von Norden. Bis wir die Stadt erreicht haben, ist es dunkel. Dann dürfte es uns nicht mehr schwerfallen, unbemerkt einzudringen.« Ich nickte, denn da die von Zbahn anfliegenden Zugors offenbar kurz vor dem Ziel ihren Kurs änderten und bis dicht an die
Die Strasse der Mächtigen Straße herankamen, war die Gefahr, entdeckt zu werden, auf der Straße zu groß geworden für uns. Wir bogen sofort ab und eilten nach Norden. Bald befanden wir uns in hüfthohem Steppengras, in dem in großen Abständen einzelne Bäume standen. Doch die letzte Gruppe der Zugors hatte uns anscheinend doch ausgemacht und die Information nach der Landung in Zbohr weitergegeben, denn plötzlich schwebte eine breite Kette von Fluggleitern aus Richtung Zbohr über die Straße der Mächtigen. Und der rechte Flügel dieser Kette reichte mindestens dreihundert Meter weit über unseren derzeitigen Standort hinaus nach Norden. Wir konnten nichts weiter tun, als uns im Gras flach auf den Boden zu legen und zu hoffen, daß die Zugor-Besatzungen uns nicht entdeckten …
* Sie entdeckten uns tatsächlich nicht. Aber Razamon und ich gaben uns keinen Illusionen darüber hin, daß sie ihre Suche erfolglos abbrechen würden. Jedesmal, wenn die Gleiter sich von uns entfernten, krochen wir weiter nach Norden. Aber immer wieder näherte sich uns das bedrohliche Summen. Als ich mich einmal kurz aufrichtete, sah ich, daß eine kleine Gruppe der Zugors den schmalen Streifen zwischen der Straße und dem Meer abpatrouillierte. Eine weitere Gruppe hing auseinandergezogen und reglos über einem Straßenabschnitt von zirka tausend Metern Länge. Die meisten Gleiter aber kurvten mehr oder weniger systematisch über dem Teil der Steppe, in der die Technos uns – leider berechtigterweise – vermuteten. »Bald wird es dunkel, dann finden sie uns nicht«, meinte Razamon, als ich mich wieder fallen ließ. Abermals schwebten mehrere Zugors über uns hinweg, kehrten um und suchten eine benachbarte Fläche ab.
35 »Es ist unwahrscheinlich, daß sie wegen Dieben und Räubern einen solchen Aufwand treiben«, sagte ich. »Demnach halten sie es für sicher, daß wir es sind, die von dem letzten Pulk aus gesichtet wurden.« Abermals krochen wir ein Stück durch das Steppengras, dann mußten wir uns wieder still verhalten. Doch dann ging die Sonne unter. Innerhalb weniger Minuten wurde es so dunkel, daß es unmöglich war, von einem Luftfahrzeug aus zwei einzelne Männer im hohen Steppengras zu sehen. Leider hatten die Technos rechtzeitig daran gedacht und sich entsprechend vorbereitet. Plötzlich flammten überall über der Steppe starke Scheinwerfer auf. Die grellweißen Lichtkegel strichen langsam über das Gras und drangen bis zum Boden durch. »Sie finden uns trotzdem nicht!« erklärte Razamon grimmig. Aber die Technos taten alles, um uns aufzuspüren. Als unsere Umgebung für kurze Zeit nicht von Scheinwerfern angestrahlt wurde, richteten wir uns auf und sahen uns um. Dabei entdeckten wir zahlreiche gelandete Zugors – und im Scheinwerferlicht sahen wir eine dichte Kette von Technos, die von der Straße her nach Norden gingen. Es war gar keine Frage, daß sie uns entdeckten. »Nichts wie fort!« flüsterte Razamon. Ich deutete auf die Gleiter, die sich etwa fünfhundert Meter nördlich von uns aufreihten und ihre Scheinwerfer aus dreißig Metern Höhe schräg nach unten richteten. Das Licht verschmolz zu einem gleißenden Vorhang, durch den nicht einmal eine Maus ungesehen kommen würde. Und als wir nach Westen und dann nach Osten schauten, bot sich uns dort das gleiche Bild. Razamon stieß eine Verwünschung aus und ballte die Fäuste. »Ich bringe euch alle um!« grollte er. »Ich zertrete euch und eure verdammten Zugors!« »Auch du kannst nicht gegen diese Streit-
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macht an, Razamon!« mahnte ich. »Wir haben nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder warten wir so lange, bis sie uns sehen und abermals paralysieren – oder wir ergeben uns. Die zweite Möglichkeit scheint mir die bessere zu sein.« Aus Razamons Kehle drang ein dumpfes, gefährliches Knurren. Ein Blick in Razamons schrecklich entstelltes Gesicht und in die lodernden Augen bewies mir, daß der Atlanter in diesem Augenblick von Tollwut beherrscht wurde – von der Tollwut des Berserkers. Ohne lange zu überlegen, trat ich ihm mit aller Kraft in die Kniekehle, dann schmetterte ich ihm die Handkante gegen den Hals. Razamon knickte ein, starrte mich mit glasigem Blick an – und warf sich so plötzlich auf mich, daß der Anprall seines Körpers mich einige Meter zurückschleuderte. Ich rollte sofort zur Seite und machte mich auf einen Kampf auf Leben und Tod gefaßt. Aber Razamon rührte sich nicht mehr. Ich atmete auf. Mein Angriff mußte erfolgt sein, bevor das Böse in Razamon vollständig durchgebrochen war, nur so ließ sich mein Erfolg erklären. Ich fror nachträglich bei dem Gedanken daran, welche Folgen meine spontane Handlung gehabt hätte, wenn sie eine halbe Minute später erfolgt wäre. Wahrscheinlich hätte Razamon mich umgebracht, falls ich ihn in höchster Todesnot nicht mit einem besonders »glücklichen« Dagorgriff getötet hätte. Ich richtete mich auf, reckte die Arme hoch und rief: »Hier bin ich! Ihr braucht nicht länger zu suchen. Ich ergebe mich freiwillig.«
* Die Technos waren mißtrauisch, weil sie nur mich sahen, obwohl sie zwei Männer suchten. Die Zugors der Scheinwerferketten blieben an ihren Standorten. Nur ein einzelner Gleiter schwebte auf mich zu, während sich am Boden eine Gruppe von fünf Technos in unsere Richtung bewegte.
Ungefähr zehn Meter über uns hielt der Zugor in der Luft an. Sein Scheinwerferkegel hüllte Razamon und mich in blendende Helligkeit. Doch der Zugor kam nicht tiefer. Er wartete, bis die fünf Technos eintrafen und ihre Lähmwaffen auf Razamon und mich richteten. Erst danach landete der Gleiter wenige Meter neben uns. Der noch immer bewußtlose Razamon und ich wurden an zwei Kettenpaaren, die aus der Bordwand der Flugschale ragten, angeschlossen. Als die Schnappschlösser über meinen Handgelenken knackten, seufzte ich resignierend. Fünfundfünfzig Kilometer waren Razamon und ich marschiert, hatten gegen ein Raubtier und ein Monstrum der Horden der Nacht gekämpft, hatten Mäjesto begraben – und so dicht vor dem Ziel waren wir abermals Gefangene. Einer der Technos, die in den Zugor gestiegen waren, schaute mich prüfend an. »Du bist Atlan?« fragte er. »Stimmt«, antwortete ich. »Und wie heißt du?« »Zirkelbaron«, antwortete der Techno bereitwillig. Er deutet mit einer Kopfbewegung auf Razamon, der das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hatte. »Was ist mit ihm geschehen?« »Wir hatten Streit«, sagte ich, verschwieg aber, was der Anlaß unseres Streites gewesen war. Die Technos brauchten nicht zu wissen, daß Razamon ein ehemaliger Berserker war. Zirkelbaron blickte respektvoll auf meine Hände. Er wunderte sich wahrscheinlich darüber, daß ich meinen Gefährten niedergeschlagen hatte, ohne selber Verletzungen davonzutragen. Durch die Maschen des Netzgewands waren Razamons Muskeln deutlich zu erkennen – und sie waren stärker und wirkten durchtrainierter als meine. Der Atlanter besaß tatsächlich die Körperkraft dreier normaler Terraner und war fast doppelt so stark wie ich. Als unser Zugor startete, fragte ich: »Wohin bringt ihr uns, Zirkelbaron?«
Die Strasse der Mächtigen »Zu den Initiatoren«, antwortete der Techno. »Sie wollen euch kennenlernen.« »Das kommt unseren Absichten entgegen«, erwiderte ich. »Wir hatten vor, die Initiatoren zu besuchen – aber als freie Männer. Warum habt ihr uns angekettet?« »Weil ihr noch nicht eingestuft seid«, meinte Zirkelbaron. »Nichteingestufte dürfen sich nicht frei bewegen.« Ich sah, daß mehrere Gleiter aufschlossen und unseren Zugor zum Zentrum von Zbohr geleiteten. Unser Ziel war das palastartige Bauwerk. Ich konzentrierte mich auf die Beobachtung der Umgebung. Mäjesto hatte ausgesagt, daß in Zbohr rund 8000 Technos lebten, die im Unterschied zu den Technos von Zbahn keine manuellen Arbeiten ausführten, sondern das planten und konstruierten, was danach in Zbahn hergestellt wurde. Sie nannten den Palast, in dem sie arbeiteten, die Ideenschmiede. Unser Zugor landete in einem der zahlreichen Innenhöfe des Palasts, während die Begleitfahrzeuge auf den benachbarten Flachdächern niedergingen und mit ihren Scheinwerfern unseren Landeplatz ausleuchteten. Als unsere Ketten gelöst wurden, kam Razamon zu sich. Er schaute sich verständnislos um, dann griff er mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Hals und warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich mußte dich vor einer Unbesonnenheit bewahren«, erklärte ich auf Interkosmo. Auf Pthora fuhr ich fort: »Man will uns zu den Initiatoren bringen. Mehr weiß ich auch nicht.« Razamon nickte zerknirscht, ein Beweis dafür, daß das Böse in ihm wieder zurückgedrängt war und ich keinen neuen Anfall befürchten mußte. »Tut mir leid, Atlan«, meinte er. »Du hast viel riskiert. Ich bin froh, daß du noch lebst.« »Vorwärts!« kommandierte der Zirkelbaron. Je zwei Technos packten Razamon und mich an den Armen und drängten uns aus dem Zugor. Andere Technos hielten sich in
37 unserer Nähe und richteten ständig ihre Lähmwaffen, die Waggus, auf uns. Man schob uns auf eine Tür zu. Dahinter ging es durch drei Wachstuben, in denen sich bewaffnete Technos aufhielten und uns neugierig anstarrten. Als ein Techno die vierte Tür öffnete, blickte ich in fast völlige Dunkelheit. Aber Zirkelbaron schritt zielsicher in die Dunkelheit hinein – und wir wurden hinterhergeschoben. Das erste, was ich sah, als ich in die Dunkelheit trat, waren drei hellrote Energieballungen, die zirka anderthalb Meter über dem Boden im Hintergrund einer Halle schwebten. Darunter entdeckte ich drei massige hockende Gestalten, in deren Nähe mehrere Technos standen. Zirkelbaron, der sich gegen die Helligkeit der Energiewolken abhob, blieb stehen, drehte sich um und flüsterte: »Wartet! Die Initiatoren stehen gerade mit den Herren der FESTUNG in Verbindung!« Unsere Wächter hielten an. Interessiert beobachtete ich die Szene am anderen Ende der Halle. Meine Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, so daß ich die drei massigen Gestalten deutlicher sah. Ihr Gesichtsschnitt verriet, daß sie Technos waren. Aber ihre Körper waren unglaublich fett. Wahrscheinlich konnten sie sich aus eigener Kraft kaum bewegen. Das würde auch die Kissen erklären, die rings um sie auf niedrigen Möbelstücken aufgebaut waren. Die Möbelstücke hätte man auf der Erde als Ottomanen bezeichnet. Aber obwohl ich alles mit nüchternen Augen sah, gelang es mir nicht die Beklemmung loszuwerden, die mich beim Betreten dieser Halle befallen hatte. Sie wurde von einer unsichtbaren düsteren Ausstrahlung beherrscht. Es war, als würde sie von zahllosen Kraftfeldlinien durchzogen. Aus den geflüsterten Bemerkungen meiner Wächter entnahm ich, daß die wolkenförmigen Energieballungen über den Köpfen der Initiatoren Palos genannt wurden. Nor-
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malerweise leuchteten sie weiß. Nur wenn die Initiatoren mit den Herren der FESTUNG in Verbindung standen, färbten sie sich hellrot. Die Namen der drei Initiatoren waren Elementemagier, Teilchenkenner und Phantasieritter. Nach einiger Zeit wechselten die Palos ihre Farbe. Sie leuchteten reinweiß. Die Technos, die in der Nähe der Initiatoren standen, gerieten in Bewegung. Sie reichten den Initiatoren Tonkrüge mit Getränken, schoben ihnen Leckerbissen zwischen die Lippen und riefen mehrere fremdartige Sklaven herbei, die den Initiatoren den Schweiß von den fetten Gesichtern wischten. Als die Sklaven wieder verschwunden waren, winkte einer der Technos der Initiatoren. »Weitergehen!« befahl Zirkelbaron. Unsere Wächter schoben uns unsanft vorwärts, auf die drei mächtigsten Technos von Zbahn und Zbohr zu, die uns träge entgegenblickten …
* Gefahr! signalisierte mein Extrasinn. Der Impuls war so stark, daß ich unwillkürlich stehenblieb. Sofort drückten die beiden Technos, die mich bewachten, meine Arme über dem Rücken nach oben. Der Schmerz trieb mich weiter. Wie sieht die Gefahr konkret aus? dachte ich, denn ich vermochte keine unmittelbare Bedrohung zu erkennen. Sie läßt sich nicht konkretisieren! antwortete mein Extrasinn. Ich spüre aber eine dimensional übergeordnete energetische Störung, die mit dir und mit etwas Unbekanntem in Wechselbeziehung steht. »Was hast du?« flüsterte Razamon mir zu. Ich zuckte die Schultern, denn ich hätte nicht gewußt, was ich antworten sollte. Mit den vagen Andeutungen meines Extrasinns wußte ich selber noch nichts anzufangen. Inzwischen waren wir bis auf fünf Meter an die Initiatoren herangekommen. Elementemagier, der – von uns aus gese-
hen – ganz links hockte, hob eine Hand. Unsere Bewacher hielten an und sorgten dafür, daß wir auch stehenblieben. Zirkelbaron ging noch zwei Schritte weiter. »Ich bringe euch die beiden Fremden, die von den Technos Eisenkaisers in einem Dorf an der Küste aufgegriffen worden waren«, erklärte er. »Wie seid ihr dorthin gekommen?« fragte Teilchenkenner, der in der Mitte saß – und er meinte zweifellos Razamon und mich. »Wir sind zwei Wanderer, die durch einen Unfall ihr Gedächtnis verloren haben«, antwortete Razamon, bevor ich etwas sagen konnte. »Ruhelos streiften wir umher, immer auf der Suche nach Anhaltspunkten, die uns vielleicht helfen, uns an unsere Vergangenheit und Herkunft zu erinnern.« »Du heißt Razamon?« fragte Elementemagier. Als der Atlanter bejahte, fuhr der Initiator fort: »Er sieht tatsächlich aus wie ein Mitglied der Familie Knyr, die am Fuß des Taambergs gelebt hat.« Damit hatte er sich offenkundig an seine »Kollegen« gewandt. »Diesen Eindruck habe ich auch«, stellte Teilchenkenner fest. Beide Initiatoren schwiegen. Nach einiger Zeit blickten sie fragend zu Phantasieritter. Sie schienen eine Bemerkung von ihm zu erwarten. Ich sah, daß der Palo Phantasieritters flackerte, sich dann aber wieder stabilisierte, gleichzeitig fühlte ich ein dumpfes Pochen an der Stelle, an der mein Zellaktivator sich befand. »Warum sagst du nichts, Phantasieritter?« fragte Elementemagier schließlich. In Phantasieritters aufgeschwemmtem Gesicht arbeitete es. Die Augen schienen stumme Qual auszudrücken, und die Lippen zuckten. Doch der Initiator brachte keinen Ton heraus. Von ihm geht Gefahr aus! teilte mir mein Extrasinn mit. Diesen Eindruck hatte ich ganz und gar nicht. Phantasieritter sah eher aus, als ob er
Die Strasse der Mächtigen krank wäre. »Was hast du, Phantasieritter?« rief Teilchenkenner offenbar beunruhigt. Phantasieritter öffnete den Mund und stieß einige unverständliche Laute aus. Der Palo über seinem Kopf flackerte abermals – aber diesmal stabilisierte er sich nicht. Und das Pochen in meinem Brustraum wurde stärker! Plötzlich wurde der Palo des Phantasieritters von einem dichten Netzwerk gelbleuchtender Fäden durchzogen. Im Mittelpunkt der Energiewolke flammte ein faustgroßer grellroter Kern auf. Im nächsten Augenblick stürzte Phantasieritters Palo schlagartig in sich zusammen. Mit schmetterndem Krachen stieß die in das Vakuum prallende Luft zusammen. Doch da lag ich bereits am Boden. Meine beiden Bewacher hatte ich kurzerhand über mich geschleudert, als ich in Deckung gegangen war. Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille, dann brandete wildes Geschrei auf. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie mehrere Technos zu Phantasieritter eilten, der rücklings über seine Kissen gefallen und offensichtlich tot war. Elementemagier und Teilchenkenner waren ebenfalls umgekippt, aber sie lebten noch, strampelten und versuchten, auf allen vieren fortzukriechen. Die über ihnen schwebenden Energieballungen veränderten gleich echten Wetterwolken ständig ihre Form. Sie strahlten greller als zuvor. Das Geschrei kam von den Technos, die an Phantasieritter herumzerrten und von denen, die verwirrt um Elementemagier und Teilchenkenner hüpften. Auch unsere Bewacher liefen ratlos um die beiden überlebenden Initiatoren herum. Razamon und ich wechselten einen Blick des Einverständnisses. Niemand in der Halle achtete auf uns. Die Gelegenheit zur Flucht war also günstig. Allerdings hatten wir vergessen, daß wir drei Räume durchqueren mußten, in denen sich bewaffnete Technos aufhielten. Aber wenn sie erfuhren, was hier
39 geschehen war, würden sie sich bestimmt ebenfalls um die Initiatoren kümmern. Wir drehten uns um und eilten zurück. Schon nach wenigen Schritten verbarg uns die Dunkelheit vor den Blicken der Technos, die sich in dem von den Palos erhellten Bereich aufhielten. Dennoch hörten wir plötzlich die Schritte mehrerer Personen, die uns verfolgten. Wir liefen schneller. Kurz darauf riß ich die Tür zum nächsten Wachraum auf und schrie: »Es hat eine Explosion gegeben! Phantasieritter ist tot, und die anderen Initiatoren brauchen eure Hilfe!« Die Bewaffneten starrten uns an. Bevor sie reagieren konnten, sprangen Razamon und ich in die Wachstube. Zwei der Technos trafen Anstalten, uns aufzuhalten – und wir bereiteten uns auf eine handgreifliche Auseinandersetzung vor. Doch da wurden wir von einem Haufen der fremdartigen Sklaven überholt, die wir zuvor bei den Initiatoren gesehen hatten. Die Sklaven trugen Türhaken, Tonkrüge und Stöcke und schwangen sie gegen die Technos. Ein wildes Handgemenge entbrannte, bei dem die Technos den kürzeren zu ziehen schienen. Razamon und ich kümmerten uns nicht darum. Unsere Gefühle waren zwar auf Seiten der Sklaven, aber es hätte ihnen wenig genützt, wenn wir sie unterstützt hätten. Ihre und unsere Freiheit wäre nur von kurzer Dauer gewesen, denn die Ordnung auf Pthor war zu fest gefügt, als daß sie durch eine Rebellion weniger Sklaven zerbrochen werden könnte. Irgendwie hatte sich die Kunde von Phantasieritters Tod inzwischen nach draußen verbreitet, denn als Razamon und ich in die nächsten Wachräume stürzten, eilten die Technos an uns vorbei, um nach drinnen zu gelangen. Und als wir den Innenhof betraten, herrschte auch dort und auf den benachbarten Flachdächern ein Aufruhr, der nicht uns galt. Kopflose Technos wurden von den
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Sklaven angegriffen. Sie wehrten sich nur mit halbem Herzen, denn alle schienen von dem Drang gepackt zu sein, in die Halle der Initiatoren zu kommen. Razamon und ich schlichen an den Hauswänden entlang davon, ohne beachtet zu werden. Wir waren frei – und in dem Durcheinander sollte es uns gelingen, Zbohr zu verlassen. Nur wohin wir uns danach wenden sollten, wußten wir nicht …
8. REBELLION DER UNTERDRÜCKTEN Eisenkaiser erwachte langsam aus seiner Trance. Aber es war nicht wie sonst, wenn er telepathische Befehle der Initiatoren erhalten hatte und vorübergehend aus ihrem Einfluß entlassen worden war. Diesmal hatte Eisenkaiser das Gefühl eines unentwirrbaren Durcheinanders, das auch auf seine eigenen Gedanken übergriff. Verwirrt hockte er auf seinem Sessel aus schimmerndem Stahl und schaute von der Empore herab in die große Werkstatthalle, in der Hunderte von blinden Sklaven mit ihren silberfarbenen Werkzeugen arbeiten während die Aufseher-Technos zwischen ihnen umhergingen und mit halblauten Stimmen Anweisungen erteilten. Eisenkaiser sah, daß es diesmal anders war. Die Technos, die die Sklaven beaufsichtigten und ihnen sagten, was sie zu tun hatten, warteten selber auf Anweisungen. Ihre Augen richteten sich auf den hünenhaften Mann auf der Empore. Sie erwarten Befehle von mir! dachte Eisenkaiser. Gewohnt, daß seine Anordnungen ihm wie von selbst über die Lippen gingen – weil er nur aufzusagen brauchte, was die Initiatoren ihm telepathisch zugeflüstert hatten –, redete Eisenkaiser wahllos drauflos, ohne zu verstehen, was er sagte. Auch die Technos in der Werkstatthalle verstanden nicht, was ihr Herr und Meister
redete. Unsicher wiederholten sie einige Worte – und die Sklaven, die nichts damit anzufangen wußten, hörten auf zu arbeiten. Die Technos merkten, daß die Sklaven nicht arbeiteten. Sie wußten auch, daß das nicht sein durfte. Aber was zu tun war, das mußte von Eisenkaiser angeordnet werden. Die Technos gaben die Anweisungen nur entsprechend detailliert weiter. Da sie überhaupt keine sinnvollen Anweisungen mehr erhielten, konnten sie auch nichts Sinnvolles weitergeben. Es dauerte einige Zeit, bis die Sklaven begriffen, daß ihre Aufseher nicht mehr in der Lage waren, ihnen Befehle zu erteilen. Diese Situation war völlig neu für sie, und sie waren es schon fast zu lange gewohnt, daß sie nur fremde Befehle ausführten und keinen eigenen Willen haben durften. Deshalb brauchten sie lange, um sich darauf zu besinnen, daß sie einst freie Persönlichkeiten gewesen waren. Vielmehr wußten sie selber nicht, weil ihnen beinahe alle Erinnerungen an ihr früheres Leben genommen worden waren. Aber sie wußten noch, daß ihnen in Zbahn ständig Unrecht geschehen war. Der so lange unterdrückte und fast vergessene Stolz brach durch. Ihr Bewußtsein entdeckte die Möglichkeit, sich von der Unterdrückung zu befreien – und in ihnen erwachte der Wille, es zu tun, ohne über die Folgen eines eventuellen Mißlingens nachzudenken. Sie nahmen die silberfarbenen und nunmehr allmählich stumpfgrau werdenden Werkzeuge und schwangen sie gegen ihre Unterdrücker – und das waren die Technos, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen. Die Technos wehrten sich kaum. Bevor sie erkannten, was geschah, waren sie niedergeschlagen. Mit fieberhaftem Eifer machten sich die Sklaven daran, die Ketten zu zerbrechen, mit denen sie an ihre Arbeitsplätze gekettet waren. Immer wieder unterbrachen sie ihre Arbeit, um zu Eisenkaiser zu schauen. Aber Eisenkaiser bemerkte überhaupt nicht, was unter seiner Empore vorging. Er
Die Strasse der Mächtigen starrte mit blicklosen Augen ins Leere und sagte nur ab und zu unzusammenhängende Worte. Da die Sklaven stumm waren, waren Hämmern und Klirren die einzigen Geräusche in der großen Werkstatthalle. Die Sklaven waren außerdem blind, aber wer sie zu dieser Zeit beobachtet hätte, wäre überzeugt davon gewesen, daß sie mit ihren scheinbar blicklosen Augen dennoch alles sahen, was um sie herum vorging. Nach einiger Zeit hatten sich die Sklaven von ihren Ketten befreit. Sofort eilten sie zu ihren Leidensgefährten und halfen ihnen, sich ebenfalls zu befreien. Die Technos, die zwischendurch erwachten, wurden gleich wieder ins Land der Träume geschickt. Als alle Ketten gefallen waren, zertrümmerten die Aufständischen systematisch alle fertigen und halbfertigen Gegenstände, an denen sie zuvor gearbeitet hatten. Anschließend stürmten sie aus der Werkstatthalle und ergossen sich gleich einem brodelnden Strom in die zahlreichen Korridore des Patorghs, um ihre in anderen Hallen gefangengehaltenen Brüder zu befreien.
* Aminomeister befand sich gerade in telepathischer Verbindung mit den Initiatoren, als diese Verbindung plötzlich abschwächte. Der massige Techno in dem mit den Fellen choonischer Flughunde bezogenen Sessel war nicht beunruhigt darüber. Es kam immer wieder vor, daß die Initiatoren die Intensität ihrer telepathischen Verbindung drosselten, weil sie entweder neue Anweisungen von den Herren der FESTUNG erhielten oder in wichtige Gespräche mit anderen führenden Technos verwickelt waren. Mit gedämpfter Stimme gab Aminomeister Befehle an die Technos seines Hauptlabors, und die Technos gaben die Anweisungen an die zahlreichen Sklaven weiter, die sich zwischen den Feuerstellen und Wandregalen bewegten oder die Kessel, Glaskolben und andere Apparate bedienten.
41 Plötzlich krümmte sich Aminomeister vor Schmerz. Ihm war, als wäre durch die Verbindung mit den drei Initiatoren eine Stichflamme zu ihm gerast und hätte sein Gehirn verbrannt. Die Beine zuckten konvulsivisch. Ein Fuß geriet in die Flammen des Kaminfeuers, vor dem Aminomeister saß. Funken stoben hoch; Flammen züngelten am Stiefel empor. Mit einem Schrei fuhr Aminomeister hoch. Der Schock ließ die qualvolle Verbindung zu den Initiatoren abreißen. Hastig zog Aminomeister den Fuß aus dem Feuer und riß sich den brennenden und qualmenden Stiefel herunter. Doch er kam nicht dazu, sich seinen geröteten Fuß zu betrachten, denn die telepathische Verbindung zu den Initiatoren baute sich wieder auf. Allerdings viel zu schwach, um etwas zu verstehen. Die Impulse, die klar durchkamen, waren nur verwirrend und beängstigend. Etwas Grauenvolles mußte in Zbohr geschehen sein! Aber Aminomeister konnte sich nicht damit aufhalten, lange darüber nachzudenken. Er mußte seinen Labortechnos neue Anweisungen geben, damit die Laborsklaven weiterarbeiten konnten. Angestrengt versuchte er nachzudenken. Aber die verwirrenden und beängstigenden Impulse aus der Ideenschmiede verhinderten die erforderliche geistige Konzentration. Schließlich rief Aminomeister Befehle, die er selbst nicht verstand. Die Labortechnos, die daran gewöhnt waren, alle Befehle Aminomeisters als unfehlbar anzusehen und weiterzugeben, versuchten nach besten Kräften, die Anweisungen in Detailforderungen zu zerlegen und an die Sklaven weiterzugeben. Erst, als sie sie weitergeben wollten, wurde ihnen klar, daß weder sie noch die Sklaven etwas mit ihnen anfangen konnten. Dennoch versuchten sie es, aber was dabei herauskam, war noch unsinniger als das, was Aminomeister gesagt hatte. Völlig verwirrt starrten die Technos ihren Herrn und
42 Meister an, der wiederum nur redete, weil er wußte, daß er reden mußte, und der nur Unsinn sprach. Die emsige Tätigkeit in der Laborhalle erstarb allmählich. In den Kesseln brodelte es stärker, denn ihr Inhalt wurde nicht mehr durch gleichmäßiges Rühren bewegt. Tiegelzangen wurden von verschlossenen Tontiegeln zurückgezogen. Da die Tiegel in den Feuern blieben, erhitzten sie sich so stark, daß der Inhalt in den gasförmigen Aggregatzustand überging und durch den rasch ansteigenden Druck die Gefäße platzen ließ. Die Sklaven, die anfangs nur verwirrt gewesen waren, erwachten langsam aus ihrer leicht gebückten körperlichen und aus ihrer verkrüppelten geistigseelischen Haltung. Allmählich erkannten sie, daß ihre Herren, die bislang als unfehlbar und übermächtig gegolten hatten, plötzlich alles andere als unfehlbar und übermächtig wirkten. Damit entfiel der Grund, aus dem sie sich ihnen bisher gebeugt hatten. Etwas, das sie bisher als tot angesehen hatten, erwachte wieder: ihr Stolz und ihr Wille, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Obwohl sie stumm waren und sich nicht durch Worte verständigen konnten, handelten sie in einer Übereinstimmung, die nur durch seelische Verbundenheit entstanden sein konnte. Goldene Mörser flogen durch die Luft und an die Schädel der verwirrten Technos. Silberne Stampfer wurden geschwungen und sausten auf Köpfe herab. Andere Sklaven gingen mit Tiegelzangen, Glaskolben oder Flaschen auf ihre Unterdrücker los. Kessel wurden umgekippt. Der Inhalt floß über den Boden und verbreitete beißende Dämpfe. Aminomeister bekam den Inhalt eines Kessels über den mit Brandblasen bedeckten Fuß und brüllte vor Schmerz, ohne in der Lage zu sein, sich zu rühren oder gar zu wehren. Im Unterschied zu den Sklaven Eisenkaisers waren die Sklaven Aminomeisters nur mit langen dünnen Ketten gefesselt. Die kräftigen Hände der Unterdrückten rissen
H. G. Ewers diese Ketten fast mühelos entzwei. Danach stürzten die Sklaven aus der Laborhalle, stürmten durch die Korridore und vereinigten sich mit den Rebellen aus Eisenkaisers Werkstätten und den Sklaven, die sich aus der Gewalt anderer führender Technos von Zbahn befreit hatten. Und als es im Patorgh keinen Sklaven mehr gab, der seine Fesseln noch nicht zerrissen hatte, strömten die Blinden und Stummen ins Freie – in eine Welt, die ihnen fremd war …
* In der Halle der Initiatoren herrschte Chaos. Elementemagier und Teilchenkenner waren von ihren Betreuern und von zahllosen anderen Technos in einen Nebenraum geschleppt worden, weil es so schien, als ginge die Bedrohung, die Phantasieritter getötet hatte, von der Haupthalle aus. Doch die beiden überlebenden Initiatoren waren noch immer halb wahnsinnig vor Angst. Sie hatten gespürt, daß das Unheimliche, was den Palo ihres Genossen zerrissen hatte, auch nach ihren Palos griff und damit sie selbst bedrohte. In Winkeln ihres Bewußtseins spürten sie das Unheimliche noch immer und merkten gar nicht, daß seine Ausstrahlung immer schwächer wurde. Dazu kam, daß rings um sie helle Panik herrschte. Keiner wußte so recht, was überhaupt geschehen war. Die heftige Implosion, die Phantasieritter getötet hatte – und die ihrer Wirkung wegen als Explosion eingestuft worden war –, hatte alle, die in ihrer Nähe gewesen waren, halbbetäubt. Als einige Technos von außerhalb kamen und wirre Berichte über aufständische Sklaven und die Zerstörung wichtiger Versorgungseinheiten abgaben, verstärkte sich die Panik noch. Doch dann färbten sich die Palos von Elementemagier und Teilchenkenner hellrot. Beinahe augenblicklich erstarrten die beiden Initiatoren. Ihre Blicke richteten sich nach
Die Strasse der Mächtigen innen. Sie hörten auf, unverständliche Worte zu lallen. Dadurch beruhigten sich auch die Technos in ihrer Umgebung allmählich wieder. Sie riefen nach den Sklaven, die eigentlich ständig um die Initiatoren sein sollten, um ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber sie riefen vergebens, und als sie die nächsten Räume absuchten, fanden sie sie von Sklaven verlassen. Dafür lagen dort mehrere bewußtlose Technos und ihre Kopfwunden verrieten, wie sie in diesen Zustand versetzt worden waren. Aufständische Sklaven waren für die Technos dieser Generation etwas nie Dagewesenes und deshalb Unerhörtes und Erschreckendes. Sie begriffen gar nicht, was in den Aufständischen vorging. Deshalb glaubten sie, man brauchte rebellischen Sklaven nur zu befehlen, sie sollten sich fügen, damit sie es taten. Doch als sie auf die ersten Sklaven trafen und ihnen Befehle erteilten, erlebten sie eine bittere Enttäuschung. Statt den Befehlen zu gehorchen, stürzten die Sklaven sich auf sie und schlugen mit allen möglichen harten Gegenständen auf sie ein. Bevor die Technos sich auf ihre überlegene Bewaffnung besannen und ihre Waggus einsetzten, waren sie niedergeschlagen und betäubt. Doch anstatt bis zu den überlebenden Initiatoren vorzudringen und sie festzunehmen, zögerten die Aufständischen. Während ihres Sklavendaseins hatten sie zuviel über die gewaltige Macht der Initiatoren gehört, und in ihrem Aberglauben scheuten sie davor zurück, gewaltsam zu dem Ort vorzudringen, an dem diese Macht herrschte. Unterdessen erholten sich Elementemagier und Teilchenkenner allmählich von dem Schock, den ihnen Phantasieritters Tod versetzt hatte. Die Technos, die um sie herumstanden, schrieben das auf die Verbindung der Initiatoren mit den Herren der FESTUNG zu. Aber niemand – vielleicht nicht einmal die beiden Initiatoren – wußte, was die Herren der FESTUNG vom Aufstand hielten
43 und wie sie auf Elementemagier und Teilchenkenner eingewirkt hatten. Die Tatsache aber, daß sie sich auf diese Art des Eingreifens beschränkten, schien ihr unerschütterliches Selbstvertrauen zu beweisen.
9. FLUCHT INS UNGEWISSE Überall wurde gekämpft. Die angegriffenen Technos reagierten äußerst aggressiv, aber ihre Aggressivität wurde nicht von den klardenkenden Gehirnen kontrolliert, sondern tobte sich ungerichtet aus. Deshalb unterlagen sie fast überall den verbissenen Angriffen der Aufständischen. Razamon und ich waren rein zufällig auf einen Trupp Technos gestoßen, der unter einem Steinhagel von Aufständischen flüchtete. Die Technos hatten mit ihren Lähmwaffen ungezielt auf uns gefeuert, und wir waren in ein Gebäude geflüchtet, in dem es still war. Den Grund dafür erkannten wir, als wir bald darauf zahlreiche betäubte Technos entdeckten. Da einige von ihnen bereits wieder zu sich kamen, zogen wir uns auf eine Treppe zurück und stiegen in die Unterwelt von Zbohr. Zum erstenmal seit unserer Flucht kamen wir wieder zu Atem. »Ich verstehe das alles nicht«, meinte Razamon. »Warum ist Phantasieritters Palo implodiert – und warum sind die Sklaven rebellisch geworden?« »Ich denke, daß ich – wenn auch unbewußt – Phantasieritters Tod verursacht habe«, erwiderte ich. »Mein Extrasinn warnte mich, vermochte mir aber nicht zu erklären, wovor. Aber es erwähnte eine dimensional übergeordnete energetische Störung, die mit mir und etwas Unbekanntem in Wechselbeziehung stünde. Außerdem spürte ich eine erhöhte Aktivität meines Zellenaktivators. Deshalb nehme ich an, daß die Impulse meines Zellenaktivators störend auf Phantasieritters Palo wirkten.« Der Atlanter schaute mich nachdenklich an. »Du weißt viel über dich selbst, aber alles
44 über dich scheinst du nicht zu wissen«, meinte er. »Die energetischen Ballungen über den Köpfen der Initiatoren dienen immerhin der – wahrscheinlich telepathischen Verbindung zwischen ihnen und den Herren der FESTUNG. Es ist eigenartig, daß ausgerechnet die Impulse deines Zellaktivators die außerhalb von Pthor niemals störend auf Telepathen gewirkt haben, vernichtend auf ein Palo wirkten. Aber hast du schon daran gedacht, daß es auch die Impulse deines Extrasinns gewesen sein könnten, die Phantasieritters Palo zerstörten?« »Flüchtig«, erwiderte ich. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Impulse meines Zellaktivators oder meines Extrasinns gewissermaßen darauf programmiert sein könnten, etwas zu vernichten, mit dem ich nie zuvor in Berührung gekommen bin.« »Dein Zellaktivator vielleicht nicht«, sagte Razamon. »ES dürfte dafür gesorgt haben, daß seine Zellaktivatoren nicht manipuliert werden können. Obwohl dein Aktivator eine Ausnahme bilden könnte, denn er gehört nicht zu der Serie von Zellaktivatoren, die ES mehr als zehntausend Jahre später an Perry Rhodan ausgab beziehungsweise in der Galaxis verstreute. Aber es stimmt nicht, daß du nie zuvor mit Pthor in Berührung gekommen bist, Atlan. Du warst auf der Erde, als der Dimensionsfahrstuhl vor rund zehntausend Jahren hier erschien und den Untergang von Atlantis verursachte. Zwar hast du da bereits in deiner Tiefseekuppel geschlafen, aber diese Tiefseekuppel ist nicht weit von den Azoren und damit auch nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Pthor damals materialisierte. Irgendwie könnte es damals zu einer unbemerkten energetischen Wechselbeziehung gekommen sein, die die Impulse deines Extrasinns veränderte.« Dieses Argument war nicht ganz von der Hand zu weisen, obwohl es natürlich reine Spekulation war. Aber was wußte ich schon über Pthor? Es war also durchaus denkbar, daß die vielfältigen energetischen Strömungen, die von diesem geheimnisvollen Objekt
H. G. Ewers ausgingen bis in meine Tiefseekuppel vorgedrungen waren und etwas mit meinem Extrasinn angestellt hatten. Doch sollte mein Extrasinn das nicht eigentlich wissen? Warum schweigst du dazu? dachte ich verärgert. Sonst mußt du doch zu allem deinen Senf dazugeben! Ich beteilige mich nie an Spekulationen! entgegnete der Logiksektor meines Extrasinns. Du beschränkst deine Mitteilungen aber nicht auf Beweisbares! erwiderte ich. Oder bist du verändert, weißt es und willst es mir aus einem bestimmten Grund verschweigen? Ich tue nie etwas, das dir schaden könnte! erklärte mein Logiksektor zweideutig. Du meinst also, es würde mir schaden, wenn du mir die Wahrheit sagtest? gab ich zurück. Das habe ich nicht gesagt! erwiderte der Logiksektor. Danach hüllte er sich in Schweigen. Als ich aus meiner nach innen gerichteten Konzentration erwachte, begegnete ich Razamons fragendem Blick. Ich zuckte die Schultern. »Mein Extrasinn zieht sich auf ausweichende Äußerungen zurück«, erklärte ich. »Das kann aber nur bedeuten, daß er etwas weiß oder ahnt«, sagte Razamon. »Aber wie dem auch sei, jedenfalls hat Phantasieritters Tod und der anschließende Aufruhr verhindert, daß ich mich nach dem Verbleib meines Parraxynts erkundigen konnte.« »Warum denkst du, die Initiatoren könnten etwas darüber wissen?« erkundigte ich mich. »Weil sie Hunderte von Technos veranlaßt hatten, Jagd auf uns zu machen«, erwiderte der Atlanter. »Ich kann mir dieses starke Interesse an uns nur damit erklären, daß die Technos von Zbahn ihnen das Parraxynt zugespielt haben, um sie zum Eingreifen zu bewegen.« »Es wäre möglich, daß Eisenkaiser es ihnen zuspielte, um Aminomeisters Tat noch verwerflicher erscheinen zu lassen«, gab ich
Die Strasse der Mächtigen zu. »Aber wenn die Initiatoren das Artefakt erhielten, werden sie es auch in ihrer Nähe aufbewahrt haben.« Razamon blinzelte listig. »Das hoffe ich auch«, meinte er. »Dann brauchen wir wenigstens nicht die ganze Ideenschmiede danach durchzusuchen.« »Du mußt wahnsinnig sein, wenn du dorthin zurückwillst, woher wir gerade mit Mühe gekommen sind«, erwiderte ich und blinzelte zurück. »Aber gerade deshalb kann ich dich nicht allein gehen lassen.«
* Wir versuchten, den Weg zurückzugehen, den wir gekommen waren. Leider erwies sich das als unmöglich. Die Technos in dem Stockwerk über uns waren zu sich gekommen und schossen sofort, als sie uns erblickten. Hastig zogen wir uns die Treppe hinab zurück und eilten durch mehrere Korridore, bis wir keine Verfolger mehr hinter uns hörten. Als wir die nächste Tür aufstießen, erblickten wir einen riesigen, aber nur zirka vier Meter hohen Saal. Seine Wände bestanden aus Marmor, der Boden war von einem funkelnden Mosaik aus Millionen von Edelsteinen bedeckt und die Decke leuchtete in so strahlendem Blau, als sähe man in den Himmel der Erde. Razamon und ich verharrten in Bewunderung. Aber wir blieben wachsam, denn der Begriff der Schönheit war relativ. Das, was wir als schön empfanden – und Razamon urteilte wegen seines zehntausendjährigen Aufenthalts auf Terra fast wie ein Terraner –, konnten die Erbauer dieses Saales als abschreckend oder als rein zweckmäßig empfunden haben. Aufmerksam musterte ich die zahlreichen kleinen Springbrunnen, deren Fontänen klares Wasser zu versprühen schienen. Zwischen ihnen flogen beständig kleine silberglänzende Vögel umher, ließen sich von Wasserstaub besprühen und schwangen sich
45 manchmal hoch hinauf, wo sie dicht unterhalb der Decke den Blicken entschwanden, als lösten sie sich in Nichts auf. »Was kann das sein?« flüsterte ich. »Ich vermag mir nicht vorzustellen, daß diese Halle mit den Springbrunnen und silbernen Vögeln kulturellen Zwecken dient.« Razamon zog eine Grimasse. »Ich auch nicht, Atlan. Aber das werden wir bald wissen.« Er schritt in die Halle hinein. Ich ließ ihn einige Meter vorausgehen, um ihm – so gut das mit bloßen Händen möglich war – den Rücken freizuhalten. Die silbernen Vögel, so natürlich sie sich bewegten, stimmten mich mißtrauisch. Razamon erreichte den ersten Springbrunnen und beugte sich über seinen Rand. Da noch immer nichts Bedrohliches geschah, folgte ich ihm und beugte mich ebenfalls über den Rand des Springbrunnens. Wie ich erwartet hatte, schaute ich auf eine nur leicht bewegte und daher spiegelnde Wasseroberfläche. Razamons und mein Gesicht spiegelten sich leicht verzerrt darin – aber es war Razamons Gesicht, das mich interessierte. Dort, wo normalerweise seine Augen zu sehen waren, wurden von der spiegelnden Wasseroberfläche nur zwei schwarze Löcher abgebildet. Sie glichen den Mündungen zweier Schächte, die bis in die Unendlichkeit führten. Schon einmal, mit einem echten Spiegel, hatte ich diese Beobachtung gemacht. Ich blickte in Razamons Gesicht – sah zwei normal wirkende Augen –, blickte auf das Wasser – und sah die unheimlich und bedrohlich wirkenden schwarzen Löcher. Als ich abermals hochblickte, begegnete ich Razamons leicht ironischem Blick. »Wofür hältst du mich?« fragte er leise. »Nun, ein Mensch bist du nicht«, erwiderte ich. »Aber das war ja von vornherein klar.« »Ein Ungeheuer bin ich«, erwiderte Razamon. Ich schüttelte den Kopf.
46 »Du bist fremdartig, rätselhaft und ebenso erschreckend wie faszinierend, Razamon, aber du bist genau so wenig ein Ungeheuer wie ich.« In der letzten Minute hatten wir so gut wie gar nicht auf die silbernen Vögel geachtet, deshalb merkten wir erst jetzt, daß sie verschwunden waren. Wachsam blickten wir uns um. »Der ›Himmel‹ ist dunkler geworden«, stellte Razamon fest. Tatsächlich, das strahlende Blau der Decke hatte den Glanz verloren und wirkte düster! Dafür glitzerte das Edelsteinmosaik des Bodens um so stärker. Es erinnerte mich an das irdische Meeresleuchten. Plötzlich zuckte ich leicht zusammen. Im nächsten Augenblick wußte ich, was mich erschreckt hatte. Die Springbrunnen arbeiteten nicht mehr. Die Stille wirkte unheimlich und drohend. »Die Schwingen der Nacht!« rief Razamon. »Schnell, Atlan, wir müssen weg von hier!« Er rannte los, und ich folgte ihm, obwohl ich nicht wußte, was er mit den »Schwingen der Nacht« gemeint hatte. Wahrscheinlich war eine vergrabene Erinnerung zurückgekehrt. Eine Verwünschung Razamons ließ mich anhalten. Wir standen nicht weit von der Stelle entfernt, an der wir durch eine Tür in die Halle gekommen waren. Aber nirgends war eine Tür zu sehen. Es gab nur Wände aus Marmor. Ein eisiger Wind fuhr durch die Halle. Die Decke färbte sich schwarz. Unter ihr schwebte eine hauchdünne Nebeldecke, die sich zu seltsamen Figuren formte, die im nächsten Moment wieder aufgelöst wurden. Der Atlanter und ich liefen an den Wänden entlang, um einen Ausweg zu finden. Als ein leises Schwirren ertönte, blieben wir stehen und sahen uns suchend um. Es war fast völlig dunkel geworden. Nur an manchen Stellen des Bodens glitzerten einige wenige Edelsteine.
H. G. Ewers »Was sind die Schwingen der Nacht?« flüsterte ich beklommen, denn ich ahnte, daß wir uns in einer gefährlichen Falle befanden. »Es hat etwas mit Zeit zu tun«, antwortete Razamon. Seine Stimme klang seltsam hohl. »An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, daß eine Begegnung mit den Schwingen der Nacht schlimmer sein soll, als tausend Tode zu sterben.« Abermals ertönte ein Schwirren. Es klang, als schossen hundert Bogenschützen gleichzeitig ihre Pfeile ab. Ich versuchte, das Dunkel mit den Augen zu durchdringen, konnte aber keine Bewegung erkennen. Es erschien mir auch unwahrscheinlich, daß das Schwirren von Bogensehnen herrührte. Inzwischen war die Decke überhaupt nicht mehr zu sehen. Ich sah nicht einmal die Marmorwand, die uns am nächsten war. Nur wenige Edelsteine sandten noch glitzernde Lichtspeere aus. In ihrem Schein war es mir, als ballten sich in der Halle schattenhafte Gebilde zusammen. Als ein solches Gebilde in meiner unmittelbaren Nähe auftauchte, traf mich ein so eisiger Windhauch, daß mir das Gesicht brannte, als wäre es von einem Schrotschuß aus Eisnadeln getroffen worden. Einen Sekundenbruchteil vorher aber hatte ich etwas beobachtet, das mir im letzten Augenblick des Kältesturms als letzte Hoffnung erschien. Ich packte Razamons Arm und zog den Atlanter einfach mit mir auf die nächste Stelle zu, in der eine kleine Ansammlung von Edelsteinen ihre Lichtspeere verschoß. Rings um uns schienen sich die schattenhaften Gebilde aufzubäumen und auf uns zuzuschweben, aber wir erreichten die glitzernde Stelle und plötzlich folgten uns die Schatten nicht mehr. Vorsichtig atmete ich ein. Die Luft war zwar kühl, aber keineswegs eisig. Meine Hände, Ohren und meine Nasenspitze brannten allerdings, als hätte ich sie in flüssigen Sauerstoff getaucht. Razamon holte tief Luft, dann stieß er eine Verwünschung aus und sagte heiser:
Die Strasse der Mächtigen »Wie bist du darauf gekommen, an diese Stelle zu flüchten, Atlan?« »Intuition«, antwortete ich. »Es gab wirklich keinen stichhaltigen Grund für mich, aber ich sah diese hellen Flecken als eine rettende Insel an. Sind diese Schattengebilde die Schwingen der Nacht, Razamon?« »Ich weiß es nicht«, gab der Atlanter zurück. »Aber vor den Schwingen der Nacht soll es kein Entkommen geben, denn sie existieren gleichzeitig auf allen Zeitebenen.« »Auf allen Zeitebenen?« fragte ich. »Das hast du aber vorhin nicht gesagt.« »Weil es mir eben erst einfiel«, meinte der Atlanter. »Jedenfalls sind wir so oder so verloren.« Wieder ertönte ein Schwirren, bei dem es mich kalt überlief. Es wurde von Geräuschen gefolgt, die an das Bersten der Eisdecke eines zugefrorenen Sees erinnerten. Es war ein entnervendes Geräusch. Außerdem erinnerte es mich an ein Erlebnis, das mich schon in vielen Träumen heimgesucht hatte. Es war vor etwa fünfzehn Jahren gewesen, als ich eine Raumlandedivision der USO in einen Einsatz gegen gutorganisierte Gesetzesbrecher auf der Eiswelt Gorroa geführt hatte. Wir waren gerade auf einem gefrorenen Ozean gewesen, als die Verbrecher darunter eine Hitzebombe zündeten. Als wir fliehen wollten, stellten wir fest, daß unsere Flugaggregate unbrauchbar waren. Sabotage. Innerhalb von wenigen Stunden versanken die meisten Raumlandesoldaten in jählings aufbrechenden Spalten und Heißwasserausbrüchen. Nur fünf Mann überlebten die Katastrophe. Einer von ihnen war ich. »Atlan!« Ich merkte erst jetzt, daß Razamon mich an den Schultern rüttelte. Sein Gesicht wirkte verzerrte. »Was ist los?« fragte ich. »Sieh dich um!« schrie Razamon erregt. »Die Stellen des Bodens, an denen eben noch Edelsteinnester glitzerten, sind zerbröckelt. Gleich sind wir an der Reihe.« Ich schaute mich um und fand Razamons Angaben bestätigt. Seltsamerweise regte ich
47 mich nicht darüber auf. Mir war, als befände ich mich wieder auf Gorroa, hörte ringsum das Knirschen, Knacken und Bersten des Eises und die Schreie der Gefährten – und wußte dabei, daß ich überleben würde, weil ich überlebt hatte. Plötzlich fiel ein fahler Lichtschein von oben herab. Im nächsten Augenblick schrumpften die schattenhaften Gebilde zusammen, dann lösten sie sich auf. Die Decke wurde heller und heller, bis sie wieder in dem strahlenden Blau erstrahlte, in dem wir sie zuerst gesehen hatten. Das Edelsteinmosaik warf das Licht vielfach gebrochen zurück. Die Springbrunnen sprudelten wieder – und von oben tauchten mehr und mehr silberne Vögel auf, die die Fontänen umschwirrten. Razamon stöhnte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Haben wir einen Alptraum gehabt, Atlan?« fragte er unsicher. Ich schüttelte den Kopf und blickte auf die Stellen des Bodens, an denen sich die Edelsteine jeweils aus einer kleinen Fläche in schwarzer Schlacke verwandelt hatten. »Ich denke, wir hatten es mit einer Realität zu tun«, erwiderte ich. »Aber warum sind wir den Schwingen der Nacht entkommen, warum ausgerechnet wir als erste Wesen, die in ihren Bann gerieten?« fragte der Atlanter. Ich zuckte die Schultern. »Ich habe nur eine Vermutung, Razamon. Du sagtest, die Schwingen der Nacht hätten etwas mit der Zeit zu tun.« Ich lächelte schwach. »Nun, auch wir haben auf eine außergewöhnliche Art mit der Zeit zu tun. Wir leben seit mehr aus zehntausend Jahren. Vielleicht hat uns das gerettet.« Razamon runzelte die Stirn, dann holte er tief Luft und sagte: »Es mag stimmen oder auch nicht jedenfalls leben wir noch – und wir werden die Halle so schnell wie möglich verlassen!«
*
48 Es erwies sich als unmöglich, die Tür wiederzufinden, durch die wir in die Halle gekommen waren. Als auch die Suche nach anderen Türen oder Öffnungen vergeblich blieb, meinte Razamon niedergeschlagen: »Hier kommen wir nicht heraus. Ich sagte ja schon, niemand entkommt den Schwingen der Nacht. Die Schatten werden uns wieder und wieder attackieren, bis wir ihnen erliegen.« Ärgerlich erwiderte ich: »Außer der Kraft, die den Kosmos zusammenhält, ist nichts und niemand allmächtig, Razamon, auch die Schatten der Nacht nicht. Es reichen ein paar gewöhnliche technische Tricks, um Türen verschwinden zu lassen, schattenhafte Gebilde zu projizieren und eisige Luft in die Halle zu blasen – von den Geräuschen ganz zu schweigen. – Und auch das läßt sich mit einem Hitzestrahl bewerkstelligen!« Ich trat heftig gegen einen der runden Schlackenhaufen. Im nächsten Augenblick strauchelte ich und wäre in das Loch gefallen, durch das die Schlacke plötzlich verschwunden war, wenn Razamon mich nicht gehalten hätte. Als nichts weiter geschah, beugten wir uns beide über das Loch und schauten hinein. Danach blickten wir uns verblüfft an. Denn was wir sahen, war das untere Ende der Wendeltreppe, durch die wir aus dem Erdgeschoß des Palasts in die Unterwelt der Ideenschmiede gestiegen waren. Wir erkannten es an einem winzigen Loch in der Wand. »Aber das ist unmöglich!« entfuhr es Razamon. »Es ist dasselbe Muster«, erklärte ich. »Absolut identisch. Dennoch vermag ich es mir nicht zu erklären, vor allem deshalb nicht, weil eine Treppe, die nach unserer Erfahrung nach oben führen mußte, hier nach unten führt.« Plötzlich lächelte der Atlanter breit. »Du kannst es dir nicht erklären, Atlan! Natürlich, wissenschaftlich läßt es sich nicht
H. G. Ewers erklären. Aber wo Magie im Spiel ist …« Ich nickte. »Also, sehen wir uns diese Magie einmal aus der Nähe an!« Entschlossen ließ ich mich durch das Loch gleiten, während ich mich an den Rändern festhielt. Danach schwebten meine Füße nur noch rund zehn Zentimeter über dem »unteren« Ende der Wendeltreppe. Ich ließ mich fallen. Und blickte im nächsten Augenblick die Wendeltreppe hinauf! Ich merkte, wie ich erbleichte, denn über mir war nur die Wendeltreppe – und unter mir befand sich der feste Boden des Treppenabsatzes. »Razamon?« Niemand antwortete, aber im nächsten Augenblick landete der Atlanter unmittelbar neben mir auf den Füßen. Er sah sich genauso verblüfft um wie ich eben noch. »Hast du mich gesehen, als ich hier unten ankam?« erkundigte ich mich gespannt. Razamon nickte. »Du standest auf dem Kopf, mein Freund.« Er lächelte flüchtig. »Eine enorme sportliche Leistung.« »Und hast du mich rufen hören?« forschte ich weiter. Razamon schüttelte den Kopf. »Hast du mich rufen hören?« erkundigte er sich. Darauf konnte auch ich nur den Kopf schütteln. »Eine Art Möbiussches Band«, sagte ich nachdenklich. »Selbst unsichtbar, aber sehr wirksam.« »Magie!« widersprach Razamon und fröstelte. »Aber ich glaube nicht eher, daß das die Wendeltreppe ist, die wir herabkamen, bis ich hinaufgestiegen bin und dort ankomme, von wo wir zuletzt flüchteten.« Er eilte die Treppe hinauf. Ich folgte ihm, denn von den Technos, die uns ein Stück gejagt hatten, war nichts mehr zu sehen. Sie würden auch kaum stundenlang gewartet haben. Tatsächlich erkannten wir oben den Raum
Die Strasse der Mächtigen wieder, in dem wir die Technos getroffen hatten. Zwei von ihnen waren noch immer da. Aber sie würden auch nie wieder erwachen. Das traf auch auf drei Sklaven zu, die in ihrer Nähe lagen. Also hatte hier inzwischen ein erbitterter Kampf getobt. Razamon und ich blickten uns an. Uns beschäftigte noch immer die Frage, wieso wir nach oben gekommen waren. Mit optischen Täuschungen ließ sich das Rätsel nicht lösen. Dahinter steckte mehr, als wir begreifen konnten. Doch wir hatten keine Zeit, uns mit langen Erörterungen aufzuhalten. Wir mußten Razamons Artefakt finden – und zwar schnell, damit wir den Palast verlassen konnten, bevor der Sklavenaufstand niedergeschlagen worden war und die Technos alles wieder unter Kontrolle hatten. Wir eilten weiter, wobei wir es nach Möglichkeit vermieden, Innenhöfe zu durchqueren, denn der erste Blick auf den nächsten Innenhof zeigte uns, daß dort Technos gegen Sklaven kämpften. Es war ein ungleicher Kampf: auf Seiten der Technos Lähmwaffen und auf Seiten der Sklaven alle möglichen Wurfgeschosse. Die Sklaven konnten sich nur deswegen noch halten, weil die Technos blindlings aus ihren Deckungen feuerten, ohne Vorstöße zu unternehmen. Nach etwa einer halben Stunde wurden wir in einem Korridor von einem Trupp Sklaven angehalten. Die Sklaven schienen uns im ersten Augenblick für Technos zu halten, wurden aber unsicher, während sie bereits ihre Schlagwaffen schwangen. »Wir waren Gefangene der Initiatoren«, erklärte ich schnell. »Als Phantasieritter starb, konnten wir entkommen.« Einer der Sklaven gestikulierte heftig. »Ich glaube, er will uns sagen, daß dieser Korridor zu den Gemächern der Initiatoren führt«, meinte Razamon. »Natürlich denkt er, daß wir diese Gegend meiden sollten.« Er wandte sich an die Sklaven. »Die Initiatoren besitzen etwas, das mir gehört und das sehr wertvoll ist«, erklärte er. »Es handelt sich um ein Bruchstück von
49 dunkelgrauer Farbe, mit eingeritzten schwarzen Symbolen. Man nennt es das Parraxynt.« Erneut gestikulierte der Sklave, denn diese bedauernswerten Geschöpfe konnten zwar nicht sehen und sprechen, aber hören. Er schien uns erklären zu wollen, wie wir an den Aufbewahrungsort des Artefakts kamen. Vielleicht wußte er nichts von diesem Bruchstück selbst, kannte aber die Lage einer Schatzkammer, wo wertvolle Stücke aufbewahrt wurden. Wir bedankten uns. Die Sklaven gaben den Weg frei und sahen uns nach, bis wir um eine Biegung verschwunden waren. Nach ungefähr hundert Metern öffnete sich vor uns ein Tor. Mißtrauisch blieben wir stehen. Hinter der Öffnung erkannten wir ein zweites Tor – und rechts und links von ihm standen zwei große, metallisch schimmernde Gestalten, die Energiewaffen in den Händen hielten. Kampfroboter! Ich lachte leise. »Weshalb lachst du, Atlan?« fuhr Razamon mich wütend an. »Weil funktionsfähige Kampfroboter längst auf die Ankunft Unbefugter reagiert hätten«, erklärte ich. »Und wir sind garantiert nicht befugt, hier zu erscheinen. Bei den Robotern aber hat sich nicht einmal eine Ortungsantenne bewegt, geschweige denn ein Waffenarm gehoben.« »Vielleicht geschieht das erst, wenn wir näher kommen«, meinte der Atlanter skeptisch. »Undenkbar wäre es nicht, aber unwahrscheinlich«, erwiderte ich und trat einen Schritt vor. Als noch immer keine Reaktion erfolgte, ging ich weiter. Gleich darauf befand sich Razamon an meiner Seite – und vor uns öffnete sich das zweite Tor. »Aber weshalb stehen die Roboter dann hier?« fragte der Atlanter. »Auf Uneingeweihte werden sie abschreckend genug wirken«, erwiderte ich. Der Raum hinter dem zweiten Tor war
50 mit funkelnden Schätzen aller Art gefüllt. Ganz obenauf lag das Parraxynt. Razamon stürzte sich auf sein Artefakt und preßte es gegen die Brust. »Gehen wir!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. Da ich ebenfalls fürchtete, eine Alarmanlage könnte jemandem unser unbefugtes Eindringen in die Schatzkammer gemeldet haben, folgte ich dem Atlanter. Ich widerstand der Versuchung, eine Kostbarkeit an mich zu nehmen. Waffen waren nicht dabei. Nach mühseligem Umherirren erreichten wir schließlich einen Innenhof – und stellten fest, daß wir gefangen waren. Ringsumher tobten Kämpfe zwischen Sklaven und Technos – und die Technos schienen mehr und mehr die Oberhand zu gewinnen. Oder die Sklaven hatten den Glauben an ihren Sieg verloren. Aber wie es immer war: Wir steckten fest und konnten weder vor noch zurück. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Innenhof von Technos besetzt wurde und wir wieder in die Gefangenschaft gehen mußten. »Wenn ich nur eine Waffe hätte!« sagte Razamon grimmig. »Ich würde mich schon durchkämpfen!« Wir duckten uns, als in der Nähe mehrere Explosionen krachten. Neben uns prasselten Splitter auf die Steinplatten. Ein Splitter blieb rauchend im Holz eines Baumstammes stecken. »Explosivgeschosse!« sagte Razamon verächtlich. »Vielleicht selbstgefertigte Bomben von Sklaven«, meinte ich. »Schade, daß du fast alle Erinnerungen an deine frühere Zeit auf Pthor verloren hast, sonst könnten wir doch noch entkommen.« »Wie meinst du das?« fragte der Atlanter. Ich deutete zum Flachdach des gegenüberliegenden Gebäudes hinauf. Über seinen Rand ragten die Aufbauten eines Zugors. Folglich mußte der Fluggleiter in der Mitte des Daches stehen. »Ich werde ihn fliegen!« erklärte Razamon entschlossen. »Komm!«
H. G. Ewers Da er keine Erwiderung abwartete, sondern über den Innenhof auf die Wand des gegenüberliegenden Gebäudes zulief blieb mir weiter nichts übrig, als ihm zu folgen. Aber mir war nicht wohl bei der Vorstellung, mich einem völlig fremden Fluggleiter anzuvertrauen, der von einem Pthorer gesteuert wurde, dessen Erinnerungen verlorengegangen waren. Da im Innern des Gebäudes heftig gekämpft wurde, kletterten Razamon und ich die Fassade hinauf. Eine im Innenhof explodierende Bombe trieb uns zusätzlich an, denn einige Splitter klatschten dicht neben uns gegen die Wand. Als wir uns über den Dachrand schwangen, waren wir innerlich darauf vorbereitet, gegen den Piloten oder gar gegen mehrere Wächter kämpfen zu müssen. Aber der Zugor stand verlassen auf dem Dach. Wir sprangen hinein. Razamon schaltete sofort an den Kontrollen, die für mich ein Buch mit sieben Siegeln darstellten. Aber der Zugor erhob sich gehorsam, schwankte zwar ein wenig, doch gewann dann rasch an Höhe. »Erinnerung plus Beobachtung!« rief Razamon mir zu. »Wohin fliegen wir?« rief ich zurück. »Denke an die Luftkorridore!« Der Atlanter nickte. Ich sah, daß wir in Richtung Westen flogen. Dort verlief irgendwo der Luftkorridor, in dem allein Flugverkehr innerhalb dieser Region geduldet war. Die Chance, ihn genau zu treffen, war verschwindend gering, aber keiner von uns wollte wieder in Zbohr landen. Razamon wandte den Kopf zu mir und lächelte siegessicher, als wir etwa zehn Minuten lang unbehelligt geflogen waren. Schräg unter uns tauchte bereits der Abschnitt der Straße der Mächtigen auf, den wir als Gefangene schon einmal überflogen hatten und auf dem der Göttersohn Honir herrschen sollte. Ich riskierte ein zustimmendes Nicken. Plötzlich setzten die Triebwerke aus. Razamon hantierte verzweifelt an der Steuerung,
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aber der Zugor neigte sich und stürzte schneller und schneller dem Boden zu. Wenn kein Wunder geschah, würde er zerschellen. »Hals und Beinbruch!« schrie Razamon mir zu. Ich vermochte über den makabren Wunsch nicht zu lachen. Aber der Atlanter gab noch nicht auf. Er hantierte weiter an Hebeln und Knöpfen herum. Plötzlich hob sich der Bug des Zugors. Ich glitt aus und prallte gegen die hintere Bordwand. Im nächsten Moment rutschte ich wieder nach vorn, denn der Gleiter senkte sich erneut mit dem Bug voran. Heulender Fahrtwind zerrte an meinem Netzgewand. Mühsam griff ich nach einer verankerten
Kette und hielt mich daran fest. Sekunden später gab es einen harten Schlag. Ich flog nach einem mörderischen Ruck an meinen Handgelenken durch die Luft, sah etwas Dunkles auf mich zukommen und versuchte meinen Kopf mit den Unterarmen zu schützen. Ein zweiter Schlag erschien mir wie ein Fall auf Watte. Aber das lag nur daran, daß mein Bewußtsein so blitzartig erlosch wie eine Lampe, die man ausschaltete …
ENDE
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