Das neue Abenteuer 357
Otto Emersleben
Die Sterntafeln des Ulug Beg
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 357
Otto Emersleben
Die Sterntafeln des Ulug Beg
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
©Verlag Neues Leben, Berlin 1976 Lizenz Nr. 303(305/65/76) LSV 7503 Umschlag und Illustrationen: Peter Becker Typografie: Christel Ruppin Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland (140) Berlin Bestell-Nr. 642 263 9 DDR 0,25 M
Über den Kuppeln von Samarkand dehnt sich blaßgrauer Herbsthimmel, reckt sich bis zum Horizont, hinweg über die Gärten der Oasenstadt, hinter denen die Wüste beginnt. Die Sonne schwimmt als unscharfer Fleck über flockigem Dunst. Obwohl es Mittag ist, hat sie nicht die Kraft, scharfe Schatten zu zeichnen. Auf dem ebenen Dach seines Hauses hantiert der greise Hadshi Mohammed Hosra, rückt ein paar große eingetopfte Zitronenbäume zur Seite, gießt sie mit Wasser aus einem kupfernen Krug, stellt einen Schemel neben die Pflanzenschalen. Von Zeit zu Zeit hält er ein mit der Werkelei, streckt seinen gekrümmten Rücken und schaut sich um. Das Dach ist noch auszubessern, bevor die Winterregen beginnen. Und im Frühjahr muß das Haus frisch geweißt werden. Der Hadshi schaut in die Ferne, dorthin, wo kein Minarett und keiner der prachtvollen Paläste seinen Blick aufhält. Ihn fröstelt. In der Wüste hat sich ein Sandsturm gebildet, der erste Sandsturm in diesem Herbst. Nicht lange mehr, und man wird die Zitronenbäume ins Haus nehmen müssen. Energisch zieht der Hadshi den Gürtel seines Chalats enger und macht sich wieder an seine Arbeit. Himmel und Wüste sind unverträglich wie Feuer und Wasser, wie gut und böse. So hat es das Leben Hadshi Mohammed gelehrt, und so berichten die Schriften, die er in diesem langen Leben studiert hat. Und auch ein Sandsturm ist kein geeignetes Mittel, Himmel und Wüste zusammenzubringen. Plötzlich dringen Rufe an sein hellwaches Ohr, polternde Schritte, Waffengeklirr. Der alte Mann schrickt zusammen, unsicher sieht er sich um und tritt an den Rand des Daches.
Durch die schmale Tür drängen sich bunt gekleidete Soldaten in den Hof seines Anwesens. Der Lärm ihres Auftritts übertönt das Plätschern des kleinen Brunnens. Einen Augenblick lang steht er stumm, dann hebt er hilflos die Arme und ruft mit spitzer, sich überschlagender Stimme: "Wer hat euch erlaubt, hier einzudringen? Was wollt ihr von mir?" Für den Hadshi unerwartet, erstirbt der Lärm. Die Soldaten sehen sich nach dem Rufer um. Mitten unter den Lanzenmännern entdeckt der alte Mann ein vertrautes Gesicht, sieht, wie es sich zu ihm hochwendet mit den anderen und dann wieder wegschaut. Das ist doch nicht möglich . Er zweifelt am Eindruck seiner Sinne. Und doch: Der sorgfältig gesteckte hellblaue Turban, der prachtvolle weite Chalat, dazu die stolze Kopfhaltung und der dunkle Bart - das kann nur Ulug Beg sein, Kalif und Sultan, allmächtiger Herrscher über dieses Land. Aber der Aufzug, in dem der Sultan ihn da besucht, entspricht nicht den Regeln des Hofzeremoniells. Und die sich laut um Ulug Beg drängenden Soldaten scheinen dem alten Hadshi kein Ehrengefolge, sondern eher eine Bewachungsmannschaft zu sein. Mohammed Hosra erschrickt. Gestern noch ist er bei Ulug Beg im Palast gewesen, hat er mit ihm die neuesten Beobachtungen der Astronomen besprochen, das Horoskop für das kommende Jahr gestellt. Und war es nicht günstig ausgefallen, das Horoskop? Merkur in Opposition zu Mars. Kein Krieg also. Aufblühen des Handels. Eine große Reise vielleicht für den Herrscher . Etwas Furchtbares muß inzwischen geschehen sein. Ehe Hadshi Mohammed noch Zeit zum Überlegen findet, hört er sich angesprochen: "Wir kommen im Auftrag
des Hohen Rates zu dir. In unserer Gewalt befindet sich Ulug Beg, den der Rat heute abgesetzt hat und der mit dir zu sprechen wünscht." Wie Hiebe fallen die Worte. Der Hadshi duckt sich, als könne er sie dadurch abwenden oder doch von sich abgleiten lassen. Ulug Beg abgesetzt, abgesetzt durch einen Hohen Rat, den es gestern noch nicht gegeben hat. Er versteht nicht den vollen Sinn dessen, was da auf ihn einstürmt, aber eins versteht er sofort: Auch sein eigenes Leben hat durch das, was geschehen ist, einen tiefen Einschnitt erhalten . Seit Ulug Beg, Sohn des Sultans Schachruch und Enkel des Großen Timur, selbst Herrscher geworden war, hat er, Mohammed Hosra, dem Sultan und allmächtigen Kalifen zur Seite gestanden bei dessen astronomischen Studien. Viele Nachtstunden hat er mit ihm verbracht über den Geräten, viele Tage bei der Deutung ihrer Beobachtungen. Ulug Beg war stets ein gelehriger Schüler, und er hat neben der Sternenweisheit des alten Hadshi stets dessen Lebenserfahrung gewürdigt. Soll er nun, da er selbst an der Schwelle des Alters steht, einen so unwürdigen Abschied erhalten? Hadshi Mohammed fröstelt. Es scheint ihm, als habe der Sandsturm ihn angeweht, als sei er eingedrungen in die Abgeschiedenheit seines Hauses. Er wird sich ihm entgegenstellen - einen anderen Weg gibt es nicht. Allah allein gibt den Gläubigen Kraft und Zuversicht. Hastig steigt der Hadshi die schmale Stiege vom Dach hinab in den Hof, mitten unter die Waffenträger. Er versucht, sich zu Ulug Beg durchzudrängen. "Laßt mich zu meinem Gebieter!" Ein fester Griff hält ihn zurück: "Hier sind wir die Ge-
bieter." Hadshi Mohammed sieht sich um, sieht in ein breites Gesicht, das, vom Eifer gerötet, erklärend hinzusetzt: "Jedenfalls jetzt ." Der Hadshi ist froh, daß sich der Griff lockert, der Anführer des Wachtrupps vor ihn tritt und das Wort an ihn richtet. Der Hohe Rat habe, so sagt er, in seiner unendlichen Güte von einer Bestrafung des Ulug Beg nach dessen Absetzung Abstand genommen, obwohl eine solche sicher verdient sei. "Denn wie kann man sich die Absetzung sonst überhaupt erklären, nicht wahr, wenn er keine Fehler gemacht und keine Verbrechen begangen hat? Das mußt du doch verstehen, bist schließlich ein studierter Mann." Fehler? Verbrechen? Der Hadshi schrickt zusammen. Der einzige Fehler, so scheint ihm, den Ulug Beg wirklich gemacht hat, war der, mit seinen Feinden nicht immer hart genug verfahren zu sein. Ein entscheidender Fehler und nun hat er sich gerächt. Und was heißt schon Verbrechen? Gewiß, noch nie hat ein Herrscher vor Ulug Beg die Rechte der Derwischklöster und Koranschulen beschnitten, ihren Landbesitz geschmälert, mit Steuern belegt oder ganz konfisziert, wenn sie sich seinen Anordnungen widersetzten. Natürlich aus ihrer Sicht ein Verbrechen, und sie haben sich auch nie gescheut, es so zu nennen. Sollten sie hinter dem Umsturz stecken? Die Schwierigkeit, hört der Hadshi den Truppführer fortfahren, auf welche die Güte des Hohen Rates nun jedoch stoße, sei die, daß der solchermaßen Begnadigte nicht in die Bedingung willige, die an den Gnadenakt geknöpft sei. Er sagt "geknöpft", der Hadshi muß sich ein Lächeln verkneifen.
"Schwierigkeit?" fragt er. "Wegen welcher Bedingung?" "Das soll er dir selbst sagen." Herablassend weist der Anführer auf Ulug Beg. Aber er bekommt aus dem faltenumzogenen Mund des Gestürzten nur ein paar zornige Worte zur Antwort: "Vor euren dummen Ohren spreche ich mit niemandem. Und schon gar nicht mit Mohammed Hosra, dem weisesten meiner Ratgeber." Unzufrieden winkt der Truppführer ab. "Das hast du uns schon auf dem Wege hierher gesagt, gleichviel immerhin." Mohammed Hosra belustigt die Art des Mannes, seiner Rede gebildete Schnörkel geben zu wollen. Aber er weiß, daß sein eigenes und auch des Sultans Schicksal vom guten Willen dieses Gernegroß abhängen kann, und also unterdrückt er den Wunsch, sich über diese Gespreiztheit lustig zu machen. "Ich glaube, es kann deiner Absicht und deinem Auftrag nur dienlich sein, wenn mein Gast mit mir spricht. Ich werde ihm - wenn du es gestattest - die Stellung der Sterne auslegen im Hinblick auf das, was von ihm verlangt wird, selbst wenn ich darüber noch immer Genaues nicht weiß." "Nun gut, dann stelle dein Horoskop!" sagt der Anführer. "Aber halt uns nicht lange auf damit." Ungläubig, als habe er den unwirschen Befehl nicht richtig verstanden, sieht Mohammed zu dem Recken auf. Sein gestutzter weißer Kinnbart zittert dabei. "Die Sterne scheinen nur nachts, weil sie um ihre Geheimnisse fürchten", entgegnet er. "Und wenn man einem Menschen sein Schicksal aus dem Stand der Gestirne vorhersagt, muß man ihm allein gegenüberstehen." Den Hadshi überrascht nicht der Ausdruck des Mißfal-
lens, der sich um die Augen seines gestrengen Gegenübers zusammenzieht. Ohne Scheu stößt er nach: "Um Ulug Beg mit seinem Horoskop für das zu gewinnen, was du von ihm verlangst, muß ich ihn unter vier Augen sprechen." Er sieht, wie sich das Mißfallen in Freude über geglücktes Verstehen auflöst. "Nun gut", hört er den Recken sagen, "stell ihm sein Horoskop - von mir aus auch unter vier Augen." Sofort öffnet sich eine Gasse für Ulug Beg, er geht auf den Alten zu, der ihn zu der niedrigen Haustür führt. "Aber beredet euch nicht zu lange!" hören sie noch hinter sich herrufen, als sie die Tür schließen. Erst im Halbdämmer des reich mit Teppichen ausgelegten Raumes besinnt Hadshi Mohammed Hosra sich der Begrüßung, die er seinem hohen Gast schuldet. Er will in die Hände klatschen, will den Diener Tee bringen lassen, aber Ulug Beg unterbricht ihn: "Laß jetzt, dafür haben wir keine Zeit." Auch setzen will der Besucher sich nicht, er beginnt sofort gestenreich zu erzählen. Die Revolte habe - so sagt er - ganz plötzlich begonnen, unerwartet für seine Berater, für ihn selbst, für die Thronwache. "Wer die Macht hat, muß immer und in jedem Moment damit rechnen, daß andere sie ihm streitig zu machen versuchen. Aber so etwas, ein so sorgfältig geheimgehaltener Umsturz . Kein Hinweis durch einen Vertrauten. Auf einmal die Höfe und Zimmer voll von Soldaten, die Ausgänge gesperrt und die Dächer besetzt. Dazu die geheimnisvollen Befehle jenes Hohen Rates, von dem du auch schon zu hören bekommen hast. Und dann, daß mein ältester Sohn ." "Abdul?" Mohammed weicht zurück. "Ja, Abdul. Er führte sogar das Verhaftungskommando
heute früh. Erst vor einer halben Stunde übergab er mich dieser aufgebrachten Horde, die in deinem Hof auf uns wartet." "Auf uns?" "Ja, auf uns." Damit ist es heraus: Ulug Beg ist gekommen, Mohammed Hosra zu bitten, sich mit ihm gemeinsam auf eine Pilgerreise nach Mekka zu begeben. "Man hat mir die Wahl gelassen zwischen sofortigem Aufbruch und schmachvoller Aburteilung. Jetzt liegt es bei dir, wie ich mich entscheide, denn ich habe dieser Pilgerfahrt nur unter einer Bedingung zugestimmt: daß du mitkommst, Hadshi Mohammed Hosra." "Ich bin ein alter Mann ." "Und du bist ein Hadshi, bist schon an den heiligen Stätten in Mekka gewesen, ich weiß. Und trotzdem bitte ich dich, die Entbehrungen noch einmal auf dich zu nehmen. Du bist der einzige meiner Ratgeber, dem sie als Reisebegleiter zugestimmt haben. Unsere Gespräche über den Lauf der Gestirne scheinen ihnen dort in der Fremde nicht mehr gefährlich zu sein." "Ihnen - wer ist das? Doch nicht etwa jener Kraftkerl dort vor der Tür?" "Nein, der nicht. Und auch Abdul nicht. Den haben sie irregeführt. Armer Abdul." "Warum bedauerst du deinen Sohn? Hat er nicht die bewaffnete Hand erhoben gegen seinen leiblichen Vater? Er verdient dein Mitleid nicht, Ulug Beg." "Aber ich sage dir, daß er die Hand, die er erhob, doch nicht selbst geführt hat." "Trotzdem verdient er dein Mitleid nicht. Er ist nicht mehr dein Sohn, auch wenn andere hinter den Dingen
stehen, für die er sich hergibt." Jetzt, da er die Situation zu durchschauen beginnt, wird Hadshi Mohammed manches klar, was in den letzten Wochen geschehen ist. Die Anfeindungen durch den Hodsha der Schwarzen Moschee, die Drohung der Halbmondderwische, sie würden in einer Wolkennacht den Sextanten zerstören - alles war aus der gleichen Quelle gekommen. Aus der Quelle, aus der auch die Worte stammen, die hinter vorgehaltener Hand flüsternd weitergetragen werden seit einigen Wochen und die Ulug Beg einen Iblis, einen Teufel und Hexenmeister, nennen und dabei seine Sternbeobachtungen nicht aussparen. Hinter all dem Geschwätz hat von Anfang an der Gedanke gestanden, den Herrscher beiseite zu drängen, der es gewagt hatte, die Einkünfte der Hodshas und die Pfründen der Klöster mit einer Abgabe an die Staatskasse zu belegen. Natürlich - der falschgesichtige Sohn Abdul ist nur ein Werkzeug zur Ausführung dieser Absicht. Den Hadshi schüttelt es. Ein sorgfältig eingefädelter Umsturz. Jetzt ist nichts mehr rückgängig zu machen, jetzt geht es darum, Schlimmerem vorzubeugen. "Ich gehe mit dir", sagt Hadshi Mohammed Hosra ruhig zu Ulug Beg. Er sieht in das faltige Gesicht seines Gebieters, und er ist mit seiner Entscheidung zufrieden. "Nur mußt du mir eine Frage beantworten", setzt er hinzu. "Was wirst du mit dem neuen Leben beginnen, das du von mir zum Geschenk verlangst, Sultan?" "Ich verlange von dir kein Geschenk." Die Antwort ist knapp und bestimmt. Für einen Augenblick erschrickt der Hadshi. "Natürlich nicht - was sage ich da. Das Leben schenkt Allah allein. Aber du mußt doch einen Grund haben, es nicht verlieren zu wollen. Einen Grund, Allah die Entscheidung zu ver-
übeln, die er vielleicht schon getroffen hat. Einen wichtigen Grund. Oder - Gründe ." Ja, Gründe habe er, allerdings. Und je mehr Ulug Beg sich ereifert bei deren Aufzählung, desto mehr respektiert der Hadshi diese Gründe: Daß die Flucht nach Mekka die erwünschte Flucht sozusagen - die einzige Möglichkeit sei, an eine Rückkehr zu denken; daß er aber zurückkehren müsse, hierher, nach Samarkand, wo das Observatorium steht, der Riesensextant, das Meridianinstrument, das auf der Welt seinesgleichen sucht. Daß es gelte, nach dieser Rückkehr die Beobachtungen weiterzuführen erst recht, da die Verpflichtungen der Regierungsgeschäfte von ihm genommen seien. "Wenn wir erst wieder zurück sind, wird man mich in Ruhe lassen. Dann bin ich zu alt, um den neuen Herrschern gefährlich zu werden. Dann wird es auch Zeit geben für uns, Mohammed, das Buch Sidshi zu vervollständigen, die Sterntafeln, das Ergebnis unserer jahrelangen Beobachtungen. Viel zu lange schon liegen sie unvollkommen in ihrer Lade in der Observatoriumsbibliothek." Freude über seinen Entschluß zieht ein in das Herz des Hadshi, während er seinem Sultan zuhört. Gemacht hat Allah die Kaaba, das heilige Haus in Mekka, zu einem Zufluchtsort für die Menschen . "Viel gibt es nicht abzuwickeln für mich", sagt er. "Ich bin ein alter Mann. Meinen Diener Machmud nehme ich mit. Das ist meine Bedingung, Sultan. Auch er ist ein Moslem, und auch er hat wie du das Gebot zur Pilgerfahrt nach Mekka bisher nicht befolgt." Als sie im Hof vor den Truppführer treten, zeigt der Gestrenge sich mit dem Ausgang ihres Gesprächs sehr zufrieden.
"Jetzt wird nicht mehr lange gefackelt", sagt er. "Jetzt wird aufgesessen, und dann reiten wir los." Und nach einer kurzen Pause fügt er mit breitem Grinsen hinzu: "Ich habe schon nach den Pferden für euch geschickt. Und jetzt seht ihr, daß das goldrichtig war. Nicht einmal die Sterne und eure Horoskope wagen es noch, sich den Wünschen des Hohen Rates entgegenzustellen."
Eine Farsa - die Wegstunde eines Lastpferdes - von Samarkand entfernt, läßt Ulug Beg den kleinen Trupp seiner Wachbegleitung auf einer Hügelkuppe zum erstenmal halten. "Dies ist die Stunde des Abschieds von unserer Heimat, Hadshi Mohammed. Wer weiß, ob wir unsere Stadt jemals wiedersehen." "Wer an Allah glaubt, dessen Herz wird zum Guten geleitet, denn Allah weiß alle Dinge, Gebieter." Der Hadshi ist neben seinen Herrn getreten. Sein Pferd hält er kurz am Zügel gefaßt. Mit einem Ruck bringt er das ungeduldig tänzelnde Tier zur Ruhe. Vor sich sieht er das hagere, scharf geschnittene Profil Ulug Begs, den dunklen Kranz der Bartsträhnen, die gebogene Nase. Die alte Gelassenheit ist aus diesen Zügen gewichen, nervös zucken die Falten im Augenwinkel. Wieviel Ruhm und wieviel Schicksalsschläge hat dieser Mann schon erfahren in den sechsundfünfzig Sommern seines bisherigen Lebens. Bis vor wenigen Stunden noch unumschränkter Herrscher über dieses Land, das Reich seiner Väter, das sich von den Wüsten am Syr-Darja bis hin zu den Ufern des Indischen Meeres erstreckt und zu dessen Hauptstadt er, Ulug Beg, wieder sein geliebtes Samarkand gemacht hat, die prächtigste unter den Städten
des Großen Timur. Hadshi Mohammed Hosra hört die Pferde des Trupps ungeduldig den staubigen Felsboden scharren. Aber er sieht sich nicht um, sieht weiter auf Ulug Beg, sieht ihn mit ruhigen Schritten an den Rand des Hügels treten und die Hand nach der Stadt im Tal ausstrecken, seiner Stadt. Es ist, als versuche er, sie ein letztes Mal zu umfassen. "Samarkand ." Leicht und geheimnisvoll spricht Ulug Beg den Namen aus, wie eine Beschwörungsformel klingt es. Er läßt den Arm sinken und sieht weiter hinab ins Tal: auf die himmelstürmenden Minarette, die Kuppeln der Gotteshäuser, die prächtigen Anlagen der Karawansereien und Koranschulen. "Das ist mein Samarkand. Das wird immer mein Samarkand bleiben!" sagt er, und ohne sich umzudrehen, fragt er Mohammed Hosra: "Siehst du die grüne Kuppel des Gur Emir? Das Grab des Großen Timur ist überall in der Welt als Wahrzeichen unserer Stadt bekannt. Obwohl man den Namen der Stadt zu Timurs Lebzeiten überall nur voll Furcht und böser Erwartung aussprach, haben sich heute schon Legenden und eigentümliche Sagen um sein Grabmal zu ranken begonnen. In so wenigen Jahren ." Hadshi Mohammed hört den Stolz und die Trauer in diesen Worten, und er hört auch die bange Frage, die in ihnen steckt: Was wird von uns bleiben in dieser Stadt . "Ich sehe die gleißende Kuppel des Gur Emir", antwortet der Hadshi. "Aber ich sehe auch die prachtvolle Koranschule am Registan, die deinen Namen trägt. Und auf dem Felsenhügel Kuchak sehe ich das Observatorium, das du hast bauen lassen. Auch von ihm spricht man, wenn man heute in der Welt von Samarkand spricht. Sei unbesorgt,
Ulug Beg, Sohn des Sultans Schachruch: In den vierzig Jahren, die du hier geherrscht hast, ist die Stadt zu blühender Prachtentfaltung und zu weltweitem Ruhm gelangt wenn auch zu anderem Ruhm als unter dem Großen Timur. Dein Verdienst wird es bleiben, daß der Name dieser Stadt neben Athen, Alexandria, Bagdad eingegangen ist in die Geschichte der Wissenschaft. Nach deinen Sterntafeln Sidshi werden die Astronomen ferner Zeiten noch arbeiten, wenn die Namen deiner Feinde längst vergessen sind - auch der deines Sohnes." Unruhig irren die Augen Hadshi Mohammeds über das Gesicht Ulug Begs. Als sie keine Entgegnung darin erkennen, strafft sich die untersetzte Gestalt des Hadshi. Sein rundes Gesicht glättet sich. "Vergiß die Worte nicht, die der Prophet uns offenbart hat: Kein Unglück tritt ein ohne Allahs Erlaubnis. Und hast du auch in der Eile des Aufbruchs alles zurücklassen müssen, selbst das Sternbuch Sidshi in seiner Lade - vertraue dem Schicksal, das dir Allah vorherbestimmt hat. Nimm demutsvoll Abschied von Samarkand und begib dich in Frieden mit dir und der Welt nach Mekka, um Ruhe zu finden für deine gekränkte Seele." Eine Weile stehen sie schweigend. "Es ist Zeit zu beten", sagt der Hadshi dann. "Allah liebt es, von seinen Söhnen die Gebote beachtet zu sehen, die er uns durch den Mund des Propheten geoffenbart hat." Die Reinigung, die sie mit dem Sand der Wüste vollziehen, die Handreichungen ihrer Begleiter beim Entrollen der bunten Gebetsteppiche, die Gebärden der Andacht, das Murmeln auf ihren Lippen beim Vollzug des Gebetes alles geschieht wie zu Urväterzeiten und hat doch nur diesen einen jetzigen Sinn: ein gutes Gelingen der Reise
herbeizuwünschen und eine glückliche Heimkehr. "Helfet einander zur Rechtschaffenheit und nicht zur Sünde und Feindschaft. Und fürchtet Allah." Als sie wieder aufsitzen und Seite an Seite weiterreiten, dreht sich das Gespräch der beiden um irdische Dinge: die günstigsten Stellen zum Füllen der Wasserschläuche, die Einteilung ihrer Begleiter zur Nachtwache. Endlos scheint sich die Wüstensteppe zu dehnen. Einzelne Steinhaufen markieren den Weg durch die Einöde, hier und dort auch ein Tiergerippe. Die zur Sicherung gegen Wegelagerer ausgesandten Reiter umschwirren die kleine Karawane, Hornissen gleich. Hinter jeden Hügel schauen sie, jeder größere Steinkegel kann ein Hinterhalt sein. Ulug Begs Gedanken sind noch immer in Samarkand bei seinen Bauten, bei dem Buch Sidshi, seinen Sterntafeln. Wird er sie noch vorfinden bei seiner Rückkehr? Und sollte er tatsächlich nicht als Hadshi wiederkommen: Wird seine Welt weiterbestehen ohne ihn? Glücklich ist, wer diese Welt verläßt, ehe sie auf ihn verzichtet . Mit dem Handrücken wischt Ulug Beg sich über die Stirn, scheucht die Unglücksgedanken fort, wendet den Kopf kurz zur Seite, lächelt, als er den roten Turban Hadshi Mohammeds sieht. Daß der Alte neben ihm reitet, gibt ihm den Mut zurück. "Hast du Ali eingewiesen in die Beobachtungen? Er scheint mir der einzige zu sein, der dir im Observatorium wirklich nahestand." "Ali weiß, was zu tun ist. Seit der Riesensextant umgebaut wurde, erreicht die Messung der Sonnenhöhen beim Meridiandurchgang eine viel größere Genauigkeit als
bisher. Wir werden die Anzahl der Sterne, deren genaue Himmelsörter in den Tafelrollen verzeichnet sind, noch erhöhen können." Aschfahl scheint die niedergehende Sonne durch vorbeijagende Wolkenfetzen. "Ali wird nicht viel beobachtet haben heute." Auch das ist ein Abschied, der Ulug Beg schwerfällt: der Abschied von seinen Himmelsbeobachtungen, von den Instrumenten, den Aufzeichnungen. Unterwegs, in den kalten Wüstennächten, wird er angewiesen sein auf Astrolab und Jakobsstab, grobe Mittel, um den eigenen Standort bestimmen zu können. Um so gröber, da man feinere kennt und gewohnt ist. Auch Hadshi Mohammed reitet nachdenklich, schweigt. Den ersten Tag werden sie bald hinter sich haben. Den ersten von wie vielen? Als er schon einmal nach Mekka reiste - sein Titel eines Hadshi rührt von jener Reise her - waren sie fast drei Monate lang unterwegs. Drei lange Monate . Noch einmal sieht der Hadshi zurück. Unvermittelt zügelt er seinen Hengst. Dort, wo ihr Weg sich in der Ferne verliert und den Hügel hinauf strebt, auf dem sie gerastet haben, sieht er einen einzelnen Reiter vor seiner Staubfahne herangaloppieren. Mohammed Hosra sieht noch einmal hin. Ist es auch keine Augentäuschung? Nein. Die Staubfahne hält auf sie zu. Der Hadshi gibt Signal zu erneuter Rast. Die Männer murren über die Unterbrechung des Marsches. Aber schließlich gehorchen sie, da auch ihr Anführer absitzt, das Breitgesicht. Nur Ulug Beg bleibt im Sattel, und er versucht nicht, seine Ungeduld zu verbergen.
Endlich wird der Hufschlag des fremden Reiters hörbar, kurz darauf ist er heran. Er ist mit einem Schwert und einer Lanze bewaffnet. Seinem erschöpften Pferd tropft Schaum aus dem Maul. "Ulug Beg, Sohn des Sultans Schachruch! Ich habe dir eine Nachricht zu überbringen." Einer nach dem anderen stehen die Reiter auf, umringen die beiden Männer zu Pferde und trauen zunächst ihren Ohren nicht, als sie den staubüberkrusteten Boten sagen hören: "Dein Sohn entbietet dir seinen Gruß, Ulug Beg. Der Hohe Rat hat ihn zu deinem Nachfolger bestimmt. Als neuer Sultan hat er sich entschlossen, einen Teil der Schmach wiedergutzumachen, die er dir angetan hat." Ulug Beg steigt vom Pferd, läßt die Zügel los. Der Kreis der Männer um ihn und den fremden Reiter hat sich geschlossen.
"Und - was hat mein Sohn dir noch aufgetragen?" "Dich und deine Männer in das Dorf Katill zu geleiten, wo man euch großzügig ausstatten wird, bevor ihr die Reise fortsetzt. So, wie es sich für einen Mann deines Standes geziemt." Einen wachen Augenblick lang zögert Ulug Beg die Antwort hinaus, dann sagt er: "Wir kommen mit. Allahs Auge ruhe auf dir und deinen Söhnen." Sie hatten das Dorf Katill meiden wollen, da es abseits der Karawanenstraße liegt. Jetzt scheint es Ulug Beg das eigentliche Ziel zu sein, dem sie seit ihrem Aufbruch aus Samarkand zustreben. Noch ist es weit bis nach Mekka, aber ein wichtiges Stück des Weges ist schon geschafft. Großzügig ausstatten . wie es sich für einen Mann deines Standes geziemt ., wie es sich für einen Sohn deines Standes geziemt, der eine furchtbare Schmach wiedergutmachen muß . Der ruhige Gang seines Reittieres wiegt Ulug Beg in einen leichten Schlaf. In kurzen, abgerissenen Bildern zieht die Erinnerung an seinen letzten herrschaftlichen Ausritt zur Falkenjagd an ihm vorbei. Die leuchtenden Farben der Kleider seines Gefolges, die lauten Rufe der Jagdmeister, das Wiehern der ungeduldigen Pferde. Da, der Beizvogel, den er an der Kette zu halten glaubt, steigt plötzlich auf, kreist über der Jagdgesellschaft, rüttelt kurz, stößt dann unerwartet herab. Aber er kehrt nicht zurück auf Ulug Begs umwickelte Traghand - er krallt sich fest in der schutzlosen Schulter. Schmerzhaft ist das, aber der Schmerz vergeht, und zurück bleibt das Gefühl des Betrogenseins. Da erwacht Ulug Beg. Um ihn ist Dunkelheit. "Halt!" hört er die Stimme des unbekannten Reiters.
Im Kischlak Katill, einem aus ebenerdigen Lehmhäusern zusammengewürfelten Dorf, weisen ihnen Fackelträger den Weg. Beiderseits des schmalen Durchlasses zwischen den Hütten stehen sie, an jedem Hoftor, hier und da auf einem der flachen Dächer. Das Flackern der Fackeln erhellt viele Gesichter, zu erkennen aber glaubt Ulug Beg niemanden. Eines bewegt ihn vor allem: Wird er seinem Sohn noch einmal begegnen? Wird sich ihm die Gelegenheit bieten, seinerseits Abdul Latif um Vergebung zu bitten für die Verwünschungen und die Flüche der letzten Stunden? Er, Ulug Beg, wird nicht zurückstehen mit großen, verzeihenden Gesten, wenn es zu dieser Begegnung kommt. Ist es nicht schließlich das Recht der Jugend, von schnellem Entschluß zu sein? Er erinnert sich an seine eigene Jugend, die er für immer hinter sich glaubte. Jetzt tauchen die lange vergessenen Bilder auf in ihm, Erinnerungsscherben, fügen sich ineinander, ergänzen sich. Es war zur Zeit des letzten Feldzugs des Großen Timur, als er, Ulug Beg, die Heeresmacht des Großvaters als Schildknappe begleitete. Nie gehörte Sprachen, ungeahnte Eindrücke hatten ihn täglich bestürmt. Es hieß damals, Ziel der gewaltigen Streitmacht sei das ferne, unfaßbar reiche China. Die noch in Kinderträumen befangene Phantasie war mit ihm davongeflogen, hatte ihn fortgetragen zu lieblichen Flußläufen und schließlich zum unendlich entfernten Meeresstrand. All das Land würde eines Tages ihnen untertan sein. Ihnen - das heißt dem Großvater. Solange er lebte. Und - wenn er nun stürbe, fiel, von einem feindlichen
Pfeil getroffen oder von einer jener Bleikugeln, die die Chinesen mit Blitz und Knall aus langen Rohren abschossen? Was geschah, wenn Timur diesen Feldzug nicht überlebte? Wer hatte dann die Macht über Leben und Tod all der Männer, die ihn bei dem Unternehmen begleiteten? War nicht er, Ulug Beg, der erklärte Lieblingsenkel des von allen gefürchteten Herrschers und wie kein anderer dazu ausersehen, ihm in der Regierung zu folgen? Ehrgeizige Freunde hatten diesen seinen Gedanken bereitwillig aufgenommen und ihn darin bestärkt, sich als Nachfolger des schrecklichen Timur zu sehen. Nämlich so hatten sie die Ideen des jungen Prinzen weiterverfolgt -, es gab auch Mittel und Wege, den Tod Timurs nicht einem zufälligen Pfeil zu überlassen . Dann war alles ganz anders gekommen, nach Timurs Tod hatte sein Vater, Schachruch, die Herrschaft über das Timuridenreich angetreten und ihn, Ulug Beg, mit Samarkand und dem Land Mawarannahr abgefunden. Dann war auch Schachruch gestorben, und das gesamte Reich war an ihn gefallen, und Samarkand war wieder Hauptstadt geworden. Aber Reiche werden zerstört und entstehen neu, nur die Werke der Weisen haben ewig Bestand. Ulug Beg ist bereit zu verzeihen. Und er ist fest entschlossen, den Rest seines Lebens der Wissenschaft und der Ergründung der Wahrheit zu widmen. Das wird er seinem Sohn sagen, wenn er ihn jetzt und hier zu sehen bekommt. Der Wille zum Großmut geht weit in diesem Augenblick des Verzeihens bei Ulug Beg, sehr weit. Soll Abdul Latif sehen, wie die Macht gebraucht wird, welchen Rausch sie bringt und welche Bedrängnis. Er wird ihn dabei nicht zurückhalten. Glücklich ist, wer diese Welt verläßt, ehe sie
von selbst auf ihn verzichtet . Nur eine Sorge hat er: daß man ihm die Möglichkeit nehmen könnte, aus Mekka zurückzukehren in sein Samarkand, in sein Observatorium, zu den Geräten, den Schriftrollen, den Sterntafeln.
Undeutlich sieht Ulug Beg vor sich die im Dunkel verschwimmende Gestalt Hadshi Mohammed Hosras. Die Entscheidung des Alten, mit ihm nach Mekka zu reisen, hat ihm neuen Mut gegeben, hat ihm plötzlich das Weiterleben erstrebenswert scheinen lassen. Blind vertrauend, reitet er hinter Mohammed Hosras Rappenhengst her, sieht sich nicht um, sieht nur ab und zu zur Seite in die feuerscheinüberstürzten Gesichter der fackeltragenden Männer am Wegrand. Immer neue Gesichter tauchen auf, fallen zurück in die Dunkelheit, aber immer noch erkennt er keines von ihnen. Da plötzlich merkt er, daß Hadshi Hosras Hengst scheut,
sieht, wie dem Alten mit Fackeln und Lanzen der Weg versperrt wird. Zur Seite sieht er ihn ausweichen, in ein Tor, das sich in diesem Augenblick öffnet und sofort wieder schließt, als Mohammed Hosra hindurch ist. Im gleichen Augenblick wird er selbst von Fackelträgern in einen Torweg gedrängt. Bevor die schweren Bohlen kreischend hinter ihm zufallen, sieht er, daß auch seine bisherigen Bewacher umringt sind. Pferde steigen hoch, Lanzen und Säbel blitzen auf. Dann ist Stille um ihn. Als Pilger ist er unbewaffnet, und so dauert die Lähmung durch den unerwarteten Schreck länger, als sie sonst dauern würde. "Was wollt ihr? Was habt ihr vor mit mir?" schreit es dann aus ihm hinaus. Er ist allein in dem düsteren Hof, allein unter fackelschwingenden, bis an die Zähne bewaffneten Kriegern. "Was wollt ihr?" schreit er noch einmal und tritt mit den Stiefeln um sich, als sein Pferd sich unter dem Zugriff der Bewaffneten aufbäumt. Es gelingt ihm, das Tier zu zügeln, aber sofort sind die Angreifer wieder heran, fuchteln herum mit Lanzen und Fackeln, greifen nach Zügeln und Sattelzeug. "Wer seid ihr? Wer ist euer Anführer? Wer hat sich diese hinterhältige Falle erdacht? Man hatte versprochen, mich zu meinem Sohn Abdul zu führen. Also führt mich zu ihm!" Unter dem Klirren der Waffen erkennt Ulug Beg die Ohnmacht seiner Worte, und so läßt er es zu, daß sein Pferd von einem Unbekannten am Halfter genommen, in die dunkelste Ecke des Hofes geführt und dort an einem Baum festgebunden wird. "Steig ab, Ulug Beg. Ich will dich zu unserem Anführer
bringen, wie du es verlangst!" hört er den Fremden sagen. Ulug Beg folgt dem Unbekannten. Sie durchmessen mit wenigen Schritten den Hof, treten zurück in den Lichtschein der Fackeln. Ulug Beg nutzt die Helligkeit, um in die Augen der Männer zu sehen. Selten aber, so scheint ihm, hält ein Blick dem seinen stand. "Du hast nach dem Anführer gefragt!" unterbricht eine scharfe Stimme das Schweigen. "Ich bin der Anführer. Was deinen Wunsch betrifft, zu deinem Sohn geführt zu werden, Ulug Beg, so trügt dich deine Erinnerung. Man hat dir versprochen, dich in diesem Dorf so zu behandeln, wie es einem Mann deines Standes geziemt. Von einem Wiedersehen mit deinem Sohn war keine Rede." Die kleine zähe Gestalt des Sprechers ist vor Ulug Beg hingetreten. Der sieht den im Flammenschein hell aufleuchtenden Turban, sieht das scharfkantige, verbissen dreinschauende Gesicht, sieht die Narbe auf dem Nasenansatz. "Und wir werden unser Versprechen halten, werden dich so behandeln, wie es einem Manne geziemt, der die Gesetze des Glaubens mißachtet hat all die Jahre lang, der Werke des Teufels schuf und der die verfolgte, die ihn daran zu hindern wagten. Ein solcher Mann verdient nicht einfach, abgesetzt und in Frieden fortgeschickt zu werden. Ein solcher Mann hat mehr verwirkt als sein Amt, das er nicht zum Ruhme Allahs verwaltet hat. Und wenn die neue Obrigkeit ." "Mein Sohn wird es besser verwalten. Und er wird auch deine Erwartungen erfüllen, des bin ich sicher." "Dein Sohn, dein Sohn. Dein Sohn wird deine Nachfolge antreten oder auch nicht. Er wird vielleicht für einige Zeit dem Hohen Rat Folge leisten, dann wird er selbstherrlich
geworden und von keinem Gesetz mehr zu zügeln sein, auch vom Gesetz Allahs nicht, das sein Knecht Mohammed uns verkündet und dem der Hohe Rat Geltung verschaffen wird. Also lassen wir deinen Sohn aus dem Spiel. Er hat mit dem nichts zu tun, was wir hier unter uns abmachen werden, Ulug Beg, Sohn des Sultans Schachruch." Der Mann ist noch näher zu Ulug Beg getreten, seine Augen saugen sich fest an dem suchenden Blick seines Gegenübers. "Sieh mich an, Ulug Beg, sieh mich genau an!" sagt er. "Sieh dir vor allem auch meine Narbe an, sie sollte dich an etwas erinnern, nicht wahr, Ulug? An etwas, was schon lange zurückliegt für dich, aber für mich noch nicht lange genug, daß ich es vergessen könnte. Denn ich bin auch eines Vaters Sohn, Ulug Beg. Und darum kann ich nicht vergessen, woher diese Narbe stammt, verstehst du? Und um die Schmach der Narbe leichter tragen zu können, habe ich dich heute hierher bestellt, Ulug Beg, hörst du? Aber du hörst mir ja gar nicht zu ." Je länger er auf die sich überstürzenden Worte gehört hat, um so mehr hat sich Ulug Begs Blick an die Narbe geklammert. Dann war es ihm vorgekommen, als sähe er durch das Hautmal hindurch in die Vergangenheit, seine Vergangenheit. Und natürlich in die Vergangenheit jenes Menschen, der ihm da gegenübersteht und der ihm schon einmal gegenübergestanden hat und der ihm seinen Haß entgegenschreit, so wie er ihm damals seinen Haß entgegengeschrien hat. "Doch", sagt Ulug Beg verwirrt, und er holt seinen Blick zurück und sieht dem anderen fest in die Augen, "doch, doch, ich höre dir zu. Und wenn du glaubst, mir noch etwas sagen zu müssen, dann sage es nur!"
Da wendet der Untersetzte sich ab, als wolle er Ulug Beg sich allein überlassen, in Ungewißheit über sein weiteres Schicksal. Doch bevor er sich durch die erste Reihe der Umstehenden drängt, sagt er in schneidendem, scharfem Ton, so scharf, wie er sich vorhin als Anführer dieser Männer bekannte: "Ich brauche deine Erlaubnis nicht, um dir etwas zu sagen, merk dir das." Dann ist er im Dunkel verschwunden. Der Kreis der Männer schließt sich wieder um Ulug Beg. Der ihm am nächsten steht, hebt die Fackel so dicht unter sein Gesicht, daß es Ulug Beg heiß wird und er die Hand hebt, um das Feuer abzuwehren. "Wohin ist Abbas Ibn Aslan gegangen? Wann wird er wiederkommen?" fragt er gefaßt und ruhig. Statt einer Antwort sieht er die nächststehenden Gesichter sich zu einem breiten Lachen verziehen. "Er hat ihn erkannt!" hört er es rufen. "Abbas, er hat dich erkannt."
Hadshi Mohammed Hosra ist, nachdem man ihn in jenen Hof gedrängt hatte, von seinem Pferd abgesessen und hat das folgsame Tier an einen der Pfeiler des Feigenspaliers gebunden. Er schaut sich um in der Dunkelheit, aber angesichts der drohenden Wachen am Innentor bleibt ihm nichts übrig als geduldiges Warten. Nicht nur ist er unbewaffnet, er fühlt sich auch alt und müde und hilflos und zu keinerlei Widerstand fähig. Hoch ragt eine Mauer ins Dunkel, unüberwindlich umgibt sie den Flecken Erde, auf den er so unvermittelt beschränkt worden ist. Hadshi Mohammed sieht nicht, wo die Mauer aufhört und wo das abweisende Himmelsdunkel beginnt. Selten hat er das Himmelsgewölbe so fremd und
so sternenleer über sich gesehen in seinem Leben. Immer gab es da einen Punkt, irgendeinen, der ihm innere Ruhe versprach. Aber jetzt . Die einzigen Lichter in dieser düsteren Abgeschlossenheit sind die Fackeln am Hoftor, ihr Schein flackert über die Lanzen, Schilder und Helme ihrer schweigsamen Träger. Wer mag diese Männer geschickt haben? Was haben sie vor? Mit ihm, mit Ulug Beg? Und mit den anderen? Die Gedanken des Hadshi überschlagen sich. In der Eile aufgestellte Vermutungen verwirft er wieder, schöpft neue Hoffnung, sieht schließlich auch diese zerstört. Das Waffenklirren und die erregten Stimmen, die Schreie, die mit dem tanzenden Widerschein wildbewegter Fackeln aus dem Nebenhof über die Mauer dringen, schrecken ihn auf. Er kann die Worte zunächst nicht unterscheiden, dann hört er deutlich Ulug Begs Stimme heraus, hört die Stimme eines anderen, die ihm bekannt vorkommt und die er doch nicht mit einem Namen belegen kann. Dann hört er ihn, diesen Namen, hört den Schrei: "Abbas ." Jetzt weiß Mohammed Hosra, in welcher ausweglosen Lage Ulug Beg sich befindet und er mit ihm. Abbas Ibn Aslan . Eine alte Geschichte. Und jedermann hat eigentlich Grund gehabt zu der Annahme, sie sei für immer vergessen und abgetan. Aber was hat der zu Ende gegangene Tag nicht schon alles gebracht an Überraschungen! Mohammed Hosra erinnert sich plötzlich, als sei all das, was mit dem Namen jenes Abbas, Sohn des Aslan, zusammenhängt, gestern geschehen . Und doch sind schon mehr als vier Jahre seitdem vergangen. Nach dem Tod des Sultans Schachruch war, das unter Ulug Beg wiederverei-
nigte Großreich von Unruhe heimgesucht, die nicht zuletzt aus der unterschiedlichen Entwicklung der beiden Landesteile zu Lebzeiten Schachruchs herrührte. Denn seit er Timurs Erbe angetreten und damit den Kalifentitel erhalten hatte, war Schachruch von seiner Hauptstadt Herat in Persien aus unerbittlich mit Feuer, Peitsche und Schwert gegen alles vorgegangen, was ihm als dem Glauben der Väter und der Botschaft Mohammeds zuwiderlaufend erschienen war. Demgegenüber hatte der junge Sultan Ulug Beg im Teilreich Mawarannahr seit dem Tod seines Großvaters eine tolerante, weltoffene Haltung in Glaubensfragen vertreten. Durch seine astronomischen Studien war er damals schon zu der Überzeugung gelangt, daß die Dinge im Himmel und auch die Dinge auf Erden vielschichtiger und vor allem nicht immer so eindeutig sein konnten, wie sie der Koran hinzustellen versuchte. Und Hadshi Mohammed Hosra war stolz darauf, einen wichtigen Teil zu dieser Überzeugung seines Herrn beigetragen zu haben. Nach dem Tode des Vaters selbst zum Kalifen - dem Hüter des wahren und einzigen Glaubens - berufen, stand Ulug Beg sehr bald vor der Entscheidung, entweder dem Willen des Toten bis in die religiöse Verbohrtheit hinein treu zu sein, oder aber seinen eigenen Weg der Duldsamkeit im ganzen Reich weiterzugehen. Und da Ulug Beg sich für den eigenen Weg entschied, war es bald zu den ersten Schwierigkeiten gekommen. Der Streit hatte sich an der Frage entzündet, ob den Juden zwischen Syr-Darja und Indischem Meer auch in Zukunft die freie Ausübung ihrer Kulthandlungen gestattet werden sollte oder ob der Kalif nicht vielmehr die Pflicht habe, jenen heiligen Krieg zu führen, den der Prophet vor mehr
als achthundert Jahren gegen einige unbotmäßige Judengemeinden in den Städten Arabiens eröffnet hatte. Während die Gegner der Religionsfreiheit nicht müde wurden, vor der Ausbreitung des Unglaubens zu warnen, verwiesen die toleranteren Männer um Ulug Beg auf jene Stelle der zweiten Sure, die da lautet: Die, denen wir die Schrift gaben und die sie richtig lesen, die glauben an sie; wer aber nicht an sie glaubt, der ist verloren. Verlorene aber, so sagten sie, gäbe es unter Juden wie Moslems. Die Standpunkte in dieser Frage verhärteten sich bald, und es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen. Ulug Beg war davon ausgegangen - und Mohammed Hosra hatte ihn zu bestärken gewußt -, daß die Juden in Buchara und in Samarkand schon ein halbes Jahrtausend ansässig waren, ehe der Islam hier seine Verbreitung fand. Sie trieben Handel mit Gewürzen und Teppichen, und die plötzliche Mißgunst, der sie nach dem Tode Schachruchs begegneten, war in seinen Augen nur ein schlecht gewählter Vorwand gewesen, ihnen bei ihrem Handel im neu formierten Reich zu schaden. Eines Tages war durch Ulug Beg die Anweisung ergangen, Von islamischen Glaubenseiferern verwüstete Synagogen wiederherzurichten und neu zu eröffnen. Diese Anweisung nun hatte jener Aslan, den Ulug Beg als Hofscheiber aus dem Dienst seines Vaters übernommen hatte, eigenmächtig dahingehend verfälscht, daß sie als Befehl zur Schließung aller jüdischen Gotteshäuser ins Land hinausging. Zwar war Ulug Beg durch vorsichtige Rückfragen anderer auf das doppelgesichtige Spiel seines Schreibers aufmerksam gemacht worden, und man hatte schlimmste Folgen noch rechtzeitig verhindern können. Aber er hatte in dieser Sache nicht mit sich spaßen lassen,
kurzen Prozeß mit Aslan gemacht und den Mann dem Beil des Henkers überantwortet. Auf dem Richtplatz, wohin Abbas seinen Vater begleitet hatte, war es zu einer verzweifelten Abschiedsszene gekommen. Der Sohn hatte sich an den Vater geklammert, hatte von ihm mit Gewalt getrennt werden müssen und war dabei im Gesicht verletzt worden, wovon eine häßliche Narbe an der Nasenwurzel zurückblieb. Als der Kopf des Vaters fiel, hatte Abbas die Richter und mit ihnen Ulug Beg laut schreiend verflucht und das vergossene Blut auf sie alle herabgewünscht. Zwar hatte es damals nicht an vorschnellen Ratgebern gefehlt, die dem Sultan empfahlen, den Racheschwüren des jungen Mannes zu vorzukommen und auch ihn zu töten, aber Ulug Beg hatte davon nichts wissen wollen, ja er hatte sogar das Wüten des jungen Abbas auf dem Richtplatz einen verständlichen Ausbruch des Zornes über das Schicksal seines Vaters genannt, dessen gewaltige Schuld ihm - Abbas - nicht voll verständlich sein könne. Daraufhin war Abbas vor weiterer Verfolgung geschont worden, und er hatte die Zeit genutzt und war untergetaucht. Erst vier Jahre sind vergangen seitdem . Daß der Vater von Abbas nicht aus eigenem Antrieb jene Doppelrolle gespielt hätte, sondern im Auftrage einer großen Verschwörung gehandelt hatte, einer Verschwörung der Halbmondderwische, hatte sich erst später herausgestellt. Die Derwische hatten auch nach seinem Tod keine Ruhe gegeben, andere Streitpunkte waren hinzugekommen, und so hatte sich das Verhältnis zwischen Ulug Beg und der hohen islamischen Geistlichkeit ständig verschlechtert.
Wird erst das, was sich da im Nebenhof vorzubereiten scheint, einen blutigen Schlußpunkt setzen unter den langwierigen Streit? Hadshi Hosra ist nahe daran, an seiner Untätigkeit zu verzweifeln. Wäre doch nur sein Diener Machmud mit ihm in diesem düsteren Hof, hätte er doch nur einen Menschen, um mit ihm seine Gedanken austauschen zu können! Wieder sieht er Bewegung in das Flackern des Lichtes kommen, das über die Mauer fällt. In rascher Veränderung zeichnen sich große unscharfe Schatten auf die Giebelwand eines der Häuser. Gedankenverloren hockt sich der alte Mann nieder. Plötzlich hört er die scharfe Stimme des Narbengesichtigen über die Mauer flattern und springt auf, um mehr als einzelne Satzfetzen verstehen zu können. "Ich habe", hört er, " . Boten nach Samarkand . Anweisungen ." Für einen Augenblick tritt Schweigen ein. Dann hebt die Stimme erneut an, aber sie klingt jetzt näher, und Mohammed Hosra kann Wort für Wort deutlich verstehen. "Vor allem erhoffe ich mir von dem Boten eine Antwort darauf, was mit dir, Ulug, im Falle deiner Ergreifung geschehen soll. Aber ich bin nicht im Zweifel darüber, wie diese Antwort ausfallen wird." Ein kurzes hämisches Auflachen folgt, dann tritt erneut Stille ein. Mohammed Hosras Gedanken kehren zu dem Gespräch zurück, das er am Morgen mit Ulug Beg in seinem eigenen Haus vor ihrem Aufbruch geführt hat. Der Hohe Rat - alles scheint sich um dieses widersprüchliche Gebilde zu drehen. Der Hohe Rat setzt Ulug Beg als Sultan ab und verlangt von ihm, Samarkand zu
verlassen. Unterwegs werden sie von einem Boten eingeholt, der die Einsetzung Abdul Latifs als Sultan bekanntgibt - wieder durch diesen geheimnisumwitterten Hohen Rat. Wirklich immer denselben? Unruhig geht Mohammed Hosra im Dunkel des Hofes auf und ab und tätschelt seinem Pferd den Hals. "Wer weiß, ob wir beide hier noch einmal rauskommen." An der Mauer hält er plötzlich, für sich selbst unerwartet. War hier nicht die Stelle? Ja, auf einmal war Abbas ganz deutlich zu verstehen gewesen. Also muß er dicht an die Mauer getreten sein. Und hatte er nicht zu Ulug Beg gesprochen .? Und er hatte Ulug gesagt, um den Sultan zu demütigen. Ja, an dieser Stelle muß es gewesen sein. Oder ein kleines Stück weiter vielleicht? Wieder erfaßt ihn Unruhe, aber sie ist anderer Art als das grauenvolle Warten vorhin. Mit Mühe zähmt er die Hast seiner. Bewegungen, er will jetzt seine Wächter nicht auf sich aufmerksam machen und tritt wie zufällig ein paar Schritte zur Seite. "Ulug Beg. Hörst du mich? Ich bin es, dein Knecht Mohammed Hosra. Ich bin es, Ulug Beg", wispert er dann mit kaum hörbarer Stimme. Er lauscht, aber die Dunkelheit schweigt. Also noch einmal. "Hörst du mich, Ulug Beg? Mohammed Hosra spricht zu dir, hörst du denn nicht?" Lauter kann er nicht werden. Da ist plötzlich ein kaum vernehmbares Rascheln, dann eine Stimme: "Ich höre dich, Hadshi Mohammed. Ich bin es, Ulug Beg. Ich verstehe dich gut. Man hat mich an Händen und Füßen mit Stricken gebunden. Hast du gehört,
womit Abbas mir gedroht hat?" "Ich habe alles gehört. Aber ich bin allein hier und kann dir keine Hilfe bringen, Gebieter. Auch ich werde bewacht, obwohl ., ich kann mich frei bewegen in diesem Hof!" "Dann sieh zu, daß du entkommst und dich nach Samarkand durchschlägst. Du weißt, wir haben dort das Buch Sidshi zurücklassen müssen." "Ich weiß. Und ich werde es in Sicherheit bringen, wenn du meinst, daß ihm Gefahr droht." "Bring es weg aus dem Observatorium und versuche, die Sterntafeln zu vervollkommnen. Aber jetzt schweig, die Wache kommt." Laut mit den Stiefeln schlurfend und die Schäfte ihrer Lanzen auf stoßend, ziehen ein paar Soldaten heran. "Na, Ulug, ausgeträumt den Traum vom Beg. - Vielleicht auch den Lebenstraum, Ulug ." Sie erwarten keine Antwort von dem Gefangenen. Als sie außer Hörweite sind, beginnt Ulug Beg wieder zu flüstern. "Hörst du, Mohammed?" sagt er. "Sie werden bald Schluß machen mit mir. Darum mußt du durchkommen, Mohammed. Wer sonst soll die Sterntafeln retten?" Da dringt vom Tor seines Hofes Lärm an Mohammed Hosras Ohr, erschrocken fährt er herum. Im Schein der Fackeln sieht er den Torflügel aufgehen und eine geduckte Gestalt zu sich hereinstolpern. Dazu hört er die Wache schreien: "Wer weiß, vielleicht kennt ihr euch sogar ." Dann ist wieder Stille. Mohammed Hosra steht auf und geht auf das liegende Bündel Mensch zu. Machmud, denkt er, aber als er näher kommt und das verzerrte und von Blut verschmierte Gesicht sieht, kom-
men ihm Zweifel. Ist das wirklich Machmud? Der Mann trägt keine Kopfbedeckung, hält die Augen geschlossen. Mohammed beugt sich über ihn. Doch ., es ist doch Machmud. Da schlägt der Gestürzte die Augen auf und erkennt seinen Herrn. "Ich habe Durst, Hadshi Mohammed!" sagt er. Und er trinkt gierig die Handvoll Wasser, die Mohammed Hosra ihm aus dem Hofbrunnen bringt.
"Sie haben schon alles vorbereitet", sagt er dann. Und: "Sie wollten, daß ich ihnen Namen sage von Vertrauten, die Ulug Beg noch in der Stadt hat." Plötzlich reckt er sich hoch, stützt sich auf die Unterarme. "Wo ist er eigentlich - der Sultan?" Stumm weist Mohammed Hosra mit dem Kopf auf die Hofmauer, legt aber sofort einen Finger an seine Lippen. Machmud versteht. Er dreht sich zur Seite, streckt seinen
geschundenen Körper und atmet tief und hörbar aus. Jetzt gerät, Bewegung in die nächtliche Stille. Hufklappern, laute Erkennungsrufe, schon fliegt das Nachbartor auf. Ein Reiter springt ab, das Pferd wiehert. "Was gibt es? Hast du den Schwarzen Hodsha gesehen?" ruft Abbas. Er scheint aus dem Haus gestürzt zu kommen. Als er keine Antwort erhält, schreit er: "Rede!" "Ich war bei ihm, aber bis ich zu ihm gelangte ., in Samarkand ist die Hölle los ., brennende . und ." Nur schwer ist die stockende Rede zu verstehen. Mohammed Hosra tritt einen Schritt von der Mauer zurück. "Man hat mich verhaften wollen, weil man mich für .", hört er noch, dann schneidet Abbas dem Boten den Satz ab: "Das interessiert jetzt keinen. Du bist hier, und du warst bei Hodsha Achrar in der Schwarzen Moschee." "Er war nicht in der Schwarzen Moschee. Ich mußte ." "Laß das jetzt. Sag, was der Hodsha dir auf deine Frage geantwortet hat. Sag es endlich!" "Er sagte: Wer das Leben eines Glaubensfeindes schont, den verstößt Allah!" "Uns wird Allah nicht verstoßen." Wieder polternde Schritte, Kommandorufe. Also - der Schwarze Hodsha, Hodsha Achrar von der Schwarzen Moschee. Entmutigt läßt Mohammed Hosra den Kopf sinken. Vor diesem Mann hat er Ulug Beg immer gewarnt: Vor dessen Raffgier, die ihn zu einem der größten Grundbesitzer im ganzen Reich gemacht hat, vor seiner Verfolgungswut, vor seiner grausamen Rücksichtslosigkeit. Aber der Sultan wollte nicht auf diese Warnungen hören. Der Schwarze Hodsha also ist das wahre Haupt der Verschwörung. Abdul Latif, den sogenannten Hohen Rat -
der Schwarze Hodsha Achrar hat sie für sich eingespannt. Für das Weiterbestehen seiner kleinen und großen Vorrechte, für die Rückgewinnung schon verlorener Privilegien. Und Abbas läßt er die Schmutzarbeit machen. Mohammed Hosra hört neben sich Machmud aufstehen. "Wir müssen ." Der Diener hält sich beim Sprechen die rechte Seite. "Wir müssen vor allem ruhig bleiben. Erst einmal scheinen sie uns vergessen zu haben." Mohammed Hosra hastet vor an die Mauer, an jene Stelle, hinter der der Sultan gesessen hat. "Ulug Beg! Ulug Beg!" Aber er erhält keine Antwort mehr. Statt dessen erhebt sich inmitten des anderen Hofes ein Poltern, als würde ein schwerer Gegenstand über steinerne Platten geschleift. "Hierher! Neben den Brunnen!" Der Richtklotz . Die Fackeln haben einen Höllentanz begonnen, ruhelos huschen sie durch das ins Endlose steigende Dunkel. Der Erntetanz um den Baum Zaqqum, den Höllenbaum, denkt Hadshi Mohammed. Und es sind doch die Früchte dieses Baumes von Allah nur den Verdammten, den Verblendeten und den auf ewig Schuldigen zugedacht. Den Reinen und Weisen aber gehört das Paradies . Jetzt wird der Fackelschein ruhiger, es tritt Stille ein. Schließlich beginnt Abbas Ibn Aslan zu sprechen. "Knie nieder, Ulug, Sohn des Schachruch. Du hast dein Leben verwirkt. Durch Mißachtung der Gesetze des Propheten hast du selbst diesen Tag so schnell herbeigeführt. Nun, da entschlossene Männer das Schicksal deines Reiches in ihre Hände genommen haben, gibt es dort keinen Platz mehr für dich, Ulug. Fahr also zur Hölle!" Machmud springt auf. Die Verzweiflung scheint ihm
seine Entschlossenheit und seine Kraft wiedergegeben zu haben. Aber Mohammed Hosra legt ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. "Unser Sultan hat mir im Angesicht des Todes anvertraut, was für uns zu tun bleibt. Und ich werde seinen Auftrag ausführen. Mit deiner Hilfe, Machmud." Jetzt hören sie Ulug Beg sprechen. Seine Stimme klingt zunächst gequält, aber je länger er spricht, um so fester, klarer und selbstsicherer werden die Worte. "Das Streben nach Wissen und Recht ist die Pflicht eines jeden Mannes, und solange er lebt, hat er sich dieser Pflicht zu unterziehen. Nur Allah prüft und befindet, wer dieser Pflicht genügt und wer sie verletzt hat. Das Menschenwerk aber, das ihr Allahs Urteil beigeben wollt, die Religion, die Koranauslegung - all das zerteilt sich schließlich im unendlichen Raum wie flüchtiger Morgennebel. Ewig bestehen allein die Werke der Weisen ." "Genug. Was soll uns dein Reden? Du änderst dein Los nicht. Der Spruch des Schwarzen Hodsha hat dir den Tod bestimmt. Und dies ist mein Schwert, das das Urteil vollstreckt." In der Luft ist ein leises Pfeifen, ein dumpfer Schlag. Stille. Entsetzt wenden Mohammed und Machmud sich ab von der Mauer, hinter der das Schreckliche geschehen ist. "Bei Allah nur sind die Schlüssel des Verborgenen, er nimmt und gibt und ist der wahre Gebieter ." Ihre Totenandacht wird jäh unterbrochen vom Aufkreischen des Hoftores. Laut quillt ein Schwärm Soldaten hindurch. Einer von ihnen führt einen Esel am Zaumzeug. Unter dem Johlen
der anderen tritt er nach dem Tier und stößt es vorwärts. "Hier", ruft er, "nehmt diesen Krepel und macht euch auf nach Mekka ." Wieder wiehert die Meute. Mohammed Hosra greift dem scheuenden Tier fest in die zu kurz gebundenen Zügel. Beruhigt es. Sieht, wie die schräg angelegten Ohren sich allmählich aufrichten. "Nimm mein Pferd. Es läßt sich leichter führen als ein störrischer Esel", sagt er zu Machmud. Als er sieht, daß der Verwundete immer noch keine Anstalten macht, zu verstehen und mitzukommen, setzt er hinzu: "Komm jetzt. Wir sollen unsere Pilgerfahrt fortsetzen, Machmud. Allah liebt es nicht, seine Gebote mißachtet zu sehen."
Die Nacht in der Wüste ist kalt und unwirtlich. Erst als die Wolken aufreißen und gleißendem Mondlicht den Weg freigeben, kommen die beiden zügig weiter. Sie wechseln sich ab im Voranreiten. Machmud hat seine Schmerzen vergessen. Bald nach Verlassen des Unglücksdorfes haben sie die Richtung geändert, sind um den noch immer von einzelnen Fackeln erleuchteten Kischlak herumgeritten und haben den Weg genommen zurück nach Samarkand. Mohammed Hosra ist von starker innerer Unrast erfüllt. Sie hat ihn ganz in Besitz genommen und treibt ihn weiter und weiter. Alles, was er in diesen letzten Stunden gehört und was er selbst erlebt hat, läßt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er gönnt den erschöpften Tieren keine Verschnaufpause, immer wieder mahnt er zur Eile. Erst einmal in Samarkand sein! Noch hat die Sonne keine ganze Tagesbahn gezogen, seit er die Stadt verlassen hat mit jener stolzen Kavalkade. Auf
einem ausgeruhten Rassehengst ist er ausgeritten, sollte, wenn alles glatt und nach dem einmal gefaßten Plan verlaufen wäre, in einer der nächsten Karawansereien umsatteln auf ein gemächlich dahintrottendes, stolzes Kamel. Nun kehrt er auf einem müden Esel zurück, noch ehe der nächste Tag graut. Aber was zählt das jetzt schon. Was zählt, ist allein das Versprechen, das ihn in die Stadt zurücktreibt und Machmud mit ihm, das Versprechen, jenes Buch mit den Sterntafeln in Sicherheit zu bringen, bevor es Ulug Begs Mördern in die Hände fällt und sie es vernichten. Und dieser Feinde sind viele: der Schwarze Hodsha, die Bruderschaft der Halbmondderwische. Sie geben im Hohen Rat den Ton an. Schon haben die beiden Reiter jene Anhöhe hinter sich gelassen, auf der sie am frühen Nachmittag mit ihrem Sultan Abschied von Samarkand nahmen. Je näher sie der im Mondlicht ausgebreiteten Stadt kommen, um so gespannter wird ihre Erwartung, und mit der Erwartung wächst ihre Umsicht und Aufmerksamkeit. Die Silhouetten der Paläste und Minarette, die sich schwarz gegen den mondhellen Himmel abheben, verraten nichts von Veränderungen seit ihrer Abreise. Als sie aber in die Vorstadt einreiten, vorbei an ausgebrannten Wohnhäusern, an Moscheen vorbei, durch deren leere Fensterlöcher der Nachtwind weht, wissen sie, daß jener Unglücksbote nicht übertrieben hat. Wie wird sein eigenes Haus wohl den zornigen Ansturm der Sieger überstanden haben? Banger noch als diese Frage macht Mohammed Hosra der Gedanke an das Schicksal des Buches Sidshi. Ein Haus kann man wieder aufbauen, kann es neu einrichten und sogar wohnlicher machen, als es vor der Zerstörung
gewesen ist. Dieses Buch aber, die gewissenhafte und aufwendige Arbeit, die Ulug Beg an die Sterntafeln verwandt hat - das ist unwiederbringlich und durch nichts ersetzbar. Es ist das, was allein bleiben wird von dem weisen Sultan, dem Sternenfreund Ulug Beg, das einzige seiner Werke, das die Zeit überdauern wird, nun, da die anderen Zeichen seines Nachruhms dem Feuer und der Verwüstung anheimgefallen sind. Aber das Buch Sidshi ist auch ein Teil seines eigenen Lebens. Mohammed Hosra denkt an die Zeit zurück, als er Ulug Beg dazu überredete, die Ergebnisse ihrer allnächtlichen Beobachtungen sorgfältig zu sammeln und diese Zusammenstellung anderen Sternfreunden zugänglich zu machen. Der junge Sultan war damals von den Regierungsgeschäften noch nicht sehr belastet, die Astronomie hatte den Hauptinhalt seines ungezwungenen Lebens gebildet. Ein Astronom, den das Schicksal zum Sultan gemacht hat - so hatte er selbst sich damals im Scherz oft genannt, und so hatte er sein Leben verstanden: als Herr über diese Stadt, über die Wüste und den Himmel, der sie überspannte. Unbeschwerte Tage. Jetzt lächelt Mohammed Hosra, aber es ist ein müdes, ein resignierendes Lächeln. Kommt seine jetzige Mühe, kam nicht schon der Auftrag des gefangenen Ulug Beg viel zu spät? Wird er das Buch noch unversehrt vorfinden? Der Observatoriumsdiener Ali wohnt im Haus seiner Eltern, hinter der Bibi-Chanim-Moschee in der Stadt. Zu ihm müssen sie zunächst. Ein erster angstvoller Umritt zeigt ihnen, daß alle sechs Stadttore zugesperrt und von Bewaffneten dicht umlagert sind. "Wir werden warten, bis am frühen Morgen die Leute zu den Basaren reiten."
"Am frühen Morgen kann es schon zu spät sein. Die nutzlose Sucherei nach einem Schlupfloch hat genug wertvolle Zeit gekostet, Machmud!" Ratlos halten sie Rast in der silbrigen Dunkelheit, neben sich eine Gruppe Zypressen, die erstarrten Flammen gleich in den Nachthimmel züngeln. Der runde Mond ist schon weit abgestiegen auf seiner Bahn, scharf randig und groß hängt er über der Stadt und den Hügeln ringsum. Machmud bricht das Schweigen. "Es kann nicht mehr lange dauern bis Sonnenaufgang. Vielleicht sollten wir doch warten." "Vielleicht, vielleicht. Vielleicht kommen wir überhaupt schon zu spät!" entgegnet Mohammed Hosra ungeduldig. Doch dann setzt er hinzu: "Vielleicht ist aber Ali auch gar nicht in der Stadt. Immerhin, er könnte im Observatorium sein." "In einer so mondhellen Nacht? Ich kann mich an ähnliche Nächte erinnern, da bliebst du zu Haus, weil es zu hell war. So sagtest du jedenfalls." "Natürlich, natürlich. Aber die Planeten, die hellen Sterne, der Mond selbst - es gibt immer genug zu beobachten, auch in solch einer Nacht. Wir sollten wenigstens den Versuch machen und zum Observatorium reiten." Der Weg zu den Gebäuden der Sternwarte führt durch ein flaches, weitläufiges Tal. Schon haben sie dieses Tal fast durchquert, haben die Steigung des Hügels Kuchak in Angriff genommen, als, wie aus dem Boden gestampft, plötzlich eine Wache vor ihnen steht: "Halt! Hier geht es nicht weiter!" Quergehaltene Lanzen versperren den schmalen Weg, und hinter den Lanzen schimmern Schilde und Brustpanzer.
Die Wache ist unerbittlich, läßt sich auf kein Lamentieren ein. Die beiden Reiter kehren um, rasten wieder bei jenen Zypressen am Stadthang. Drohend und uneinnehmbar schimmert der Hügel Kuchak zu ihnen herüber und auf dem Hügel das hochaufragende, klotzige Gebäude des Observatoriums. Daneben hebt sich der schmale Bau des Sextantenraumes schwarz in den Nachthimmel. "So nah liegt das Ziel vor uns und ist doch unerreichbar!" sagt Mohammed Hosra. Aber er faßt neuen Mut: Noch steht das Observatorium, noch ist es der blinden Zerstörungswut entgangen. Dann ist auch dem Buch nichts geschehen, es liegt in jener Lade des Bibliotheksraumes, in der es immer schon aufbewahrt wurde . Groß ist Allah in seiner Güte, und er ist gerecht! "Nun hat es Zeit mit uns, da wir doch warten müssen." Der Hadshi streckt sich neben seinem Esel aus. Er sieht in den Himmel. Seine müden Augen fahren die Linien oft abgetasteter Sternbilder entlang. Der Große Wagen. Der Himmelspol. Darüber das Sternbild des Drachen. So standen die Sterne sein ganzes Leben lang, und so werden sie auch noch so manches weitere Leben überdauern mit ihrem Glanz. Das Wiehern des Pferdes holt ihn zurück aus seinem träumenden Schweifen. Er sieht, daß Machmud noch immer nicht abgesessen ist. "Willst du dich nicht auch etwas hinlegen?" fragt er den Gefährten, und in seiner Stimme klingt leiser Vorwurf mit. Als er keine Antwort erhält, ist er es auch zufrieden, dreht sich zur Seite und schließt müde die Augen. Plötzlich beginnt Machmud zu sprechen, und seine leisen, bedächtigen Worte klingen Mohammed Hosra so fernab und unwirklich, als kämen sie von den Sternen her. "Worauf warten wir eigentlich, Hadshi Mohammed?
Darauf, daß es hell wird und uns die Wache von neuem verjagt? Und warum sagst du, das Observatorium sei unerreichbar für uns? Wir sind ihm doch ganz nah, brauchen nur noch bis hin zu gelangen, das letzte kurze Stück."
"Aber wie, Machmud? Wie?" Auf einmal ist Mohammed Hosra hellwach. Er stützt sich auf seine Ellbogen, lauscht angestrengt auf eine Antwort. Aber was Machmud sagt, ist weiter nur so in die Dunkelheit hingesprochen, als denke er laut und versuche seine Gedanken irgendwie aneinanderzufügen. "Es gibt da einen Gang", hört er ihn sagen, "einen unterirdischen Gang. Der Einstieg liegt unten am Steilufer des Arik Obirachmat. Bei Hochwasser ist die Felsenöffnung meist überspült. Du mußt ihn doch auch kennen, diesen Gang, Hadshi Mohammed! Wir haben als Jungen oft dort gespielt, haben versucht, allen Verästelungen zu folgen. Aber niemals sind wir bis zu seinem tatsächlichen Ende vorgedrungen. Immer gab es neue Abzweigungen,
breite und auch engere Querstollen. Es muß also viele Enden geben - ein ganzes Felslabyrinth. Damals stand die Sternwarte noch nicht. Es hieß immer, der Gang führe auch in die Grabkammern des Gur-Emir-Mausoleums. Später dann, als vor zwanzig Jahren Ulug Beg seine Sternwarte bauen ließ, hieß es, sie habe einen unterirdischen Einstieg von jenem Gang her. Aber das mußt du doch alles viel genauer wissen, Hadshi Mohammed. Mit dir hat der Sultan doch alle Pläne zum Bau der Sternwarte besprochen." Erstaunt schweigt Mohammed Hosra. Solch eine lange, zusammenhängende Rede hätte er seinem Machmud nie zugetraut. Der Gang - natürlich. Aber der war nie benutzt worden, bestimmt war er längst verschüttet. Der Hadshi hob skeptisch die Schultern. "Aber wir müssen alles versuchen. Auch diese Möglichkeit!" Machmud steht auf und tritt zu Mohammed Hosra. Er nimmt eine Fackel, Stahl, Lunte und Feuerstein aus dem Sattelzeug des erschöpften Pferdes. Sie lassen die Reittiere zurück, binden sie an einen Zypressenstamm. "Hier hinab ." Der Eingang zum Stollen liegt versteckt hinter einem Felsvorsprung. Als sie sicher sind, daß niemand sie verfolgt, treten sie ein, an der ersten Wegbiegung entzünden sie mühevoll die Fackel. "Hier entlang." Mit traumwandlerischer Sicherheit führt Machmud seinen Herrn. Die feuchten Felswände zucken im Licht der blakenden Fackel. Rauhes, kaum behauenes Felsgestein. An einer Abzweigung bleibt Machmud unschlüssig stehen. Er hebt die Fackel, der Lichtschein erhellt einen
schmalen Spalt. "Dieser Einstieg ist neu, den gab es früher noch nicht ." Geduckt laufen sie weiter. Die Sohle des Ganges steigt langsam an. Die Felswände sind jetzt trocken. Dann geht es ein paar ins Gestein gehauene Stufen hinauf, schließlich erklimmen sie einen hohen Felsabsatz. "Gönne mir eine Pause, Machmud!" bittet der Hadshi, als sie oben sind. Dann geht der Gang eben weiter, hört schließlich vor einer Wand auf, an der eine hölzerne Leiter senkrecht nach oben führt. Der Lichtschein der Fackel leuchtet nicht bis hin zum oberen Ende des Schachtes. Hadshi Hosra steigt voran in die Ungewißheit, er ist eingehüllt in das Licht, das Machmud ihm nachträgt und das sich Sprosse für Sprosse vorantastet. Nicht enden will diese schreckliche, ermüdende Leiter. Endlich ein Absatz, auf dem sie kurz rasten und von wo aus sie einen Blick wagen hinab in die Tiefe. Und weiter. Die Leiter endet in einer Felskammer, aus der Kammer führt ein scharf gewinkelter Gang. Kaum sind sie ein paar Schritt diesem Gang gefolgt, hält eine Tür sie auf. Die Tür ist fest verschlossen, sie gibt auch unter heftigem Dagegenstemmen nicht nach. "Wir dürfen jetzt nicht aufgeben." Darin sind beide sich einig. Dafür haben sie nicht die Gefahren des Wüstenmarsches auf sich genommen, die Stadtwachen umgangen, diesem Gang nachgespürt . Sie müssen alles riskieren. Mohammed Hosra hebt einen faustgroßen Stein auf, schlägt ihn mit aller Kraft gegen das Türholz, schlägt wieder und wieder.
Der Stollen wirft den Lärm zurück, verstärkt ihn zu einem unwirklichen Donnern. Erst als seine Kräfte nachlassen, hört der Alte auf. Das Getöse im Schacht ebbt langsam ab, so, als verkrieche es sich in dem dunkel gähnenden Abgrund. Erschöpft setzt sich Mohammed Hosra. Besorgt sieht er auf die Fackel in Machmuds starker Hand. Sie ist fast heruntergebrannt. Und wenn sie Feuer legten? Die Tür muß doch brennen, so trockenes Holz . Nur - werden sie nicht ersticken? "Wir müssen auch das wagen." Machmud hält die Fakkel gesenkt. Die Flamme blakt an dem glatten Holz hoch. Der Raum beginnt sich mit beißendem Rauch zu füllen, als die Tür Feuer gefangen hat. Da gibt die Tür plötzlich unter einem Ruck nach, fliegt auf und reißt Mohammed Hosra um. Mühsam erhebt er sich in dem dichten Qualm, ertastet dabei das Ende der Leiter. Beinahe hätte es ihn in die Tiefe gerissen.
Er kann jetzt leichter atmen, der Rauch beginnt zu entweichen. Endlich! Neben sich sieht er Machmud, der noch immer die Fakkel in der Hand hält. Aber nicht mehr ihr dürftiges Blaken erhellt jetzt die Kammer, sondern fades Morgenlicht, das von draußen hereinfällt. Im offenen Türgeviert steht die Gestalt eines jungen Mannes, getaucht in die Schwaden des abziehenden Rauches. Es ist nicht Ali. "Wer seid ihr? Und was soll das Feuer?" sagt der Unbekannte laut. Er tritt mit seinen Stiefeln gegen das brennende untere Türende, dreht sich um, als das Feuer gelöscht ist, und ruft: "Es sind nur zwei, Ali Kuschti, und sie sind unbewaffnet!" Machmud drängt sich an ihm vorbei in den großen Raum hinter jener unseligen Tür, der sich mit Rauch gefüllt hat. Er erkennt das Instrumentenzimmer des Observatoriums: An den Wänden in kostbar verzierten Schaukästen astronomische Instrumente - Ulug Begs Sammlung, auf die er besonders stolz war. Jeder Gast wurde zuerst in dieses Zimmer und dann in die Beobachtungsräume geführt. An einem Fenster des Raumes hantiert hastig Ali Kuschti, er öffnet es schließlich und dreht sich dann um. Da erkennt auch er Machmud. Lange sagt niemand etwas. Erst der Hadshi bricht beim Hereinstürzen das drückende Schweigen. "Endlich! Endlich Menschen!" ruft er und hastet vor zum Fenster, pumpt in tiefen Zügen die frische Luft in sich. "Wir hörten den schrecklichen Krach bis in den Sextan-
tenraum", beginnt Ali zu berichten. "Zunächst dachten wir, sie kommen und zerstören die Sternwarte. Gestern waren kurz nach dem Meridiandurchgang der Sonne Soldaten hier eingedrungen, hatten alle Zugänge besetzt und mich und diesen meinen Verwandten zu Gefangenen erklärt. Dann hatten sie alle Räume durchsucht, waren, als sie niemanden weiter entdecken konnten, schließlich gegangen, aber nicht ohne ihr Wiederkommen für den heutigen Mittag in Aussicht zu stellen." "Dann gibt es also keine Zeit zu verlieren." Mohammed Hosra klopft den Ruß von seinem Chalat. "Wir haben die Zeit genutzt, du wirst mit dem Ergebnis meiner Beobachtungen zufrieden sein, hoffe ich." Der Hadshi versucht zu lächeln. "Sicher, Ali, sicher. Aber um diese Beobachtungen geht es jetzt nicht. Vor dieser Nacht hat es Tausende anderer Nächte gegeben. Komm mit in die Bibliothek." Als sie schließlich vor jenem Schrein stehen, der Lade, in der die Schriftrollen des Buches Sidshi aufbewahrt werden, beginnen Mohammed Hosra die Hände zu zittern. Behutsam fährt er mit den Fingerspitzen über das glatte Holz, bis er sich beruhigt hat. Dann öffnet er den Deckel. Da ist es . Niemand hat sich daran vergriffen bisher. Er ist noch zur rechten Zeit gekommen. In diesem Moment weiß Mohammed Hosra, daß sein Leben einen Sinn gehabt hat. "Siehst du?" fragt er flüsternd Ali und streichelt wie geistesabwesend die Truhe. "Siehst du? In diesen Aufzeichnungen steckt mehr als eine Nacht angestrengter Beobachtung. Und es steckt auch mehr drin als einfach die Summe aller Nächte, in denen diese Daten zusammengetragen wurden. Es ist der Sinn der Nächte, der auf diesen
Blättern verzeichnet ist. Das, was die einzelnen Beobachtungen miteinander verbindet. Was sie alle gemeinsam haben, verstehst du?" Fragend sieht er auf zu Ali, ohne jedoch eine Antwort von ihm zu erwarten. "Unser Sultan und Kalif Ulug Beg ist tot", sagt er dann, "und die ihn getötet haben, werden sich nicht mit dem Tod seines Körpers zufriedengeben. Sie werden auch seinen Geist töten wollen, sein Werk, seine Bücher ." Ali Kuschti ist bei der Nachricht vom Tode Ulug Begs auf die Knie gefallen. Mohammed Hosra bedeutet ihm mit einer energischen Geste, sich zu erheben. "Wir haben jetzt keine Zeit, seinen Tod zu beklagen. Und wenn wir es doch tun, machen wir uns mitschuldig an der Vernichtung seines Erbes. Wer außer uns sollte sein Werk vor der Zerstörung bewahren?" "Und wohin willst du die Blätter bringen? Hier sind sie nicht mehr sicher, Hadshi Mohammed." Mohammed Hosra tritt auf Ali zu. Er lächelt, und sein Lächeln drückt Zufriedenheit aus. "Ich weiß, ich weiß", sagt er. "Hier in diesen Mauern ist nichts mehr sicher und nirgendwo in dieser Stadt. In Samarkand hat die Wissenschaft jetzt keinen Platz mehr. Wenn es nötig ist, müssen die Sterntafeln sogar außer Landes gebracht werden." Der Hadshi spricht ohne Groll, und während er spricht, fallen ihm alte Träume ein. Nur sie können ihm weiterhelfen in dieser ausweglos scheinenden Lage. In Bagdad blüht die Astronomie, es ist schon immer sein Wunsch gewesen, die dortige Schule kennenzulernen. Aber Bagdad ist weit. Es ist fast eine Pilgerreise nach Mekka. "Ich bin alt", sagt er, und er sagt es laut und bestimmt,
als wolle er vor allem sich selbst überzeugen. "Auch kennen mich zu viele von Ulug Begs Feinden. Sie werden mich suchen und abfangen. Und wenn ich dann das Buch bei mir habe ." Mohammed tritt vor einen der verglasten Bücherschränke. Das Almagest des Ptolemäus, eine kostbar gebundene Kopie der Kosmologie des Griechen Aristoteles, die Werke des Abdallah Ibn Sina aus Buchara - jedes dieser Bücher für sich allein wäre schon die Zierde einer Bibliothek. Liebevoll fährt der Blick Mohammed Hosras über die prachtvollen Bände. Er kann sie nicht mitnehmen. Aber alle diese Bücher stehen an anderen Stellen auch, sie sind weit verbreitet in der mohammedanischen Welt. Doch das Buch Sidshi - das Buch Sidshi gibt es nur dieses eine Mal. Es ist wie eine zarte Pflanze, die besonderen Schutzes bedarf. Plötzlich sieht Mohammed Hosra in der blind gewordenen Scheibe des Bücherschrankes die Spiegelung eines Kopfes. Ali ist hinter ihn getreten. "Hadshi Mohammed", hört er ihn sagen, "ich bin nur ein einfacher Observatoriumsdiener, der im Laufe der Zeit gelernt hat, die einfachsten Beobachtungen auszuführen und wohl auch ihren Sinn zu verstehen. Eins aber hat die Nähe der Sterne und der Umgang mit gelehrten Menschen mein Leben lang mich nicht vergessen gemacht: daß die Mächte des Bösen ständig unter uns sind, bestrebt, die Erkenntnis aufzuhalten, weil sie die menschliche Dummheit auch weiterhin ausnutzen wollen. Ich bin ., ich werde ." Seine Rede gerät ins Stocken. "Wenn du es befiehlst, werde ich die Blätter dieses Buches in Sicherheit bringen", schließt er, und die Worte kosten ihn Kraft und Willensanstrengung.
"Ich habe dir nichts zu befehlen, Ali." Mohammed Hosra hat sich umgedreht, behutsam legt er ihm die Hand auf die Schulter. "Aber ich kann den Befehl Ulug Begs an dich weitergeben. Das Buch Sidshi muß fortgebracht werden. Und es ist der letzte Wunsch des ermordeten Sultans, daß diese Sterntafeln weiter vervollkommnet werden ." Der alte Hadshi Mohammed reckt sich hoch, er umarmt Ali Kuschti. Sie entnehmen dem Kasten die Blätter und rollen sie straff zusammen. Von außen legen sie einen Bogen Ziegenleder darum. "Mein Diener Machmud wird dich begleiten, Ali wenn es sein soll, bis Bagdad oder auch weiter. Und sicher wird auch dein Verwandter deinen Weg teilen, soweit er es vermag . Ihr müßt den Stollen benutzen, durch den wir gekommen sind. Er führt hinunter zum Steilufer des Arik. Nur müßt ihr euch bald nach neuen Pferden umsehen. Unsere Tiere sind müde geritten." Als er die angekohlte Tür hinter den drei Männern schließt, ergreift eine große Leichtigkeit Besitz von Hadshi Hosra. Er sieht sich um in dem Raum, tritt ans Fenster und atmet tief die erfrischende Morgenluft ein. Ringsum erwärmen sich die Hügel und Felsklippen im ersten Glühen der herbstlichen Sonne. Da mischt sich in diese Ruhe des Morgens Lärm, der vom Eingang her in das Gebäude dringt: Waffenklirren, unverständliche Rufe, trampelnde Schritte. Den Hadshi erfaßt eine große Kälte. Seine innere Leichtigkeit aber erschüttert der Lärm nicht mehr. Der alte Mann tritt vom Fenster weg. Er bindet den breiten Tuchgürtel von seinem Chalat, entrollt ihn vor sich, kniet nieder und senkt seine faltige Stirn. "Siehe, wir
fürchten von unserem Herrn einen finster blickenden, unheilvollen Tag. Aber Allah schützt die Gerechten vor dem Übel und wirft auf sie Glanz und Freude. Er führt, wen er will, in seine Barmherzigkeit ." Eintönig singt er die Worte des Morgengebetes. Ringsum sieht er den Himmel aufflammen in Erwartung des Tages. Sonnenaufgang, ewiges Wunder. Dann neigt er noch einmal die Stirn und fügt die Worte des Abendgebetes hinzu: "Siehe, die Sünder lassen hinter sich das Vergängliche, und sie lieben die Schwere des Tages. Allah aber ist gerecht und verzeihend." Er hat einen langen Tag gelebt.
Heft 358 Petyr Slawinski Die Fahrt nach Bunowo
März 1944, Sofia. Der Student Danko erhält den Auftrag, einen verwundeten Partisanen aus der Stadt heraus in Sicherheit zu bringen. Die Fahrt im überfüllten Autobus und die nicht immer freundlichen Reaktionen der Reisenden, der Zustand des Verwundeten und das plötzliche Auftauchen eines Spitzels komplizieren die Situation, so daß Danko nur mit äußerster Mühe sein Vorhaben ausführen kann.