Inge Dreecken
Die Silverqueen von Nevada Julia Bullette
Inhaltsangabe Oktober 1853 – die Comstock Lode zieht magisch ...
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Inge Dreecken
Die Silverqueen von Nevada Julia Bullette
Inhaltsangabe Oktober 1853 – die Comstock Lode zieht magisch Goldwäscher und Bergarbeiter, Abenteurer und Glücksritter, Spieler und brutale Geschäftemacher an. Die Erzlager am Sun Mountain scheinen unerschöpflich; aber nur für wenige erfüllt sich die Hoffnung auf Reichtum und Glück. Mitten unter den verwegenen Abenteurern und Glücksrittern bewegt sich selbstbewußt Julia Bullette, die junge, schöne und ehrgeizige ehemalige Revue-Tänzerin, die in kürzester Zeit zur vielumschwärmten, vielgeliebten und umschmeichelten wahren Herrin von Virginia City, zur Silverqueen von Washoe, aufsteigt. In dieser wild wachsenden Stadt, in der nur der Erfolg zählt, fehlt Julia nur eines zu ihrem persönlichen Glück: Tom McFarlan, den sie liebt und der sich seit seiner Ankunft in Virginia City nur noch um seinen ertragreichen Claim kümmert – und vor allem um Liza Derrick, die von Julia in Erfüllung des Jim Derrick kurz vor seinem Tode gegebenen Versprechens aus San Francisco nach Virginia City geholt worden war. Mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges geht auch in Virginia City die Pionierzeit der Diggers, Miners und Bonanza-Männer endgültig vorbei. Die ganz Großen des Silbergeschäfts schicken sich an, in der Stadt die Herrschaft zu übernehmen. Verlogene Ehrbarkeit und heuchlerische Prüderie legt sich wie ein Spinnennetz über den Distrikt. Die große Zeit von Julia Bullette ist zu Ende. Nur einmal noch huldigen ihr die alten Freunde: Als sie im Januar 1867 ermordet wird, gestaltet sich ihre letzte Fahrt zum Friedhof zu einem wahren Triumphzug. Es war, als spürten alle, daß mit dem Tode der ›Silverqueen von Nevada‹ auch all das zu Ende gegangen sei, was Virginia City zu Julia Bullettes Lebzeiten zur phantastischsten, wildesten und zugleich lebensfrohesten Stadt ganz Amerikas gemacht hatte.
Lizenzausgabe mit Genehmigung der Ferenczy Verlag AG, Zürich für Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, Gütersloh die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland, Kremayr & Scheriau, Wien Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C.A. Koch's Verlag Nachf. Berlin – Darmstadt – Wien Schutzumschlag- und Einbandgestaltung Karl Hartig Umschlagfoto: Kindermann Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany • Buch-Nr. 1806'1080 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Der Roman spielt zwischen 1859 und 1868 in Virginia City, Nevada, der ergiebigsten Silberstadt der Welt.
S
ie kamen von Kalifornien. Tausende waren auf dem Weg über die Sierra Nevada: mit gebeugten Rücken, auf die das schwere Gepäck drückte, und zusammengepreßten blutleeren Lippen. In ihren Augen lag ein gieriges Leuchten, wie es nur ein lohnendes Ziel hervorruft. Denn die Bonanza von Washoe zog sie magisch an. Sie verhieß Gold, Silber, sagenhaften Reichtum. ›Graukopf‹ Jim Derrick keuchte. Er spuckte dunklen Auswurf. Seit Tagen quälte ihn schmerzhafter Husten. Man konnte nur schwer sein Alter abschätzen: vielleicht schon über sechzig oder noch unter fünfzig. Sein hageres Vogelgesicht mit der vorspringenden Hakennase glich einem Totenschädel. Unter der gestrickten roten Pudelmütze ringelten sich Strähnen eisgrauen Haares hervor. Die dürren Säbelbeine, die in hüfthohen Stulpenstiefeln steckten, setzte er unsicher voreinander. Neben ihm führte Tom McFarlan, ein kräftiger Mann um die Dreißig, seinen Braunen. Er war einer der wenigen Goldsucher, die ein Pferd besaßen. Als der Aufstieg ins Gebirge steiler wurde, saß McFarlan ab, um das Tier zu schonen. Sie näherten sich dem Paß, der auf 2.800 Meter Höhe lag. McFarlan blickte Derrick von der Seite an. »Geht's noch, Jim?« Derrick pendelte wie eine Marionette hin und her. »Die dünne Luft, Tom. Die verdammt dünne, kalte Luft hier oben!« »Ist nicht mehr weit bis zum Carson-Paß, Alter. Kaum noch zwei Meilen, schätze ich.« Derrick blieb stehen und preßte die Fäuste auf die Lungenspitzen. »Als ich letztes Mal übern Paß ging, lief's leicht wie 'ne Dampfmaschine. Aber jetzt…« 1
»Bald geht's abwärts. Eine Strecke vorm Lake Tahoe weiß ich'n kleinen See, da schlagen wir Lager auf.« Mit torkelnden Schritten setzte sich Derrick wieder in Bewegung. Das letzte Stück vor dem Paß war extrem steil. Der schmale Weg zog sich in scharfen Serpentinen hinauf. Der Winter hatte früh und ungewöhnlich heftig eingesetzt. Schneidender Schneesturm schlug den Männern spitze Eisnadeln ins Gesicht. Noch nie hatte es Anfang Oktober bereits so viel Schnee und solche Kältegrade gegeben. Dieser Winter 1859 stellte sich mit grimmiger Wut vor. Er lehrte die Männer, die wahrhaftig nicht zimperlich waren, das Fürchten. Sie kamen aus aller Welt, um im Westen Amerikas ihr Glück zu machen: Iren, Italiener, Deutsche. Unzufriedene Buchhalter aus Boston und erlebnishungrige Farmersöhne aus Ohio. Spanische Adlige und russische Emigranten. Mexikaner, Mestizen, Neger. Halbe Kinder darunter und alte Männer. Sie waren seinerzeit auf Sutters Land gelaufen, als der kalifornische Goldrausch ausbrach. Und zogen dann weiter nach Grass Valley, nachdem dort einer Nuggets gefunden hatte. Wenige waren dabei reich geworden, viele kehrten krank und enttäuscht zurück. Manche hatten eine ergiebige Bonanza gefunden und den Gewinn verspielt. Das wirkliche Glück war kaum einem begegnet. Jetzt quälten sie sich zu Tausenden die Sierra hinauf und nach Nevada hinüber. Die gierige Aussicht auf die angeblich unerschöpflich reiche Comstock-Mine am Sun Mountain trieb sie voran. Wer früher kam, hatte die größere Chance auf einen ertragreichen Claim. Vielleicht war er schon Millionär, ohne es zu wissen. Das Washoe-Fieber brannte heiß in ihren Adern. »Hey-ho«, sang der blonde Arizona-Jack, ein Bursche wie ein Grizzly – breitschultrig, mit einem rosigen Kindergesicht. Er trug einen Zentnersack mit Proviant, Werkzeug und Ausrüstung so leicht, als ob nichts drin wäre als eine Ladung Hoffnung:
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»Hey-ho, old fellow, hey-ho! Wir ziehen hinüber nach Washoe, und das Glück und das Gold rollt voraus. Hey-ho, alter Waschbär, halte aus!« Die Kutsche der Wells Fargo hatte den Paß erreicht. Sam Hacket, der Postillion, fuhr nach kurzer Verschnaufpause weiter. Er hatte eine Stunde Verspätung. Auf jeden Fall wollte er heute noch Carson City erreichen. Mr. Davidson, einer der drei Passagiere, hatte ihm eine Fünf-Dollar-Note zugesteckt. Der Gentleman schien es sehr eilig zu haben; denn er wollte in Carson City ein Pferd mieten, um trotz der schneidenden Kälte noch die achtzehn Meilen bis zum Goldgräbercamp am Sun Mountain zurückzulegen. Davidson zog die goldene Uhr und ließ den Deckel aufspringen. Verärgert schüttelte er den Kopf. »Bereits vier Uhr vorbei! Wenn sich der Kerl nicht beeilt, sitzen wir, noch ehe es dunkel wird, in einer Schneeverwehung fest.« Er klopfte mit dem silbernen Knauf seines Spazierstocks gegen die Scheibe. »Vorwärts, Kutscher! Lassen Sie Galopp laufen.« Sam Hacket hörte ihn nicht. Er mußte ohnehin die Zügel kürzer nehmen, damit die Kutsche bergab nicht zu sehr ins Rollen kam. In der anderen Ecke saß ein nach der neuesten Mode geckenhaft aufgeputzter Dandy. Auch jetzt, während er lauthals schnarchte, trug er seinen grauen Zylinder auf dem Kopf. Davidson fühlte sich belästigt. Mit dem Spazierstock stupste er die Angströhre des Burschen an, der erschreckt auffuhr. »Ist was?« fragte der Dandy schlaftrunken. »Möchten Sie die Güte haben«, forderte ihn Davidson mit kaum verhohlenem Zorn auf, »sich ein wenig geräuschloser aufzuführen! Immerhin ist eine Dame anwesend.«
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Der Dandy, der sich zu Beginn der Fahrt als Andrew Zinneman aus Philadelphia vorgestellt hatte, lüftete den Zylinder und antwortete gähnend: »Bitte tausendmal um Vergebung, Miß Bullette. Tausendmal um Vergebung, Sir. Soll nicht wieder vorkommen.« Er versuchte krampfhaft, sich wachzuhalten. Nach einigen Sekunden fiel er in die Ecke zurück und schnarchte weiter. Julia Bullette lächelte vor sich hin. Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung: Mitte zwanzig, von tadellos schlanker Figur, jedoch mit üppiger Brust, die sich unter dem schicken Reisekleid der neuesten Pariser Mode kräftig hervorwölbte. Ihr Gesicht sah ein wenig bronzerot getönt aus, offenbar mit leicht indianischem Einschlag. Es trug die rassigen Züge einer kreolischen Schönheit. Der Mund war breit geschwungen, die aufgeworfenen Lippen wirkten sehr sinnlich. Der Schneesturm schüttelte die Kutsche. Bissige Kälte drang durch die Türritzen. Julia Bullette zog die Decke fester um die Knie, legte den Pelzkragen eng um den Hals und vergrub die Hände in ihrem schwarzen Muff. Offensichtlich war Davidson von ihrer Schönheit außerordentlich beeindruckt, und er gab sich auch keine Mühe, es zu verbergen. Miß Bullette benahm sich wie eine Dame der besten Gesellschaft; und sie war auch so angezogen. Vielleicht, wie Davidson unschwer erkannte, eine Spur zu damenhaft. Möglicherweise würde sein Aufenthalt im Minenbezirk von Washoe doch nicht ganz ohne amüsante Abwechslung verlaufen. »Ich bewundere Ihren Mut, Miß Bullette«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Eine alleinreisende Dame auf dem Weg in ein Goldgräbercamp: Respekt! Denn die Männer dort sind weiß Gott nicht gerade zart besaitet.«
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»Es wird mein Leben nicht kosten, Mr. Davidson«, erwiderte sie mit einem Anflug von Spott. »Jedenfalls weiß ich mit Männern umzugehen.« Er zwinkerte ihr vertraulich zu. »Daran will ich nicht zweifeln, Miß. Wissen Sie bereits, wo Sie absteigen werden?« Sie warf einen Blick durch das halbverhängte Fenster auf die Kolonne der Goldsucher, an der die Kutsche eben entlang rollte. »Nein, Sir. Ich bin noch nie im Washoe Country gewesen.« Davidson gab sich sehr beflissen. »Man hat für mich ein Apartment im International vorbestellt, bis ich mir vermutlich ein Haus mieten oder bauen werde. Ich hörte, das International sei gegenwärtig das einzig annehmbare Hotel im ganzen Bezirk. Vielleicht werden Sie auch dort Wohnung nehmen?« Julia nickte abwesend. »Vielleicht. Warum nicht?« Davidson versuchte erneut, sie nach ihrem Woher und Wohin auszufragen. »Ich denke doch«, fügte er nachdenklich hinzu, »daß wir uns schon einmal begegnet sind, Miß. Und zwar unter recht angenehmen Umständen, oder?« »Nicht, daß ich wüßte, Sir.« »Sie kommen aus New Orleans, sagen Sie?« Julia nickte. »Und waren wirklich nur vorübergehend in San Franzisco?« »Ich sagte es bereits.« »Höchst merkwürdig.« Julia konnte sich denken, wo Davidson sie wahrscheinlich gesehen hatte: in einem etwas anrüchigen Nachtlokal von San Franzisco, in dem sie sich einige Wochen lang ihr Geld als Amüsierdame verdient hatte. Sie war nicht gewillt, ihn mit der Nase draufzustoßen, falls es ihm nicht von selbst einfiel. Ohne Zweifel war Davidson ein einflußreicher Mann. Ohne Frage auch ein rücksichtsloser Mann, wenn es um Geschäfte ging. Das konnte man in seinen Augen lesen. Voraussichtlich würde sie ihn noch brauchen können. 5
Die Wahrheit war nämlich, daß auf dem Dach der Kutsche zwar drei Koffer und einige Hutschachteln mitfuhren, ihre Handtasche jedoch so gut wie nichts enthielt. Aber es bedrückte sie nicht einmal sehr, daß sie gegenwärtig kein Geld besaß. Ihr Mut war ungebrochen, insbesondere seit sie beschlossen hatte, sich vom neuentdeckten Reichtum am Sun Mountain einen möglichst großen Brocken zu sichern. »Sie reisen in Geschäften nach Nevada, Mr. Davidson?« fragte sie. Er nickte. »Im Auftrag der California Pazific Bank. Ich bin einer ihrer Direktoren und kaufe amtlich registrierte Claims auf.« »Und was machen Sie mit den Claims?« Davidson schien belustigt. »Was macht ein Mensch wohl mit einem Stück Land, auf dem er Gold oder Silber vermutet, wie?« »Er gräbt es um, weil er was zu finden hofft.« »Richtig.« »Also sind Sie so eine Art gehobener Goldgräber?« Er nahm ihre Hand und küßte sie auf die Fingerspitzen. »Sie sind einfach entzückend, Julia. Wollen Sie nicht Davy zu mir sagen? Meine Freunde nennen mich alle so.« »Einverstanden, Davy. Und wie ist das mit den Claims?« Davidson warf einen mißtrauischen Seitenblick auf den Dandy, der gewaltig schnarchte. Dann beugte er sich vor und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Falls Sie es nicht weitersagen, Julia: Meine Gesellschaft will eine große Mine betreiben – das erste Silberbergwerk, das diesen Namen wirklich verdient. Ich werde es aufbauen und leiten.« »Ich verstehe. Und wie macht man so etwas?« Er lächelte überlegen. »Das ist eine reine Geldfrage. Manche Diggers, die einen guten Claim haben, sitzen auf Millionen, können sie jedoch nicht rausholen, weil sie mit dem Spaten in der Erde herumstochern, anstatt mit Dampfmaschinen und Arbeitskolonnen zu schürfen.« Davidson rümpfte die Nase. »Die meisten Diggers sind kleine Pinscher, die auf den Zufall hoffen – eine Glückssträhne oder einen Gold6
klumpen. Sie werden's erleben, Julia. Ich kaufe diese Burschen aus. Penrod. O'Riley. McLaughlin. Comstock. Sie alle. Das ist 'ne reine Preisfrage.« Julia runzelte die Stirn. »Sind Sie da so zuversichtlich, Davy? Warum sollten die Männer für ein paar Dollar verschleudern, was ihnen Millionen einbringen kann?« Davidson wirkte selbstsicher. Es lag ein Stück Menschenverachtung in seinem Gesichtsausdruck, als er antwortete: »Jeder Mensch ist käuflich, so oder so. Und jedermanns Selbstvertrauen läßt sich erschüttern. Man muß nur wissen wie. Sehen Sie: Ich fange ganz nebenbei an; scheinbar zufällig an der Theke im Saloon – wenn einer gerade pleite ist und auf'n Drink lauert. Ich helfe ihm aus der Patsche. Das schafft Vertrauen. Ich erweise mich als spendabel, höre mir seine Sorgen an, stecke ihm ein paar Dollar zu. Für einen durstigen Mann, der keinen Cent in der Tasche hat, auch wenn er einen Millionenclaim besitzt, ist das verdammt viel.« Julia begriff. »Und irgendwann kommen Sie mit ihm ins Geschäft, ja?« »Notwendigerweise. Ich biete ihm fünfhundert an; oder tausend. Drei- bis fünftausend, vielleicht mehr. Irgendwann wird er weich. Ob früher oder später, ist eine Frage des Charakters und der Widerstandskraft. Nicht zuletzt auch ein Ergebnis guter Informationen, versteht sich.« Julia blickte verwundert auf. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Leute unter Druck setzen oder erpressen?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warum ein so häßliches Wort für eine so einfache Sache! Es sind schon Männer wegen ein paar Dollar mit einem Loch im Kopf aufgefunden worden. Aber lassen wir das! Ich bezahle bar auf die Hand und sofort. Sprechen wir von Angenehmerem.« Allmählich begann sich draußen die Dämmerung auszubreiten. Seit einiger Zeit hatten sie keine Goldsucher mehr überholt. Offenbar hatten die Männer den Weg verlassen, um abseits ihre Lager aufzuschlagen. 7
Plötzlich peitschten Schüsse auf. Das Fensterglas zersplitterte. Eiskalte Luft zog durchs Fenster. Ein Hagel von Pfeilen schlug in das Holz der Kutsche. Einer der Pfeile zischte an Julias Gesicht vorüber und nagelte den grauen Zylinder des Dandy gegen das Sitzpolster. »Himmel, Rothäute!« sagte Davidson erschrocken. Sie hörten, wie Sam Hacket auf die Pferde einhieb und laut rief: »Jetzt festhalten, Herrschaften, und die Köpfe einziehen! Es geht um Leib und Leben. Hüa! Lauft, ihr Racker! Hüa!« Die Kutsche machte einen Satz nach vorn und jagte den Serpentinenpfad abwärts. Die Räder sprangen über den holprigen Boden. Julia, mehr überrascht als ängstlich, blickte hinaus. Von einer Lichtung her galoppierte ein Trupp eingemummter Rothäute auf schnellen Ponies. Sie versuchten der Kutsche den Weg abzuschneiden. Ihre gellenden Kriegsrufe ließen die eisige Luft erzittern. Andrew Zinneman warf einen Blick hinaus und rümpfte die Nase. »Wie unsportlich!« bemerkte er. »Zwei Dutzend gegen vier.« Er zog eine Pistole aus der Tasche und begann zu feuern. »Washoe-Indianer«, sagte Davidson. »Sollen hinterhältige Burschen sein.« Zinneman nickte. »Keine gute Rasse offenbar.« Er zielte sorgfältig. Einer der roten Männer riß die Arme hoch und stürzte vom Pferd. Wenn Julia auch kein Geld in der Handtasche trug, so doch eine Waffe. Eine Sechsunddreißiger mit weißen, goldverzierten Beingriffschalen. Und das war beileibe keine Spielzeugpistole. Davidson wunderte sich. »Sie tragen eine Waffe bei sich, Julia?« »Sie etwa nicht?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. Von der Seite näherte sich ein Reiter, der einen Speer in der rechten Hand trug. Offenbar wollte er versuchen, auf den Kutschbock zu kommen und Hacket zu erledigen. 8
Julia zielte auf seine Brust und drückte ab. Sie sah für einen Augenblick seine entsetzten Augen. Sein Mund öffnete sich. Der dampfende Atem preßte einen schrillen Schrei heraus. Sein Pferd scheute. Im hohen Bogen flog der Mann aus dem Sattel. Das Pferd kehrte zu ihm zurück und stupste ihn mit der Nase an. Für einen Augenblick schloß Julia die Augen. »Hüa!« rief Sam Hacket, schlug mit der Peitsche auf die Kutschpferde ein und schickte einige Schüsse in den Trupp der Angreifer… Es gelang ihnen, die Rothäute abzuschütteln. Die Goldgräber waren vom Paßweg abgewichen und benutzten einen schmalen Pfad mitten durch den Wald. Tom McFarlan stützte Jim Derrick, der keuchend Schritt vor Schritt setzte, obwohl sie inzwischen den Gipfel überschritten hatten und nun abwärts gingen. Derrick schien zu phantasieren. »Ich hab' sie alle gekannt«, sagte er halblaut. »Wen hast du gekannt, Jim?« »Henry Comstock und alle. Wir haben vor Jahren drüben im Six Mile Canyon Gold gewaschen. Nicht weit von dem Platz, wo sie dieses Frühjahr den Silberberg angekratzt haben.« »Und war's was wert?« Derrick lächelte gequält. »Weißt du, wie wir's genannt haben, Tom? Des armen Mannes Bonanza. Du stehst den ganzen Tag im eiskalten Wasser und wäschst aus. Sieb um Sieb. Pfanne um Pfanne. Frag nicht, was es eingebracht hat! Kaum das Brot über Nacht, aber die Gicht in die Knochen.« Eine Weile trottete Derrick schweigend vor sich hin. Dann redete er weiter: »Hast du die Brüder Grosch gekannt, Tom? Ethea und Hosea Grosch?« McFarlan schüttelte den Kopf. »Die sind als Kinder aus Deutschland gekommen. Ihr Vater war Geistlicher in Philadelphia. Ein Mennonitenpfarrer. Zwei kräftige 9
junge Burschen, und verdammt anständig. Hab' sie damals im Six Mile Canyon getroffen. Weißt du, daß nicht Henry Comstock zuerst den Silberberg entdeckt hat, sondern die beiden Groschs?« »Ich hab' so was läuten gehört.« Derrick blieb stehen und krümmte sich. Ein trockener Husten schüttelte ihn. »Ist besser, wenn du nicht so viel redest, Alter«, sagte McFarlan. »Die kalte Luft in den Lungen ist Gift für dich. Du holst dir sonst noch 'ne Lungenentzündung.« Derrick stapfte wütend weiter. »Diese Groschs«, keuchte er. Ein ersticktes Kichern kam aus seinem Mund. Schmerz verzerrte sein Gesicht. »Ich bin 'n paar Wochen vor den Groschs am Sun Mountain gewesen, Tom, und hab' nichts gefunden. Dann kamen Ethea und Hosea zufällig dahergeschneit. Sie fanden Silberquarz. Dunkelblau leuchtend, beinahe schwarz. Sulfid. Gediegenes Silber, verstehst du, mit Gold vermischt. Der ältere Ethea wußte, was er in der Hand hatte. Viertausend Dollar wert die Tonne. Mußt du dir vorstellen, Tom.« McFarlan nickte. »Und was weiter?« Derrick schüttelte immerzu den Kopf. Er sah aus wie aufgezogen – das unermüdliche Perpendikel einer Standuhr. Der Schatten tiefen Bedauerns fiel über sein Gesicht. »So 'n Pech auch, sag' ich dir. So 'n beschissenes Pech. Zuerst hat's Hosea erwischt. Waren zwei nette Jungs, mußt du wissen. Grundsolide. Denen hätt' ich's gegönnt, Tom. Wenn einer wie ich ein Leben lang Pech gehabt hat, kriegt er 'n sechsten Sinn dafür, Tom. Das tut weh.« »Verstehe, Jim. Was ist Hosea passiert?« »Sie haben vom Morgengrauen bis in die Nacht geschuftet. Wie üblich war das Silber mit Goldstaub vermischt, auch kleine Nuggets darunter. Sie wollten so viel auswaschen, daß sie die Ausrüstung kaufen konnten, um die Silbermine auszubeuten. Sie waren sich darüber klar, daß sie auf einem Millionenvermögen standen. Eines dummen Tages haut sich Hosea den Pickel in 'n Fuß, achtet aber nicht 10
weiter drauf. Die Wunde infiziert sich. Vier Wochen später ist Hosea tot. Stirbt mitten auf einem Berg aus Gold und Silber. Das nenn' ich Pech, Tom. Ein gottsjämmerliches Pech.« Wut und die schneidende Kälte trieben ihm Tränen in die Augen. Er war blau gefroren. Eine Weile hatte der Schneesturm geschwiegen. Jetzt sang er wieder sein schauerliches Lied. »Ethea hatte aus Carson City einen Doktor kommen lassen«, fuhr Derrick fort. »Aber genutzt hat's nichts, sondern nur gekostet. Ethea mußte noch etliche Wochen Gold waschen, ehe er genug beisammen hatte, um den Doktor und das christliche Begräbnis zu bezahlen. Dann machte er sich auf den Weg über die Sierra, um in San Franzisco einen Kapitalgeber zu finden. Zusammen mit einem Kumpel, den er zufällig traf, ging er übers Gebirge. Aber es war inzwischen vorzeitig Winter geworden.« McFarlan schnupperte in die Luft. »Ist dieses Jahr auch nicht anders, Jim.« Derrick prustete. »Die beiden Burschen verirrten sich, ehe sie den Paß erreichten, und gerieten in eine Serie schrecklicher Blizzards. Vier Tage und Nächte hasteten sie wie blind durch die weiße Hölle. Am fünften Tag kamen sie nicht weit von hier zu einer kleinen Siedlung. Halb wahnsinnig vor Angst und Erschöpfung, Hände und Füße erfroren, lag Ethea zwölf Tage lang im Delirium, ehe er starb. Er nahm das Geheimnis vom Silberberg mit ins Grab. Ist das nun ein Pech, Tom, oder nicht?« McFarlan nickte. »Noch 'ne knappe Stunde, Jim, und wir sind am Lagerplatz.« Derrick taumelte, stolperte über einen Felsbrocken, der im Schnee versteckt lag, und schlug der Länge nach hin. Er hatte seine Handschuhe verloren. Seine Finger waren blutig gerissen und an den Gelenken knotig angeschwollen. Erschöpft lag er da, grub das Gesicht in den Schnee und keuchte. Eine Kette von Hustenanfällen schüttelte ihn. Die Goldsucher machten sich kaum die Mühe, um Derrick herum einen Bogen zu schlagen. Sie stapften unbeirrt, ohne den Blick 11
zu senken, vorüber – eine graue Masse Namenloser. Weißer Dampf wehte aus ihren Mündern und verlor sich im Schneegestöber. McFarlan hielt sein Pferd an. Er wußte, daß Derrick krank war. Aber er gab sich barsch. »Steh auf, Alter!« knurrte er. »Oder willst du hier Wurzeln schlagen?« McFarlan wußte zu gut, welche Energiereserven ein Mann zu mobilisieren vermochte, wenn es an seine Ehre ging. Arizona-Jacks Lied wehte weit voraus um die glashart gefrorenen Stämme der Ponderosa-Kiefern: »Hey-ho, dear mother, hey-ho!« Derrick hob mühsam den Kopf. »Ich schaff's nicht mehr, Tom.« »Ist dir schlecht?« Derrick biß sich auf die Lippen. Es schnürte ihm die Kehle zu. Ein Leben lang hatte er sich durchgebissen, ohne nur einmal schlappzumachen. Jetzt ging's einfach nicht mehr. Tränen rannen über sein eingefallenes Gesicht. McFarlan beugte sich zu ihm nieder und rüttelte ihn an der Schulter. »Hast du Schmerzen, Jim?« Derrick tastete mit steifen Fingern den Rücken ab. Er spürte das Stechen in den Lungen. »Da sitzen Hirschkäfer drin«, murmelte er. »Die zwicken mir die Lungenflügel ab. Wenn man sie nur rausholen könnte!« McFarlan legte das Ohr auf Derricks Rücken. Er hörte die Lungen rasseln wie eine Wasserpumpe mit ausgeschlagenen Ventilen. Derricks Puls ging rasch und unregelmäßig. Seine Augen glänzten fiebrig. McFarlan wußte jetzt, daß es eine Lungenentzündung war und daß es bei Derricks geschwächtem Zustand nicht viel Hoffnung gab. McFarlan blickte sich um. Die Legion der Glücksritter zog vorüber. Einer mehr oder weniger, das kümmerte keinen. Toms Pferd 12
scharrte den Schnee auseinander, um nach ein paar Grashalmen zu suchen. So ist das also, dachte McFarlan bitter. Jeder ist sich selbst der Nächste, ob Mensch oder Tier. Und am Ende kann keiner dem andern wirklich helfen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Derrick tastete nach seiner Hand. »Laß mich hier liegen, Junge«, murmelte er. »Leg mir was untern Kopf, Tom. Ich muß 'n bißchen ruhen. Dann geh weiter. Sieh zu, daß du bald nach Washoe kommst. Du kannst erreichen, was ich nicht geschafft habe.« Sie waren eine Gruppe von neun, die zusammen in Sacramento aufgebrochen waren. Derrick war der Älteste, Arizona-Jack der Stärkste. Dennoch hatten sie McFarlan stillschweigend als ihren Führer anerkannt. Er besaß die Fähigkeit dazu: Ausdauer und Entschlußkraft. Dazu Verstand und eine Spürnase. »Haltet mal 'ne Weile an!« rief McFarlan. »Jim muß ein bißchen verschnaufen.« Gambler Pete maulte: »So 'n Quatsch, Tom! Wenn wir nicht noch 'n Stück zum Lake Tahoe hinkommen, haben wir tausend Mann vor uns. Ich will in spätestens drei Tagen am Sun Mountain sein und meinen Claim abstecken. Jetzt zählt jede Stunde.« McFarlan blickte ihn wütend an. »Halt's Maul!« entgegnete er barsch. »Leg dein Gepäck ab, lauf zu Arizona-Jack voraus und sag ihm, er soll am Pahute Pool Lager machen. Er weiß schon Bescheid.« Murrend machte sich Gambler Pete auf den Weg. Er wagte nicht, offen zu widersprechen. McFarlan nahm Derrick das Gepäck ab und wickelte ihn in eine Decke. Dann schob er ihm ein Kochgeschirr unter den Kopf. »Den hat's erwischt«, knurrte Olaf Olafson, ein ehemaliger norwegischer Hafenbeamter aus Kristiania, mitleidig. »Verdammt hat's den Alten erwischt. Ich werde mal 'n Feuer machen.« 13
»Und koch einen Tee, Professor«, sagte McFarlan zu Walter Stein, der eine Brille trug und ein Universitätsstudium in seiner deutschen Heimat hinter sich gebracht hatte, ehe er einer Frauengeschichte wegen nach Amerika ging. Nach zwei Stunden hatte sich Jim Derrick ein wenig erholt. McFarlan setzte ihn auf sein Pferd, hängte sich Derricks Gepäck über und führte den Braunen am Zügel. Derrick hielt sich nur mühsam im Sattel. Die anderen hasteten schweigend vorwärts. Ehe sie zum Pahute Pool kamen, hörten sie Arizona-Jack bereits singen: »Hey-ho, dear mother, hey-ho! Wir ziehen hinüber nach Washoe, ich mache in der Comstock Lode mein Glück und kehre, dear mother, zu dir zurück.« Die Kutsche, halb nach vorn abgekippt, schleifte eine Weile, ehe sie zum Stillstand kam. Die Gespannpferde trugen flockigen Schaum um die Nüstern. Ihre schweißnassen Flanken zitterten vor Anstrengung. »Na also«, sagte Andrew Zinneman, der Dandy, und schob die Pistole ins Gepäck zurück. »Die Rothäute kommen so bald nicht wieder.« Davidson steckte den Kopf durch die zerschossene Scheibe. »Warum halten wir an, Kutscher?« Hacket kletterte vom Bock und öffnete den Schlag: »Tut mir leid, Herrschaften. Wir können nicht weiterfahren. Das rechte Vorderrad ist gebrochen. War ja auch kein Wunder, bei dieser Hetzjagd. Immerhin haben wir die Rothäute abgeschüttelt. War 'ne muntere Knallerei, wie? Haben sich tapfer gehalten, Ladies und Gents.« Zinneman machte eine wegwerfende Handbewegung.
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»Bedanken Sie sich bei dieser Dame, Mr. Hacket. Die schießt kaltblütig wie Kit Carson.« Hacket tippte mit zwei Fingern an den Hut. »Respekt, Madam. Tut mir leid, daß es 'n bißchen luftig geworden ist.« Davidson schien besorgt: »Sie meinen also, Kutscher, daß die Banditen uns nicht weiter verfolgen werden?« »Scheint mir sicher, Sir. Es dämmert bereits, und bei Dunkelheit haben wir von den Indsmen nichts mehr zu befürchten.« »Werden Sie den Radbruch beheben können?« »Mit einiger Anstrengung schon. Aber wir werden dennoch nicht weiterfahren können. Wäre glatter Selbstmord in der Dunkelheit auf dieser Straße. Leider können wir den Zeitverlust nicht mehr aufholen.« Davidson schüttelte verärgert den Kopf. »Und wie stellen Sie sich den Fortgang vor? Eine Nacht in dieser Kälte kann uns den Tod bringen.« »Jetzt ist Bewegung am besten«, antwortete der Kutscher. »Zieht euch warm an, Herrschaften! Haben Sie feste Stiefel dabei, Madam?« Julia nickte. »Im Koffer stecken Reitstiefel.« »Gut. Die ziehen Sie am besten gleich an, Miß. Und auch Sie, Gentlemen: möglichst festes Schuhwerk, bitte. Wir müssen leider einen kleinen Fußmarsch machen. Knapp drei Meilen abwärts, noch vor dem Lake Tahoe, hat sich ein Schweizer Siedler mit seiner Familie niedergelassen. Da können wir für die Nacht unterkommen.« Hacket begann die Pferde auszuschirren und trockenzureiben. Er wußte, daß sie sich sonst bei dieser Kälte den Tod holen konnten. Julia fror erbärmlich, obwohl sie ihren Pelzmantel trug. Als sie sich zufällig umblickte, entdeckte sie zwischen den Baumstämmen, abseits vom Weg, den Widerschein eines Feuers. Sie machte den Kutscher darauf aufmerksam. »Ich werde mal nachsehen«, sagte Hacket. Davidson äußerte Bedenken. »Seien Sie vorsichtig«, sagte er. »Vielleicht sind es Indianer. Da kämen wir vom Regen in die Traufe.« 15
»Wenn's Indianer wären«, entgegnete Hacket, »hätten sie uns schon längst entdeckt. Keine Sorge, Sir! Das ist ein Lagerfeuer von Weißen. Kein Indsman veranstaltet so einen Fackelzug, der bis runter nach Reno leuchtet. Ich denke, es sind ein paar Diggers, die sich ganz sorglos fühlen.« Hacket stapfte davon. Nach einer Viertelstunde kam er mit McFarlan, Arizona-Jack, Olaf Olafson und dem Professor zurück. Hacket sagte: »Wir haben Glück, Herrschaften. Es sind tatsächlich Goldsucher – ein paar alte Freunde darunter, die nach der Comstock Lode wollen. Wir können in einer mollig warmen Höhle an ihrem Feuer kampieren.« Davidson, durch den unerwarteten Zeitverlust verärgert, bezwang nur mühsam seine Ungeduld. »Hätte ich nur die Overland genommen!« knurrte er. »Dann wäre ich längst in Carson City.« McFarlan musterte ihn prüfend. »Meinen Sie etwa«, entgegnete er mit einem Anflug von Spott, »daß die Rothäute die OverlandKutsche ausgespart haben, nur um die Wells Fargo zu überfallen?« Davidson würdigte ihn keiner Antwort. »Was stehen Sie hier rum«, herrschte er Hacket an. »Nehmen Sie endlich das Gepäck runter und sorgen Sie dafür, daß es zum Lagerplatz kommt! Wir können es wohl kaum über Nacht auf dem Wagendach lassen.« Er bot, als befinde er sich in einem Luxushotel von San Franzisco, Julia galant den Arm, um sie durch den verschneiten Wald zum Pahute Pool zu führen. Hacket kletterte auf den Bock und begann das Gepäck abzuladen. McFarlan stemmte die Arme in die Hüften und sah zu. Der Zwischenfall zerrte an Davidsons Nerven. »Nun packt schon endlich mit an, Leute!« befahl er McFarlan und seinen Kameraden ungeduldig. McFarlan kniff ein Auge zusammen. »Sie sind offenbar Davidson, der Bankmensch, ja? Sam sagte so was.« »Ich bin Mr. Davidson, wohlgemerkt. Für Sie noch immer Mr. Davidson. Und wie heißen Sie?« 16
McFarlan tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe. »McFarlan. Tom McFarlan, Mister.« »All right. Dann packen Sie mit an, McFarlan, damit wir endlich ans Feuer kommen. Sonst erstarren wir hier noch zu lauter Eiszapfen.« »Für Sie, Davidson«, entgegnete der Goldsucher mit Seelenruhe, »bin ich Mr. McFarlan, klar?« Er drehte sich um. »Und jetzt wollen wir das Gepäck rüberschaffen. Olaf, Professor und Arizona-Jack, ihr nehmt die Koffer der Lady. Vergiß deine Pferde nicht, Sam!« Hacket drückte Zinneman und Davidson ihr Gepäck in die Hand. Dann nahm er die Pferde am Zügel. Davidson trat ihm in den Weg. »Sie wollen also mein Gepäck nicht transportieren, wie?« Hacket schüttelte gemächlich den Kopf. »Bin nicht Ihr Diener, Sir.« Davidson machte sich stark. »Zum letztenmal, Kutscher: Schaffen Sie mein Gepäck rüber, während ich mich um die Lady kümmere. Sonst werden Sie's bereuen.« McFarlan beobachtete die Szene mit fröhlichem Interesse. Hacket warf Davidson einen gleichgültigen Blick zu. »Sie können mich mal, Mister«, antwortete er und führte die Pferde in den Wald hinein. McFarlan hatte Julia betrachtet. »So was Feines und Zerbrechliches«, sagte er kopfschüttelnd. Sie warf die Lippen auf und blinzelte ihn wütend an. »Wollen Sie mir 'ne Begrüßungsansprache halten, Mr. McFarlan? Dann warten Sie gefälligst, bis wir an Ort und Stelle sind!« Julia drehte sich um und wollte Hackets Pferden folgen. McFarlan schüttelte den Kopf. »Warum so umständlich, Lady?« Ehe sie etwas entgegnen konnte, hatte er seine Arme um sie gelegt und sie emporgehoben. Wie eine Puppe trug er sie zum Pahute Pool hinüber. Sie blickte ihn überrascht an. 17
Seine Schultern waren breit. Er hatte einen ausladenden sicheren Schritt. Seine Augen blickten durchdringend – forschend und zugleich nachdenklich. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht. Wie ein rasch atmendes Tierjunges lag sie an seiner Brust. Der Griff seiner starken Arme fühlte sich durch den dichten Pelzmantel fest an – zupackend, besitzergreifend, schützend. Julia legte den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. Ihr war unendlich wohl zumute. Sie wußte nicht, warum es sich so verhielt. Aber zum erstenmal seit ihrer Kindheit, als ihr Vater sie im Arm hielt, fühlte sie sich geborgen… McFarlan und seine Freunde hatten sich am Pahute Pool, einem kleinen Gebirgssee, in einer geräumigen Höhle eingerichtet, die sich in der Felswand oberhalb des Sees verbarg. Die Öffnung war gerade groß genug, um die Pferde hineinzuführen. Obwohl in der Mitte der Höhle ein Feuer brannte, war die Luft nicht stickig. Offenbar hatte die Felskammer im hinteren Teil einen kaminartigen Abzug. Es duftete nach Bohnen mit Speck. »Wir haben bereits gegessen«, sagte McFarlan. »Aber der Professor macht Ihnen gern noch 'ne Portion, falls Ihnen unsere Speisekarte nicht zu ärmlich vorkommt.« Er breitete ein Bündel Fichtenzweige aus und legte eine Decke darüber. »Machen Sie es sich bequem, Miß. Ein extra Schlafzimmer kann ich Ihnen leider nicht bieten.« Nachdem sie sich gesetzt hatte, zog McFarlan ihr die Stiefel aus. »Und jetzt noch die Strümpfe, Lady!« Sie hob den Kopf. »Was soll ich, bitte? Am Ende verlangen Sie auch noch, daß ich für Sie einen Striptease mache.«
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Arizona-Jack, der eben einige Holzscheite aufs Feuer legte, grinste aufmunternd. »Vor uns brauchen Sie sich nicht zu genieren, Miß!« sagte er heiter. McFarlan warf ihm einen strafenden Blick zu. »Halt den Rand, Jack! Das ist 'ne Dame, klar? Da bitte ich mir anständiges Betragen aus.« Arizona-Jack knurrte. »Is' ja schon okay, Tom. Werd's mir aufschreiben und auswendig lernen.« McFarlan winkte ab. »Was ist nun, Miß? Ziehen Sie die Strümpfe aus oder nicht? Sie wollen sich doch nicht gern an Ihren hübschen Füßen ein paar häßliche Frostbeulen zuziehen, oder?« Sie gehorchte schweigend. McFarlan schob sie näher zum Feuer und begann ihre Füße zu massieren. Sie stützte sich auf die Ellbogen und schaute ihm vergnügt zu. Es tat ihr wohl. Davidson warf einen zornigen Blick auf McFarlan. »Meinen Sie nicht«, bemerkte er, »daß Sie sich etwas zuviel bei Miß Bullerte herausnehmen?« McFarlan beachtete ihn nicht. Inzwischen hatte der Professor das Essen aufgewärmt. Sam Hacket war zu ihrem Platz gekommen und schürte das Feuer. Er ließ sich vom Professor einen Schlag Bohnen geben und begann zu löffeln. McFarlan sah ihm und Julia beim Essen zu. »Wie lange fährst du schon für Wells Fargo, Sam?« »Den vierten Monat.« »Macht's Spaß?« »Mal so, mal so, Tom.« Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte McFarlan: »Wie sieht's in Washoe aus? Lohnt es sich, dort zu graben, Sam?« Hacket wischte sich den Mund ab und zündete sich eine Pfeife an. »Für den, der Glück hat, vielleicht. Hängt vom Claim ab.« »Hast du abgesteckt, Sam?« 19
Hacket nickte. »Und bist fündig geworden?« »Noch nicht.« »Hast also 'ne Niete gezogen. Schade.« Hacket machte ein Pokergesicht. »Weiß nicht, Tom. Schon möglich.« McFarlan sah ihn verwundert an. »Na hör mal, Sam! Mußt du doch wohl, wenn du bisher nichts gefunden hast.« Hacket kicherte. »Hab' noch gar nicht zu graben angefangen. Wie sollte ich auch, wo ich doch dauernd auf Strecke bin!« »Versteh' ich nicht. Du hast einen Claim abgesteckt und das Schürfrecht erworben beim Regierungsbüro. Sitzt vielleicht auf einer faßdicken Bonanza und hast nicht mal den Spaten in die Hand genommen?« »Ich sag' dir doch, Tom, daß ich noch keine Zeit dazu hatte.« McFarlan fuhr sich übers Kinn. »Gibt es etwa nicht genug Männer am Sun Mountain, die gegen Tageslohn oder ein paar Prozent Beteiligung die Arbeit für dich machen?« Hacket nahm sein Kochgeschirr und erhob sich. »Falls du Gold oder Silber finden willst, brauchst du nicht nur einen Claim, sondern auch Glück. Ich gehöre nicht zu denen, die an einem Sonntag geboren wurden. Bei dir wär' das vielleicht was anderes, Tom.« »Das ist der reine Unsinn, Sam.« »Kein Unsinn, sondern Lebenserfahrung. Erinnerst du dich noch an Roury?« »Miles ›Schweinchen‹ Roury?« »Eben der! Das ist einer der wahren Goldkönige von Washoe.« McFarlan sperrte Mund und Nase auf. Sie kannten ›Schweinchen‹ Roury aus ihrer gemeinsamen Trapperzeit am kanadischen Bärensee. Damals hatte Roury in ihrem Camp mehr schlecht als recht den 20
Koch gemacht. Als er eines Tages mit zwei Invaliden allein im Camp zubrachte, während die Männer auf ihren Schneetellern die Fallen abgingen, fiel eine Rotte zerlumpter Tutchone-Indianer über das Lager her. Die beiden Kranken, die sich nicht wehren konnten, brachten die Rothäute um. Roury gab den verhungerten Burschen zu essen und dafür ließen sie ihn am Leben. »Hat das dicke Schwein etwa ne Ader gefunden?« fragte McFarlan verblüfft. Sam Hacket nahm einen brennenden Span aus dem Feuer und zündete erneut seine Pfeife an. »Wenn du so willst, ja. Er ist Barbesitzer am Sun Mountain und auf dem besten Weg, steinreich zu werden. Zu ihm schleppen die Miners am Abend, was sie sich tagsüber in den Gruben schwer genug verdienen müssen. ›Schweinchen‹ Roury ist einer der wenigen, die an der Comstock Lode garantiert ihren Schnitt machen. Die andern können's nur hoffen. Kapiert, Tom?« Hacket nahm Julias und McFarlans Geschirr, um es draußen im Schnee auszuwaschen. Julia lag unter ihrem Pelzmantel. McFarlan breitete noch eine Pferdedecke über ihr aus. Er nickte ihr zu. »Schlafen Sie erst mal 'n Striemen, Miß, und träumen Sie was Schönes. Sam sagt, Sie wollen auch nach der Comstock Lode rüber?« »Stimmt.« »Ist aber verdammt kein Pflaster für eine alleinstehende Frau.« Sie fächelte den Rauch weg, den die nassen Kiefernzweige beim Verbrennen entwickelten. »Das lassen Sie mal getrost meine Sorgen sein, Mr. McFarlan. Ich bin in Gras Valley gewesen und nicht unter die Räder gekommen. Also werde ich auch Washoe überstehen.« »Der Dandy aus Philadelphia sagt, daß Sie eine verdammt schnelle und sichere Pistole haben, Miß. Sie können wohl die Rothäute nicht riechen, wie?« Sie verzog den Mund.
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»Ich habe selbst ein Achtel Indio im Blut. Warum sollte ich also! Aber wenn mir einer ans Leben will, werde ich ungemütlich. Das ist alles.« Sie rollte sich auf die Seite und krümmte sich zusammen. Gleich darauf war sie eingeschlafen. McFarlan drehte sich um und ging hinaus. Vor der Höhle stand der Professor bei Apatschen-Charlie. Sie unterhielten sich leise mit Sam Hacket. Das Feuer vor dem Eingang der Höhle war nahezu erloschen. Reste von Glut sprühten in feinen Funken umher. Es schneite nicht mehr. Der Blizzard hatte den Himmel blankgefegt. Er war mit ungezählten Sternen gesprenkelt, die ein kaltes Licht ausstrahlten. Um den Mond legte sich ein blaßgelber trüber Rand. »Wird noch 'ne Menge mehr Schnee geben«, sagte Hacket. »Und das schon im Oktober. Läßt einen harten Winter erwarten.« McFarlan zündete sich eine Zigarre an und paffte schweigend vor sich hin. Eine Weile lauschten sie in die Nacht hinaus. Irgendwo im Wald, ganz in der Nähe, hörten sie das Knacken von Zweigen. Apatschen-Charlie schnupperte. »Wapiti-Hirsche«, sagte er. »Die Elks wittern den strengen Winter, wenn sie jetzt schon Menschennähe suchen. Sie verlassen das Hochgebirge und ziehen ins Tal hinunter.« Weit entfernt, aus dem Wüstenbecken von Nevada herauf, wehte der Ruf eines Heulwolfs. »Er sucht Beute und dirigiert sein Rudel«, meinte McFarlan. Aus der Höhle antwortete eines der Kutschpferde. Es wieherte verdrossen. Alle Pferde, die in ihrer Jugend als Mustangs in Freiheit aufgewachsen waren, wurden die Abneigung gegen die Coyoten ihr Leben lang nicht mehr los. Wieder schwiegen die Männer eine Weile, nachdem auch das Wiehern verstummt war. »Gottlob ist Jim eingeschlafen«, sagte der Professor schließlich. 22
»Hättest du nicht beschreien sollen, Professor«, entgegnete McFarlan unwillig. Er lauschte. »Hörst du's?« Aus der Höhle kam ein trockenes bellendes Husten. Der Professor spuckte aus. »Verdammt«, knurrte er. »Das wird ihn umbringen.« Er kehrte mit McFarlan und Hacket in die Höhle zurück, während Apatschen-Charlie die erste Wache übernahm. McFarlan beugte sich über Derrick, der in Fieberphantasien lag. »Comstock soll kommen«, murmelte der Graukopf. »Henry Comstock?« Derrick nickte eifrig. »Er und Old Virginney. Alex Henderson. Peter O'Riley. Sie sollen mich nicht länger warten lassen.« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Er fuhr mit verkrampften Fingern zum Hals, als ob er sich Luft verschaffen wollte, und warf sich unruhig umher. McFarlan legte ihm die Hand auf die fieberheiße Stirn. Julia trat neben ihn. »Er ist sehr krank«, sagte sie. »Hat er das schon lange?« »Er quält sich seit Tagen damit ab.« »Was sind das für Namen, die er ausspricht?« »Lauter Männer, die am Sun Mountain die Bonanza wiederentdeckt und den Silberrausch von Washoe ausgelöst haben.« Julia beugte sich nieder und packte Derrick, der die Decke weggezerrt hatte, wieder warm ein. Sie spürte, wie Derricks kraftlose Finger nach ihr tasteten und sich um ihr Handgelenk schlossen. »Komm ganz nah zu mir, Liza«, flüsterte er. Sie sah McFarlan fragend an. »Er glaubt«, antwortete McFarlan, »daß Sie seine Tochter Liza sind. Er liebt sie abgöttisch.« »Liza, mein Kind«, wiederholte Derrick. »Wie gut, daß du endlich da bist!« Sie strich ihm das Haar zurück, das schweißnaß in seine Stirn hing. »Ich muß dir ein Geheimnis anvertrauen, Liza«, murmelte Derrick. »Komm ganz nah zu mir!« 23
Sie neigte den Kopf zu ihm. »Du mußt wissen«, stieß er mühsam hervor, »daß ich schon vor Jahren mit James Finney, Henry Comstock und ein paar anderen Burschen im Doppelcanyon am Osthang des Sun Mountain gegraben habe. Nach Gold, verstehst du. Auf Sutters Farm hatten wir kein Glück gehabt. Darum gingen wir in den Washoe County. Jetzt hör genau zu, Liza.« Sie verstand kaum, was er sagte. Eine Weile schwieg er erschöpft. Nur seine Lippen bewegten sich lautlos. McFarlan rutschte von Derrick fort und legte sich wieder an seinen Platz. Er verschränkte die Arme unterm Kopf und starrte zur Höhlendecke empor. »Wir dachten«, fuhr Derrick schließlich fort, »daß wir im Twin Canyon eine ergiebige Bonanza hätten. War aber nicht. Nur für ein paar Dollar Goldstaub, kaum der Rede wert. Als ich nach Kalifornien zurückging, versprach mir Old Virginney einen Anteil, falls sie auf eine Ader stoßen sollten. Im Frühjahr sind sie im Gold Canyon fündig geworden. Patrick McLaughlin und Peter O'Riley machten Grabungsproben bis rüber zum Six Mile Canyon, und da stießen sie auf gediegenes Silber. Old Pancake Comstock kam hinterher und überredete die beiden, ihm einen Anteil abzutreten. Meinen Anteil, verstehst du?« »Ja, ich verstehe«, antwortete Julia. »Sie wuschen am Tag für etliche hundert Dollar aus – mehr als jeder andere vor ihnen. Manny Penrod schickte mir eine Nachricht rüber nach Sacramento, ich solle mich gleich auf die Socken machen, aber um Gottes Willen den Mund halten. War aber schon durchgesickert.« Schweißperlen bedeckten Derricks Gesicht. Julia tupfte es behutsam ab. »Nicht so viel reden«, sagte sie. Er versuchte den Kopf zu heben, aber es gelang ihm nicht. Kraftlos fiel er wieder zurück. 24
»Ich konnte nicht gleich kommen«, murmelte er. »Aber jetzt… Jetzt geh' ich rüber nach Nevada.« Seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. Schließlich versagte sie ganz. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Dann verlor er erneut das Bewußtsein und versank in einem Fieberschauer. Als sie sich erheben wollte, bemerkte sie Davidson. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und blickte sich verstohlen um. »Was hat er gesagt?« fragte er leise. »Er weiß doch was, nicht wahr?« Sie fühlte sich überrumpelt. »Was geht das Sie an?« entgegnete sie barsch. Er ließ sich nicht abschütteln. »Der Alte hat Ihnen doch ein Geheimnis anvertraut, Julia. Mich können Sie nicht täuschen. Ich habe gehört, daß er McLaughlin und O'Riley kennt. Wenn er mit denen zu tun hat, weiß er eine Menge. Seien Sie nicht dumm, Julia! Der Alte soll reden, sobald er wieder zu sich kommt. Das kann Millionen wert sein.« Sie wollte ihn angewidert beiseite schieben, als aus dem Dunkel McFarlan auftauchte. »Was haben Sie hier zu suchen, Davidson?« sagte er feindselig. »Los, verschwinden Sie, und legen Sie sich schlafen! Wenn ich Sie noch mal hier erwische, werfe ich Sie raus.« Zitternd vor ohnmächtiger Wut zog sich Davidson zurück. McFarlan setzte sich auf die Fersen und betrachtete Derricks Gesicht, das zunehmend verfiel. »Was ist mit Liza?« fragte ihn Julia. »Hat sie keine Mutter mehr?« »Als sie drei Jahre alt war, fielen marodierende Sioux über Derricks Farm in Nebraska her und ermordeten seine Frau. Liza verkroch sich im Schuppen. Fünf Tage später kam Jim heim und fand sie halbverhungert vor. Es brachte ihn fast um den Verstand; denn er fühlte sich schuldig.« »Wieso das?« »War eine scheußliche Geschichte. Jim hat sie mir vor einiger Zeit selbst erzählt. Er muß damals ein starker Trinker gewesen sein. Manchmal, wenn es über ihn kam, ritt er von der Farm weg nach Omaha in den Saloon. Das dauerte jedesmal einige Tage. Nachdem 25
er hinterm Mietstall seinen Rausch ausgeschlafen hatte, kehrte er nach Hause zurück und tat, als ob nichts gewesen wäre. So war's seinerzeit auch. Er begrub seine Frau, verkaufte die Farm und hetzt seitdem von Bonanza zu Bonanza, um endlich das große Glück zu machen. Er hat die fixe Idee, daß er Liza ein großes Vermögen hinterlassen müßte.« »Und ist es ihm gelungen?« McFarlan zuckte die Schulter und schob neues Holz ins Feuer, ehe er sich schlafen legte. Die auflodernden Flammen warfen gespenstische Schatten über Derricks Gesicht. Allmählich kroch vom Felsboden her grimmige Kälte durch Julias Körper. Sie war in einen unruhigen Halbschlaf gefallen. Sie fuhr empor, als sie Derricks schwache Stimme hörte, und neigte sich zu ihm. Er schien bei klarem Bewußtsein. »Wer sind Sie?« fragte er matt. »Julia Bullette«, antwortete sie. Er dachte nach. Dann glitt ein schwaches Lächeln über sein von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht. »Ja, ich erinnere mich. Rufen Sie Tom McFarlan, bitte.« McFarlan schien es gehört zu haben. Lautlos kam er herbei. Er nahm Derricks Hand. »Erkennst du mich, Jim?« »In meinem Gepäck«, sagte Derrick, »ist ein Lederbeutel. Hol ihn raus, Tom.« McFarlan fand den Beutel. Er wollte ihn Derrick in die Hand geben. »Sie soll ihn nehmen«, sagte Derrick matt und tastete nach Julias Hand. »Sie müssen mir was versprechen, Miß.« »Ja?« »Kümmern Sie sich um Liza, bitte. Den Winter verbringt sie noch im College in San Franzisco. Die Adresse finden Sie in dem Beutel. Schreiben Sie ihr, wann und wo ich gestorben bin.«
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»Sie werden doch noch nicht sterben wollen, Mr. Derrick!« sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen burschikosen Unterton zu geben. Er kniff die Augen zusammen. »Sie müssen mich nicht trösten wollen, Miß Bullette. Ich weiß, daß ich sterben muß, und es macht mir auch nichts aus. Ich bin am Ende. Das Leben kann mir nichts mehr bieten. Nur der Gedanke, daß Liza allein sein wird, wenn ich fort bin…« Plötzlich bäumte er sich auf. Eine tiefe Unruhe schien ihn zu erfassen. »Ich werde für Liza sorgen«, sagte Julia. Er lauschte. Dann nickte er. »Danke, Julia. Und auch dir, Tom.« Er seufzte tief. »Erst jetzt merke ich, daß ich kaum was von Liza weiß, obwohl sie meine einzige Tochter ist. O Gott… Man tut immer zu wenig für die Menschen, die man liebt. Viel zu wenig… Eine letzte Bitte, Tom…« »Sprich sie aus, Alter.« »Warst mir immer ein guter Kamerad, Tom McFarlan.« Der Goldsucher schüttelte verwirrt den Kopf. »Was hab' ich schon groß für dich getan, Jim!« entgegnete er. »Sprich ein Gebet über meinem Grab. Ich bin nie fromm gewesen. Aber ich denke, es wird Liza zugute kommen, wenn jemand für meine Seele betet.« »Verlaß dich drauf, Jim.« Derricks Kopf fiel zurück. Sein Blick glitt zur Decke der Höhle empor. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Hände krallten sich in die Laubschütte, auf der er lag. »Guter Himmel«, stammelte Julia. »Er hat auf einmal so fremde Augen.« McFarlan beugte sich nieder. Seine Finger streiften über Derricks Stirn und drückten ihm die Augen zu. Er zog die Decke über seinen Kopf. Dann hob er Julia empor. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ist er wirklich tot?« fragte sie. 27
McFarlan nickte. »Ich muß mich besinnen«, sagte er nach einer Weile. »Worauf, Tom?« »Auf das Gebet, das unser Vater mit uns vor dem Einschlafen sprach – drüben in Kansas, als wir noch Kinder waren. Ich fürchte, daß ich das Gebet vergessen habe.« »Bis wir ihn begraben«, antwortete sie, »wird es Ihnen wieder eingefallen sein.« Als sie am anderen Morgen beim Pahute Pool das Grab ausheben wollten, stellten sie fest, daß der Boden bereits tief gefroren war. »Ich habe an der Felswand über dem See eine kleine Höhle entdeckt«, sagte Apatschen-Charlie. »Da könnten wir ihn begraben. Was meinst du, Tom?« »Ein Indianergrab, wie?« »Es ist ein schöner Platz, Tom. Von dort blickt Jim direkt hinunter nach Nevada, auf den Sun Mountain, wo er sein Glück machen wollte. Und jeden Morgen sieht er über der Wüste die Sonne aufgehen. So haben wir meinen Vater Naratena im Saguarowald bei Tucson begraben, mit dem Blick nach Osten. Es ist besser für einen Mann, sitzend begraben zu sein, als liegend.« »In Ordnung, Charlie«, sagte McFarlan. »Machen wir's so.« Inzwischen begann Sam Hacket mit einigen Männern die Kutsche zu reparieren. Als die Sonne purpurrot über den Ranges von Nevada aufging, setzten sie Derricks Leichnam mit dem Rücken zur Wand in die kleine Höhle. Gambler Pete und Apatschen-Charlie hatten ein rohes Holzkreuz gezimmert und steckten es auf den Steinhügel vor der Grabhöhle. Julia schmückte es mit ein paar Ponderosazweigen. Die Männer nahmen die Hüte ab und falteten die Hände. »Das Gebet, Tom«, sagte Julia. McFarlan blickte sie hilfesuchend an. »Es ist mir nicht eingefallen«, erwiderte er verlegen. »Wollen Sie's nicht sprechen, Julia?« 28
»Jim Derrick war Ihr Freund, Tom. Beten Sie irgendwas. Gott wird es hören.« McFarlan drehte den Hut vor der Brust. »Vater im Himmel«, betete er nach einigem Zögern, »hier sitzt Jim Derrick vor dir. 46 Jahre alt, Farmer und Goldgräber aus Nebraska. Der gute alte Jim, dieses dämliche Walroß. Verzeih mir, Jim. Verzeih mir, lieber Gott.« Er stockte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jim war ein Säufer, und mit den Weibern nahm er's auch nicht so genau. Aber wir alle haben dieses alte Stinktier gern gehabt. Und es wäre verdammt nicht nötig gewesen, daß er schon sterben mußte. Diesen Vorwurf kann ich dir leider nicht ersparen, lieber Gott. Doch da wir alle sterben müssen und du es nun mal so gewollt hast, sei's drum… Auch wenn ich vielleicht gar nicht an dich glaube, lieber Gott: Gib ihm trotzdem den ewigen Frieden und immer was Hübsches zu sehen von seinem Platz aus. Er hat's verdammt schwer gehabt in dieser Welt, also soll er's wenigstens drüben ein bißchen leichter haben. Und gib, lieber Gott, daß seine Tochter Liza immer so gut von ihrem Vater denken möge, wie wir von unserem Kameraden Jim denken. Er war ein feiner Bursche. Amen!« »Amen«, fügte Julia hinzu. »Das haben Sie schön gebetet, Tom.« Er spuckte aus. »Dann wollen wir ihn mal zumauern, Leute, damit wir hier wegkommen!« Sie setzten den Eingang der Grabhöhle mit Felssteinen zu und füllten die Ritzen mit Moos aus, damit hungrige Raubtiere, die den Leichnam witterten, ihn nicht in ihrer Freßgier ausgruben und zerrissen. Als Sam Hacket auf dem Kutschbock ungeduldig die Zügel hochnahm und Julia in die Kutsche einstieg, standen auch McFarlan und seine Freunde abmarschbereit. »Bis bald, Tom«, sagte sie. »Wir sehen uns am Sun Mountain wieder, oder?« Er hob die Schultern. »Möglich, Miß.« 29
Davidson trommelte ungeduldig gegen die Scheibe. »Nun fahren Sie schon, Kutscher!« befahl er herrisch. McFarlan drehte sich brüsk um und zog sein Pferd hinter sich her. Julia blickte ihm nach, bis die Goldsucher hinter der Wegbiegung verschwanden. Julia preßte die Handtasche mit Derricks Lederbeutel an sich. Der Beutel enthielt nichts weiter als Lizas Adresse, einige ihrer abgegriffenen – anscheinend oft gelesenen – Briefe, eine verwischte Kartenskizze und dreihundert Dollar in Scheinen. Offenbar war das Derricks ganzer Besitz gewesen. Traurig genug für ein langes arbeitsreiches Leben, dachte sie. Verdammt zu wenig für einen Mann, der mit hängender Zunge hinter dem Glück hergelaufen war und es nicht mal am Rocksaum berühren durfte! Eine trotzige Entschlossenheit bemächtigte sich ihrer. Sie war jetzt fünfundzwanzig. Eine schöne, selbstbewußte, zielstrebige Frau. Noch lag die Zukunft vor ihr. Dieses Amerika war ein Land für die Jugend. Ein hartes, unerbittliches Land. Hier zählte nur, was jung, stark und unverbraucht war. Das allein konnte sich durchsetzen. Alles andere – das Alte, Schwache, Kraftlose – ging mitleidlos zugrunde, und niemand weinte darum. Ich werde es besser machen, dachte sie entschlossen, und ein Gefühl unbeugsamer Zuversicht durchströmte sie… Davidson versuchte die ganze Fahrt über, sie auszufragen. Er war davon überzeugt, daß sie von Derrick zumindest Hinweise auf einen erfolgversprechenden Claim erhalten hatte. Julia antwortete zerstreut. Vorübergehend wurde ihr bewußt, daß sie im Besitz von dreihundert Dollar war. Jim Derricks Geld! Es könnte ein brauchbares Startkapital sein für Washoe. Aber sofort verwarf sie diesen Gedanken. Das Geld gehörte Liza. Und sie sollte es haben. Julia durfte es nicht einmal vorübergehend ausborgen. Sie war entschlossen, es mit der nächsten Post nach San Franzisco zu schicken. 30
Nach einigen Stunden erreichten sie die Station von Carson City, einige Meilen vor der Stadt. Hacket wechselte die Pferde. Im Zentrum beim Hotel nahmen sie einen weiteren Fahrgast auf und rollten dann durch die Wüste nach Nordosten. Das Steppenland der Hochebene war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die unter der Nachmittagssonne zu schmelzen begann. Die Octillogewächse und Salzbüsche schimmerten grau im fahlen Winterlicht. Ein Schwarm Raben auf Futtersuche flatterte träge krächzend auf. Die holprige Straße begann sich um den schneebedeckten Sun Mountain herum bergauf zu winden. Ein rotschwänziger Falke zog über dem Hang seine Kreise, ehe er weitersegelte. Als Hacket eine Weile die Pferde verschnaufen ließ, deutete er nach Südwesten. Auf einer Hügelkette, gegen die absteigende Sonne, zeichnete sich die Silhouetten von drei Reitern ab. »Pahutespäher«, sagte er und spuckte aus. »Wir wollen weiterfahren.« Als die Kutsche anzog, flüchtete ein Rudel Dickhornschafe, das neben dem Weg geweidet hatte, über den Felshang hinauf. Hier oben wuchs das Gramagras spärlicher. Wacholderbüsche und Salbeistauden wurden häufiger. Sie kamen auf der Serpentinenstraße durch Gold Hill. Das Camp lag auf über zweitausend Meter Höhe. Ein Gewirr erbärmlicher Unterkünfte breitete sich vor ihnen aus. Julia kannte die Goldgräberlager von Kalifornien. Das waren fürstliche Residenzen gegen dieses Nest. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Stadt gesehen. »Sieht recht trostlos aus«, sagte Andrew Zinneman, der Dandy aus Philadelphia. Aber er schien es nicht tragisch zu nehmen. Davidson starrte ungeduldig hinaus. Er konnte es wohl kaum erwarten, bis die Kutsche im Zentrum der Silberstadt ausrollte. Der Berghang und der Canyon waren mit Hütten und Zelten gesprenkelt wie mit Aussatz: Zelte aus alten Pferdedecken, zerrissenen Militärmänteln und Kartoffelsäcken. Wacklige Buden, aus rohen Bret31
tern gezimmert, aus Lehm oder groben Steinen errichtet, standen neben Erdlöchern, die wie riesige Maulwurfshügel aussahen. Selbst Coyotenbaue, deren Bewohner von den Goldgräbern vertrieben worden waren, dienten als Unterkünfte. Es sah aus, als hätte ein Hurrikan das alles in blinder Wut durcheinandergewürfelt. Bauchige Whiskyfässer ohne Boden steckten als Kamine auf den Dächern dieser jämmerlichen Behausungen. Schmutziger Rauch, von einem scharfen Nordwestwind emporgewirbelt, verlor sich im Grau der Dämmerung. Die Hauptstraße der Silberstadt glich einer immerwährenden Baustelle. Saloons, Läden und Kontorhäuser schossen aus dem Erdboden. Vollbeladene Lastwagen und Erzfuhren, von klobigen Pferden gezogen, rumpelten durch die C-Street. Es wimmelte von Männern aller Berufe und Altersklassen: Minenarbeiter, Goldsucher, Handwerker, Prospektoren, Händler, Falschspieler. Ehrliche und unehrliche Leute. Die meisten sahen ungepflegt, fast verwahrlost aus – vom Staub der Silberbergwerke und dem rauhen Höhenwind gegerbt. Halbverhungerte betrunkene Indianer torkelten vorüber. Kichernde Pahutesquaws, deren große dunkle Augen feucht schimmerten, schoben sich in kleinen Gruppen umher auf der Suche nach liebeshungrigen Männern. Hacket hatte Signal geblasen, ehe er die Kutsche in der City zum Stehen brachte. Aus den Saloons quollen Trauben bärtiger Männer hervor, die für eine Weile ihr Spiel unterbrachen. Die meisten von ihnen waren Minenarbeiter, die ihre schichtfreie Zeit in den Bars verbrachten. Die Ankunft der Overland- oder Wells-Fargo-Kutsche brachte jedesmal willkommene Abwechslung. Davidson half Julia aus der Kutsche. Sie trug unter dem Pelzmantel ein graues Reisekleid, dazu einen Hut mit breitem Rand. Die Männer starrten sie an, als käme sie aus einer anderen Welt. Außer den Pahutemädchen gab es im ganzen Camp keine Frauen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die Stadt. 32
Sie krochen aus allen Löchern hervor, um Julia zu bestaunen. Denn so etwas hatte es am Sun Mountain noch nicht gegeben. Diese unwirkliche, verrückte Stadt des Zufalls roch nach Mühsal und Lebenshunger, nach leichtfertiger Vergänglichkeit und Bitternis. Sie wuchs von Tag zu Tag. Noch lag das Glück auf der Straße. Wer zufällig darüber stolperte, konnte reich werden. Wer eine ergiebige Bonanza besaß, gehörte zu den Helden dieser Stadt: zu den vielbewunderten Rittern des Glücks – vielleicht nur für Wochen oder Tage. Denn der Ruhm von Washoe war ebenso erregend wie vergänglich. Julia atmete in tiefen Zügen die rauchdurchtränkte Winterluft ein. Sie war am Ziel. Diese Stadt wollte sie erobern, und sie zweifelte nicht daran, daß es ihr gelingen würde. Davidson blickte sich suchend um. Dann zog er den Hut und winkte. Ein Trupp von fünf oder sechs Männern schob sich durch die Menge, die sich vor der Station verkeilt hatte und Julia anstarrte wie das achte Weltwunder. Der Mann an der Spitze trug den Stern eines US-Marshals. Nevada gehörte in jenen Jahren zum Mormonenstaat Utah, nachdem es mit Kalifornien zu den Vereinigten Staaten gekommen war. »Hey, Davy!« sagte der Marshal aufgeräumt und schlug Davidson auf die Schulter. »Schön, dich wiederzusehen. Wirst bereits sehnlich erwartet.« Er musterte Julia aufmerksam, machte dann eine kaum sichtbare Verbeugung und tippte an die Hutkrempe. »Ma'am«, murmelte er und wandte sich an Davidson: »Eine feine Fuhre hast du da mitgebracht, Davy.« »Darf ich Ihnen Marshal Bill Brewster vorstellen, Julia? Miß Julia Bullette aus New Orleans.« »Herzlich willkommen in dieser windigen Stadt, Madam«, sagte der Marshal lachend. »Ich habe einige Freunde mitgebracht, Davy.«
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Die Männer, die mit dem Marshal gekommen waren, zogen die Hände aus den Hosentaschen und grinsten breit. Brewster tippte ihnen der Reihe nach vor die Brust. »Das ist Pat O'Riley. Er und Patrick McLaughlin haben die erste Bonanza am Sun Mountain entdeckt. Dieser Gentleman ist William Davidson aus San Franzisco, ein großer Mann im Bankgeschäft.« Davidson gab ihm die Hand. »Freut mich, Mr. O'Riley.« Der Digger musterte ihn scharf. Dann nickte er. Es war, als ob sich zwei Doggen belauerten. Brewster stellte Manny Penrod, Henry Comstock und James Finney vor. »Eine Ansammlung illustrer Namen«, bemerkte Davidson. »Hab' schon viel von Ihnen gehört, Gentlemen.« Er tauchte mit dem Marshal einen vielsagenden Blick. Offensichtlich hatte Brewster dieses Zusammentreffen arrangiert, um Davidson aussichtsreiche Geschäftsverbindungen zu eröffnen. Denn die vier Männer waren – noch vor Belcher, Best, Curry, Norcross, Hale und Gould – die Besitzer der reichsten Claims im ganzen Washoe County: vielbeneidet und vielumschmeichelt. James Finney, leicht nach Whisky riechend, wälzte den Kautabakpriem von der rechten Mundseite zur linken. »Okay, Mann«, knurrte er. »Sie sind also der vielgepriesene Bankfritze!« Davidson, leicht konsterniert, nickte: »Von der California Pacific Bank, Mr. Finney.« »Ist wohl ein ziemlich feines Unternehmen, wie? Unser Marshal legt die Hand für Sie ins Feuer. Ob's da nicht bald nach geröstetem Fleisch riecht?« Davidson unterdrückte seinen aufkeimenden Unmut. Betont freundlich entgegnete er: »Jedenfalls vertrete ich ein seriöses und finanzkräftiges Unternehmen, falls Sie das meinen, Sir.« »Wollen's hoffen, Mister«, antwortete Finney ungeniert. »Können mich übrigens Old Virginney nennen. Hier nennt mich jeder so. Und dieser alte Grizzly hört auf den Namen Old Pancake. Daß er 34
in Wirklichkeit Henry Comstock heißt, hat er längst vergessen. Obwohl sie die ganze Gegend hier nach ihm benannt haben, unverständlicherweise.« Comstock stieß Finney in die Rippen. »Was hältst du ausschweifende Volksreden, Old Virginney? Kommen wir endlich zur Hauptsache!« Davidson stimmte eifrig zu. »Einverstanden«, sagte er. »Gehen wir also ins Hotel. Dort können wir in Ruhe unsere Verhandlungen beginnen. Du hast doch im International für mich Quartier gemacht, Bill?« Brewster nickte. »Wer redet von Verhandlungen«, widersprach Comstock grinsend. »Wenn Sie zu einem Drink in die Sawdust Bar mitkommen, Mr. Davidson, sind wir fürs erste ganz zufrieden.« Er schnupperte in die Luft. Von überall her stiegen Rauchsäulen in den Abendhimmel – nicht nur aus den Schornsteinen der Hütten und Häuser, sondern auch aus den größeren Minenschächten, in denen Dampfmaschinen Bohrhämmer und Abraumgeräte antrieben. »Ist nämlich eine verdammt staubige Gegend hier«, fügte Comstock hinzu. »Da sollte ein Mann schon was zum Runterspülen haben. Oder widerspricht mir jemand?« Niemand widersprach ihm. Auch Reginald Pratt nicht, der Leiter der Wells Fargo Station, der sich eilfertig herbeigedrängt hatte, um Davidson und Julia zu begrüßen. Pratt war sorgfältig gekleidet, ein Mann um dreißig, offensichtlich ein Pedant und Wichtigmacher. »Vielleicht«, warf Pratt beflissen ein, »wünschen sich Miß Bullette und Mr. Davidson zuerst ein wenig frisch zu machen. Außerdem, wenn die Herrschaften gestatten, bitte ich für später zum Abendessen ins Restaurant des International. Wells Fargo erlaubt sich, Sie alle ergebenst einzuladen.« James Finney wußte, daß die Wells Fargo im harten Konkurrenzkampf mit der Overland lag und daran interessiert war, etwas für ihr 35
öffentliches Ansehen zu tun. Er schlug Pratt mit solcher Kraft auf die Schulter, daß er erschrocken zusammenzuckte. »Das ist ein feiner Vorschlag, du Stationshengst. Wir nehmen dankend an. In der Zwischenzeit werden wir im Sawdust einen auf dein Wohl heben, Kutscher. Miles Roury, der Halsabschneider, wird dir die Rechnung präsentieren.« Finney und seine Freunde zogen vor Julia respektvoll den Hut und stapften heiter der Bar entgegen. Marshal Brewster führte Julia und Davidson über die Straße zum International, während Pratt dafür sorgte, daß ihr Gepäck ins Hotel geschafft wurde. Brewster hatte alle Mühe, ihnen einen Weg durch die Menge zu bahnen. »Macht Platz, Leute!« rief er laut. »Was gibt's denn da zu gaffen? Geht doch weiter, Männer!« Alle guckten und staunten Julia an. Selbst die Taschendiebe vergaßen zu klauen. So hielt Julia Bullette ihren Einzug in die Silberstadt von Washoe. Ihr Name ging von Mund zu Mund. Kaum angekommen, war sie bereits zu einer vielumschwärmten Berühmtheit geworden. Das International war das erste Hotel am Platze und überdies das vorerst einzige mehrstöckige Gebäude in der ganzen Stadt. Noch glich es eher einer Baustelle. Handwerker waren damit beschäftigt, einen Anbau, einen Spielsaal und eine zweite Bar zu errichten. An der Rezeption gab es gewisse Schwierigkeiten. »Noch nie ist eine alleinreisende Dame bei uns abgestiegen«, bemerkte der Portier verlegen. »Sie entschuldigen, Madam.« Julia nahm es nicht so wichtig. »Dann werde ich eben die erste sein«, erwiderte sie. Der Portier wand sich. »Was halten Sie davon, Marshal?« Brewster grinste. »Bist du zufällig Mormone, Davy? Schade! Dann könntest du dir ganz legal noch eine Frau zulegen.« 36
»Mach keine Witze, Bill«, entgegnete Davidson. »Man wird Miß Bullette doch keine Schwierigkeiten machen?« Der Marshal schob dem Portier das Gästebuch vor die Nase. »Tragen Sie ein, Ted: Miß Julia Bullette aus New Orleans, Louisiana, dem Marshal persönlich bekannt, auf der Durchreise. Einverstanden, Miß Bullette?« »Meinetwegen, Marshal. Hoffentlich werden Sie mir keine Schwierigkeiten machen, falls sich meine Abreise verzögert.« Brewster winkte ab. »Ich werde mir doch keine Laus in den Pelz setzen, Miß, und mich mit dieser Bande anlegen.« Er machte mit dem Kopf eine Bewegung zur Straße hin. Vor der Schaufensterscheibe der Empfangshalle drängten sich einige Dutzend Männer, die ihre Gesichter gegen das Glas drückten und Julia anstarrten. In ihrem Zimmer wählte sie das neue Kleid aus roter Seide, das auf der Brust ein Bukett aus künstlichen Teerosen trug. Dazu einen hochaufgetürmten großartigen Kapotthut mit Federbesatz und allerlei Gemüse darauf, sowie gelbe Spitzenhandschuhe, deren Stulpen bis zu den Ellbogen reichten. Als Davidson klopfte, um sie abzuholen, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer. Ihre Attraktivität war das einzige Kapital, das sie einzusetzen hatte. Alles andere mußte sich finden. Vor der Zukunft jedenfalls fürchtete sie sich nicht. Im Gegenteil! Ein anregendes Prickeln neugieriger Erwartung durchströmte sie. Davidson war hingerissen. »Einfach großartig«, meinte er bewundernd und küßte ihr die Fingerspitzen. »Sie sind bei Gott die schönste Frau, die ich je gesehen habe, Julia.« Sie entzog sich ihm, als er sie in die Arme nehmen wollte, und ging zur Tür. Er trug einen dunklen Abendanzug nach dem neuesten Schnitt, der ihn schlanker und jünger machte. Julia fand, daß er ausgesprochen gut aussah. 37
Davidson bot ihr den Arm und führte sie über die Treppe hinab in den Speisesaal. Als die beiden Pagen die Flügeltür öffneten, hielt er inne und blickte sich um. Er genoß den Auftritt über die Maßen. Fast alle Tische waren besetzt. Die Gespräche verstummten. Ein Raunen lief durch den Saal. An einem der großen Mitteltische waren Finney, O'Riley, Comstock und Penrod damit beschäftigt, auf Kosten der Wells Fargo bereits die fünfte Flasche französischen Importwein zu leeren, da es im Restaurant bedauerlicherweise keinen Whisky gab. Stationschef Pratt machte gute Miene zum bösen Spiel. Er wußte, daß er eine stattliche Rechnung zu verantworten hatte. Warum ließ er sich auch mit solchen Büffeln ein? Comstock und Finney nahmen zwei Kerzenleuchter vom Tisch. Würdevoll schritten sie zur Tür. Als sie Julia im Triumphzug an ihren Tisch geleiteten, stimmten der Klavierspieler und der Trompeter eine Melodie aus Verdis La Violetta an, die seit einiger Zeit im Westen sehr beliebt war. Die Männer im Saal erhoben sich und klatschten den Takt. Julia erschrak. »Himmel«, stammelte sie, »ist das alles meinetwegen?« Finney, bereits ziemlich betrunken, küßte ihr die Hand. Es sah rührend unbeholfen aus. Er erntete dafür tosenden Beifall. Der Tisch war mit Papiergirlanden geschmückt – ein Ersatz für Blumen, die auf der windgepeitschten Höhe der Comstock Lode nicht wuchsen. Die hohen goldgerahmten Spiegel an den Saalwänden reflektierten das gelbschimmernde Kerzenlicht. Eine Welle von Sympathie schlug über Julia zusammen. Sie war freundlich zu allen. Ihre natürliche Ungezwungenheit eroberte ihr die Herzen: eine schöne und feine Frau, die jeder mit Vergnügen zu respektieren wünschte. Mit Abscheu erinnerte sie sich der Demütigungen, denen sie in manchen Nachtklubs ausgesetzt war – Begegnungen von scheußlicher Würdelosigkeit, die sie erniedrigt und beschämt hatten. 38
Das hier waren einfache Männer – klobig und ungebildet, jedoch von wacher Intelligenz. Die meisten hatten längere Zeit in den Staaten des Westens als Viehtreiber oder Fallensteller gearbeitet. Sie ließen sich nicht so leicht beeindrucken – am wenigsten von Äußerlichkeiten. Und sie besaßen ein ganz natürliches Gefühl für den Wert eines Menschen. Das verlieh ihnen eine Sicherheit, wie Stadtleute sie nur selten besaßen. Comstock nahm dem Trompeter das Instrument aus der Hand und blies einen verunglückten Tusch. Es klang wie das Röhren eines brunftigen Hirsches. Finney schwenkte sein Glas und rief: »Ein dreifaches Hurra der Silberkönigin!« Alle erhoben ihre Gläser und stimmten begeistert in den Hochruf ein. Finney schmetterte sein Glas zu Boden, und Dutzende von Gläsern zersplitterten. Der Saal verwandelte sich in eine turbulente Szenerie. Hotelmanager Henderson, ein stocksteifer Oststaatler, stand bläßlich neben der Tür und wahrte nur mühsam seine Fassung. Er hatte sich vorgenommen, aus dem International ein First-class-Hotel zu machen – eine Art Luxusherberge in diesem Sodom der Goldgräber und Glücksritter. Und jetzt geschah dies! Unablässig drängten weitere Miners, Lastkutscher und Bauarbeiter, ehrliche Diggers und weniger ehrliche Tagediebe, anständige Handwerker und zwielichtige Revolverhelden herein und machten sich an den bereits überfüllten Tischen breit. Henderson sah ein, daß dagegen kein Kraut gewachsen war. Er verzichtete darauf, den Marshal zu rufen, der wegen einer Schlägerei mit tödlichem Ausgang im Court House zu tun hatte. Was auch hätte Brewster hier wohl ausrichten können? Denn die Diggers gerieten außer Rand und Band. Das war ihr Fest, und es schien nicht geraten, es ihnen zu verderben. Penrod war bereits hoffnungslos betrunken. Er starrte mit glasigem Blick Julias Dekolleté an, hob ab und zu sein Glas, prostete ihr stumm zu, nahm einen Schluck und versank wieder in statuenhafte Starre.
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O'Riley beobachtete die Szenerie mit wachem Interesse. Sein Gesicht war kaum merklich von Pockennarben gezeichnet. Das verlieh ihm einen Ausdruck von Härte und Entschlossenheit. Julia war die einzige Frau im Restaurant. Sie wußte die Grenze abzuwägen. Ehe der Trubel seinen Höhepunkt erreichte, zog sie sich zurück. In ihrem Zimmer machte sie kein Licht, sondern warf den Pelzmantel über und trat auf den Balkon. Durch die C-Street wogte der Strom der Männer. Unablässig, wie gespenstische Schatten zogen sie durch den flackernden Lichtkegel der Petroleumlampen, die den Hoteleingang notdürftig erleuchteten. Noch immer trieben Schneeflocken durch die eisige Luft. Als Julia sich über die Balkonbrüstung beugte, nahm sie undeutlich die Silhouette der noch unfertigen Presbyterianer-Kirche mit ihrem niedrigen Turm wahr. Plötzlich brandete Lärm auf. Durch das Hotelportal wälzte sich ein Trupp Diggers, an ihrer Spitze Finney und Comstock. Finney schwang eine Whiskyflasche. »Hört mir 'n Augenblick zu, Leute!« rief er. »Haltet mal eure Mäuler und hört mir zu, verdammt noch mal.« Die Männer grölten. Im Handumdrehen sammelte sich eine riesige Menschenmenge an. Marshal Brewster kam von der B-Street herunter. »Was gibt's da mitten in der Nacht für einen Auftrieb?« rief er. »Ist's nicht besser, ihr geht jetzt heim und legt euch aufs Ohr?« »He, Marshal«, sagte Finney, leicht schwankend. »Du kommst gerade recht zur Taufe. Könntest den Paten machen, Bill – gewissermaßen in amtlicher Eigenschaft.« »Was für eine Taufe, Old Virginney?« fragte Brewster mißtrauisch. »Wirst du gleich erleben, Schrecken aller Spitzbuben.« Finney legte Comstock den Arm um die Schulter. »Hier steht mein Freund Henry Comstock«, rief er, »nach dem ihr Taugenichtse diese prachtvolle Bonanza benannt habt. Es lebe Old Pancake!« Sie stimmten begeistert in den Hochruf ein. 40
Finney schlug sich gegen die Brust. »Und hier steht Old Virginney, der Besitzer der verdammt ergiebigsten Silberader im ganzen County! Old Virginney, der dem Gauner Comstock die Hälfte seines Claims überlassen hat. Stimmt's, Old Pancake, altes Roß?« Comstock umarmte ihn. »Stimmt, Old Virginney, altes Stinktier.« »Okay, Leute.« Finney beschrieb mit der Whiskyflasche einen weiten Bogen. »Das alles ist Washoe. Unser Washoe. Euer Washoe. Der verdammt größte Silberberg, den die Welt je angekratzt hat.« »Es lebe Washoe!« riefen die Männer begeistert. Der Radau nahm spektakuläre Ausmaße an. »Jetzt reicht's aber, Leute!« rief der Marshal energisch. »Höchste Zeit, schlafen zu gehen.« Einer der Miners, gut einen Kopf größer als Brewster, entgegnete mit gewaltiger Baßstimme: »In drei Stunden geht die Frühschicht an. Acht Stunden unter der Erde, Marshal, in Staub und Hitze und Dunkelheit. So ist unser Tag, Marshal Brewster. Und das bedeutet: Wir haben noch drei Stunden Zeit, um zu feiern. Wollen Sie uns das mißgönnen, Marshal?« Brewster wußte, daß er machtlos war. »Okay«, antwortete er. »Wen willst du taufen, Old Virginney? Wo ist dein Baby?« »Unser Silberberg«, antwortete Finney, »ist das Baby – der verdammt größte Silberberg der Welt. Wißt ihr, Männer, daß sie in Europa jetzt sogar das Prägen von Münzen einstellen wollen? Begreift ihr auch, was das bedeutet, wenn die Könige von England, Frankreich, Österreich, Preußen, Rußland, von Schweden, Dänemark, Spanien – wenn all diese großkotzigen Burschen auf dem alten Kontinent, die Amerika bisher für'n Haufen Scheiß hielten, auf einmal die Hosen gestrichen voll haben?« Das war bestimmt die längste Rede, die Finney je gehalten hatte. Einige Männer stimmten Home Sweet Home an. Manny Penrod war so gerührt, daß er sich einige Tränen aus den Augenwinkeln wischte und Finney tätschelte wie eine Affenmutter ihr Junges. 41
Finney schüttelte ihn ab. »Noch einen Augenblick, Freunde!« rief er. »Dann könnt ihr euren Choral auf diese verdammt beschissene, verdammt großartige Stadt am Sun Mountain anstimmen: Die Hauptstadt von Washoe, die noch keinen Namen hat. Ist euch das eigentlich schon mal aufgefallen, Männer, daß eure Stadt noch keinen Namen hat?« Sie starrten ihn verwundert an. »Hat sie nun einen Namen, oder hat sie keinen, Marshal?« Brewster wußte nicht, worauf das hinaus sollte. »Selbstverständlich hat sie noch keinen Namen«, antwortete er. »Falsch, Marshal! Ganz falsch.« Finney drehte die Whiskyflasche um und ließ sie langsam auslaufen. »Denn ich bin James Finney aus Brookneal in Virginia, und darum taufe ich diese großartig beschissene Silberstadt am Sun Mountain auf den Namen Virginia. Es lebe Virginia City!« Der Tumult nahm unbeschreibliche Formen an. »Es lebe Virginia City!« riefen die Männer und fielen sich in die Arme. »Glück auf für Virginia City!« Finney warf die leere Flasche in die Luft. Sie fiel auf Julias Balkon und zersplitterte. Erst jetzt bemerkten die Männer, daß Julia ihnen zusah. Comstock riß den Hut vom Kopf. »Es lebe Julia Bullette, die Silberkönigin von Virginia City!« rief er. Sie winkte den Männern zu. Sie rissen die Hüte vom Kopf, wirbelten sie in die Luft und jubelten. Ein Rausch erfaßte sie. Pistolenschüsse, aus Dutzenden von Colts abgefeuert, zerrissen die Nacht. Der Trompeter blies Waltzing Mathilda. Die Männer begannen paarweise und in Gruppen auf der C-Street zu tanzen, während der Schnee auf sie herabrieselte. Wie im Taumel tanzten sie durch die Straße. Julia spürte die eisige Kälte nicht. Denn sie erlebte einen historischen Augenblick mit. Für einen Moment sah sie Jim Derricks Gesicht vor sich – seine eingefallenen Wangen, die gebrochenen Augen. Gehörte er jetzt nicht auch hierher: einer der Männer, die am Sun Mountain gegraben hat42
ten, noch ehe der große Silberrausch ausbrach? Und was hatte es ihm gebracht? Verwirrt kehrte sie ins Zimmer zurück und schloß die Balkontür. Julia setzte sich an den Tisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb einen Brief an Liza Derrick: Liebe Eliza, schrieb sie, Ihr Vater hat mich beauftragt, Ihnen seinen letzten Gruß zu schicken. Er ist gestern nacht am Pahute Pool gestorben und dort beigesetzt. Sein letztes Wort galt Ihnen, Liza. Er hat Sie sehr geliebt. Er war ein guter Mann und ein treuer Vater. Das sagt Ihnen eine Frau, die es weiß. Wir haben ein Gebet über seinem Grab gesprochen. Er hat Tom McFarlan, seinen Kameraden, und mich gebeten, uns um Sie zu kümmern. Anbei dreihundert Dollar aus seinem Besitz. Ich will sein Vermächtnis erfüllen, wenn es mir möglich ist und Sie es wünschen. Sobald ich nach San Franzisco komme, werde ich Sie besuchen. Gott mit Ihnen, mein Kind. Virginia City, den 21. Oktober 1859 Ihre Julia Bullette. Sie lag noch lange wach. Der Lärm auf der Straße verebbte allmählich. Von den Minen wehte das monotone Rattern der Dampfhämmer herüber. Julia dachte an Tom McFarlan. Seine Augen blickten sie an – die Augen eines Mannes, den sie lieben könnte. Das wurde ihr in dieser Stunde bewußt. Sie wünschte sich sehnlich, ihm wieder zu begegnen. Im Augenblick schien ihr, daß dies für sie wichtiger war als der ganze Reichtum des Silberbergs. Die Diggers kamen ins Gold Canyon. McFarlan traf einen Jungen aus Iowa. Der Bursche hockte vor einer Bretterhütte, den Kopf in die Hände gestützt, blaß und hohl43
wangig. Er sah verwahrlost aus, die Hände schrundig – grau und struppig wie eine schwindsüchtige Maus. McFarlan hielt seinen Braunen an. »He, Ted! Du heißt doch Ted, wie?« Der Junge blickte apathisch auf und nickte. »Kennst du mich nicht mehr?« »Mag schon sein.« »Hast du nicht mit deinem Bruder am American River Gold gewaschen?« McFarlan erfuhr, daß Ted Carpenter und sein älterer Bruder Ron vor sechs Wochen nach Washoe gekommen waren und einen Job in der F & G Mine gefunden hatten. »Wie ist die Arbeit, Ted?« »Ein Scheißjob, Mister, sag' ich Ihnen.« »Aber sie zahlen gut, wie?« Ted schnippte mit den Fingern. »Viereinhalb Dollar pro Tag, für beide.« »Ich denke, sie geben drei auf den Kopf – Normalsatz in der Comstock Lode.« »Für mich nur eineinhalb, weil ich erst fünfzehn bin. Sie haben uns achtzig Dollar aufs Konto gesetzt für Arbeitskleidung, Werkzeug, Grubenlampe und all das. Vierzig auf Ron und vierzig auf mich. Versuchen Sie mal, das abzuarbeiten.« »Und wo steckt Ron?« Der Junge senkte den Kopf. »Er liegt drunten im Six Mile Canyon.« »Ist das nicht der Friedhof?« »Da buddeln sie jeden Tag welche ein. Als wir ankamen, hatten sie hier die Pocken. Andauernd bricht irgendwo ein Feuer aus, und dabei gibt's gewöhnlich ein paar Tote; von den Grubenunfällen, den Schießereien und Schlägereien gar nicht zu reden. Die Beerdigungsunternehmer werden fett davon wie die Ratten vom Abfall. Achtundvierzig Dollar hat das Begräbnis für Ron gekostet. Damit steh' ich bei Mr. Malou in der Kreide.« »Mr. Malou?« 44
»Jake Malou, der Besitzer der F & G Mine.« Der Junge starrte vor sich hin. Plötzlich fing er haltlos an zu weinen. McFarlan wartete eine Weile. Dann fragte er: »Wie ist es denn passiert?« »Sie haben lauter verrottetes Zeug in der Grube. Malou ist ein verdammter Geizkragen. Ihm macht's nichts aus, wenn da unten einer krepiert. Arbeiter gibt's ja genug, verstehen Sie.« In seine feuchten blauen Augen stieg die ohnmächtige Wut. McFarlan erfuhr, daß Teds Bruder unten auf der Sohle den mit Erzbeladenen Förderkorb einschwenken mußte. Als der Korb hochgezogen wurde, riß das Seil und schlug Ron tot. Ted sagte: »Am liebsten ginge ich nach Iowa zurück. Aber sie lassen mich nicht weg, solange noch was auf dem Konto offensteht. Das muß ich erst abarbeiten.« »Vielleicht«, antwortete McFarlan, »kann ich dir dabei helfen, Ted. Können wir erst mal bei dir unterkommen, bis wir was gefunden haben?« Ted war einverstanden. Sie legten ihr Gepäck ab und begannen sich einzurichten. Aus Balken, Lehm und Brettern bauten sie zwei weitere Hütten an, die sie mit Zelttuch abdichteten. Der Professor kochte unterdessen Bohnen mit Speck, wie üblich, und zum erstenmal seit Tagen kam Ted wieder zu einem warmen Essen. Olaf Olafson kannte in der Dorado Mine Per Anderson, einen schwedischen Vorarbeiter. Sie gingen hinüber zum Bergwerk. Am Drahtgitter beim Tor stand ein Wächter. Er musterte die Männer mißtrauisch. »Arbeit gibt's heute keine mehr«, sagte er abweisend. »Kommt übermorgen mal wieder.« Sie erklärten, daß sie Per Anderson sprechen wollten. Widerwillig ließ der Wächter sie in der Wachbude warten.
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Anderson war ein blonder breitschultriger Mann mit grünen Katzenaugen und buschigen roten Augenbrauen. Er trug grobe Cordhosen und einen speckigen Hut ohne Krempe. »Kannst du was für uns tun, Per?« fragte ihn Olafson. »Im Augenblick ist bei uns wenig los. Versucht's mal in der F & G.« McFarlan stülpte die Lippen auf. »Ist das nicht der Bruchladen, in dem letzte Woche der Förderkorb einen Mann erschlug, weil das Tragseil morsch war?« Anderson verzog das Gesicht. »Das ist nichts Besonderes in der Comstock Lode, falls Sie das meinen.« »Auch nicht, daß sie halbe Kinder wie Männer arbeiten lassen gegen Schinderlohn?« Anderson maß McFarlan mit einem abschätzigen Blick. »Drei Dollar«, antwortete er in seinem schwerfälligen Englisch, »ist der übliche Lohn in Washoe. Kaum irgendwo auf der Welt kriegen Sie für einen Job unter Tage auch nur die Hälfte. Haben Sie schon mal in einem Erzbergwerk gearbeitet?« McFarlan nickte. »Eine Zeitlang in Mexiko. Und drüben in Kalifornien.« »Name?« »McFarlan.« »Okay. Wieviel Mann seid ihr?« »Neun. Drei wollen Gold waschen. Bleiben sechs.« »Und Sie, McFarlan?« Er zuckte die Schulter. »Ich weiß es noch nicht, Vormann. Werde mich wohl erst mal ein bißchen umsehen.« Sie kamen überein, daß sie am übernächsten Tag wieder nachfragen sollten. »Im Augenblick«, so erklärte Anderson, »stoßen wir mit der Fördersohle gegen die Wand. Lauter massiver Fels. Wir haben einen neuen Schacht gegraben. Sobald wir fündig werden, stellen wir neue Leu46
te ein. Die Dorado«, fügte er hinzu, »ist ein ganz passabler Betrieb – besser als die meisten Minen hier. Mr. Robinson, der Besitzer, und die Geräte arbeiten einwandfrei. Bei uns hat's noch keinen Toten gegeben.« Am übernächsten Tag erhielten Olafson, der Professor und Apatschen-Charlie einen Job in der Dorado. Einige weitere Arbeitsplätze stellte Anderson für die übernächste Woche in Aussicht. Als die drei zur ersten Schicht einfuhren, begleitete McFarlan sie zur Grube und nahm Ted mit. »Was ist Mr. Malou für ein Mann?« fragte er Anderson. »Jake Malou von der F & G?« »Erraten, Sir.« Anderson warf einen Blick auf Ted. »Wer ist der Junge da? Krank, wie?« »Verträgt die Höhenluft nicht, und die Arbeit unter Tage noch weniger. Es ist Ted Carpenter. Seinen Bruder hat Malous verdammter Förderkorb erschlagen.« Anderson kratzte sich unter dem randlosen Hut. »Wollen Sie etwa Stunk machen, McFarlan? Das lassen Sie mal lieber bleiben! ist nicht gut für einen Mann, wenn er sich gleich am Anfang mit einem Besitzer anlegt. Das wäre mein guter Rat, weil Sie ein Freund von Olafson sind.« McFarlan rümpfte die Nase. »Geschenkt, Anderson. Komm, Ted!« Er wollte sich abwenden. Anderson zog ihn am Ärmel. Mit gesenkter Stimme sagte er: »Malou ist ein Schwein, McFarlan. Er hat die Bonanza einem gewissen Belcher für ganze tausend Dollar abgegaunert. Es ist die schäbigste Mine im ganzen Bezirk. Die Ausrüstung total verrottet.« Grinsend fügte er hinzu: »Eine tüchtige Abreibung würde ich ihm schon mal gönnen, Sie verstehen. Aber der Bursche ist zäh wie Schuhsohle.« McFarlan tippte an den Hut. »Danke, Anderson.« 47
»Übrigens: Falls Sie mal Arbeit suchen sollten, kommen Sie ruhig vorbei. Einen Mann wie Sie könnte ich immer brauchen. Aber mit mir ist nicht gut Kirschen essen. Wer mault, fliegt raus.« McFarlan grinste. »Dann haben wir uns ja verstanden, Vormann. Vielleicht komme ich gelegentlich auf Ihr Angebot zurück.« Er ging mit Ted nach Virginia City hinauf zur F & G Mine. Rechts und links von der C-Street fraßen sich die Hütten und Zelte unaufhaltsam in die Berglandschaft hinein: nach links hinauf über den Hang des Sun Mountain und nach rechts zum Six Mile Canyon hinunter. Das Poltern der Stampfhämmer, die das Silbererz in kleinere Brokken zerbrachen, übertönte das Wiehern der Zugpferde und das jämmerliche Geschrei der Lastesel. Fluchende, peitschenschwingende Kutscher lenkten ihre Erzwagen zwischen den wassergefüllten Schlaglöchern hindurch. Von überall her stiegen Staubwolken empor und legten sich als graue Schicht über die Dächer. Grünliche und gelbbraune Schwaden dampften in den Himmel. Sie sahen giftig aus, und sie enthielten auch Gift: Schwefelsäure, Blausäure und Quecksilber, mit dem die Bergwerke aus dem zerkleinerten Erz das Silber gewannen. Die F & G Mine war, wie alle Bergwerke, mit einem hohen Zaun umgeben. Über dem Eingang hing ein Schild, das mit zwei Totenköpfen verziert war. Es trug die Aufschrift: unbefugten zutritt strengstens verboten. bei zuwiderhandlung wird ohne warnung scharf geschossen. by order of mr. j. f. malou, besitzer. Vor dem Büro standen einige Dutzend Männer Schlange, die Arbeit suchten. Es hatte sich herumgesprochen, daß die F & G auf eine ergiebige Erzader gestoßen war. Der Kontrolleur, ein älterer grauhaariger Portugiese mit einem gutmütigen Gesicht und Gichtknoten an den Fingergelenken, nickte Ted freundlich zu. 48
»Hallo, Ted. Warst gestern nicht zur Schicht. Der Vormann hat schrecklich geflucht. Siehst aber auch verdammt mies aus, grün im Gesicht wie frisches Apfelmus. Tut mir leid, mein Junge. So 'n schreckliches Unglück. Kann ich was für dich tun?« McFarlan schob sich vor. »Wir möchten Mr. Malou sprechen«, sagte er. Der Kontrolleur deutete mit der Hand zum Platz hin, der mit Bergen von Abraum bedeckt war, so daß kaum eine schmale Gasse blieb. »Dort kommt er gerade.« Jake Malou war ein langer hagerer Mann, Mitte sechzig, mit einem gepflegten Schnurrbart und dürr wie eine Zaunlatte – das gelbsüchtige Gesicht faltig zerknittert, so als ob ihn eine gewaltsame Hungerkur völlig vom Fleisch gebracht hätte. Er trug einen Schneideranzug, einen breitrandigen Hut mit einem Pumaband und schwarze Lacklederschuhe. Auf der Krawatte steckte eine riesige Nadel aus zwei Grizzlyzähnen, die mit funkelnden Rubinen besetzt war. McFarlan lüftete den Hut. »Kann ich Sie mal 'n Augenblick sprechen, Sir?« sagte er höflich. »Ich heiße McFarlan.« Malou blickte auf Ted herab. »Ist das nicht der Junge, für dessen Bruder wir das Begräbnis bezahlen mußten?« Ted senkte den Blick. »Ja, Sir«, antwortete er beschämt. »Ted Carpenter ist mein Name. Ich arbeite in Ihrer Mine, Sir.« Malou nickte wohlwollend. »Dein Bruder war ein brauchbarer Arbeiter. Schade, schade. Stehst du nicht mit deinem Konto im Minus, Junge?« »Ja, Sir.« »Und warum bist du nicht im Schacht?« »Ted Carpenter«, antwortete McFarlan an seiner Stelle, »fährt nicht mehr ein, Mr. Malou.« Jake Malou kniff die Augen zu zwei dünnen Schlitzen zusammen. »So? Und wer sind Sie, bitte? Sein Onkel, der Vormund oder was sonst? Kann er nicht für sich selbst sprechen?« 49
»Ich sagte«, wiederholte McFarlan ruhig »daß Ted nicht mehr einfährt!« Malou schien von McFarlans Auftreten verunsichert. »Okay, okay«, antwortete er schließlich. »Warum auch nicht. Ist ja eine verdammt ungesunde Arbeit für so eine halbe Portion. Wenn er sein Konto klarmacht, kann er gehen.« »Sie brauchen zwei Mann Ersatz, Mr. Malou«, erwiderte McFarlan. Malou zog ein Etui aus der Tasche, entnahm ihm eine goldgerahmte Brille und setzte sie auf. Durch die funkelnden Gläser blickte er McFarlan irritiert an. »Was Sie nicht sagen! Gleich zwei?« »Einen für Ron und einen für Ted Carpenter. Ich übernehme das Konto, falls Sie den Jungen aus dem Kontrakt rauslassen und einen weiteren Mann, den ich Ihnen nenne, einstellen.« Er wollte Arizona-Jack die zweite Stelle verschaffen und Malou so einschüchtern, daß er Ted die Begräbniskosten für Ron nicht anrechnete. Malou schien nicht sehr beeindruckt. »Sie kommen sich wohl sehr stark vor, McFarlan, wie?« entgegnete er kalt. »Mit Arbeitern können Sie heute die ganze C-Street pflastern, und da bleibt sogar noch was für die D-Street übrig.« »Ich schätze«, erwiderte McFarlan seelenruhig, »daß Sie mich und meinen Freund dennoch einstellen werden, Sir.« »Und warum, bitte?« »Es könnte sich zum Beispiel herausstellen, daß das Förderseil gerissen ist, weil es zu alt und morsch war. Dann würde sich der Richter für Ron Carpenters Tod interessieren.« Auf Malous Stirn schwoll eine Zornesader. »Wollen Sie mir drohen, Mann? Das mit Carpenter war ein Unglücksfall.« »Mag schon sein, Sir.« »Das kann eine Menge Leute, die dabei waren, bezeugen.« 50
»Mag alles sein. Trotzdem, Mr. Malou. Meinen Sie nicht, daß es vernünftiger wäre, die Geschichte gütlich aus der Welt zu schaffen?« Malou zögerte. Dann winkte er McFarlan und Ted in sein Büro. Nach zehn Minuten konnte Ted gehen, ohne daß er Rons Beerdigung zu bezahlen brauchte. Außerdem hatte McFarlan für sich und Arizona-Jack einen Arbeitsplatz als Hauer. Er wußte, daß er Malou erpreßt hatte, aber es machte ihm nichts aus. Er wußte auch, daß Malou sein Feind war. Was daraus wurde, mußte sich finden. Abends hockten sie in der Hütte beieinander. Das nasse Kiefernholz, mit dem sie das Feuer unterhielten, stieß dicke gelbe Rauchschwaden aus. Olafson, Apatschen-Charlie und der Professor rollten sich auf ihrem Lager zusammen. Sie waren ausgepumpt von der ersten Schicht unter Tage. McFarlan half Ted, das Gepäck zusammenzuschnüren. »Steck ihm noch was zu essen in die Satteltaschen, Pete«, sagte McFarlan zum Gambler. »Bohnen, Speck und Brot! Du wirst einen langen Weg haben nach Iowa, Ted. Hast du überhaupt noch Angehörige dort?« »Die Mutter und sechs jüngere Geschwister, Mr. McFarlan. Vater ist tot. Wir haben eine kleine Farm, aber sie wirft kaum genug ab. Darum wollten Ron und ich hier im Westen unser Glück machen. Aber Sie sehen ja, was daraus geworden ist.« McFarlan zählte Tom fünfundsechzig Dollar auf. Ted machte hungrige Augen. »Ist das nicht zu viel, Mr. McFarlan? Mit dem Pferd macht das über hundert Dollar.« »Ich werd's mir zurückholen, Ted. Mach dir darüber keine Sorgen. Näh die Dollars gut ein und nimm den nördlichen Santa Fé Trail über Bents Fort! Er ist sicherer. Jetzt leg dich aufs Ohr und schlaf noch 'ne Strecke, ehe du losreitest! Siehst verdammt durchgeblasen aus.« »Jim Derrick«, sagte Apatschen-Charlie, »hat einen bessern Platz erwischt als dein Bruder Ron.« Ted hob den Kopf. »Wer ist Jim Derrick?« 51
»Ach, nur so. Ich mußte an einen Mann denken. Schlaf jetzt, Boy! Hast einen langen beschwerlichen Weg vor dir.« Ted lag noch lange wach. Sein schmächtiger Körper krümmte sich zusammen. Er litt unter Atemnot. Die Arbeit unter Tage auf über zweitausend Metern Höhe, hatte ihn ausgelaugt. McFarlan machte sich Sorgen um ihn. Er hoffte nur, daß der Ritt an der frischen Luft ihm guttun und Kraft geben werde. Olafson zog mit den Zähnen den Korken von einer Whiskyflasche und nahm einen kräftigen Schluck. »Wir haben, als wir von der Schicht kamen, die Lady gesehen, Tom«, sagte er. McFarlan blickte nicht auf. »So?« antwortete er einsilbig. »Sonst noch was?« »Sie kam gerade mit so 'nem feinen Pinkel aus einem Juwelierladen in der C-Street und fuhr dann mit ihm in der Kutsche weg. Ein rotzvornehmer Zweisitzer mit Lederverdeck, das Zaumzeug silberbeschlagen. Fein was fein heißt. Und die Lady erst! Schön wie die Königin von Saba.« »Und was meinst du, Olaf, geht mich das an?« »Sie sagte, du sollst dich mal bei ihr sehen lassen, Tom. Sie wohnt im International.« »Du kannst mich mal!« »Hat sie wirklich gesagt, Tom. Ehrenwort.« »Und wer war das in der Kutsche, mit dem sie fuhr?« »Einer der Silberbarone, der Besitzer der F & G Mine.« McFarlan stocherte im Feuer. Betont gleichgültig fragte er: »Hieß er Malou? Jake Malou?« »Er hat sich nicht vorgestellt. Aber wenn Malou der Besitzer der F & G ist, wird's wohl so sein. War ein langer Dürrer, mit einer Goldrandbrille.« »Unser neuer Arbeitgeber, Jack«, sagte McFarlan. »Solange er uns den Lohn nicht schuldig bleibt«, antwortete Arizona-Jack, »kann er rumkutschieren, mit wem er will.« McFarlan legte sich nieder. Ted war endlich eingeschlafen. Arizona-Jack hatte seine Gitarre genommen und sang: 52
»Hey-ho, my darling, hey-ho! Wir graben das Silber von Washoe…« Den Rest der Strophe hörte McFarlan schon nicht mehr. Julia war noch immer das Tagesgespräch von Virginia City. Davidson bemühte sich um sie. Selbstverständlich hatte er längst erfahren, daß sie sich mit Jake Malou traf. Das ärgerte ihn. »Malou ist nicht der richtige Mann für Sie, Julia«, sagte er, als sie abends im Restaurant des International saßen. Sie betupfte mit der Serviette die Lippen. »Wären Sie etwa der richtige, Davy?« »Zweifeln Sie daran?« Ohne Frage sah Davidson bedeutend besser aus als der Minenbesitzer und war auch erheblich jünger. Aber Malou war großzügig, und sie brauchte dringend Geld. Davidson hatte durchblicken lassen, daß er die Hotelrechnung übernehmen würde. Dafür erwartete er gewisse Gegenleistungen. Dem vertrockneten Malou genügte es, wenn er sich an ihrer Schönheit weiden konnte. Und Geld besaß er genug. Sie zog es vor, von Malou wertvolle Geschenke anzunehmen und einen Teil des Schmucks diskret bei einem jüdischen Trödler zu versetzen, anstatt sich von Davidson aushalten zu lassen. »Wie gehen die Geschäfte, Davy? Kommen Sie voran?« Er machte ein undurchsichtiges Gesicht. »Sieht nicht schlecht aus. Nächste Woche wird meine Bankfiliale Ecke C-Street und Union Street bezugsfertig. Ich werde eine kleine Feier vorbereiten. Sie kommen doch, Julia?« »Wird sich einrichten lassen. Man sagt, daß die Börsenkurse für Minenaktien fallen. Einige der großen Bergwerke arbeiten mit Verlust.« Davidson lächelte. »Fallende Kurse«, erwiderte er, »lassen meine Chancen steigen. Ich kann warten. Stimmt es übrigens, daß Malou die F & G verkaufen will?« 53
»Schon möglich«, antwortete sie ausweichend. »Malou und ich sprechen nicht über Geschäfte.« »Sollten Sie aber, Julia. Es wäre Ihr Schaden nicht. An der F & G hätte ich Interesse. Zehn Prozent für Sie, wenn's klappt.« Sie erhob sich. »Ich muß jetzt gehen, Davy.« Er schien enttäuscht. »Ich dachte«, sagte er, »daß wir den Abend miteinander verbringen könnten.« Sie lächelte. »Warum nicht. Kommen Sie doch später in die Brass Railing Bar.« Er blickte überrascht zu ihr auf. »Aber das ist ein Tingeltangel, Julia! Außerdem haben Frauen in den Saloons keinen Zutritt.« »Ich habe. Ist Ihnen noch keines der Plakate aufgefallen?« Tatsächlich hingen seit einer Woche Ankündigungen aus, daß Mr. Miles Roury, Besitzer des Sawdust, als zweites Etablissement die Brass Railing Bar eröffnet hatte. neu für nevada: rund um die einzelnen platzgruppen geschmackvolle messinggeländer. sehenswert. es ladet freundlichst ein: miles m. roury. Über dem Sawdust und dem Brass Railing waren bunte Transparente angebracht: grosse premiere! erstmals in virginia city: julia bullette, die silver queen, singt beliebte lieder, gitarrenbegleitung: ramon coronado. Davidson schüttelte verwirrt den Kopf. »Und warum machen Sie das, Julia?« fragte er. Sie ging nicht auf seine Frage ein. »Jake Malou hat einen Tisch reservieren lassen, Davy«, antwortete sie. »Falls Sie kommen wollen: Es wird ein Platz frei sein für Sie. Vielleicht gefällt Ihnen doch, was ich singe. Und was das Geschäft angeht«, fügte sie hinzu: »Zwan54
zig Prozent für mich. Sie können es sich überlegen. Übrigens will Manny Penrod seine Bonanza verkaufen. Er wird heute Abend auch im Brass Railing sein. Zwanzig Prozent für mich, wie gesagt.« McFarlan und Gambler Pete mußten sich, als sie die Bar betraten, mit den Ellbogen Platz verschaffen. Die polierten Messinggeländer blitzten wie Gold. Blauer Tabakrauch drehte sich in Schwaden um die Ölfunzeln wie Myriaden von Tanzmücken im Sonnenlicht. An der Schmalseite des Saloons war ein kleines Podest aufgebaut. Ein Klavierspieler hämmerte in die Tasten und entlockte dem verstimmten Instrument abgehackte Melodien. »Schau dir Schweinchen Roury an, Tom«, sagte Gambler Pete zu McFarlan. »Hat sich als Gentleman verkleidet.« Der Barbesitzer strahlte Wohlwollen und Vergnügen aus. »Hallo Tom, hallo Pete, old fellows! Ich hörte bereits, daß ihr auch in Washoe seid. Warum habt ihr euch noch nicht bei eurem alten Freund blicken lassen, he?« Er bugsierte McFarlan und Pete an einen der Seitentische. »Für euch eine Flasche Wein auf Kosten des Hauses«, erklärte er großartig. Pete winkte ab. »Behalte deine saure Brühe, Roury. Laß eine Flasche Whisky kommen, und du besitzt auf ewig unsere Zuneigung.« McFarlan blickte sich um. An der Seitenwand hing ein Porträt von Julia, das ein arbeitsloser Maler aus Ohio gegen eine Woche Freitisch produziert hatte. »In Natur«, sagte Pete, »hast du mehr von ihr, oder?« McFarlan verzog den Mund. Er erkannte Malou, der mit McLaughlin, Comstock, Penrod und einigen anderen an dem großen Tisch vor dem Podest saß. Malou gab den Ton an und hielt die Runde frei. Gambler Pete zappelte unruhig. »Könnten wir nicht erst mal ein Spiel machen, was meinst du?« 55
Sie schoben sich zu einem der Spieltische unter Julias Porträt. Der Croupier, ein schlacksiger Texaner, hatte auf den Knien einen vierundvierziger Armeerevolver liegen. Man sah dem geschniegelten Burschen an, daß seine Höflichkeit nur Politur war. Roury tauchte lautlos hinter dem Gambler auf. »Willst du etwa auch spielen, Pete?« fragte er besorgt. »Warum nicht?« antwortete Pete grinsend. »Hast du was dagegen?« »Ich will keinen Ärger, verstehst du. Auf so einen neuen Laden hat der Marshal ein besonders wachsames Auge.« Pete steckte den kleinen Finger ins Ohr und schüttelte ihn, als befinde sich Wasser in seinem Gehörgang. »Und was bedeutet das: Ärger?« »Gleich am zweiten Tag«, antwortete Roury seufzend, »gab's an diesem Tisch einen Toten. Glatter Herzdurchschuß .« »Und wer war der Pechvogel?« »Ein Falschspieler aus Carson City, der mit gezinkten Karten arbeitete.« Gambler Pete zog die Augenbrauen hoch. »Soll das heißen, daß du mich verdächtigst, Roury? Mich verdächtigen, wie?« Er tat schrecklich entrüstet. Roury wehrte entsetzt ab. »Blödsinn, Pete. Wer behauptet denn so was?« »Na also! Oder sieht's etwa so aus, daß in den Würfeln der Bank 'n Klümpchen Quecksilber steckt?« Roury zuckte empört die Schulter und drehte ab. »Er hat ein gutes Gedächtnis«, sagte McFarlan vergnügt. Denn einmal, im Trappercamp, hatte Pete mit doppelten Karten gespielt, die er aus dem Ärmel zog, und Roury um eine hübsche Summe geprellt. Sie setzten jeder einen Dollar. Pete verlor einen Tageslohn, dann gewann er sieben Dollar. »Ich glaube«, sagte er zu McFarlan, »in Rourys Würfeln steckt doch Quecksilber. Seit ich heimlich zwei Würfel ausgetauscht habe, gewinne ich.« »Hast du seine Würfel eingesteckt?« 56
»Versteht sich. Ich werde sie mal untersuchen, und gnade ihm Gott, wenn sich mein Verdacht bestätigt.« Pete wurde leichtsinnig und verlor auch mit den ausgewechselten Würfeln. McFarlan hatte eine Serie und gewann fast hundert Dollar. Der Texaner zahlte aus, ohne eine Miene zu verziehen, ließ freilich kein Auge von den beiden, bis sie an ihren Tisch zurückkehrten. Offenbar hatte er Verdacht geschöpft. Als Roury auf das Podest kletterte und Julia ankündigte, reckten die Männer die Hälse. Roury hielt eine salbungsvolle Rede. »Julia soll singen!« riefen die Männer und schlugen mit Händen und Füßen so lange den Takt, bis Roury sich verbeugte und den Platz räumte. Die Zuschauer überschütteten Julia mit rauschendem Beifall. Sie war in ein hautenges grünes Kleid gehüllt, verwegen dekolletiert, und trug halblange seidene Handschuhe, über die sie einige funkelnde Ringe gesteckt hatte. Als sie zu singen begann, hingen die Männer an ihren Lippen. Sie sang einfache Lieder, die jeder kannte – englische, französische und spanische Volkslieder. Und genau das wollten die Männer hören. Julia besaß keine große Stimme, aber sie sang gemütvoll. Das ging den Männern zu Herzen. Sie rasten vor Begeisterung. Was sie hier erlebten, war ganz nach ihrem Geschmack: eine aufregend schöne Frau, die empfindsame Lieder sang und ihnen dabei freundlich zulächelte. Mehr wollten und brauchten sie im Augenblick nicht. Der Beifall erreichte Orkanstärke. Old Pancake Comstock klatschte vergnügt in die Hände. Old Virginney riß den Revolver aus dem Gurt und feuerte einige Freudenschüsse an die Decke. Nicht zuletzt Jake Malou war zufrieden. Denn jeder wußte, daß Julia in seiner Kutsche fuhr. War das nicht schon Grund genug, stolz zu sein? Nach dem dritten Lied flogen die ersten Silberdollar aufs Podest. Lächelnd hob Julia die Röcke empor, sie zeigte sogar ihre Beine fast 57
bis zu den Knien, und die Dollar purzelten in ihren Schoß wie reife Pflaumen vom Baum. Die Männer gerieten außer Rand und Band. Ehe sie abging, ließ Julia den Rock fallen, und die Silberstücke polterten aufs Podest. Der dicke Roury watschelte herbei, bückte sich ächzend und sammelte die Münzen in einen Milcheimer. Wo hatte es so etwas schon einmal gegeben? »Schweinchen Roury«, sagte Gambler Pete, »ist ein verfluchter Digger. Er braucht nur seinen Rüssel in den Dreck zu stoßen, und schon klebt Gold dran.« »Es ist Silber«, sagte McFarlan, »und Julia Bullette wird ihm keinen Dime davon abgeben. Aber du hast recht: Roury hat eine Nase fürs Geschäft. Er wird's weit bringen.« In der Pause hämmerte der Klavierspieler auf die Tasten. Er intonierte O Susanna, und die Männer sangen den Refrain mit. Wenn Julia nicht sang, saß sie am reservierten Tisch bei Malou und seinen Gästen. Auch Davidson war inzwischen eingetroffen. Malou ließ Sekt auffahren. Finney verlangte Whisky. »He, Roury!« rief er laut durch den Saal. »Für mich eine Flasche Bourbon ohne Glas. Ich muß den scheußlichen Geschmack runterspülen.« Er machte keinen Hehl daraus, daß er Malou nicht leiden konnte. Etliche Männer drängten sich nach vorn: Bergleute, Mauleseltreiber, abgerissene Mexikaner und Mestizen. Sie wollten Julia aus der Nähe bewundern. »Drängelt nur nicht so, Leute!« jammerte Roury, der eine panische Angst vor Schlägereien hatte. »Miß Bullette wird nachher noch eine Zulage geben. Also geduldet euch und geht zur Seite, damit die Gentlemen was sehen.« Aber die Kerle wollten Julias Parfüm partout aus der Nähe schnuppern. Malou verzog angewidert das Gesicht. Auf seinen Wink rekelten sich am Nebentisch drei Burschen aus Malous Leibwache von ihren Stühlen und begannen aufzuräumen. Sie hatten keine große Mühe, die unliebsamen Gäste hinauszuprügeln. Die anderen betrachteten vergnügt die kleine Einlage. 58
»Julia!« riefen sie im Chor. »Julia soll singen!« Sie sang ein altes mexikanisches Volkslied. Neuer Dollarsegen kam über sie herab. Malou und Davidson überboten sich gegenseitig darin, Julia mit Aufmerksamkeiten zu bedenken. Es war ein Wettstreit, in dem es weder einen Sieger noch einen Besiegten gab. Inzwischen hatte sich Arizona-Jack zu McFarlan und Gambler Pete durchgeboxt. Er angelte sich einen Stuhl. »Ich denke«, sagte er lachend, »daß unsere Lady den richtigen Riecher hat. Jeden Abend einen Milcheimer voller Dollar: das gibt 'ne feine Rente. Hättest du nicht doch Lust, Tom, ihr Teilhaber zu werden?« McFarlan funkelte ihn wütend an. »Du bist ein Armleuchter, Jack. Was redest du für 'n ungegorenes Zeug.« Er winkte Roury herbei. »Wer ist der schwitzende Großsprecher, Miles, der neben Davidson sitzt?« »Der mit der Glatze? Das ist Phil Holmes, ein verkrachter Viehzüchter aus Kansas, der ein paar gute Claims besitzt. Macht eine Menge Geld mit seiner Quarzmühle. Seine Frau ist eine Madame in San Franzisco mit einem gutgehenden Haus.« »Und was hat er mit Miß Bullette zu tun?« »Was für 'ne Frage, Tom! Er ist scharf auf sie.« »Bring uns noch zwei Flaschen Bourbon, Miles!« sagte McFarlan schroff. »Liegt was verquer, Tom?« fragte Gambler Pete. »Ich habe dich noch nie so viel trinken gesehen.« McFarlan zündete sich eine Zigarre an und sog hastig den Rauch ein. »Halt's Maul!« antwortete er wütend. »Wenn du schlechte Laune hast«, warf Arizona-Jack ein, »warum schläfst du sie dann nicht im Camp aus, anstatt uns anzuöden?« »Entschuldige, Jack.« McFarlan war wütend auf sich selbst. Was ging sie ihn eigentlich an? Er kannte sie ja kaum. Sollte sie doch in Dreiteufelsnamen machen, was sie wollte! Schließlich war sie ein Tingeltangelmädchen, oder? Eine von der Sorte, die sich ein Mann für eine einsame Stunde mietet und sofort wieder vergißt. 59
»Ach, Scheiß!« sagte McFarlan knurrend und versank ins Brüten. Nachdem Julias Auftritt vorüber war und sie ins Hotel zurückkehren wollte, sah Davidson seine Stunde kommen. »Ich bringe Sie nach Hause, Julia«, sagte er. Als sie ihm zunickte, erhob sich Malou. »Okay, Gentlemen«, erklärte er mit verkniffenem Lächeln. »Wie wär's, wenn wir im International noch eine Flasche auf Miß Bullettes Erfolg leeren?« Comstock und Finney waren sofort Feuer und Flamme. Davidson stimmte säuerlich ein. Er hatte sich das ganz anders gedacht. Malous Leibwächter machten eine Gasse frei für Julia und ihre Trabanten. Einer der Schläger schleppte den Milcheimer mit den Silberdollar. Die anderen hatten die Hände über der Waffe liegen. Als sie an McFarlans Tisch vorüberkamen, stockte Julia. McFarlan hing zurückgelehnt mit ausgestreckten Beinen im Stuhl und paffte seine Zigarre. »Hallo, Tom«, sagte sie überrascht und gab ihm die Hand. »Ich wußte gar nicht, daß Sie auch da sind. Warum haben Sie sich noch nicht bei mir sehen lassen?« Er erhob sich zögernd. »Hallo«, sagte er. »Hat 'ne Menge Dollar gebracht. Gratuliere!« »Hat's Ihnen gefallen?« Er nickte und wollte sich wieder setzen. Sie wandte sich um. »Das ist Mr. McFarlan«, sagte sie. »Er und seine Freunde waren uns auf der Reise über die Sierra sehr behilflich. Sie erinnern sich, Davy?« Davidson machte ein saures Gesicht. Als sie Jake Malou vorstellen sollte, sagte McFarlan: »Nicht nötig, Miß. Wir hatten bereits das Vergnügen.« Malou lief rot an wie Erdbeergelee. »McFarlan«, sagte er hochnäsig, »ist einer meiner Minenarbeiter. Wollte ihm seine Bitte um einen Job nicht abschlagen, obwohl die Geschäftslage augenblicklich gar nicht sehr rosig ist. Sie fahren doch die Frühschicht, McFarlan, wenn ich nicht irre?« McFarlan nickte. »Von sechs bis zwei.« 60
Julia blickte verwirrt von einem zum anderen. »Wollen Sie nicht auf einen Drink mit ins International kommen, Tom?« fragte sie. »Ich würde mich freuen.« »Er wird wahrscheinlich noch ein paar Stunden schlafen wollen«, warf Malou ein, »damit er bei Arbeitsbeginn frisch ist.« Eine steile Falte kerbte sich über Julias Nasenwurzel ein. »Ich denke«, sagte sie scharf, »daß Mr. McFarlan selbst weiß, was er tun oder lassen soll. Also wie steht's, Tom?« McFarlan schüttelte störrisch den Kopf. »Danke, Miß. Gehen Sie nur. Ich trinke noch die Flasche aus, dann lege ich mich schlafen.« Ein Schatten von Traurigkeit huschte über ihr Gesicht. Dann warf sie den Kopf zurück, drehte sich abrupt um und verließ das Lokal. »Warum hast du ihr einen Korb gegeben, Tom?« fragte der Gambler. »Hast du nicht bemerkt, wie enttäuscht sie war?« McFarlan warf ihm einen finsteren Blick zu und leerte das Glas. Später gingen sie die C-Street hinauf nach Gold Hill. Noch immer pulsierte das Leben in der Straße. Aus den Bars drang das Klimpern von Klavieren und das Scheppern mechanischer Musikapparate. Ein betrunkener Indianer schoß aus einem Saloon, torkelte im Zickzack über die Veranda hinweg und stürzte auf die Straße, wo er sofort einschlief. Die Passanten gingen über ihn hinweg, ohne sich um ihn zu kümmern. Sie erreichten die letzten Häuser, ehe die Hüttencamps begannen. Der Mond über dem Sun Mountain warf ein kaltes trübes Licht, das wie grüner Schwefel schimmerte. Eine Rotte Wildkaninchen hoppelte neben dem Weg umher. Apatschen-Charlie hatte gestern eines hinter dem Lager geschossen und gebraten, aber es schmeckte zäh wie Schuhleder. Sie gingen rascher. Der scharfe Wind ließ sie frösteln. Plötzlich sprangen hinter einem Schuppen vier Männer hervor und schlugen auf sie ein. Gambler Pete stürzte und wälzte sich mit einem der Angreifer am Boden. 61
Ein baumlanger Bursche im Cordanzug schwang eine Latte, um sie McFarlan über den Schädel zu schlagen. McFarlan trat ihm mit solcher Wucht den Stiefel in den Bauch, daß er beiseite flog und wimmernd umkippte. Arizona-Jack machte kurzen Prozeß. Mit einem kräftigen Hieb beförderte er seinen Mann über den Abhang. Sie hörten ihn jämmerlich fluchen. Offenbar war er in eines der zahllosen Grabungslöcher gestürzt, das die Diggers probeweise angelegt hatten, um Erzadern aufzuspüren. So überraschend, wie die Banditen aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder in der Dunkelheit. »Ich habe die Visage erkannt«, sagte Arizona-Jack und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Es war einer von Malous Gorillas. Ich denke, du solltest dich vorsehen, Tom. Malou will einfach nicht, daß du ihm bei der Lady in die Quere kommst.« McFarlan antwortete nicht. Verbissen stapfte er dem Gold Canyon entgegen. Warum, dachte er, muß ich mir nur diesen Ärger einhandeln? Die Antwort wäre wohl nicht schwer zu finden gewesen. Aber McFarlan weigerte sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Davidson hatte Ecke Union Street seine Bankfiliale eingerichtet. Es war die erste, die eine Großbank in Virginia City eröffnete. Bislang gab es nur zwei, drei private Geldverleiher. Seit jedoch die kleineren Besitzer aus Geldmangel aufzugeben begannen und die Börsenkurse für die Claims absackten, stiegen die Chancen für die Finanzleute aus San Franzisco und New York. In der Börse an der B-Street herrschte zur Zeit Hochbetrieb. Jeden Tag gaben die Minenaktien um einige Punkte nach. Spekulanten und Makler schrien sich die Kehlen heiser. Die Großen, darunter Davidson, konnten auf ihre Stunde warten, soweit sie nicht ohnehin unter der Hand Claim um Claim aufkauften. Das Börsenfieber in Virginia City erreichte seinen ersten Höhepunkt. Noch hielten die erfolgreichen Veteranen unter den Diggers, die als erste ihre Claims abgesteckt hatten, durch. Dann gab McLaughlin 62
auf. Er holte mit verrottetem Gerät immerhin noch vierhundert Dollar am Tag aus dem Schacht. Er verkaufte durch Julias Vermittlung an Davidson für dreitausendfünfhundert Dollar. Julia kassierte zwanzig Prozent. Davidson ließ die McLaughlin Mine unter der alten Leitung weiterarbeiten. Er war vorerst gar nicht daran interessiert, daß die Grube mehr Gewinn machte. Als McFarlan eines Abends mit Arizona-Jack aus dem Horseshoe Saloon kam, wo er einige Whisky getrunken und zwanzig Dollar im Kartenspiel gewonnen hatte, fuhr gerade eine Kutsche vorüber. Über das Lederverdeck hinaus leuchtete ein prachtvoller Hut mit wippenden Straußenfedern. Arizona-Jack pfiff durch die Zähne. »Kennst du den Kutscher wieder, Tom?« »So 'ne Galgenvogelvisage«, antwortete McFarlan, »vergißt man nicht, auch wenn sie einem eine Meile unter Tag begegnet.« Es war einer von Malous Leibwächtern, die sie vor kurzem auf dem Heimweg überfallen hatten. Die Kutsche bog Ecke Taylor Street nach rechts hinunter und rollte in die B-Street. McFarlan und Arizona-Jack folgten ihr. Julia verschwand in einem der neuen Holzhäuser mit Straßengiebel und vorspringendem Säulendach. McFarlan wartete, bis die Kutsche am Ende des Blocks in die Union Street eingebogen war. »Ich bin gleich zurück, Jack«, sagte er. »Behalte das Haus im Auge.« Arizona-Jack stellte sich gegenüber, zwischen Gerümpel und Abfallkübeln, in eine Toreinfahrt. Mit dem Fuß verscheuchte er eine Ratte, die im Müll wühlte und zähnefletschend das Feld räumte. Er lehnte sich gegen den Holzpfosten, lockerte die Pistole, schob einen Kautabakpriem in den Mund und wartete. McFarlan betätigte den Klopfer. Nach einer Weile hörte er Schritte. Das Guckfenster in der Tür klappte auf und ein Lichtstrahl fiel heraus. »Hallo«, sagte McFarlan und lüftete den Hut. »Störe ich auch nicht?« 63
Sie starrte ihn an. »O Gott, Mr. Tom McFarlan höchst persönlich«, sagte sie. Er nahm den leicht spöttischen Ton in ihrer Stimme nicht auf. »Darf ich Sie mal kurz sprechen, Miß Bullette?« sagte er förmlich. Sie öffnete die Tür und machte eine einladende Geste. »Treten Sie näher, Sir.« Nach rückwärts gewandt, rief sie: »Wir haben hohen Besuch, Susana.« McFarlan folgte ihr in den kleinen Salon, der mit Polstermöbeln, einer Kredenz und einem mexikanischen Teppich ausgestattet war. Von der Küche her belauerte ihn eine ältliche Mexikanerin. Er sah sich um. »Ich habe das Haus von Phil Holmes gemietet«, sagte sie. »Er hat es für seine Frau gebaut. So lange sie noch in San Franzisco ist, überläßt er es mir.« »Ja, es ist hübsch«, sagte McFarlan. »Wirklich, sehr hübsch.« »Wollen Sie sich nicht setzen, Tom? Ich hoffe, daß Sie wenigstens heute einen Drink mit mir nehmen, nachdem Sie mich neulich versetzt haben.« Er drehte den Hut vor der Brust. »Es dauert nicht lange«, sagte er. »Machen Sie sich keine Umstände.« Sie verschwand. Gleich darauf kam die Mexikanerin mit einem Tablett und servierte Tequila. Sie machte ein säuerliches Gesicht. »Gracias«, sagte McFarlan und nippte am Glas. Als Julia zurückkam, war ihr Gesicht gerötet. Offensichtlich hatte sie sich frisch geschminkt und die Haare neu geordnet. McFarlan fand, daß ihr Parfüm ein wenig zu stark roch. »Ich habe an Liza geschrieben«, sagte sie, »und ihr das Geld geschickt. Sobald ich nach San Franzisco komme, werde ich sie besuchen.« Sie zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen Zettel, den sie vor ihm auf den Tisch legte. »Das war in Derricks Beutel. Können Sie etwas damit anfangen?«
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Er betrachtete aufmerksam die Zeichnung. Dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht die Skizze einer Bonanza, die er seinerzeit fand. Sagte er nicht so etwas?« »Sie sollten Manny Penrod deswegen mal besuchen. Er wohnt bei Mrs. Tilleson in der B-Street. Er hat aus seiner Mine eine Menge herausgeholt, und es wäre doch möglich, daß er für Jim Derrick einen Anteil reserviert hat. Dann springt für Liza noch etwas heraus.« McFarlan fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht auch für Sie, Miß Bullette? Man sagt, Sie seien gut ins Geschäft gekommen. Jeden Abend der Dollarregen im Brass Railing. Malou und Davidson lassen sich wohl auch nicht lumpen, wie?« Sie biß sich auf die Lippen. »Warum sagen Sie das, McFarlan? Nur weil Sie Frauen verachten, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen? Ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt verschwinden.« Er erhob sich sofort. »Ich gehe ja schon. Den Silberbaronen möchte ich ohnehin nicht in die Quere kommen.« Sie vertrat ihm den Weg. »Macht es Ihnen wirklich Spaß, mich zu kränken, Tom?« Es schwang ein bittender Ton in ihrer Stimme mit. Er blickte störrisch auf sie herab. »Stört es Sie etwa, Ma'am?« »Warum arbeiten Sie für Malou, Tom? Haben Sie das nötig?« »Ich muß Geld verdienen. Jeder muß Geld verdienen, und jeder tut's auf seine Weise.« Sie blickte ihm in die Augen. »Nehmen Sie sich vor Malou in acht, Tom. Er ist ein nachtragender, gefährlicher Mann.« McFarlan schnaubte verächtlich. »Malou ist ein Ausbeuter, nichts weiter.« »Steigen Sie bei ihm aus, Tom. Bitte. Sie wissen zum Beispiel nicht, wie Ron Carpenter wirklich gestorben ist.« Er horchte auf. 65
»Und wie, bitte? Was ist passiert?« Sie schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie's, Tom… Ich könnte Ihnen in einer anderen Mine einen guten Job verschaffen.« Er blickte sie wütend an. »Danke, Lady. Sie sind zu gütig.« »Sie sind wohl zu stolz, Mister«, entgegnete sie zornig, »sich von einer Frau auch nur einen guten Rat zu borgen, wie?« Er wollte antworten, verschluckte es jedoch. Sie nickte. »Ich verstehe. Nicht von so einer, wollten Sie sagen. Na schön. Wie Sie wollen, McFarlan.« Verbiestert schüttelte er den Kopf. »So hab' ich's nicht gemeint, Julia. Es gibt nämlich auch private Gründe, weshalb ich ausgerechnet für Malou arbeite.« Sie warf die Lippen auf. »Ach, Sie haben auch ein Privatleben? Hätte ich gar nicht gedacht. Und wie sieht das aus?« Sie legte den Kopf zurück. Ihre Lippen waren halb geöffnet. Das Weiß ihrer Zähne trat leuchtend hervor. Als er sie in die Arme nahm und küßte, schloß sie die Augen. »Halt mich fest, Tom«, stammelte sie. »Ich verliere sonst den Boden unter den Füßen.« Er blickte sie aufmerksam an. »Sieht es so schlimm aus, Julia?« »Ich liebe dich, Tom. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe. Als du mich am Pahute Pool zur Höhle getragen hast, habe ich zum erstenmal wieder seit meiner Kindheit so etwas wie Geborgenheit empfunden. Ich brauche dich.« »Warum bist du überhaupt nach Washoe gegangen?« »Ist das so schwer zu begreifen?« »Ich denke«, antwortete er, »du hast die Straße des Erfolgs betreten. Gefällt dir deine Rolle als Silberkönigin von Nevada nicht?« »Wenn du willst, Tom, höre ich damit auf. Ein Wort von dir, und ich höre auch im Brass Railing zu singen auf…« Sie zögerte. »Und Davidson? Malou? Miles Roury?«
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»Warum fragst du überhaupt danach? Roury ist indiskutabel, Malou ein alter Mann, Davidson ein eiskalter Berechner. Bleib heute bei mir, Tom. Laß mich jetzt nicht allein.« Er löste sich sanft von ihr und schüttelte den Kopf. »Ich habe noch eine Besorgung zu machen, Julia.« Unter der Tür sagte sie: »Komm wieder, Tom, bitte. Vergiß nicht, daß ich dich liebe.« »Falls du es nicht vergißt«, antwortete er, »wollen wir uns gelegentlich darüber unterhalten.« Nach der nächsten Schicht ging McFarlan in die B-Street, die einen Block oberhalb der C-Street am Hang des Sun Mountain entlanglief. Auch hier wuchsen zwischen den wackligen Hütten und stinkigen Erdlöchern nacheinander einzelne Holzhäuser auf. Das Boarding House von Mrs. Tilleson begann sich aus einem Schuppen in ein ansehnliches Anwesen zu entwickeln. Wie überall in Virginia City, waren auch hier Bauleute damit beschäftigt, ein Stück Provisorium auszumerzen und an dessen Stelle etwas Stabiles, Dauerhaftes zu setzen. Es gab eine Menge Diggers und Bergarbeiter, die einiges Geld übrig hatten und sich ein Zimmer leisten konnten. In der Tat galten die Arbeitslöhne in den Minen von Washoe als die höchsten Amerikas, ja der ganzen Welt. Im Flur stieß McFarlan auf die Wirtin: eine ebenso korpulente wie resolute Frau mit roten Hamsterbacken und aufgestecktem Haar, das von ersten grauen Strähnen durchzogen wurde. Sie begann zu zetern, als McFarlan sie nach Manny Penrod fragte. »Gehören Sie auch zu den Saufkumpanen«, sagte sie abweisend, »die mithelfen, Mr. Penrods Geld durchzubringen?« Sie riß die Tür auf. »Besuch, Manny Penrod. Und damit ich's nicht vergesse: Die Miete ist mal wieder überfällig.« Penrod blinzelte. 67
»Immer rein, Mister, falls Sie kein Geld von mir wollen. Nehmen Sie 'nen Schluck?« Penrod war ein untersetzter Mann Anfang Vierzig mit gedunsenem Trinkergesicht und flackernden Augen. Quer über die Stirn zog sich eine wulstige Narbe, die offensichtlich von einem Hieb stammte. Er hockte in einem Haufen von Kleidungsstücken, Papieren und Krimskrams auf seinem Bett bei einer Flasche Whisky. »Sie sind doch McFarlan, wie?« sagte er kichernd. »Erinnere mich aus dem Brass Railing. Malou hat 'ne Stinkwut auf Sie, mein Lieber.« McFarlan winkte ab. »Sie haben also Jim beerdigt«, sagte der Digger. »So 'n Mist auch. Jim war ein guter Kumpel. Hätte verdammt noch 'n Ende Zeit gehabt damit.« McFarlan beobachtete ihn aufmerksam. »Wär's nicht möglich, Penrod, daß es Ihnen gar nicht so ungelegen kommt?« Der Digger hob den Kopf. Er wollte aufbrausen, besann sich jedoch und schnaubte geräuschvoll. »Ich sagte, Jim war ein prima Kumpel. Hat mir mal das Leben gerettet, droben am Red River. Wir wuschen Gold, als uns eine Bande Santee Sioux überfiel. Jim kam zufällig vorbei und hat uns rausgehauen. Seitdem waren wir zusammen. Worauf wollen Sie also hinaus, McFarlan?« »Vergessen Sie's, Penrod. Wie geht das Geschäft?« Der Goldgräber fuhr sich mit den Fingern durch den struppigen Schopf. »Schauen Sie sich um, McFarlan. Da liegen mehr Rechnungen von Gerätelieferanten und Ausrüstern, als ich Haare auf dem Kopf habe.« »Manche Minenbesitzer werden steinreich dabei.« Penrod lachte bitter. »Das sind die Aasgeier, McFarlan. Leute wie Malou und Davidson. Nicht Comstock, McLaughlin oder ich. Wir haben die Bonanza entdeckt, aber wir werden sie nicht ausbeuten. Der wirkliche Boom 68
steht noch bevor. Die ganz großen Geier sind noch gar nicht auf der Bildfläche erschienen, Davidson vielleicht ausgenommen. Hier müssen Sie Hunderttausende reinstecken, dann können Sie Millionen rausholen. Wer von uns kann das wohl?« Er trank die Flasche leer und warf sie hinter sich. Mit fahrigen Händen wühlte er zwischen dem Gerümpel. Dann zuckte er die Schulter. »Haben Sie nicht was zu trinken dabei, Tom?« »Kommen Sie, Penrod. Für einen Drink bin ich immer gut.« Sie gingen in die X-Ranch-Bar. Sie war bereits brechend voll, obwohl es gerade erst auf drei ging. McFarlan ließ sich eine Flasche und zwei Gläser geben. Penrod wies mit dem Kopf zu einem der Spieltische. »Dort drüben hat sich vor zwei Wochen Alfred Colonna eine Kugel durch den Kopf gejagt. War ein netter Junge, gerade zweiundzwanzig, italienischer Abstammung. Hat von einem Digger, Wells Goodwin, beim Spielen einen Schuldschein gekauft und damit einen Claim gewonnen. Für ganze fünfunddreißig Dollar. Er warf jeden Tag glatte fünfhundert ab.« »Und warum hat er sich erschossen?« Penrod hob die Schulter. »Wie gewonnen, so zerronnen. Colonna hat seine Mine binnen zwei Stunden verspielt. Anscheinend machte es ihm nicht mal viel aus. Aber als ihm hinterher der Barkeeper einen Drink verweigerte, zog er die Waffe und schoß sich eine Kugel in den Kopf. Ohne sich lange zu besinnen. War wohl die Scham, verstehen Sie? Noch zwei Stunden zuvor hätte er jeden Kredit gehabt, und dann diese Erniedrigung.« McFarlan schob ihm die Flasche hin. »Scheußlich. Aber das ist wohl keine Lösung, wie?« Penrod leerte das Glas. »War der Dritte innerhalb vier Wochen. Also: Was wollen Sie von mir, McFarlan?« »Sie wissen, daß Jim Derrick eine Tochter hat?« 69
Penrod nickte. »Jim sprach oft von ihr. Jeder von uns wußte, wie er an dem Mädchen hing. Julia sagt, daß sie der Kleinen dreihundert Dollar geschickt hat, die in Jims Tasche steckten. War das sein ganzer Nachlaß?« McFarlan zog die schmierige Kartenskizze aus der Tasche. »Dies gehört noch dazu. Kennen Sie den Wisch, Manny?« Penrod warf einen Blick darauf. »Sehen Sie das C und den Pfeil? Wir haben's Coyotenloch genannt – Wolfskuhle, weil Jim und ich da mit einem Spaten zwei Coyoten erschlugen.« »Ist das der einzige Grund, warum Derrick diese Zeichnung gemacht hat?« Penrod lächelte dünn. »Wir haben dort ein paar Nuggets gefunden, zufällig.« »Das war alles?« »Wir gruben zwei Wochen, ohne daß noch etwas dabei herauskam. Die Nuggets brachten nicht mal die Verpflegung ein. Dann ging Jim nach Kalifornien rüber.« »Und wem gehört der Claim heute?« Penrod zögerte. »Nachdem Jim weg war, vielleicht einen Monat oder sechs Wochen später, haben McLaughlin, O'Riley und ich die Silberader entdeckt, nur einen Steinwurf weit von der Wolfskuhle entfernt. Da habe ich auch den Claim abgesteckt. Er gehört mir.« Penrod griff nach der Whiskyflasche. McFarlan hielt sie fest. »Ich verstehe, Manny. Und was springt dabei für Derrick heraus? Ich meine: für seine Tochter Liza? Oder hat etwa Miß Bullette bereits eigene Forderungen angemeldet?« Penrod wackelte unwillig mit dem Kopf. »Julia ist eine Dame, und ein verdammt anständiger Kerl dazu. Das sollten Sie am besten wissen, McFarlan.« »Stimmt es, daß Sie Ihre Mine verkaufen wollen, und daß Davidson das höchste Gebot abgegeben hat?« »Kaufen Sie mir die Klitsche ab?« »Wenn ich das könnte, wäre ich dann bei Malou in Lohn und Brot? Gehört der Claim zum Minengelände, Manny?« 70
»Ich weiß zwar nicht, was Sie das angeht, McFarlan, aber er gehört nicht dazu, sondern ist getrennt eingetragen.« »Aber Sie wollen ihn zusammen mit der Mine verkaufen, wie?« Penrod zog die Stirn kraus. »Hüten Sie sich, Mann«, sagte er drohend. »Sie wollen damit doch nicht andeuten, daß ich etwas verkaufe, was mir gar nicht gehört?« McFarlan machte eine wegwerfende Handbewegung. »So ähnlich, Manny. Ist's etwa nicht so?« »Nehmen Sie sich in acht, McFarlan! Was das angeht, lasse ich nicht mit mir spaßen. Ich sagte Ihnen, daß mir Jim das Leben gerettet hat.« »Es gibt eine Menge Männer«, erwiderte McFarlan, »die so was allzu leicht vergessen, wenn's um eine Bonanza geht.« »Mag sein. Wer sagt mir, daß nicht ausgerechnet Sie zu dieser Sorte gehören?« McFarlan hatte sich eine Zigarre angezündet und schnippte die Asche auf den Boden. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Manny. Sie verkaufen mir die Wolfskuhle. Ich gebe Ihnen fünfhundert Dollar und einen Vertrag, den der Richter beglaubigen soll, daß ich den Erlös zur Hälfte mit Derricks Tochter teile.« »Vielleicht«, entgegnete Penrod, »ist der Vertrag das Papier nicht wert, auf dem er steht. Wir haben jedenfalls seither kein Stäubchen Gold mehr in der Wolfskuhle gefunden.« »Das ist mein Risiko. Sie gewinnen fünfhundert Dollar und obendrein ein gutes Gewissen gegenüber Jim. Wäre das nichts?« Penrod zögerte. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Entweder«, sagte er, »sind Sie ein erbärmlicher Dummkopf, oder ein ganz geriebener Bursche. Haben Sie das Geld flüssig?« »Vierhundert. Den Rest pumpe ich mir bei Miles Roury.« Penrod grinste verächtlich. »Der würde nicht mal seiner eigenen Mutter einen Nickel spendieren, selbst wenn sie am Verhungern wäre.« »Das lassen Sie meine Sorge sein, Manny. Mir wird er's geben.« Sie wurden handelseinig und hinterlegten am anderen Tag im Court House den Vertrag. 71
Kurze Zeit später verkaufte Penrod seine Mine für 8.750 Dollar. Vor ihm hatte Alvah Gould die Hälfte seiner Anteile an der Gould & Curry Mine für ganze fünfhundert Dollar an Davidson veräußert und bildete sich noch ein, daß er den Bankier aus Kalifornien prächtig übers Ohr gehauen habe. Allein die Gould-Aktien brachten fünfzehn Millionen. Auch Old Pancake Comstock, nach dem sie den ganzen Silberberg genannt hatten, konnte nicht länger widerstehen. Die Bonanza hatte ihn nicht mehr gekostet als ein paar Gläser Whisky und seine Überredungskunst. Jetzt strich er elftausend Dollar ein. Die besten Nerven bewies Pokerface Pat O'Riley, der pockennarbige Skeptiker. Er widerstand allen Versuchungen, war wiederholt nahe am Bankrott und erzielte am Ende vierzigtausend Dollar. Nacheinander verschwanden die Veteranen samt Comstock selbst aus Washoe. Ihre Zeit war vorüber. Wer dann noch kaufen wollte, mußte die Dollars sackweise antransportieren. An den Bankschaltern herrschte Hochbetrieb. Nun kamen auch die Grundstücksspekulanten zum Zuge. Sie kauften große Parzellen auf, mit Vorliebe in der City, warfen die Diggers hinaus und ließen ihre Hütten abreißen. Ganze Kolonnen von Bauarbeitern rückten an und zogen hölzerne Paläste hoch: Hotels, Pensionen, Bürohäuser, Saloons. Allmählich begann sich Virginia City von einem Nomadenlager zu einer ansehnlichen Siedlung zu mausern. Das Court House war zu klein geworden. Es wich einem dreistöckigen Prachtbau, der auch zwölf nagelneue Gefängniszellen enthielt. Marshal Brewster mußte drei weitere Hilfssheriffs einstellen. Ein verkrachter Lehrer aus Connecticut, der in der C-Street auch als Kleiderhändler gescheitert war, machte eine Schule auf. Denn manche Bergarbeiter, Diggers und Angestellte, die ihre Pahutemädchen satt hatten und vergebens die Hand nach Julia ausstreckten, ließen ihre Bräute oder Familien nachkommen. Virginia City war auf fünftausend Einwohner gewachsen, vielleicht siebentausend. Niemand wußte es so genau. 72
Freilich war es noch immer keine richtige Stadt geworden, obwohl es durch das Skelett der Straßen – am Sun Mountain entlang die A- bis F-Street, senkrecht geschnitten von der Union und der Taylor Street – eine gewisse Ordnung vortäuschte. Denn noch immer lag der Ausdruck des Flüchtigen über der Ansammlung scheckiger Behausungen. Die Atmosphäre trug etwas Unwirkliches, und niemand wollte so recht daran glauben, daß man sich hier ansiedeln konnte in der Absicht, seßhaft zu werden. Das Gespenst des Zufalls hockte im Berg und rumorte darin herum. Jeder fand das ganz normal, weil eben Virginia City keine anderen Städten vergleichbare normale Stadt war. Malou hatte Julia eine Szene gemacht. Es handelte sich um den jungen Mexikaner, Ramon Coronado, der zu ihren Liedchen die Gitarre spielte. Er lief hinter ihr her wie ein Schweißhund – immer bereit, jeden zu zerreißen, der die Hand nach ihr ausstreckte. Sie ließ es sich gern gefallen. Was war schon dabei? Es gab kaum einen Mann im ganzen County, der das nicht auch für Sie getan hätte. Die Männer waren so verrückt nach ihr, daß sie das überlebensgroße bläßliche Bild im Brass Railing mit Silberdollars bepflasterten. Wer im Spiel gewann, klebte einen Dollar auf ihr Kleid. Es war bereits zur Hälfte mit Münzen bedeckt. So besaßen die Männer wenigstens symbolisch einen Anteil von ihr – sozusagen eine Aktie auf ihr Wohlwollen. Jake Malou, der ihre Miete und alles andere bezahlte, war eifersüchtig. Es gab keinen richtigen Grund dafür. Aber allein die Existenz von Coronado schien ihm Grund genug. Und dann war da McFarlan! Malou schürte seinen Haß gegen ihn. Der Minenbesitzer wußte nicht, daß Julia ihn seit jenem Abend nicht wiedergesehen hatte. Julia verzehrte sich nach ihm. Ging er ihr etwa aus dem Weg? Wieviel hätte sie für die Gewißheit gegeben, daß er etwas für sie übrig hatte! 73
Malou begriff sehr gut, was in ihr vorging. Julia sang noch immer im Brass Railing, obwohl sie gekündigt hatte, aber der geldgierige Roury bestand darauf, daß sie ihren Kontrakt erfüllte. Auch weiterhin regneten Silberdollar auf sie herab wie Manna vom Himmel. Julia hatte ein Konto bei Davidsons Bank eröffnet. Sie brauchte Malous Geld schon längst nicht mehr. Heimlich hatte sie sich an einem Saloon beteiligt, der allein mit den Spieltischen mehr abwarf, als sie im Brass Railing verdiente. Hinzu kamen die Provisionen von Davidson, der korrekt von jedem Geschäft, das sie vermittelte, zwanzig Prozent auf ihrem Konto gutschrieb. Sie blieb bei Malou aus Gewohnheit und Trotz – weil McFarlan sich nicht bei ihr sehen ließ. Manchmal befahl sie dem Kutscher, sie zum Eingang der F & G Mine zu fahren, wenn Schichtwechsel war. Es sollte nach Zufall aussehen, falls sie McFarlan begegnete. Aber es war wie verhext, sie bekam ihn nie zu Gesicht. Das Haus in der D-Street richtete sie kostbar ein. Sobald sie nicht mehr im Brass Railing singen mußte, wollte sie nach San Franzisco fahren, einen Besuch bei Liza machen und einige Mädchen mitbringen. Sie gedachte eine Bar mit weiblicher Bedienung einzurichten. Das gab es noch nicht in Virginia City, und sie versprach sich einiges davon: eine Art Heimstatt für die Bergleute, Kutscher und Cowboys, die ohne Frauen und Familien waren. Sie sollten eine gepflegte Atmosphäre vorfinden – nicht den Saloondunst vom Sawdust, dessen Boden der raffinierte Roury mit Sägespänen auslegen ließ, damit die Männer ihre Reittiere mit hereinbringen konnten. Eines Nachts wartete Malou mit einigen seiner Schläger vor dem Haus in der D-Street, als Julia nach der Vorstellung in der Kutsche ankam. Auf ihrer Fährte schlich Coronado. Malou zerrte Julia aus der Kutsche, während die Leibwächter ausschwärmten, um Coronado zusammenzuschlagen. Aber der Mexikaner hatte sie beobachtet und war zwischen den Häusern untergetaucht. 74
Malou spie Gift und Galle. »Du hältst den Kerl über Nacht bei dir«, kreischte er. »Das sollst du nicht tun, Julia. Das sollst du verdammt nicht tun.« Sie machte sich mit einem Ruck frei. Wütend entgegnete sie: »Laß mich in Frieden, Malou! Wer bist du, daß du es wagst, mich anzurühren?« »Du hast nachts diesen schäbigen Mexikaner bei dir.« Sie sah ihn mitleidig an. »Ich sage dir, Malou, daß du dich irrst. Ramon ist ein netter Bursche, nichts weiter. Aber selbst wenn du recht hättest: Was ginge es dich an, he?« Er war wie von Sinnen. Er packte Julia und schüttelte sie. Wütend schlug sie ihm ins Gesicht. »Tu das nicht noch einmal, Jake!« drohte sie. »Du wirst es sonst bereuen. Ich lasse mich von dir nicht anrühren.« »Aber von McFarlan zum Beispiel, wie? Denkst du, ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst?« »Sprich nicht von ihm!« entgegnete sie zornig. »Er ist ein Mann, verstehst du, ein verdammt guter Mann, dem du nicht das Wasser reichen kannst, Jake Malou.« Das hätte sie nicht sagen sollen. Er rang nach Luft. »Ich werde dafür sorgen«, drohte er, »daß man ihm das Handwerk legt. Und morgen fliegt er auf die Straße. Du kannst ihm bestellen, daß er gar nicht mehr zur Schicht anzutreten braucht.« Sie starrte ihn entsetzt an. »Das wirst du nicht tun«, sagte sie. »Warum soll er meinetwegen bestraft werden? Du wirst ihn nicht entlassen, Jake.« Malou ließ sich nicht beruhigen. »McFarlan ist eine Ratte, und ich werde ihn zertreten, wie man Ungeziefer zertritt.« Sie zögerte. Dann warf sie den Kopf zurück. »Okay, Malou. Tu, was du nicht lassen kannst. Du hast die Macht dazu. Aber verschwinde jetzt. Ich will dich nicht mehr sehen.«
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Sie betrat das Haus und verriegelte die Tür. Malou trommelte mit den Fäusten dagegen. »Mach auf!« schrie er. »Mach sofort auf, sonst schlage ich die Tür ein.« Brendan, Julias einäugiger Leibkutscher, grinste. »Sollen wir die Bude aufbrechen, Boß?« fragte er. Malou war zu allem bereit und fähig. Das Gesetz galt nicht viel in dieser räudigen Stadt, und was der Marshal nicht sah, ging den Richter nichts an. Malou war einer der mächtigsten Männer im ganzen County… An diesem Tag hatten McFarlan und Arizona-Jack in der F & G Mine, Olafson und Apatschen-Charlie in der Dorado die gleiche Schicht gefahren und anschließend einen Drink in der Reno Bar genommen, kaum hundert Schritte von Julias Haus entfernt. Als sie auf die Straße traten, um heimzugehen, kam gerade Malou mit seinen Männern entlang. McFarlan wartete, bis Malou vorüber war. Er sah Julias Kutsche aus der Union Street in die D-Street einbiegen. McFarlan beobachtete die Szene. Als Malou Julia aus der Kutsche zog, winkte er Olafson und Arizona-Jack. »Postiert euch auf der anderen Seite«, flüsterte er. »Aber rührt euch nicht, bis ich das Zeichen gebe.« Sie verschwanden im Dunkeln. McFarlan und Apatschen-Charlie liefen durch die Union Street zur C-Street hinauf und näherten sich von oben her dem Haus. Sie kamen gerade zurecht, als Brendan die Tür eintreten wollte. McFarlan zog seine Pistole. »Nimm deine schmutzigen Latschen runter, Gorilla!« befahl er und trat aus dem Schatten hervor. Brendan wirbelte herum und wollte zum Halfter langen. »Hände weg!« rief McFarlan warnend. Olafson und Arizona-Jack kamen über die Straße. Die Leibwächter zögerten, als sie sich diesen entschlossenen Männern gegenübersahen. Malou funkelte McFarlan wütend an. »Was wollen Sie hier?« keifte er. »Mischen Sie sich nicht ein, McFarlan, ich rate Ihnen gut.« 76
McFarlan schob ihn beiseite und zog dem Kutschpferd einen Hieb über. Es stieg senkrecht empor, wieherte ängstlich und raste mit dem Wagen in die Nacht hinein. »Jetzt verschwindet hier, aber rasch! Sonst mache ich euch Beine. Auch Sie, Malou!« Der Minenbesitzer hob die Hand. »Okay, Mann«, entgegnete er mit kaum beherrschter Wut. »Diesmal sind Sie obenauf. In der Mine brauchen Sie sich nicht wieder sehenzulassen. Es könnte sonst sein, daß Ihnen zufällig meine Hunde an die Gurgel springen. Das gilt auch für Ihren sauberen Freund.« Arizona-Jack spuckte Malou ein Stück Kautabak vor die Füße. »Stinkt mir schon lange«, sagte er. McFarlan schob den Revolver in den Gurt. »Ich habe verstanden, Mister. Schicken Sie Jack und mir die achtzig Dollar Kaution für Kleidung und Werkzeug raus ins Gold Canyon, und wir sind quitt. Jetzt hauen Sie ab!« Malou und seine Banditen zogen sich vorsichtig zurück. »Folgt ihnen«, sagte McFarlan, »und stellt fest, ob sie nicht noch einmal zurückkommen. Wir treffen uns in der Reno Bar.« Julia öffnete hastig die Tür. »O Gott, Tom«, schluchzte sie. »Warum läßt du mich so lange warten?« Sie zog ihn in den schwach erleuchteten Hausflur und schlang die Arme um seine Schultern. Er schob sie von sich. »Du solltest dich schämen!« sagte er. Sie starrte ihn entgeistert an. »Warum sagst du das?« entgegnete sie. »Was habe ich dir getan?« »Was bist du nur für eine Frau«, meinte er kopfschüttelnd, »daß du dich selbst so ins öffentliche Gerede bringst!« Sie wich zurück. »Ist das alles, was du zu diesem Thema zu sagen hast, Tom McFarlan? Bis du so prüde und engstirnig, daß dich nichts weiter interessiert, als was die Leute sagen könnten?« »Du singst zum Beispiel noch immer in Rourys Kaschemme, obwohl du mir versprochen hast, damit aufzuhören.« 77
»Roury läßt mich nicht aus dem Vertrag. Das mußt du verstehen, Tom.« »Und du fährst in aller Öffentlichkeit mit Malous Kutsche spazieren. Ganz Virginia City weiß, daß du seine Mätresse bist.« Es klang kalt und abweisend. Sie blickte ihn traurig an, trat dicht vor ihn hin und stellte sich auf die Zehenspitzen. Auch jetzt reichte sie ihm kaum bis zum Kinn. Sie bog seinen Kopf herab und küßte seine Stirn. »Es liegt allein bei dir, Tom McFarlan«, flüsterte sie, »das zu ändern. Sag nur ein Wort, und für mich ist das alles vergessen.« McFarlan schüttelte den Kopf. »Das bringst du nicht fertig, Julia Bullette. Du bist eine Frau, die Publikum braucht. Große Szene und Applaus. Elegante Kleider, teuren Schmuck, feine Gesellschaft. Schade!« »Ist das wirklich deine Meinung, Tom?« Fast brüsk stieß er sie zurück. »Ich sage, was ich denke«, entgegnete er. »Kannst du dir nicht vorstellen, daß mir etwas anderes unendlich wichtiger wäre?« »Und was, bitte?« »Deine Liebe, Tom!« »Das sind Worte«, erwiderte er. »Billige Worte, Julia, die du trotzdem nicht einlösen kannst!« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu. Sie wollte ihm nacheilen. Ihr Schritt stockte in der Bewegung. Pochend schlug ihr Herz gegen die Brust. Was soll nur daraus werden? dachte sie. Warum ist es so kompliziert, sich zu lieben? McFarlan traf in der Reno Bar wieder mit seinen Freunden zusammen. Er ließ sich eine Flasche Whisky geben und zog sich an einen Seitentisch zurück. Er war rasch betrunken. Es fiel ihm nicht auf, daß Brendan ihn beobachtete. 78
Apatschen-Charlie hatte Brendan längst entdeckt. Sein indianisches Blut witterte Gefahr. Er beschloß, wachsam zu sein. Julia hatte ihren Kontrakt in der Brass Railing Bar erfüllt und war mit der Wells Fargo nach Carson City aufgebrochen, um dort den Anschluß an die Kutsche nach San Franzisco zu erreichen. Sie verfolgte große Pläne. In aller Stille gab sie den Auftrag, in der D-Street, nicht weit von ihrem jetzigen Wohnsitz entfernt, ein großes Haus zu bauen. Es sollte im kommenden Sommer bezugsfertig sein. Schon jetzt wollte sie in San Franzisco Einrichtungen und Möbel auswählen. In diesen Tagen stolperte ein chinesischer Wäscher aus der F-Street, der in der Dämmerung einen kürzeren Weg über die Grundstücke in der Nähe der Union Street nahm, hinter Julias Haus über eine reglos am Boden liegende Gestalt. Der Chinese stieß einen Schrei aus, ließ sein Wäschebündel fallen und rannte davon. Er lief einem Polizisten direkt in die Arme. Der Mann, über den der Wäscher gestolpert war, war Phil Holmes, Julias Hausvermieter. Er lag mit weit geöffnetem Mund und glasigen Augen in einer Blutlache. In seinem Rücken steckte ein Messer. Dr. Schiebecker stellte fest, daß der Tod vor etwa einer Stunde eingetreten sein mußte. Marshal Brewster leitete eine Untersuchung ein. Zunächst verdächtigte er den Chinesen. Aber noch am Tatort meldete sich ein Zeuge. Er sagte aus, er habe zufällig einen Mann beobachtet, der Holmes gefolgt sei. »Wie gefolgt?« fragte Brewster. »Auffällig, heimlich, gebückt, vorsichtig?« Der Mann verzog das Gesicht. »Ich dachte noch«, sagte er, »ob da nicht was im Busch ist? Kam mir jedenfalls irgendwie verdächtig vor. Ich hatte den Eindruck, Marshal, daß der Bursche was im Schilde führt. Irgend 'ne finstre Sache, vielleicht einen Einbruch oder so. Freilich hab' ich nicht an Mord gedacht, weit entfernt davon!« »Und haben Sie den Mann erkannt, Mr. Brendan?« 79
Denn tatsächlich war der Zeuge kein anderer als Malous Leibwächter. Brendan lüftete die schwarze Binde über dem rechten Auge und zuckte die Schulter. »Schwer zu sagen, Marshal. Es dämmerte bereits, aber ich bin dennoch sicher, daß es jener Digger war, der hinter Miß Bullette her ist und neulich auch Mr. Malou, meinen Boß, mit der Waffe bedroht hat.« »Und wie heißt der Mann?« »McFarlan, glaube ich. Tom McFarlan. Mr. Malou hat ihn erst unlängst entlassen, weil er vor Miß Bullettes Haus über den Chef hergefallen war. Vielleicht hat McFarlan in der Dunkelheit Holmes mit meinem Boß verwechselt und in blinder Eifersucht zugestochen. Er ist ja ganz verrückt hinter der Lady her, Marshal.« Brewster ließ seine Deputies ausschwärmen, um McFarlan zu suchen und ins Polizeibüro zu bringen. Sie fanden ihn auf seinem Claim im Coyote Hole, den er Penrod abgekauft hatte. Seit er und Arizona-Jack in der Dorado rausgeflogen waren, gruben sie hier nach Gold. Obwohl inzwischen die Dunkelheit hereingebrochen war, fand einer der Polizisten McFarlan, wie er im Schein einer Ölfunzel den Sand nach Goldstaub und Nuggets durchsiebte. Widerwillig folgte McFarlan ins Court House. Er kannte den Marshal nur flüchtig. »Wo waren Sie vor zwei Stunden, McFarlan?« fragte ihn Brewster. McFarlan musterte aus dem Augenwinkel mißtrauisch den Mann mit der schwarzen Binde überm Gesicht. »Ist das interessant für Sie, Marshal?« entgegnete er. Brewster schob die beiden Daumen neben dem Koppelschloß in den Gürtel und stemmte die Stiefelsohlen gegen die Tischkante. »Könnte schon sein, Mister. Also?« »Drunten im Coyote Hole auf meinem Claim.« »Auch bei Einbruch der Dunkelheit noch?« McFarlan nickte. »Gewiß, Marshal. Ist das verboten?« »Unsinn! Waren Sie allein?« 80
McFarlan paßte der Ton nicht. »Hören Sie, Marshall«, wandte er ein, »jetzt sagen Sie mir zuerst mal, was das alles bedeutet, ehe ich antworte. Und Sie erklären mir gefälligst, warum dieser Galgenstrick hier herumlungert!« Brendan maulte. »Er soll sich verdammt in acht nehmen, Marshal. Von einem hergelaufenen Digger lasse ich mich noch lange nicht beleidigen, klar?« Brewster warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Sie warten gefälligst, bis Sie gefragt werden, Brendan. Und Sie, McFarlan, täten klug daran, möglichst exakte Antworten zu geben. Es geht nämlich um Mord. Mr. Brendan hat eine Aussage gemacht, die Sie schwer belastet, McFarlan. Also: Wo waren Sie um die Dämmerzeit – eine Stunde vorher und nachher?« McFarlans Blick wanderte verblüfft von Brewster zu Brendan und wieder zurück zu Brewster. Unwillig schüttelte er den Kopf. »Ich sagte Ihnen bereits, Marshal, daß ich auf meinem Claim gewesen bin.« »Allein?« »Arizona-Jack hat mit mir gearbeitet. Er ging eine halbe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit ins Camp, um das Essen zu richten.« Der Marshal runzelte die Stirn. »Gibt's Zeugen dafür, daß Sie die ganze Zeit über die Schlucht nicht verlassen haben?« McFarlan zuckte die Schulter. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat mich jemand gesehen. Meine Lampe brannte die ganze Zeit über. Aber jetzt mal raus mit der Sprache, Marshal: Was soll der Zirkus? Ich vermute doch wohl richtig, daß Sie mich eines Mordes bezichtigen, oder?« »Bis jetzt«, entgegnete Brewster sachlich, »untersuche ich lediglich einen Mordfall. Aber Mr. Brendan hat Sie schwer belastet, McFarlan.« »Brendan«, entgegnete McFarlan verächtlich, »ist Partei. Er möchte mir wahrscheinlich was am Zeug flicken, weil er Malous Krea81
tur ist und sich rächen will. Aber Sie, Brewster, sind ein neutraler Mann. Was also bedeutet das alles?« »Kennen Sie Phil Holmes?« »Flüchtig.« »Aber Miß Bullette kennen Sie besser, wie?« McFarlan zögerte. »Warum fragen Sie danach?« »Das Haus, in dem Miß Bullette wohnt, gehört Phil Holmes. Und Mr. Holmes ist der Tote, den ein Chinese bei Miß Bullettes Haus fand, mit einem Messer im Rücken, jetzt reden Sie, Brendan!« Brendan zog die Augenbrauen hoch. »McFarlan ist gefährlich«, sagte er. »Fragen Sie Mr. Malou, Marshal. Erst unlängst hat ihn McFarlan überfallen und bedroht – aus sinnloser Eifersucht.« »Der Bursche ist verrückt«, warf McFarlan ein. »Nicht ich habe Malou überfallen, sondern er hat Miß Bullette bedroht. Dafür gibt's Zeugen.« Brewster zuckte die Schulter. »Das wird sich herausstellen. Immerhin leugnen Sie offenbar nicht, McFarlan, daß Sie Miß Bullette näher kennen und, sagen wir, engere Beziehungen zu ihr unterhalten.« McFarlans Miene verfinsterte sich. »Fragen Sie sie doch selbst, Marshal«, entgegnete er. Brewster lächelte. »Sie wissen doch selbst, McFarlan, daß sich Miß Bullette gegenwärtig gar nicht in Virginia City aufhält.« McFarlan schien überrascht. Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich!« »Miß Bullette hat Ihnen also nicht gesagt, daß sie für einige Zeit nach San Franzisco fährt? Interessant!« McFarlan blickte Brewster scharf an. »Nun raus mit der Sprache, Marshal: Was hat das alles mit Holmes' Tod zu tun?« »Falls es stimmt, daß Sie auf Mr. Malou eifersüchtig sind, wäre es da so abwegig, wenn Sie auch in Holmes einen lästigen Rivalen sehen? Immerhin war er Miß Bullettes Vermieter und hatte Zutritt 82
zu ihrem Haus. Und wenn Sie sich, wie Brendan aussagt, letzte Woche in der D-Street herumtrieben und Malou auflauerten, warum sollte das nicht auch heute der Fall gewesen sein? Sie überraschten Holmes, als er sich Miß Bullettes Haus näherte, und stachen ihn nach einem Wortwechsel nieder. Klingt das so abwegig?« McFarlan griff sich an den Kopf. »Das ist wirklich verrückt, Marshal«, erwiderte er. »Sagten Sie nicht selbst, daß sich Miß Bullette gar nicht in der Stadt aufhält? Welchen vernünftigen Grund gäbe es dann, einen Mann zu töten, der mir zufällig in der Nähe ihres Hauses in die Quere kommt?« Über Brewsters Gesicht glitt ein kaltes Lächeln. »Eben, McFarlan! Haben Sie nicht gerade erst eingestanden, daß Sie gar nichts von Miß Bullettes Abwesenheit wußten? Sie konnten also vermuten, daß Holmes eine Verabredung mit der Lady hatte und sahen rot. Das ist doch logisch, oder?« McFarlan blickte ihn verwirrt an und rieb sich das Kinn. »Meinetwegen ist's logisch und bleibt trotzdem Unsinn. Denn ich war nicht in der D-Street, und ich habe Holmes nicht niedergestochen. Auf einen so vagen Verdacht hin können Sie mir jedenfalls nicht kommen – am wenigsten, wenn ein Schläger, der bei Malou im Lohn steht, gegen mich auftritt.« Brewster öffnete die Schublade seines Tisches, nahm ein Messer heraus und hielt es empor. »Kennen Sie diesen Dolch, McFarlan?« »Er kommt mir bekannt vor, denke ich.« »Schauen Sie ihn sich genau an!« »Okay, Marshal. Die Doppelkerbe am Ende der Griffschale ist nicht zu verwechseln.« »Sie geben also zu, McFarlan, daß dieses Messer Ihnen gehört?« »Was wäre da zuzugeben! Es ist mein Messer. Wo haben Sie es her, verdammt noch mal?« »Es ist der Dolch, mit dem Holmes ermordet wurde.«
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McFarlan preßte die Finger gegen die Schläfen. »Das ist doch verrückt«, stieß er hervor. »Rundweg verrückt, Marshal.« Brewsters Miene wurde eisig. »Schluß jetzt damit, McFarlan! Können Sie erklären, wie dieser Dolch in Holmes' Rücken kam, wenn Sie nicht sein Mörder sind?« McFarlan blickte sich verwirrt um. Brendan grinste und stocherte mit dem kleinen Finger in den Zähnen herum. »Diesen Dolch«, entgegnete McFarlan, »habe ich seit Wochen nicht mehr in der Hand gehabt. Zuletzt war das, als ich diesem armen Burschen, Ted Carpenter, mein Pferd schenkte. Das Messer steckte in der Satteltasche und ich hab's rausgenommen, als der Gambler für Ted Verpflegung einpackte.« »Und wo haben Sie's seitdem aufbewahrt?« McFarlan griff in den Gürtel und zog ein Messer heraus. »Das trage ich am Leib, Marshal, und zwar seit Jahren schon. Ich benutze kein anderes. Das Messer aus der Satteltasche habe ich damals zu meinem Gepäck in der Hütte gelegt. Da muß mir jemand einen verdammt üblen Streich gespielt haben. Anders kann ich mir das nicht erklären.« »Also kein Geständnis, McFarlan? Wollen Sie, daß ich einen Anwalt verständige?« McFarlan schüttelte den Kopf. »Da hat Malou seine schmutzigen Pfoten drin, Marshal. Ich will mein Recht, das ist alles.« »Das sollen Sie bekommen, wenn das Große Schwurgericht zusammentritt. Geben Sie Ihr Messer und Ihre Pistole ab!« Sie brachten ihn in eine der neuen Zellen im Court House. Grübelnd hockte McFarlan auf der Pritsche. Er wußte nun, wie gefährlich es war, sich mit Malou anzulegen. Aber wie kam das Messer aus der Hütte im Gold Canyon an den Tatort? Und wie sollte er in dieser verfahrenen Situation den Kopf aus der Schlinge ziehen?
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Allmählich wurde klar, daß Virginia City kein Strohfeuer war, das rasch aufloderte, eine Menge Rauch erzeugte und bald wieder erlosch. Die Erzlager, die tief in der Erde schlummerten, waren zu weit verzweigt und zu mächtig, als daß selbst zehntausend oder mehr Miners sie in einigen Monaten hätten ausbeuten können. Unaufhaltsam trieben die Bergarbeiter die Schächte tiefer in die Erde. Der erste große Boom von Washoe schwappte auf. Die Nachricht von McFarlans Verhaftung traf die Männer draußen im Gold-Hill-Camp wie ein Keulenschlag. Sie überlegten, was sie tun könnten, aber vorerst fiel ihnen nichts Vernünftiges ein. Der Winter hatte seinen schärfsten Biß verloren. Die Temperaturen stiegen allmählich wieder an. Die Mittagssonne war bereits stark genug, an den Waldrändern in Südlage Schnee zu schmelzen. Da Arizona-Jack seit McFarlans Verhaftung allein auf dem Claim in Coyote Hole arbeitete, wollte er einen Plan verfolgen, den er zusammen mit McFarlan bereits seit einiger Zeit erwog. Nach Silver Springs hinüber gab es einen Platz, den McFarlan entdeckt und ihm näher bezeichnet hatte. »Tom sagt, es gibt dort eine Stelle, wo er unter der Wurzel einer Fuchsschwanz-Pinie etliche Nuggets fand, zwei oder drei davon erbsengroß. Ich könnte in der Zwischenzeit mal rüberreiten und ein bißchen stochern. Einige Probegrabungen machen, im Frenchman Creek auswaschen, die Nase in den Wind heben und schnuppern. Vielleicht habe ich Glück. Wenn's in Gold Hill Silber gibt, warum soll bei Silver Springs nicht Gold in der Erde liegen?« Er mietete, da er nicht allein reiten wollte, im Pioneer-Stall zwei Pferde und lud Pedro Arapoa ein, ihn zu begleiten. Pedro war ein verschlossener, wortkarger Bursche von achtzehn Jahren, Sohn eines Filipinos und einer spanischen Mutter. Er hatte sich ihnen vor einiger Zeit angeschlossen und war McFarlan treu ergeben. Arizona-Jack wußte, daß er sich auf Pedro verlassen konnte. Sie packten Verpflegung, Werkzeuge, Decken und ein Zelt auf die Reittiere. Nachdem sie ein Stück die Serpentinenstraße hinab ge85
ritten und um eine Wegbiegung gekommen waren, sahen sie im Westen die schneebedeckte Sierra im Frühlicht glänzen wie eine Kette riesiger Diamanten. Sie ließen die Pferde in leichten Trab fallen und gewannen rasch Boden. Die Mesa war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die bereits von zahlreichen Rissen durchzogen war. Gegen Mittag beobachteten sie einige Truthahngeier, die flache Kreise zogen und sich dann niederließen. Sie schlachteten den Kadaver einer PronghornAntilope aus, die offenbar von einem Berglöwen gerissen und nur zum Teil verzehrt worden war. Am Abend kampierten sie an einem Bach im Schutze einer Manzanitahecke. Bereits am nächsten Tag erreichten sie den Frenchman Creek. Der kleine Bergbach sprang in Kaskaden über die Felsen und Terrassenvorsprünge in eine Schlucht hinab, die sich fast kreisrund erweiterte. Der Bach mündete über einen sandigen Abhang hinweg in einem Teich, der glasklares Wasser führte. Arizona-Jack verglich McFarlans Angaben mit der Örtlichkeit. Dann nickte er zufrieden. »Okay, Pedro. Hier machen wir Lager.« Sie schlugen das Zelt auf, kochten einen Kaffee und aßen Brot mit Speck. Dann packte Arizona-Jack zwei Hacken, eine Schaufel und zwei Goldgräberpfannen aus. Sie gingen hinüber zum Fuß des Hanges. Arizona-Jack deutete nach oben. Der Hang stieg zuerst sanft an, um sich dann zu einer steil emporgezogenen Wand aufzuwölben, in der der Creek ein unregelmäßig ausgefranstes Bett gefressen hatte. Arizona-Jack schien zufrieden. Er schritt den oberen Rand des Teichs, wo der Bach einmündete, ab. Dann stieß er den Spaten in die Erde. Der Boden am Fuß des Hangs war sandig. Der Digger kippte die Erde in seine Pfanne, beugte sich nieder und begann die Pfanne im Bach zu schütteln, so daß die Strömung über den Rand des Gefäßes glitt und die Erde allmählich ausspülte. Immer rascher ließ er die Pfanne kreisen, tauchte sie erneut ins 86
Wasser, bis sich auf dem Boden eine dünne Schicht dunklen Sandes absetzte, die einzelne gelbe Punkte enthielt: kleine Körner, kaum sichtbar. Arizona-Jack knurrte. »Gold«, sagte er, ging einen Schritt weiter und hob auch hier ein kleines Geviert Erde aus, das er in die Pfanne schüttete und zu waschen begann. Er zeigte Pedro, wo er graben mußte. »Ein Prospektor muß Zeit haben, Muchacho, und Geduld. Niemals überhastet graben und auswaschen, sonst hast du pures Gold in der Pfanne und siehst es nicht. Goldsuchen ist eine geometrische Aufgabe, mußt du wissen. Du beobachtest und erkennst den Verlauf des Bachs, der vielleicht eine Ader eingeschwemmt hat. In Gedanken ziehst du eine Linie und beginnst Probegrabungen zu machen, Meter um Meter. Wenn die Zahl der Goldplättchen in jeder Pfanne wesentlich abnimmt, mußt du dich wieder dem Hauptstrom der Ader nähern und in einer anderen Richtung graben. So werden wir bald wissen, ob es sich lohnt, hier einen Claim abzustecken.« Sie arbeiteten schweigend und verbissen. Wenn die dunkle Kiesschicht bis auf einen dünnen schwarzen Bodensatz ausgefiltert war, hielten sie die Pfanne schräg gegen die Sonne, damit das Licht die Goldkörnchen aufleuchten ließ. Pedro hatte sich nach einer Stunde vom Hauptweg der Bonanza entfernt. Er grub ins Leere. Seine Pfannen waren ausgewaschen, ohne daß er mehr als höchstens ein Goldplättchen fand. Aber das Goldfieber hatte ihn gepackt. »Ich steige mal neben dem Bachbett ein Stück über den Hang hinauf«, sagte er. Arizona-Jack, in seine Arbeit vertieft, nickte. Pedro nahm den Spaten und arbeitete sich durch ein Gewirr von Madronapflanzen und Creosotebüschen hindurch. An der steilsten Stelle mußte er über einige lockere Felsbrocken turnen und sich dann an herabhängenden Ästen emporziehen. Ein leuchtendblauer Buschhäher schlug mit schnarrendem Warngeräusch an. Aus der Ferne antwortete mit ihrem düster-melancholischen ›Kuua-kuukuuu‹ eine Waldtaube. 87
Eine grüne Kragenechse, die sich auf dem vorspringenden Felsen gesonnt hatte, hob den Kopf, riß das Maul auf, als ob sie beißen wollte, besann sich dann jedoch und flüchtete, grotesk auf den Hinterbeinen balancierend, ins Gebüsch. Pedro untersuchte das Wurzelwerk einiger Foxtail-Pinien. Arizona-Jack warf zwischendurch einen Blick zu ihm hinauf. »Sei vorsichtig, Junge«, rief er ihm zu. »Der Hang ist unterspült und locker. Er kann leicht abrutschen.« Pedro war wild darauf versessen, Gold zu finden. Mit den bloßen Händen untersuchte er den Sand, entdeckte schließlich zwischen halb verdorrten Giliastauden weißglitzernde Quarzkristalle und dann zufällig einige gelbschimmernde Punkte, die ihm entglitten und talwärts rutschten, als er sie festhalten wollte. Die Leidenschaft packte ihn, wie sie alle Goldsucher erfaßt. Er wühlte sich den Hang hinauf, stieß den Spaten ins lockere Erdreich und grub rund um die freigelegten Wurzeln der Pinien und Juniperbüsche den Boden auf. Eine rote Racerschlange, die zischend auffuhr, erschreckte ihn. Der Spaten drohte über den Hang zu fallen. Pedro griff danach, verlor das Gleichgewicht, schlug auf den Fels auf und riß einige größere Steinbrocken mit, die polternd in die Tiefe sprangen. Arizona-Jack fuhr auf. Er erkannte die Gefahr. »Festhalten!« rief er. »Wirf dich zur Seite ins Gebüsch und versuche die Zweige zu fassen!« Aber es war bereits zu spät. Das steilabfallende Bachbett, in das Pedro stürzte, bot ihm keinen Halt. Er stieß einen gellenden Schrei aus und überschlug sich einige Male, die Arme wirbelnd hochgerissen wie die Flügel eines riesigen Insekts. Auf dem grasbewachsenen Vorsprung, ehe sich der Steilhang fast senkrecht in die Schlucht neigte, suchte er noch einmal Halt, griff ins Leere, schlug mit dem Hinterkopf auf die Felsplatte auf, und eine Blutfontaine spritzte zwischen dem Haarbüschel hervor über sein Gesicht. 88
Er fiel fast lotrecht hinab und stürzte ins Geröll, das ihn noch einige Meter nach unten schob, ehe er an einer Manzanitahecke hängenblieb. Arizona-Jack sah, daß hellrotes Blut aus Pedros Hinterkopf sprudelte, unaufhaltsam in einem dünnen Strahl, und im Hemdkragen versickerte. Er drehte Pedro auf den Rücken und blickte in zwei weit aufgerissene glasige Augen. Eine Weile stand er ratlos da, unbewegt mit schlaff herabhängenden Armen, ehe er begriff, was geschehen war. Nun wußte er, daß er nichts weiter tun konnte, als ein Grab auszuheben. Er wählte einen Platz auf einem kleinen Grasplateau, das sich an der Seite wie eine Empore erhob und von den Stauden zahlreicher Mariposalilien überwuchert war. Kraftvoll stieß Arizona-Jack den Spaten ins Erdreich. Es wollte ihm noch immer nicht in den Kopf, was da geschehen war. Blanke Wut überschwemmte ihn. »Warum?« sagte er laut, während er die Erde aushob. »Warum nur? Warum?« Es gab keine andere Antwort darauf als diese: Pedro Arapoa, 18, Goldsucher. »Nein!« schrie Arizona-Jack zornig in die Stille der Einsamkeit hinein. »Verdammt noch mal, nein!« Dieses verfluchte Gold, dieses glitzernde flimmernde glänzende Gold, das zu nichts nütze war. Man konnte es weder essen noch trinken. Nicht anziehen und keine Häuser darauf bauen. Wozu also das alles? Wozu? Wozu? In diesem Augenblick, als er Pedro die Taschen ausleerte und ihn ins Grab legte, war ihm das alles zuwider wie eine ekelerregende Krankheit. Er wußte nur: Gold war der nutzloseste Gegenstand, den er kannte. Und dennoch brauchten es die Politiker, um den offenbar unvermeidlichen Krieg mit den Südstaaten zu finanzieren. Washington war ganz gierig nach Gold und Silber. 89
Die Männer setzten es an den Spieltischen ein, Männer wie Gambler Pete, Tom McFarlan und Olaf Olafson. Für ein paar Nuggets schlugen sie sich die Schädel ein. Und die Frauen trugen es um den Hals und als Diademe auf dem Kopf, als Ringe und Bänder um Finger und Arme. Schöne Frauen wie Julia Bullette. Gold machte sie glücklich, und für Gold waren sie zu haben. Und dafür mußte ein armer Bursche wie Pedro Arapoa sterben… Arizona-Jack warf einige Hände voll der mit Goldstaub durchmischten Erde auf Pedros Gesicht. Erst nachdem er das Grab zugeschüttet hatte, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, ihm die Augen zu schließen. Er murmelte ein Gebet, zusammenhanglos, stieß Pedros Spaten, tief ins Erdreich und suchte einen Ast, den er mit einer Liane an den Spatenstiel band, so daß ein windschiefes Kreuz entstand. Das also war von Pedro Arapoa übriggeblieben. Arizona-Jack schnürte das Gepäck zusammen und lud es den Pferden auf. Er nahm Pedros Fuchswallach an den langen Zügel und ritt aus der Schlucht des Frenchman Creek nach Südwesten, Virginia City entgegen. Er ließ die Pferde im Schritt gehen, wie sie es wollten. Der Gedanke, daß er McFarlan gegenübertreten sollte mit der Nachricht, Pedro sei tot, erschreckte ihn. Arizona-Jack ritt die ganze Nacht hindurch und hielt nicht eher an, bis er im Camp von Gold Hill eintraf. An diesem Abend hockten sie in der Hütte und hielten Kriegsrat ab. Es war Olaf Olafson gelungen, mit Hilfe von Vormann Anderson eine Besuchserlaubnis im Gefängnis zu erwirken. McFarlan hatte Grüße ausgerichtet. »Er sagt«, berichtete Olafson, »daß er verflucht und zugenäht keine Ahnung hat, wie er in diese Geschichte hineingeraten konnte. Der Marshal verlangt von ihm, er solle für die Tatzeit ein Alibi beibringen. Aber Tom hat nun mal keins.« 90
Jorge, ein feingliedriger hübscher Companero, von einer mexikanischen Insel im Pazifischen Ozean stammend, grinste verschmitzt. »Kannst du dem Marshal nicht erzählen«, sagte er zu ArizonaJack, »daß du erst eine Stunde nach Sonnenuntergang Tom und den Claim verlassen hast, und da war Holmes längst mausetot? Das wäre ein verdammt perfektes Alibi, an dem sich der Marshal die Zähne ausbeißt.« Olafson schüttelte den Kopf. »Das ist Blödsinn, Jorge. Randvoller Blödsinn. Wir müssen herausbekommen, wie Toms Dolch in die Hand dieses Gorillas gekommen ist. Das allein hilft uns weiter.« »Willst du damit andeuten, daß Brendan mit Toms Messer Holmes erstochen hat?« fragte ihn der Professor. »Zweifelst du daran? Das ist eine abgekartete Sache, sage ich euch, irgend so eine Schurkerei von Malou, um Tom eins auszuwischen.« Apatschen-Charlie schnippte ein Bündel Haare, das er sich im Nakken überm Kragen abgeschnitten hatte, ins Feuer. Es roch scheußlich, wie angesengter Pelz. »Aber wie«, entgegnete er, »ist der Bursche an Toms Messer gekommen? Tom sagt, es befand sich in seinem Gepäck.« »Brendan«, meinte der Gambler, »kann es zum Beispiel gestohlen haben. Tagsüber, als unsere Hütte mal leerstand.« »Es ist fast immer jemand von uns da«, warf der Professor ein. »Nicht immer«, entgegnete der Gambler. »Aber woher«, gab Arizona-Jack zu bedenken, »wußte Malous Leibwächter überhaupt, daß Tom einen Dolch in seinem Gepäck hatte, falls er es darauf abgesehen hatte und hier rumschnüffelte?« Gambler Pete pfiff durch die Zähne. »Vielleicht purer Zufall. Denkt es euch zum Beispiel so: Brendan sollte Tom im Auftrag von Malou was anhängen. Er paßte eine günstige Gelegenheit ab und durchsuchte die Hütte. Er fand Toms Dolch. Und da kam ihm die Idee, damit Holmes umzulegen. Der Verdacht mußte dann zwangsläufig auf Tom fallen.« »Aber warum ausgerechnet Holmes?« widersprach Arizona-Jack. 91
»Falls das stimmt«, überlegte Olafson, »müßte irgendeine Verbindung zwischen Malou und Holmes bestehen. Ein Mord, nur um Tom was anzuhängen, das wäre doch zu unwahrscheinlich, oder?« Der Professor stützte das Kinn auf die Hände und starrte nachdenklich ins Feuer. »Man müßte eine solche Verbindung nachweisen können. Irgendeine Rivalität, eine geschäftliche Auseinandersetzung zwischen Malou und Holmes. Es könnte ein Racheakt sein. Vielleicht hatte Holmes wirklich was mit der Lady und Malou erfuhr davon.« »Aber Toms Dolch!« Olafson schluckte. »Mir will nicht in den Kopf, wie ihn Brendan so ohne weiteres hier in der Hütte aufgelesen haben soll. Das klingt ziemlich weit hergeholt.« »Und wie klänge es anders?« fragte ihn der Gambler. Olafson zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. »Los, sag's schon, Olaf!« forderte ihn Arizona-Jack auf. »Zum Beispiel, wenn einer von uns Brendan den Dolch zugespielt hätte. Einer, der noch keinen Job hat und sich von Malou eine Arbeitsstelle erkauft. Oder eine Belohnung. Fünfzig Dollar, vielleicht hundert, was weiß ich.« Sie starrten ihn entsetzt an. »Du bist verrückt, Olafson!« entgegnete der Professor wütend. »Glattweg verrückt, einen von uns zu verdächtigen.« »Im Goldland«, erwiderte Olafson ungerührt, »ist alles möglich. Da wird aus einem armen Hund über Nacht ein Millionär; warum nicht aus einem ehrlichen Digger zur Abwechslung mal ein schäbiger Verräter?« »Vielleicht«, warf der Gambler spitz ein, »verdächtigst du ausgerechnet mich, Olafson. Weil ich noch keinen Job habe und mich oft allein hier im Lager aufhalte.« Olafson nickte wütend. »Dich oder Jack, Apatschen-Charlie, mich selbst! Jeder von uns ist verdächtig. Jedenfalls müssen wir was unternehmen.«
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Sie starrten düster vor sich hin und wagten kaum, sich anzublicken – aus Furcht, sie könnten jemandem in die Augen sehen, der ein schlechtes Gewissen hatte. Tatsächlich war jeder von ihnen verdächtig. Mißtrauen schlich sich ein. Es drohte die Luft zu vergiften, in der sie miteinander leben und atmen mußten. »Ihr seid wahnsinnig!« stellte Apatschen-Charlie verächtlich fest. »Und alles wegen dieser Lady!« Jorge, der Companero aus Guadalupe, wiegte den Kopf. »Ein Mann«, sagte er scharfsinnig, »handelt wie ein Mann, wenn es um eine Frau geht.« »Wie meinst du das?« fragte ihn Arizona-Jack lauernd. Jorge spreizte die zehn Finger vorm Gesicht, so daß sich die Daumen kreuzten. Es sah aus wie ein Gitter und warf ein riesiges flakkerndes Muster an die Wand. »Ihr wißt alle, daß Tom auf die Señorita verdammt scharf ist, auch wenn er's nicht wahrhaben will. Wäre es da auszuschließen, daß er diesem Holmes selbst das Messer in den fetten Wanst stieß, weil der verfluchte Chico ihm in die Quere kam? Was aber dann, he?« Olafson schüttelte diesen bedrückenden Gedanken als erster ab. »Das scheidet aus«, antwortete er energisch. »Damit kommen wir nicht weiter. Was wir brauchen, sind mehr Einzelheiten, mehr Tatsachen.« Sie beschlossen herumzuhören und an Toms Stelle zu handeln, der verhindert war, selbst etwas zu seiner Entlastung zu unternehmen. Tatsächlich machten sie einen Digger ausfindig, der ein Erdloch in der Nähe ihrer Hütte bewohnte und behauptete, daß sich ein Bursche, auf den die Beschreibung Brendans paßte, vor einigen Tagen im Camp herumgetrieben habe. Was stand gegen die Annahme, daß er in ihre Hütte eingedrungen war und Toms Messer an sich genommen hatte. Sie wußten nicht, wieviel diese Spur gegebenenfalls wert war. Der Professor, den die Männer zum Untersuchungsführer bestimmten, 93
schien jedenfalls nicht gewillt, klein beizugeben und tatenlos zuzusehen, wie sie Tom den Prozeß machten. Die Territorial Enterprise von Virginia City brachte den Mord und McFarlans Verhaftung in großer Aufmachung. Der Redakteur des Boulevardblattes schrieb eine perfekte Schauergeschichte. Danach schien Tom so gut wie überführt. Marshal Brewster, der so tatkräftig zugepackt und so perfekt ermittelt hatte, war der Held des Tages. »Malou kann zufrieden sein«, knurrte Olafson. Falls er wirklich dahintersteckt und nicht doch McFarlan sich zu einer unüberlegten Tat hat hinreißen lassen! Aber das wußte niemand außer ihm selbst und, falls er nicht der Täter war, der unbekannte Mörder. Oder gab es doch einen Tatzeugen? Der Professor studierte jede Zeile des reißerisch aufgemachten Zeitungsberichts und hörte sich in der Stadt um. Er rückte auch Dan de Quille, dem Redakteur des Enterprise, auf die Bude und fragte ihn nach unveröffentlichten Hinweisen aus, ohne Wesentliches zu erfahren. Dann ging er mit Olafson und Apatschen-Charlie ins Chinesenviertel, das sich um die F- und die G-Street auszudehnen begann. Es gab zu dieser Zeit bereits einige hundert Chinesen in Virginia City. Die meisten von ihnen kamen aus Kanton oder anderen überquellenden Städten der Kwantung-Provinz. Sie besaßen Arbeitskontrakte mit amerikanischen Agenten, die ihnen nach Vertragsablauf freie Rückkehr in die Heimat zusicherten. Wer in Amerika starb, hatte ein Anrecht darauf, daß seine Leiche auf Kosten des Agenten nach China gebracht wurde. Im Land der Väter den ewigen Schlaf zu tun, war das letzte und höchste Ziel aller Söhne des Reichs der Mitte. Die gutbezahlte Minenarbeit freilich war den Chinesen verwehrt. Dafür sorgten anfangs die Kumpels selbst, und später schob die mächtige Bergarbeitergewerkschaft hier einen Riegel vor. Kein Besitzer hätte es gewagt, einen Chinesen unter Tage anzuheuern. 94
Nicht wenige Chinesen arbeiteten als Köche in den Restaurants oder als Hausdiener. Sie waren billiger und zuverlässiger als weiße Männer. Es gehörte zum alltäglichen Bild der Stadt am Sun Mountain, daß Chinesen mit einem Bündel auf dem Rücken durch die Straßen trippelten und das außerhalb gesammelte Feuerholz zum Verkauf anboten. Feuerholz war knapp und sehr begehrt. Besser situierte Chinesen betrieben Wäschereien, Trödelläden und Kolonialwarengeschäfte. In der Territorial Enterprise stand auch, daß der chinesische Wäscher, der über Holmes' Leiche gestolpert war, Wang-fei hieß. Der Professor zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß der Mann hauptsächlich für die Arbeiter der Dorado Mine wusch. Das war ein nützlicher Umstand, den der Professor und Olafson auszuwerten gedachten. Im China Town fragten sie sich nach der Live Fox Street durch. Das war eine winzige schmale und bucklige Gasse, die von der F-Street zur G-Street, nicht weit von der Mill Street, lief. Die wackligen Hütten, mit Menschen und Hunden überfüllt, standen eng nebeneinander. Olafson grinste. »Knöpft eure Taschen zu, Leute«, sagte er. »Die klauen hier wie die Elstern.« »Nicht alle Chinesen stehlen«, entgegnete Apatschen-Charlie. »Und nicht alle Weißen sind ehrlich«, fügte der Professor hinzu. »Wollen wir zusehen, ob unser Mann etwas weiß.« Wang-fei war mit zwei halbwüchsigen Kulis dabei, am Bach hinter seinem Haus Bergmannswäsche zu walken. Er blickte betroffen auf, als der Professor ihn nach dem Mord an Holmes auszufragen begann. »Wang-fei nichts gesehen«, beteuerte er. »Wang-fei nichts wissen.« Er klatschte verärgert in die Hände und jagte mit zischenden Lauten und heftigen Handbewegungen die beiden Buben weg, wie man Gänse verscheucht. Olafson zog die Stirn kraus. Er traute dem Gelben nicht, der offenbar Angst hatte. Wahrscheinlich wollte er nicht noch tiefer in den Fall hineingezogen werden, als es ohnehin schon geschehen war. 95
Denn es konnte ihm gar nicht recht sein, verständlicherweise, daß sein Name in der Zeitung stand. Es war keinem Chinesen anzuraten, sich in die Händel der Weißen einzumischen. Das Leben eines Chinesen galt noch weniger als das eines weißen oder roten Mannes, das immerhin noch den Schuß Pulver wert war, der es auslöschte. Olafson beschloß, Wang-fei unter Druck zu setzen. »Beim Tempel«, sagte er scheinheilig, »steht eine Statue, die einen dicken lächelnden Mann darstellt. Weißt du, wer diese Gestalt ist?« Wang-fei legte die Hände zusammen und neigte den Kopf. »Es ist Kwan-yin.« »Und wen stellt Kwan-yin dar?« »Den Gott der Barmherzigkeit.« »Okay, Wang-fei. Wenn du willst, daß auch wir zu dir barmherzig sind, dann denke gut über das nach, was ich dir sage. Du kennst Mr. Anderson, nicht wahr?« Wang-fei machte devoten Kotau. »Gewiß, Mistel. Ganz sichel. Hochwohlgebolen Anderson big Boß in Dolado.« »Richtig. Und er ist ein guter Freund von mir. Ein sehr guter Freund von mir, du verstehst. Ich gebe dir drei Tage, dich zu besinnen. Höchstens drei Tage, klar? Falls dir in dieser Zeit nicht etwas einfällt, was uns weiterhilft, könnte es gut sein, daß sie in der Dorado Mine keine Verwendung mehr für deine mucklige Waschanstalt haben, weil ein anderer Laundryman die Arbeit besser macht. Hast du verstanden?« Wang-fei begann zu schwitzen. Quälende Angst hockte ihm im Nacken. Er verlegte sich aufs Zetern. Als es nichts nutzte, glitt ein Schatten hilfloser Traurigkeit über sein eckiges Gesicht. Es war offensichtlich, daß er sich vor etwas fürchtete. Der Professor hatte Mitleid mit ihm. Er beschloß, an die menschliche Empfindung des kleinen gelbhäutigen Mannes zu appellieren und ihm dafür zugleich Achtung zu zollen. »Sehen Sie, Mr. Wangfei«, sagte er sanft, »es geht um ein Menschenleben. Ein Mann sitzt 96
im Gefängnis unter Mordverdacht, und die Geschworenen werden ihn wahrscheinlich schuldig sprechen. Wollen Sie seinen Tod am Galgen verantworten, falls Sie etwas wissen, das den Beschuldigten entlasten kann?« Wang-fei wand sich. Olafson stieß nach. Schließlich hob der Wäscher seufzend die Hände. »Okay, Mistel. Ich will Umflage halten nach einem chinesischen Mann.« »Was für einen Mann?« Sie erfuhren, daß es vielleicht, wie man im Chinaviertel hören konnte, einen Mann gab, der über den Tathergang etwas beobachtet hatte. »Und wie heißt der Mann?« Wang-fei hob die schmalen Schultern und ließ sie nach einer Weile wieder sinken. Er wirkte erbärmlich schmalbrüstig in diesem Augenblick. Olafson packte ihn mit seinen riesigen Pranken an der Kutte. »Warum hast du das nicht dem Marshal gemeldet«, herrschte er ihn an, »damit man Nachforschungen nach dem Zeugen anstellt?« Wang-fei verbeugte sich, soweit es ihm in dieser Lage möglich war, demütig. Selbstverständlich wollte er möglichst aus der Sache heraus bleiben und auch den Kuli, falls er überhaupt existierte, nicht mit hineinziehen. Es wäre nicht das erstemal gewesen, daß sie einem Chinesen irgendein Verbrechen anhängten, nur weil es sich ganz bequem so ergab. Der Professor redete Wang-fei noch einmal ins Gewissen, auf jeden Fall den Kuli ausfindig zu machen. Immerhin: Hier zeigte sich vielleicht ein Lichtblick. »Denk an deinen dicken Gott Kwan-yin!« schärfte Olafson dem gelben Mann noch einmal ein. Er wußte, daß er einen vor Angst bebenden Menschen zurückließ. Aber es ging schließlich um das Leben von Tom McFarlan. Und falls dieser gelbe Bursche etwas verschwieg, hatte er da nicht einen Denkzettel verdient? 97
Sie schickten McFarlan Essen und Tabak in die Zelle. Dazu eine Flasche Whisky, die Ben Dickson, ein vom Gambler bestochener Hilfssheriff, ihm zusteckte. Jetzt warteten sie darauf, daß etwas geschah. Sie warteten auch auf die Rückkehr von Julia Bullette. Denn sie waren sicher, daß die Lady für McFarlan eintreten werde. Wie sie das bewerkstelligen konnte, wußten sie freilich nicht. Aber sie wußten, daß die Silver Queen eine Größe in Nevada geworden war, mit der man rechnen mußte. Apatschen-Charlie saß mit finsterer Miene da. Er traute Julia am wenigsten zu. »Wenn's schiefgeht«, murmelte er, »holen wir Tom raus.« Jorge grinste breit. »Das ist mal eine gute Idee, Charlie. Und wie willst du das anstellen?« »Ich weiß es noch nicht. Aber sind wir nicht Männer genug? Notfalls stürmen wir das Court House. Von den Diggers im Camp geht eine Menge mit, da bin ich sicher.« Der Professor machte ein bedenkliches Gesicht. Er war mehr für Law and Order. Im Grunde vertraute er auf die Gerechtigkeit und ihren Sieg. »Willst du's auf eine Schießerei ankommen lassen, Charlie?« fragte er. »Es geht auch anders«, erklärte der Apatsche entschlossen. »Ins Court House komme ich rein, und mit den Hilfssheriffs werde ich fertig. Ihr müßt für ein Pferd und Proviant sorgen, das ist alles.« – Gambler Pete kicherte. »Das ist ein schöner Plan, Charlie. Aber ich habe einen besseren. Allerdings kostet er mich ein paar Dollar.« Olafson warf dem Gambler einen finsteren Blick zu. »Um ein krummes Ding bist du wohl nie verlegen, Pete, wie?« Der Gambler blätterte grinsend die Karten auseinander und ließ sie über den wackligen Kistenholztisch springen, wie Frösche zur Laichzeit über eine Wiese hüpfen. »Ben Dickson, Brewsters krautköpfiger Deputy, hat letzte Woche fünfundzwanzig Dollar an mich verloren und kann sie nicht zurückzahlen.« 98
»Und damit willst du ihn jetzt erpressen, wie?« warf ApatschenCharlie ein. »Warum so harte Worte für so 'ne schmierige Sache, Charlie!« entgegnete Arizona-Jack. »Weiter, Pete!« »Ich doch klar wie Gin, Jack. Wenn ich mit Bens Schuldschein winke, wird er weich und vergißt mal für 'ne Weile, auf das Schlüsselbund aufzupassen. Wir müssen nur warten, bis er Nachtwache hat.« »Warten wir erstmal, bis die Lady zurückkommt«, entschied der Professor. Im Augenblick wußten die anderen auch nichts Besseres vorzuschlagen. Die Wells-Fargo-Kutsche rumpelte zwischen Reno und Carson City über den Postweg. Julia hatte in San Franzisco erreicht, was sie erreichen wollte. Einige gutaussehende, nicht zimperliche Mädchen, die sie aus dem Nachtklub kannte, waren bereit, ihr nach Virginia City zu folgen. Wenn der Bau ihres Hauses, überlegte Julia, zügig vorankam, konnte sie im Frühsommer umziehen. Dann verfügte sie über einige Mädchen, die nicht zusehen wollten, bis sie dort landeten, von wo es für sie kein Zurück mehr gab. Julia wollte ihnen ein Stück verlorener Heimat ersetzen. Ihr neues Haus in der D-Street sollte in der Unruhe der Minenstadt von Washoe eine Heimstatt für alle Heimatlosen und Vereinsamten werden. Julia hatte begriffen, was in diesen Miners, Spielern, Fuhrknechten und Desperados vorging. War sie nicht auch eine von ihnen? Ein Mensch, der überm Abgrund balancierte? Eine Frau ohne Heimat und Ziel? McFarlan freilich! Tom McFarlan, aus dem sie nicht klug wurde, könnte ihrem Leben eine andere Richtung geben. Aber was war das für ein Mann, der sie anzog und zurückstieß, der auftauchte und wieder verschwand, ruhelos wie sie selbst? Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Liza, die neben ihr saß: dieses junge, hübsche Mädchen, das sie aus der schäbigen Pension in 99
San Franzisco herausgeholt und kurzerhand mit nach Nevada genommen hatte. Sie fühlte sich verantwortlich für dieses scheue Wesen, das ihr in eine ungewisse Zukunft folgte. »Virginia City«, sagte Julia, »ist eine Stadt der Ratten und Kaninchen.« Liza, die mit zusammengepreßten Knien dasaß wie eine Puppe mit festgestellten Gelenken, hob den Kopf. »Ratten und Kaninchen?« wiederholte sie. »Gibt es Ratten in Virginia City?« Julia lachte. »Hast du Angst vor Ratten?« »Kaninchen sind lieb und Ratten eklig. Mögen Sie Ratten?« »Sie kämpfen um ihr Leben«, antwortete Julia, »genau wie wir. Und wie die Kaninchen. Sie schlagen sich ums Fressen, hocken in ihren Löchern, um zu verdauen und zu schlafen, kommen hervor, um sich durchzubeißen. Ratten sind wie Menschen, Liza. Und Virginia City ist eine Rattenstadt. Aber ich mag sie.« Liza schob eine blonde Locke, die sich immer wieder zusammenringelte, aus der Stirn. Sie warf Julia einen durchdringenden Blick zu – blitzend und mißtrauisch. »War mein Vater auch eine Ratte?« fragte sie spitz. Julia hatte den Kutscher gebeten, in der Nähe des Pahute Pools anzuhalten, damit sie Liza das Grab ihres Vaters zeigen konnte. Die Stauden der violetten und weißen Palmerglocken wucherten in wilder Schönheit rund um Derricks Felsengruft über dem Indianersee. »Jim Derrick«, erwiderte Julia, »war ein guter Mann, und ein tapferer Mann. Er ist an dem verfluchten Rattenleben kaputtgegangen.« Liza warf den Kopf zurück. »Ich will nicht wie eine Ratte vegetieren!« entgegnete sie. Julia nahm ihre Hand. »McFarlan und ich haben deinem Vater auf dem Sterbelager versprochen, für dich zu sorgen, Liza. Ich halte mein Wort, und auch er wird es halten. McFarlan ist ein guter und anständiger Mann, wie dein Vater einer war.« 100
Julia hatte in den letzten Tagen, ohne es eigentlich zu wollen, oft genug von McFarlan gesprochen. Liza blickte sie aufmerksam an. »Sie lieben ihn, nicht wahr? Liebt er sie auch?« Julia preßte die Lippen zusammen. Liebe, dachte sie. Was bedeutete dieses Wort in einer Welt des Glücksspiels und der Versuchung? Sie blickte durchs Fenster. Ein Rudel leichtfüßiger flüchtiger Antilopen rettete sich vor dem Gespann durchs Dickicht in die Steppe hinaus. Über Nacht war Regen gefallen, der erste Regen dieses Jahres. Schmutzige Wasserlachen spritzten unter dem Hufschlag der Gespannpferde auf. In großen Kolonien standen entlang dem ausgefahrenen Postweg die gut einen Meter hohen Stauden des Mormonentees. Seine Rispen sprühten leuchtend goldgelb aus den grünen Stengeln. Als sie in Carson City ausstiegen, um in die Kutsche nach Virginia City umzusteigen, stand Sam Hacket neben dem Korral und legte gerade einer Scheckstute den Sattel auf. Hacket blickte auf und lüftete den Hut. »Hallo, Ma'am«, sagte er. »Die Silver Queen höchst persönlich. Welche Ehre.« Sie lachte. »Wie steht's in Virginia City, Mr. Hacket? Ich bin gut vier Wochen nicht dortgewesen.« Er zuckte die Schulter. »Kann damit auch nicht dienen, Miß«, antwortete er verdrossen. »Bin die letzte Zeit nur zwischen Sacramento und Reno gefahren, und ein paar Fuhren nach Salt Lake City rüber.« Julia winkte ihm mit den Fingerspitzen zu. »Sobald Sie wieder die Washoe-Route fahren, Sam, kommen Sie mich mal besuchen. Vielleicht ist Tom auch da.« Hacket schnaubte. »Ich hatte gestern meine letzte Fuhre für die Wells Fargo, Ma'am. Sie haben mir den Stuhl vor die Tür gesetzt.« »Entlassen?« 101
»Rausgeschmissen, das kommt der Wahrheit näher, Lady.« Sie runzelte die Stirn. Ein Verdacht stieg in ihr auf. »Davidson?« fragte sie. »Hat etwa er damit zu tun?« In der Tat hatte Davidson, wie sie von Hacket erfuhr, bei der Direktion der Wells Fargo Beschwerde eingelegt und erreicht, daß sie den Kutscher wegen Despektierlichkeit gegenüber den Fahrgästen auf die Straße setzten. Über Julias Gesicht glitt ein Schatten. Wie hängt das nur zusammen? dachte sie betrübt. Zuerst McFarlan, der wegen ihr seinen Job in der F & G verlor. Und jetzt Hacket! Hatte sich Davidson seinerzeit auf der Paßstraße nach dem Indianerüberfall nicht vor allem deswegen geärgert, weil Hacket in Julias Beisein nicht den beflissenen Diener spielte? Warum, so fragte sie sich insgeheim, mußte sie der Anstoß sein, daß ordentliche, ruhige Männer Ärger hatten? Das wollte sie doch keinesfalls. »Tut mir leid, Mr. Hacket«, sagte sie. »Soll ich in dieser Angelegenheit was unternehmen?« Hacket winkte lachend ab. »Lassen Sie nur, Ma'am. Ist nicht der Rede wert. Der Job war mir ohnehin zuwider geworden.« »Und was haben Sie vor?« Er schwang sich in den Sattel. »Fürs erste reite ich eine Botentour nach Reno und zum Pyramid Lake. Grüßen Sie McFarlan, Miß. Sagen Sie ihm, daß ich in drei Tagen zurück bin und dann noch eine Weile in Mrs. Potter's Boardinghouse, Washington Street, zu erreichen wäre. Falls er in nächster Zeit mal nach Carson City kommt.« Er wendete sein Pferd und galoppierte davon… Die Sonne kroch eben als himbeerrote Scheibe hinter das Schneemassiv der Sierra, als die Schnellkutsche vor der Station in Virginia City anhielt. Der Lärm, der Rauch, der Auftrieb von Wagen und Reitern, das Gekläff der Hunde und das Chaos der Menschen hüll102
te sie ein. Julia atmete tief. »Das ist unsere Stadt, Liza«, sagte sie. »Deine Stadt.« Derricks Tochter hob das Gesicht in den frischen Abendwind, der durch die C-Street wirbelte und mit weggeworfenem Abfall spielte. »Die Stadt der Ratten und Kaninchen«, antwortete Liza. »Ist schon in Ordnung, Miß Bullette. Ich hoffe, Sie werden's nie bereuen, daß Sie mich aufgenommen haben. Jedenfalls werde ich mich nützlich machen, so gut ich kann.« Sie tippte ihr gegen die Schulter. »Sag Julia zu mir, bitte. Ich hör's lieber so.« »Gut, Julia. Wenn Sie mir ein bißchen helfen, werde ich mich schon zurechtfinden.« Julia blickte sich um. Die vorübergehenden Männer zogen respektvoll den Hut vor ihr. Sie gab den Gruß mit ein paar freundlichen Worten zurück. Andrew Zinneman, der Dandy aus Philadelphia, kam eben stockschwingend, einen Schlager pfeifend, mit einem gleichfalls nach dem neuesten Chic gekleideten und aufdringlich parfümierten Brasilianer aus der Horseshoe Bar. Zinnemans Gesicht war so vollständig mit Haaren und Bart überwuchert, daß Julia ihn nicht wiedererkannte. Aber er führte eine perfekte Begrüßungsschau auf – witzig, sprühend, schlagfertig. Er genoß es, mit der Silver Queen – wenn auch nur für zwei kurze Minuten – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Der Brasilianer interessierte sich auffällig für Liza. Julia trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen der rechten auf die Knöchel der linken Hand. Sie winkte zwei chinesische Lastträger herbei und beauftragte sie, das Gepäck in die D-Street zu schaffen. Tom Peasley, Captain der Young American Engine Company No. 1, kam gerade über die Straße. Die Männer der Freiwilligen Feuerwehr hatten einen verantwortungsvollen Dienst. Es verging kaum ein Tag, 103
daß nicht in irgendeiner Ecke der Stadt oder einem der zahlreichen Camps ein Feuer ausbrach. Vor vier Wochen hatte Julia den Männern der Brigade Bier und selbstgeschmierte Sandwiches gebracht, als in der Nachbarschaft auf einer Müllkippe ein Schwelbrand plötzlich durch aufkommenden Wind zu einem gefährlichen Feuer aufflammte. Seitdem besaß sie die ungeteilte Sympathie der Feuerwehr und ihres Hauptmanns. Captain Peasley erbot sich, einen Zweispänner zu beschaffen. Julia machte Liza mit Peasley bekannt. Sie zog es vor, ausnahmsweise zu Fuß zu gehen. »Wenn's Ihnen recht ist, Ma'am«, sagte Peasley, »begleite ich Sie ein Stück.« Dann rückte er mit der Neuigkeit heraus. »Phil Holmes ist tot«, sagte er. »Hinterrücks erstochen. Der Marshal hat McFarlan verhaftet.« Sie wollte es nicht glauben. »Tom unter Mordverdacht«, stammelte sie, »das kann nicht sein, Mr. Peasley. Das darf um alles in der Welt nicht wahr sein!« Und doch war es so! Peasley berichtete, was er darüber gehört und gelesen hatte. Ganz Virginia City sprach davon. Um der Territorial Enterprise den Rang abzulaufen, hatten die Gold Hill News eine völlig neue Geschichte gedruckt, die sich am Ende freilich als die alte herausstellte. Übrig blieb Tom McFarlan als einziger Verdächtiger, belastet von einem ehrbaren und höchst glaubwürdigen Zeugen namens Brendan, der im Dienst des höchst ehrenwerten und angesehenen Mr. Jake Malou von der F & G stand. Was also gab es da noch zu zweifeln? Wenn man den Gold Hill News glauben konnte, handelte es sich bei McFarlan um ein zwielichtiges Subjekt: Schläger, Spieler, Trinker, Raufbold, entlassener Offizier der US-Army, Revolver- und Messerheld übelster Sorte. Na, wer sagt's denn? Offenbar hatte Malou in der Zwischenzeit gut gearbeitet. 104
»In den nächsten Tagen«, berichtete Peasley, »findet die gerichtliche Voruntersuchung statt. Es sieht gar nicht gut aus für McFarlan.« Julia war wie benommen. Eine Weile ging sie schweigend neben Peasley her. Plötzlich blieb sie stehen. »Tun Sie mir einen Gefallen, Mr. Peasley?« »Versteht sich, Ma'am.« »Schicken Sie eine Nachricht nach Gold Hill ins Camp, bitte. Einer von McFarlans Freunden möchte heute abend noch bei mir vorbeischauen.« Pearson versprach, das sofort zu erledigen. Sie bedankte sich flüchtig und zog Liza mit sich fort. Die beiden chinesischen Kulis warteten mit dem Gepäck vor der Haustür. Susana hatte Julia und Liza durchs Fenster beobachtet. Sie öffnete, gab den Kulis den Trägerlohn und verriegelte die Tür. Julia nahm Liza bei der Hand. »Das ist Liza Derrick, Susana«, sagte sie zu der Mexikanerin. »Ich denke, ihr werdet euch gut vertragen.« Susana öffnete die nebeneinandergelegten Handflächen nach oben. »Cierto, Señorita. Seguramente. Willkommen in unserem Haus, Miß Liza.« Plötzlich warf sich Julia an Susanas Brust und Tränen tropften der dicken Frau auf die Schultern. Die Alte hielt Julia fest und patschte ihr auf den Rücken. Dabei gurrte sie sanft. Nach einer Weile hob Julia den Kopf und nickte. Sie hatte sich wieder in der Gewalt. Gegen acht kamen Olafson und der Professor. Was sie zu berichten wußten, klang wenig tröstlich. »Falls die Voruntersuchung ungünstig ausfällt«, sagte Olafson, »wollen wir Tom aus dem Gefängnis rausholen. Ist er erst mal frei, dann kommt er leicht nach Arizona runter und weiter nach Mexiko. Dort ist er in Sicherheit.« 105
Julia dachte darüber nach. »Vielleicht«, antwortete sie, »wäre das eine Lösung. Aber nur eine Notlösung. Ein freier Mann sollte sich vor keinem Kopfgeldjäger verstecken müssen, am wenigsten, wenn er unschuldig ist.« »Himmel und Hölle!« rief der Professor. »Das Wichtigste hätten wir beinahe vergessen.« »Du hast recht«, fügte Olafson hinzu. »Der Chinese!« Julia horchte auf. »Der Chinese?« »Sie müssen wissen, Miß Bullette«, fuhr der Professor fort, »daß wir dem Wäscher, der Holmes' Leiche fand, ein bißchen auf den Zahn gefühlt haben, um vielleicht noch was zu erfahren. Er sollte im China Town rumhören, und er hat rumgehört.« Julia hörte ungeduldig zu. »Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter, bitte.« »Okay, Ma'am. Es gibt da einen jungen Burschen namens Lin-li, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Er soll sich, wie unser Gewährsmann berichtet, zur Tatzeit hier in der Nähe herumgetrieben haben. Wahrscheinlich wollte er Hühner stehlen.« »Das kann sehr wichtig sein«, warf Julia ein. »Warum hat ihn der Marshal nicht vernommen?« »Das ist's ja eben. Wang-fei sagt, daß der Bursche seitdem verduftet ist, wahrscheinlich vor Angst, daß sie ihm einen Diebstahl anhängen.« »Oder«, fügte Julia mit erhobener Stimme hin, »weil er den Mörder erkannt hat und deswegen um sein Leben fürchtet.« »Sie meinen: Brendan?« »Warum nicht Brendan! Oder ein anderer von Malous Leuten, in dessen Auftrag. Ein Menschenleben mehr oder weniger kümmert diese Männer doch nicht.« Olafson fixierte sie durchdringend. »Das sagen ausgerechnet Sie, Miß Bullette?« »Mit Malou und seiner Gesellschaft«, entgegnete sie scharf, »habe ich nichts mehr zu tun, Mr. Olafson. Nehmen Sie das, bitte, zur Kenntnis.« 106
Er winkte ab. »Okay, Ma'am. Vergessen Sie's.« Julia dachte nach. Dann wandte sie sich an den Professor. »Haben Sie den Hinweis auf Lin-li bereits dem Marshal mitgeteilt, Sir?« Der Professor verneinte. »Wir haben es selbst erst erfahren, kurz bevor Captain Peasley uns verständigte, daß wir sie aufsuchen sollten. Wir dachten morgen ins Court House zu gehen und eine Aussage zu machen.« »Und wohin ist Lin-li ausgerissen?« Olafson kratzte sich hinterm Ohr. »Wang-fei behauptet, kein Mensch in China Town wisse etwas darüber, nicht mal Vater, Mutter, Onkel und Vettern, was ich bei ihrem Familiensinn für ausgeschlossen halte. Aber Lin-li hat einen Onkel in Carson City. Er betreibt dort das Red Dragon Restaurant.« »Dann werden wir den Jungen dort suchen«, sagte Julia entschlossen. »Vergessen Sie's vorerst, Gentlemen. Und bitten Sie auch Ihre Freunde, darüber zu schweigen, bis wir Gewißheit haben, daß es sich wirklich um eine heiße Spur handelt. Ich gehe morgen vormittag ins Court House und werde auch Tom besuchen. Wo kann ich Sie anschließend treffen?« »Wir fahren die Frühschicht bis zwölf, Ma'am.« »Gut. Sie hören morgen von mir.« »In Ordnung, Miß.« Unter der Haustür fügte sie hinzu: »Tom kann sich auf mich verlassen. Sagen Sie das auch Ihren Kameraden, bitte.« Vergebens mühte sich Julia in dieser Nacht, Schlaf zu finden. Wenn Brendan als Kronzeuge gegen McFarlan auftrat, überlegte sie, steckte selbstverständlich Malou dahinter. Und Malou war ein gefährlicher Mann, das wußte sie am besten. Sie hatte ihm, ehe sie nach San Franzisco fuhr, den Laufpaß gegeben. Sollte es damit zusammenhängen?
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In dieser Stunde betete sie. Murmelte törichte sinnlose Worte. Und versuchte sich Fragen zu beantworten, die sie nicht beantworten konnte. Warum war McFarlan überhaupt in den Mordfall verwickelt worden? Ihretwegen etwa? Aus Peasleys Andeutungen konnte sie es heraushören… Sie warf sich unruhig hin und her, stand auf, blickte zum Fenster hinaus in die Nacht und legte sich erneut nieder. Was auch immer geschehen war und noch geschehen würde: Sie wollte zu McFarlan halten und – wenn es sein müßte – mit ihm nach Arizona oder Texas oder Mexiko gehen. Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig. Schließlich fiel sie erschöpft in Schlaf. Im Traum blitzten sie Malous goldgeränderte Brillengläser an. Sein verkniffenes Lächeln war von Schadenfreude erfüllt. Er schüttete mit beiden Händen Perlen, Ohrringe, Edelsteine und Goldketten über sie. Entsetzt hob sie die Hände, wollte schreien… Ihr Schrei erstickte. Malous Gelächter überflutete sie wie Donnergrollen. McFarlan stand abseits. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war in eine milchweiße Wolke gehüllt. Sie erkannte ihn am Anzug, an seiner Haltung und an seinen Gesten. Im Gürtel steckte sein Messer. Es war mit Blut besudelt… Schweißgebadet wachte sie auf. Liza stand vor ihrem Bett. Das Flackern des Kerzenlichts fiel über ihr Gesicht. »Ich habe Sie schreien hören, Julia«, sagte Liza. »Ist Ihnen nicht wohl?« Julia setzte sich im Bett auf. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Danke, Liza. Es ist nichts weiter. Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt, das ist alles. Geh nur schlafen.« Nachdem Liza gegangen war, warf sich Julia einen Morgenmantel über und trat ans Fenster. Hinter der Wüste, über den Ranges, breitete sich ein erster Dämmerschein aus. Er nahm rasch zu, lief über die Bergspitzen und tauchte sie in orangefarbenes Licht. Dann erhob sich der obere Rand der 108
wie flüssiges Eisen glühenden Sonne über den Bergkamm. Rasch stieg sie empor. Julia wartete ungeduldig, bis es hell wurde. Marshal Brewster bot Julia und Liza einen Platz an. Er wirkte höflich und bestimmt. Mit dürren Worten berichtete er, was die Untersuchung des Mordfalles Holmes ergeben hatte. Das alles klang wenig tröstlich. »Tut mir leid, Madam«, fügte er hinzu. »So wie die Dinge stehen, sieht's keineswegs gut aus für Mr. McFarlan. Aber ich will nicht vorgreifen. Dafür ist Richter Blake zuständig.« »Also Prozeß?« Brewster zuckte mit der Schulter. »Ich denke, daß die Geschworenen das letzte Wort haben werden.« Er wandte sich an Liza. »Bedaure, Miß. Wie ich höre, ist Mr. McFarlan ein Freund Ihres verstorbenen Vaters gewesen. Eine scheußliche Sache. Aber Sie entschuldigen mich jetzt, bitte. Ich hab' noch eine Menge zu tun. Und falls Sie den Häftling sprechen wollen, Ladies, steht dem selbstverständlich nichts im Wege.« Er winkte einem Hilfssheriff, der sie in den Zellentrakt führte. McFarlan saß auf dem Rand seiner Pritsche und rauchte eine Zigarre. »Hallo, Julia«, sagte er einsilbig und erhob sich ohne besondere Eile. »Das ist Liza Derrick«, sagte Julia. »Ich habe sie aus San Franzisco mitgebracht. Wir sind unterwegs am Pahute Pool ausgestiegen und haben das Grab ihres Vaters besucht. Apatschen-Charlie hatte recht. Man hat einen wunderschönen Blick nach Nevada hinunter, über die ganze Wüste.« Er betrachtete Liza mit schräggeneigtem Kopf. »Guten Tag, Miß Derrick. Ist kein schöner Anlaß, daß wir uns begegnen, wie?« Sie wirkte gehemmt, fast eckig. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Mr. McFarlan«, sagte sie, »daß Sie meinen Vater begraben haben.« 109
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Unsinn, Miß! Wenn's anders gelaufen wäre, hätte er's für mich getan. Vielleicht habe ich auch nicht ganz uneigennützig gehandelt. Beim Richter liegt ein Vertrag für Sie. Ich habe einen Claim gekauft, der eigentlich Ihrem Vater gehört. Die Urkunde besagt, daß Ihnen die Hälfte des Gewinns zusteht und im Falle meines Todes das ungeteilte Besitzrecht. Ich hoffe, es ist in Ihrem Sinne.« Julias Herz krampfte sich zusammen. Sie klammerte die Hände um die kühlen Eisenstäbe. »Wir sind gestern abend angekommen, Tom«, sagte sie betreten. »Mr. Peasley hat uns erzählt, was geschehen ist. Olafson, der Professor und Apatschen-Charlie lassen dich grüßen.« »Bist du gekommen«, entgegnete er, »um mich zu fragen, ob ich Holmes erstochen habe?« Es klang frostig, abweisend. Seine Unfreundlichkeit überrumpelte sie. Impulsiv entgegnete sie: »Wärst du dann so dämlich gewesen, deinen eigenen Dolch in der Leiche steckenzulassen?« McFarlan schnippte Zigarrenasche zu Boden. »Brewster denkt es jedenfalls. Er meint, ich bin überrascht worden und abgehauen, ohne mein Messer mitzunehmen. Klingt ja auch ganz plausibel, wie?« »Laß uns nicht so miteinander reden, Tom«, bat sie. »Ich zweifle nicht daran, daß du unschuldig bist und Malou irgendeine Schweinerei ausgeheckt hat. Ich war Zeuge, als Malou drohte, dich fertigzumachen und werde darüber aussagen. Das ist bestimmt wichtig, Tom. Es wird, falls es zum Prozeß kommen sollte, den Geschworenen zu denken geben. Meinst du nicht auch?« In seiner Stirn gruben sich tiefe Falten ein. »Geschenkt, Julia. Was geschehen soll, geschieht. Aber damit du's nur weißt und damit Jims Tochter es auch weiß: Ich habe Holmes nicht getötet.« Sie schluckte. »Selbstverständlich nicht, Tom. Es wird sich herausstellen, davon bin ich überzeugt. Und damit auch Klarheit darüber herrscht: Es 110
war nichts zwischen Holmes und mir, absolut nichts. Sowenig wie mit Malou, auch wenn's anders scheint.« Er blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ist das jetzt wichtig, Julia? Im übrigen habe ich kein Recht, danach zu fragen. Es ist deine Sache, denke ich.« »Es ist auch deine Sache«, entgegnete sie leicht gereizt. »Jedenfalls solltest du es gerade jetzt wissen.« Sie unterhielten sich eine Weile. Schließlich sagte Julia: »Wir haben in Carson City Sam Hacket getroffen, Tom. Die Wells Fargo hat ihn entlassen. Hacket meint, er möchte gern mal mit dir sprechen.« McFarlan nickte abwesend. »Ist ein anständiger Bursche.« Es schien, als grüble er über etwas nach. Dann hob er den Kopf. »Du könntest mir einen Gefallen tun, Julia.« »Selbstverständlich, Tom. Ich tue alles für dich, das weißt du doch.« »Ist nur eine Kleinigkeit. Vielleicht kann es Peasley erledigen.« »Ja?« »Was ich jetzt sage, ist vorläufig nur für euch beide, Sam und Arizona-Jack bestimmt, klar?« »Weiter!« »Hacket besitzt einen Claim, der an meine Bonanza im Coyote Hole anschließt. Er hat noch nicht zu graben begonnen. Aber ich fürchte, daß ihm das Lizenzbüro die Besitzrechte entzieht, falls er nicht bald mit der Arbeit anfängt. Nun sieht's so aus, als ob sich eine Quarzader durch die Schlucht zieht, unter Hackets und meinem Claim entlang. Eine ziemlich ergiebige Ader, vermute ich. Arizona-Jack und ich sind exakt an dem Tag, als die Geschichte mit Holmes passierte, auf Sulfid gestoßen. Schwarzblaues Silberquarz, mit Gold vermischt, und zwar nahe bei der Grenze zu Sam Hackets Claim. Das ist die Sachlage.« Julia nickte. »Ich verstehe. Du willst, daß Hacket nach Washoe kommt und zusammen mit Arizona-Jack gräbt.« 111
»Falls es stimmt, was ich vermute, werden wir auch an anderen Stellen fündig. Dann wär's nur vernünftig, die beiden Claims zusammenzulegen und gemeinsam auszubeuten. Es müßte sich lohnen. Das Geld für die Maschinen und Ausrüstungen wird sich schon beschaffen lassen.« »In Ordnung, Tom. Und was soll geschehen?« »Hacket muß rüberkommen, so rasch wie möglich. Am besten reitet Arizona-Jack nach Carson City. Tom Peasley soll ihn benachrichtigen.« Ein entschlossener Zug glitt um Julias Mund. »Ich werde das selbst erledigen, Tom. Und was das Geld für den Minenbetrieb angeht: Ich habe viel verdient und eine Menge gespart…« McFarlan fuhr mit der Zungenspitze über die obere Zahnreihe. »Das laß mal meine Sorge sein, Julia. Irgendwie werde ich das schon hinbringen.« »Und wie, bitte?« entgegnete sie spitz. »Ich kann zum Beispiel einen Geologen kommen lassen, einen Surveyor, der mir ein Gutachten macht. Darauf kriegt unsere Minengesellschaft bestimmt einen Bankkredit.« »Etwa von Davidson?« »Warum nicht von Davidson!« erwiderte McFarlan bissig. »Hast du auf einmal was gegen ihn?« Verärgert schüttelte sie den Kopf. »Dem bist du nicht gewachsen, McFarlan. Dem nicht. Das ist ein eiskalter Geschäftsmann.« »Hältst du mich etwa für dämlich?« »Nicht für dämlich, Tom McFarlan, aber für zu ehrlich und zu geradeaus. Du kennst die Schliche und Winkelzüge nicht, mit denen man heutzutage Geschäfte macht. Davon verstehe ich mehr als du, Tom. Und weißt du auch, warum?« Er zuckte die Schulter. »Weil ich raffinierter bin als du und mißtrauischer. Ich weiß, wie Davidson das anstellt. Er gibt dir einen Kredit, der etwas zu dünn ist. Wenn du investiert hast, noch einen. Dann 112
noch einen. Jedesmal verlangt er eine neue Sicherheit. Am Ende gehört ihm die Bonanza, und du hast das Nachsehen.« McFarlan warf den Zigarrenstummel zu Boden und trat ihn mit einer drehenden Bewegung aus, wie man ein lästiges Insekt zertritt. »Ach, lassen wir das jetzt«, sagte er wütend. Julia lief rot an. »Du bist ein Dickschädel, Tom McFarlan. Ein verdammter Dickschädel. Und wenn ich dir, falls die Bonanza ergiebig ist, ein Geschäft vorschlage?« Er kniff das rechte Auge zusammen. »Was für ein Geschäft?« »Ich finanziere die Ausrüstung und die Arbeiter. Dafür machen wir Halbe-Halbe.« »Soll das ein Geschenk sein?« An ihren Mundwinkeln kerbte sich eine tiefe Furche ein. »Hörst du neuerdings schlecht, McFarlan? Ich sagte, es handelt sich um ein Geschäft. Was Davidson recht ist, kann mir billig sein. Falls das Gutachten des Surveyors günstig ausfällt, treten Liza und ich als Teilhaber bei dir und Sam Hacket ein. Ihr die Hälfte, wir die Hälfte.« »Und wenn sie mich aufhängen«, fügte McFarlan hinzu, »wird Liza Derrick eine gute Partie. Denn dann hat sie meine beiden Viertel gratis. Okay, Julia. Falls das Gutachten positiv ausfällt, können wir drüber reden.« Liza rümpfte die Nase. »Was bist du nur für ein Mensch, Mr. McFarlan? Wie kannst du so reden! Sobald deine Unschuld erwiesen ist, wird man dich freilassen.« »Abwarten, Mädchen!« entgegnete McFarlan, nahm eine neue Zigarre aus der Schachtel neben der Pritsche, biß die Spitze ab, die er ausspuckte, und riß ein Zündholz an. Er paffte dicke Rauchwolken durch die Stäbe. Julia preßte den Kopf ans Gitter. »Wenn's schieflaufen sollte«, flüsterte sie, »werden deine Freunde dich hier rausholen, Tom. Das sollte ich dir noch sagen.« 113
Er fächelte eine Rauchwolke aus der Luft und küßte sie flüchtig auf die Stirn. »Abwarten, Julia«, sagte er. Er wollte sich umwenden. Ihre Augen sahen ihn fragend an. »Noch was, Miß?« Sie warf den Kopf zurück. »Falls Sie mal die Absicht haben sollten zu heiraten, Mr. McFarlan, dann vergessen Sie nicht, es mir vorher mitzuteilen. Könnte schon sein, daß ich eine Frau für Sie wüßte.« Sie drehte sich um und ging rasch hinaus. Auf der Straße sagte sie zu Liza: »Du hast mich gestern gefragt, ob ich ihn liebe, Liza. Ja, ich liebe ihn. Und ich werde zu ihm halten, was auch kommt. Wie gefällt er dir?« Liza antwortete nicht. Sie war von dieser Begegnung aufgewühlt. Nicht nur, daß sie noch nie ein Gefängnis besucht hatte. Nicht nur, daß dieser Mann ein Kamerad ihres Vaters gewesen war. Es gab noch einen anderen Grund, ohne daß sie sich darüber klar gewesen wäre. Eine Empfindung wundersamen Erstaunens durchflutete sie. Ein Gefühl, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Über ihr Gesicht glitt ein verträumtes Lächeln. Julia blickte sie von der Seite an, wie sie mit flatterndem goldschimmerndem Haar neben ihr herging – aufrecht, jung, selbstbewußt. Hatte sie nicht das Blitzen in McFarlans Augen bemerkt, als er Liza ansah? Sie schüttelte, verärgert über sich selbst, den Kopf. Wie werde ich eifersüchtig sein auf dieses Mädchen? dachte sie beschämt. Und doch war es Eifersucht, die sie unsicher machte, grundlose Eifersucht. Sie beschloß, Toms Auftrag selbst auszuführen. Es traf sich, daß die Suche nach Lin-li keinen Aufschub duldete. Sie ließ sich mit der Nachricht an Sam Hacket leicht verbinden. Für die Fahrt zum Court House hatte Julia im Pioneer-Stall einen Zweisitzer gemietet. Bislang stand ihr Malous Kutsche zur Verfügung. Man war es in Virginia City gewohnt, daß die Silberqueen kaum zu Fuß durch die 114
Stadt ging. Sobald sie eine geeignete Kutsche auftrieb, wollte sie das Gefährt und zwei schnelle Pferde kaufen. Sie ließ Liza einsteigen, ergriff die Zügel und jagte die Pferde die Union Street hinab. Ohne sich um den durch die Hauptstraße flutenden Verkehr zu kümmern, bog sie in die C-Street ein. Sie drehte sich nicht um, als Davidson aus seinem Büro herauskam und ihr zuwinkte. Vor dem Laden von Scholl & Roberts, die erst unlängst in der CStreet ein Waffengeschäft eröffnet hatten, hielt sie an. Die Männer, die auf den hölzernen Fußgängerstegen herumlungerten, reckten die Hälse. Sie alle kannten Julia Bullette und zogen den Hut vor ihr. Aber Liza, so jung und leuchtend blond: das war etwas Neues, Ungewohntes für Virginia City. Diese mädchenhafte Grazie und Unbekümmertheit verwirrte die Männer. Sie warfen ihr scheue Blicke zu. Julia nahm die Zügel kurz. »Kannst du mit einer Pistole umgehen, Liza?« fragte sie. Das Mädchen zögerte. »Vater hat's mir vor Jahren mal beigebracht, als er in Grass Valley Gold schürfte.« »Du warst in Grass Valley?« Liza nickte. »Vater hatte dort mit zwei Freunden eine gute Bonanza gefunden. Er mietete ein Haus, engagierte ein Kindermädchen und eine Hauslehrerin für mich und holte mich nach.« Liza lächelte versonnen. »Das war ganz eigenartig: dieses große Haus für mich allein, denn Vater arbeitete Tag und Nacht auf seinem Claim. Ich dachte damals, so müßte einer Märchenprinzessin zumute sein.« Julia warf Liza einen forschenden Blick zu. »Und wann war das in Grass Valley?« Liza besann sich. »Vor sechs oder sieben Jahren. Es war der Herbst, als Lola Montez dort auftauchte. Ich kann mich noch gut erinnern.« Julia nickte. »1853«, sagte sie. »Hast du die Montez gesehen?« »Sie trat im Theater auf. Vater nahm mich mal mit. Die Männer waren ganz verrückt nach ihr. Es war eine sehr schöne Frau. Man 115
sagt, sie sei die Geliebte des Königs von Bayern und eine richtige Gräfin gewesen.« »Ja«, bestätigte Julia, »sie war eine sehr schöne Frau.« Liza blickte überraschtauf. »Haben Sie sie gekannt, Julia?« »Ich war vorübergehend auch in Grass Valley«, antwortete Julia kurz angebunden. Sie sprach nicht gern von dieser Episode. Denn Lola Montez, die im Revolutionsjahr 1848 aus Bayern ausgewiesene Gräfin Landsfeld, hatte ihr eine Szene gemacht, eine widerwärtige Szene. Damals in Grass Valley war die Montez eifersüchtig gewesen auf die jüngere Julia Bullette. Patrick Purdy Hall, versoffener Ehemann der Montez, war hinter Julia her, wie er hinter allen Tanzgirls der kleinen Theatertruppe her war. Eines Abends stand die tolle Lola nach der Vorstellung mit ihrer Leibwache beim Ausgang. Sie gab Julia eine Ohrfeige. »Das ist«, sagte sie wütend, »damit du dich erinnerst, verheirateten Männern aus dem Weg zu gehen.« Noch heute empfand Julia diese Ohrfeige wie eine Demütigung. »Und warum«, fragte sie Liza, »hat dein Vater Grass Valley verlassen?« Über Lizas Gesicht glitt ein Schimmer schmerzlichen Bedauerns. »Ich glaube, es lag an Vaters Charakter. Er war ein Träumer, kein Rechner. Er hat Tag und Nacht gearbeitet, aber er konnte nichts daraus machen. Eines Tages stand er mit leeren Händen da. Einer seiner Kompagnons hatte ihn übers Ohr gehauen und war dabei Millionär geworden, mein Vater wieder mal zum Bettler. Außerdem hatten das Haus und das Personal zu viel verschlungen.« Julia fuhr sich über die Stirn. »Ja, ich verstehe. Nun gut, Liza. Das ist vorbei. Steig aus!« Sie band die Zügel am Geländer fest und ging mit Liza in den Laden. Der Verkäufer, ein junger Mann in grasgrüner Weste mit Stutzbärtchen, kam eifrig dienernd um die Theke herumgelaufen. »Sie haben einen Wunsch, Miß Bullette? Gern zu Ihren Diensten, Madam. Was darf's sein, bitte?« 116
»Eine Pistole, nicht zu groß und nicht zu schwer. Sie soll gut in der Hand liegen, keinen zu starken Rückstoß haben und treffen, nicht um die Ecke schießen. Kapiert?« Der Verkäufer schluckte. »Die Pistole soll für Sie sein, Madam?« »Für eine Dame jedenfalls.« Julia kaufte eine sechsunddreißiger Colt-London mit Griffschalen aus Rotholz und einer Blumengravur am Lauf, die Tasche aus weichem Karibuleder, dazu Zündhütchen und Patronen. Liza begriff das alles nicht. »Ich werd's dir später erklären, Liza«, sagte sie. »Komm!« Sie stiegen in die Kutsche ein. Julia lenkte den Wagen durch die C-Street, in die Taylor Street und bis zur Dorado Mine. Vor dem Eingang hielt sie an. »Wir müssen eine Weile warten«, sagte sie. »Geht's um McFarlan?« »Es geht um McFarlan«, antwortete sie. In der Nähe des Büros stand eine Schlange von Männern an. Sie traten einzeln an den Schalter. Der Kontrolleur notierte ihre Namen und gab jedem eine Nummer. »Sie suchen Arbeit«, sagte Julia, »und viele werden sie finden. Die Dorado hat vor drei Wochen eine neue Erzader angebohrt.« »Und die Frauen neben dem Tor?« Julia machte eine hilflose Handbewegung. »Manche Männer tragen den Lohn lieber in die Saloons und Spielsäle, als nach Hause. Ihre Frauen erwarten sie deshalb gleich hier.« »Und die Indianerinnen?« »Pahutemädchen. Die Männer kaufen sie von ihrem Stamm und machen mit ihnen, was sie wollen. Sie lieben, quälen und schlagen sie. Die Mädchen bleiben trotzdem treue Squaws. Sie wissen es nicht anders.« Nach Mittag spie der Schacht verschwitzte staubbedeckte Männer aus. Sie gaben ihre Marke ab, und der Grubenschreiber drückte ihnen den Lohn in die Hand. Vier Dollar je Schicht. Seit die Dorado mit der neuen Erzader fündig geworden war und mehr Arbeiter 117
brauchte, zahlte der Besitzer einen Dollar mehr. Es war abzusehen, wann die übrigen Minen nachziehen mußten. Die Miners wirkten müde. Schweiß perlte durch die Staubschicht, die ihre Gesichter zu Masken machte. »Es ist scheußlich heiß dort unten«, sagte Julia. »Je tiefer sie die Schächte bohren und die Stollen vortreiben, desto heißer wird es. Sie sind bereits auf sechshundert, sogar achthundert Fuß Tiefe angelangt. Sie werden auf tausend kommen, vielleicht zweitausend. Das ist eine verdammte Schinderei – bei Staub und Hitze, die Beine im Wasser, weil das Grundwasser durch den Fels drückt und sich auf der Sohle sammelt. Immer wieder stürzt ein Stück Decke ein und erschlägt den Mann, der gerade an dieser Stelle arbeitet. Wundert's einen, wenn sie sich ein Pahutemädchen suchen oder im Saloon ihr Geld vertrinken, sobald sie wieder heil nach oben gekommen sind?« Liza biß die Lippen zusammen. Julia strich ihr flüchtig übers Haar. »Okay, Mädchen. Nimm's dir nicht so zu Herzen!« »Die Ratten- und Kaninchenstadt«, antwortete Liza. »Waren Sie schon mal unten im Bergwerk?« »Vor einigen Monaten hat mich der Besitzer der F & G mal mit hinuntergenommen. Ich wollte sehen, wie die Leute im Stollen arbeiten.« Liza zögerte. »Sagten Sie nicht, Julia, daß auch McFarlan eine Zeitlang in einer Mine gearbeitet hat. Sind Sie deswegen ins Bergwerk eingefahren?« Julia warf die Lippen auf. »Es ist die Hölle dort unten. Eine Vier-Dollar-Hölle, und eine ganze Menge dieser Männer bleibt für immer unten, wenn der Stollen einstürzt. Aber vergiß es, Liza. Kein Mensch kann ein Leben lang mit düsteren Gedanken rumlaufen, ohne verrückt zu werden.« Julia entdeckte Olafson, der in einer Gruppe abgearbeitet aus dem Schachthaus schlurfender Männer mit dem Professor, ApatschenCharlie und Jorge über den Platz kam. Aus ihren maskenhaften Ge118
sichtern leuchteten die hellen Augen wie runde weiße Scheiben. Die Männer erkannten Julia und begrüßten sie. »Ich war bei McFarlan«, sagte sie. »Er läßt euch grüßen. Das hier ist Jim Derricks Tochter.« »Nett, Sie kennenzulernen, Miß«, sagte Olafson verlegen. »Gibt's was Neues, Ma'am?« »Tom hat einen Auftrag für Arizona-Jack, Mr. Olafson. Richten Sie ihm was aus?« »Versteht sich, Ma'am.« »Hat er ein gutes Pferd und Zeit für einen Tag?« »Das Pferd müßte er sich im Mietstall leihen.« »Gut. Sagen Sie ihm, er soll morgen kurz vor Sonnenaufgang am Gold Canyon auf mich warten. Ich bringe ein Pferd für ihn mit. Er kommt voraussichtlich erst in der Nacht oder am andern Tag zurück.« Olaf nickte. »Werd's bestellen, Ma'am.« Die Männer trieben im Strom der Bergleute dahin, der sie ins Camp schwemmte. Ihnen entgegen eilten die Gruppen der Miners, die zur neuen Schicht einfuhren. Zwischen ihnen hindurch fuhr Julia zum Mietstall hinüber. Sie gab die Kutsche zurück und wählte zwei Pferde mit Sätteln aus: einen Rotschimmel und einen Goldbraunen. Den Stallburschen beauftragte sie, die Tiere am nächsten Morgen eine Stunde vor Sonnenaufgang in die D-Street zu bringen. Zu Hause angekommen, stellte Julia hinterm Haus einige Bierflaschen auf eine Kiste und zeigte Liza, wie sie die Pistole handhaben mußte. Nach einigen Fehlschüssen traf Liza das Ziel. Klirrend spritzten die Glassplitter auseinander. »Sie reiten morgen mit Arizona-Jack nach Carson City, nicht wahr?« sagte Liza. »Ja. Du hast richtig vermutet.« »Und warum nehmen Sie nicht die Postkutsche?«
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»Dann weiß es auch Malou. Er hat überall seine Spitzel. Es ist besser, wenn Arizona-Jack und ich unbemerkt nach Carson City kommen.« Liza überlegte. »Ich verstehe, Julia. Sie wollen nicht nur Mr. Hacket benachrichtigen, sondern auch den Chinesenjungen ausfindig machen.« »Richtig. Und wenn Malou davon Wind kriegt, könnte es leicht sein, daß Lin-li eine Kugel im Kopf hat, ehe er auch nur ein Wort sagen konnte.« »Ist das auch der Grund, warum Sie eine Pistole für mich gekauft haben?« »Indirekt. Du mußt dich nicht ängstigen, Liza. Aber es ist besser, gewappnet zu sein. Jedenfalls möchte ich sichergehen.« Nach dem Abendessen nahm Julia den Reitanzug aus dem Schrank, um ihn auszubürsten und die Sporen an die Stiefel zu schnallen. Liza half ihr dabei. Nach einer Weile sagte sie unvermittelt: »Sie sind eine seltsame Frau, Julia.« »So, bin ich das?« »Verstehen Sie es bitte nicht falsch. Ich war fünf, als meine Mutter drüben in Nebraska von den Sioux getötet wurde. Ich kann sie mir kaum noch vorstellen. Trotzdem erinnern Sie mich an sie.« »Das ist nichts Besonderes, Liza. Kinder, die sehr früh ihre Mutter verloren haben, glauben sie in jeder Frau wiederzuerkennen. Es ist die Suche nach dem verschwundenen Glück.« Ein Schatten glitt über Lizas Gesicht. »Möglich«, sagte sie abweisend. »Schon möglich.« »Ich weiß, wovon ich rede, Liza«, antwortete Julia. »Als ich acht war, brannte meine Mutter mit einem mexikanischen Offizier durch. Sie war, wie wir viel später erfuhren, nach Veracruz gegangen. Trotzdem schwor ich wenigstens einmal jede Woche Stein und Bein, daß ich sie irgendwo gesehen hatte. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, daß sie fortgegangen war und uns alleingelassen hatte.« Plötzlich warf sich Liza an Julias Brust. »Ich mache mir Sorgen um Sie«, sagte sie verwirrt. 120
Julia betrachtete sie aufmerksam. »Weil ich morgen reite?« Sie lächelte vergnügt. »Wirklich kein Grund vorhanden, Kleines. Ich habe schon als Kind tagelang im Sattel gesessen. Außerdem reitet ArizonaJack mit. Er ist McFarlans Freund und ein zuverlässiger Mann.« »So, wie Tom?« Wieder war dieses Licht in Lizas Augen! Julia wölbte die Lippen auf. »Anders als Tom. Aber ich denke, man kann sich auf beide verlassen. Jetzt soll uns Susana was zu essen machen. Du wirst Hunger haben, Liza.« Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang ritt Julia, den Zügel des ledigen Pferdes am Sattelknopf angehängt, die D-Street zum Gold Canyon hinüber. Als sie durch den in bleierne Müdigkeit versunkenen Randbezirk von Virginia City kam, hatte sie das Empfinden, daß ihr ein einzelner Reiter folgte. Sie konnte sich täuschen, aber ihr Mißtrauen war geweckt. Arizona-Jack wartete, wie verabredet, am Eingang von Gold Hill. Als Julia näherkam, trat er aus dem Schatten eines Baumes hervor. Er nickte Julia zu, schob sein Gewehr in die Scabbard am Sattel des ledigen Pferdes und stieg wortlos auf. Unterwegs informierte ihn Julia über Toms Auftrag und ihre Absicht, Lin-li ausfindig zu machen. Außerdem sprach sie die Befürchtung aus, daß Malou sie möglicherweise beobachten ließ. »Wenn's so ist«, sagte Arizona-Jack, »nehmen wir am besten nicht den Postweg. Ich kenne einen wenig benutzten Bergpfad, Miß. Der Trail ist ein bißchen schmal, aber ganz gut. Sobald wir unten sind, können wir quer durch die Steppe reiten, eine Strecke den Turtle Creek entlang und durch das Gelände der Golden-K-Ranch. Einverstanden, Ma'am?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern setzte sein Pferd in raschen Trab. Inzwischen kam das Dämmerlicht herauf und zeich121
nete aus der Undurchdringlichkeit des Hochlandes zunehmend aufhellende Konturen heraus. Eine halbe Meile südlich von Gold Hill verließen sie die Straße. Ein schmaler überwucherter Pfad, mit Felsbrocken und Geröll bedeckt, führte in Windungen abwärts. »Lassen Sie die Zügel lang, Ma'am«, sagte Arizona-Jack. »Die Tiere kennen sich aus und finden den Weg allein besser.« Rasch war die Sonne über den Horizont gestiegen. Als Julia den Blick emporrichtete, beobachtete sie ein Goldadlerpaar, das hoch um den Sun Mountain seine Kreise zog – lautlos auf kaum bewegten Schwingen dahinsegelnd. Voraus schlug trällernd ein Rosenfink an. Julia sah ihn einen Augenblick lang auf einer Limber-Pinie sitzen. Sein Wangenfleck unter der braunen Kopfplatte leuchtete auffallend weiß. Der Vogel plapperte laut und hastig, gelegentlich von einer hübschen Melodie unterbrochen. Aus der Tiefe des Mesa antwortete mit großem Eifer ein Felszaunkönig. Sein schmetterndes Lied war weithin zu hören. Die Pferde setzten vorsichtig Tritt vor Tritt. Der Serpentinenweg führte über einen steilen offenen Hang talwärts. Stellenweise war der Pfad abschüssig oder mit nachrutschendem Geröll bedeckt. Die Tiere tasteten behutsam den Boden ab, ehe sie die Hufe aufsetzten. Nachdem sie ins Tal abgestiegen waren, ließen sie die Pferde ausgreifen. Die Nachtkühle wich sehr rasch, und die Wärme des sonnigen Morgens breitete sich aus. Ein starkes Rudel langschnäuziger Coatis vagabundierte vorüber. Die Nasenbären, gut fünfzig insgesamt, trugen ihre langen buschigen Ruten hochaufgerichtet wie Standarten. Eine Weile sah Julia ihnen zu, ehe sie in einem Buschwäldchen verschwanden. Sie ritten durch Mesquitesteppe. Hin und wieder wuchsen einzelne Felsgruppen aus der Hochebene. Als Arizona-Jack einen Blick rückwärts warf, knurrte er. »Wir haben einen Schatten, Miß.« »Also doch. Ich schwöre, das ist einer von Malous Leuten.« »Wir werden ihm eine Falle stellen.« 122
Sie ritten durch ein weites Feld orangeblühender Barrel-Kakteen. Nach einer halben Stunde erreichten sie den Turtel Creek, dessen Lauf sie folgten. Er führte in eine Schlucht, die allmählich tiefer und enger wurde. Zeitweise mußten sie hintereinander reiten. Nach etwa einer Meile erweiterte sich der Canyon, die Felswände traten zurück und bildeten ein großes Oval, das mit Steinblöcken übersät war. Tamarisken wucherten rechts und links. Arizona-Jack ritt mit Julia weiter am Bach entlang bis zum hinteren Ende der Erweiterung, ehe die Felswände wieder zu einer schmalen Schlucht zusammentraten. Hinter einem Vorsprung lenkten sie die Pferde durch ein Gestrüpp und ritten im Schutze einer Buschhecke zurück. Hinter einer Felsbarriere hielten sie an. »Hier können wir den Verfolger erwarten«, sagte Arizona-Jack. »Er wird annehmen, daß wir weitergeritten sind; denn unsere Spur führt drüben in das Gorge hinein.« Arizona-Jack zog das Gewehr aus dem Sattelfutteral und hielt es im Anschlag. Es vergingen nur wenige Minuten, bis näherkommender Hufschlag zu hören war. Als der Reiter die Einmündung des Canyons erreichte und die Hufspuren der beiden Pferde quer über den sandigen Boden zur anderen Seite laufen sah, nickte er befriedigt und ritt sorglos weiter. »Es ist einer von Malous Leuten«, flüsterte Julia. »Er heißt Stanton.« »Bleiben Sie hinter der Felsbarriere, Ma'am. Ich werde erst mal mit ihm reden.« Ehe der Reiter Galopp anschlagen konnte, kam Arizona-Jack mit erhobener Waffe hinter dem Felsen hervor und versperrte den Weg. Stanton zügelte sein Pferd und wollte zum Gürtel greifen. »Hände weg!« befahl Arizona-Jack unmißverständlich, legte den Zeigefinger an den Abzug und hob den Gewehrlauf an. Zorn sprühte in Stantons Augen. »Was soll das?« sagte er mühsam beherrscht. »Wer sind Sie und was wollen Sie von mir, Mister?« »Wer ich bin«, antwortete Arizona-Jack, »wissen Sie, und was ich von Ihnen will, können Sie sich wohl denken, Stanton, oder?« 123
Stanton spielte den Ahnungslosen. »Ist das die feine Art«, erwiderte er, »einen friedlichen Reiter zu überfallen?« »Und wohin soll's gehen, wenn man fragen darf?« Stanton zuckte die Schulter. »Spazieren.« »Einfach so, ohne festes Ziel?« »Ist das verboten?« »Nicht verboten, Stanton. Sie kennen doch diese Lady, wie?« Julias Rotschimmel tänzelte und stieg mit den Vorderhufen hoch. »Seit wann«, sagte sie spöttisch, »reiten Jake Malous Männer durch die Salzwüste spazieren?« Stanton machte eine verlegene Handbewegung. Er tat, als sei er freudig überrascht. »Tag auch, Miß Bullette. Wußte gar nicht, daß ich auf Ihrer Spur geritten bin.« Arizona-Jack grinste. »Aber jetzt wissen Sie's, Stanton. Und Miß Bullette hat's gar nicht gern, wenn ein Schatten an ihrer Fährte klebt. Also machen Sie gefälligst kehrt und suchen Sie sich eine andere Gegend aus!« Stanton wollte Widerstand leisten. »Sie können mir nicht befehlen«, maulte er, »wohin ich reiten soll, Mister.« Julia schnitt ihm das Wort ab. »Es ist klug, wenn Sie gehorchen, Stanton«, sagte sie. »Mit diesem Gentleman ist nicht gut Kirschen essen.« Stanton biß sich auf die Lippen. Er sah wohl ein, daß er den Kürzeren zog. Sein Blick verfinsterte sich. »Hüten Sie sich, Mann!« knurrte er, riß sein Pferd herum und trieb es in den Canyon zurück. Sie warteten, bis sein Hufschlag verklungen war. Erst dann ritten sie weiter. »Ob er uns folgen wird?« fragte Julia. Arizona-Jack nickte. »Ich bin sicher. Aber er wird vorsichtiger sein und größeren Abstand halten.« 124
Bei der Golden-K-Ranch stiegen sie ab und tränkten die Pferde. Tausende von Rindern weideten verstreut das dürre Gras und die harten Blätter der Salzbüsche. Einige Dutzend Cowboys waren damit beschäftigt, aus der Herde jene Tiere auszuwählen, die über die Sierra nach Kalifornien getrieben werden sollten. Arizona-Jack war selbst früher Cowboy gewesen. Er kannte Bill Craven, den Besitzer der Golden-K-Ranch, mit dem er vor Jahren in Wyoming geritten war. Und er kannte auch die Tragödie der Longhornrinder von Kalifornien, die vor gut zwanzig Jahren mit der Säkularisation der Missionen begann. Die spanischen Missionare hatten sich, was man auch sonst an ihrer Arbeit aussetzen mochte, um die Indianer und die Rinderzucht verdient gemacht. Als ein kalifornisches Gesetz die Klöster enteignete, begann der Massenmord an den Rinderherden. Fleisch gab es genug. Was mehr Geld brachte, waren Häute. Also gingen ganze Schiffsladungen rund um Kap Horn nach New York. Das Fleisch verfaulte auf den Weiden. In wenigen Jahren gab es in Kalifornien kaum noch Rinder. Der Preis für Rindfleisch stieg schwindelerregend. Und da ausgerechnet zu jener Zeit der große Goldrausch Zehntausende von Diggers nach Kalifornien lockte, stellte die Fleischversorgung ein ernsthaftes Problem dar. Anfangs halfen sich die Goldwäscher selbst. Binnen weniger Jahre hatten sie alles jagdbare Wild rund um die Camps abgeschossen. Die Hotels zahlten gute Preise für Katzenfleisch. Pferdesteaks waren zu einer Delikatesse geworden, und Hundefänger hatten einen einträglichen Beruf. Noch immer litt Kalifornien unter Fleischmangel. Wer Rinder liefern konnte, machte einen fetten Gewinn. Bill Craven ließ einen Treck zusammenstellen und den Longhorns das Brandzeichen der Golden-K-Ranch aufdrücken. Seine Cattlemen jagten mit ihren schnellen Pferden an der Herde entlang und schwangen die sechs, acht Meter lange Treibpeitsche aus geflochtenem Leder. Ihre Schläge knallten wie Gewehrschüsse. Nicht wenige dieser 125
Eisenhäute trugen lange Narben im Gesicht: Zeichen der wütenden Duelle, die die Cowboys untereinander mit diesen gefährlichen Peitschen austrugen. Arizona-Jack saß unruhig auf seinem Goldfuchs. »Verdammt schöne Tiere hast du, Bill«, sagte er anerkennend zu Craven. »Stehen fest im Fleisch. Das gibt drüben einen stolzen Preis.« Craven schnalzte mit der Zunge. »Die Sierra ist hoch, Jack, und die Küste weit. Letztes Jahr habe ich einen Treck gemacht und von achthundert Tieren hundertundvierzig verloren, davon allein achtzig durch einen Zyklon und dreißig durch verdorbenes Wasser.« »Okay, Bill«, antwortete Arizona-Jack. »Ich seh' schon, du wirst ein armer Mann dabei.« Craven lachte. »Du reitest mit der Lady nach Carson City, Jack?« »Erraten. Wahrscheinlich wird uns ein Bursche folgen, der sich Stanton nennt, mit 'nem Galgenvogelgesicht und tiefliegenden Augen. Reitet eine Schecke, die auf der rechten Hinterhand etwas unsauber geht. Vielleicht kannst du ihn ein bißchen zurückhalten, Bill.« Craven legte die Hand auf den Gewehrkolben. »By Jove, Jack. Werde ihn einladen, ein Glas mit uns zu trinken.« Sie kamen am späten Vormittag nach Carson City, und alles lief rascher und glatter ab, als sie es sich gedacht hatten. Im Boarding House von Mrs. Potter, Washington Street, erfuhren sie, daß Sam Hacket gestern abend aus Reno zurückgekehrt war. Er erschien auch bald auf der Bildfläche. Seine Freude, Julia und Arizona-Jack wiederzusehen, war ungekünstelt. Daß McFarlan wegen Mordverdachts im Gefängnis saß, erschütterte ihn zutiefst. »Verdammt 'ne scheußliche Geschichte. Was mich angeht, hat Tom wahrscheinlich recht, und es wäre tatsächlich besser, wenn ich mich erst mal um meinen Claim kümmere. Darüber wollen wir reden, Miß. Betreffs dieses chinesischen Burschen freilich sollten wir zu126
erst mit Old Pancake Comstock sprechen. Ich weiß zwar, wo der Red Dragon ist, war aber noch nie drin.« Julia horchte auf. »Henry Comstock? Ist er hier in Carson City?« »Gewiß, Madam. Er kam mit elftausend Dollar und hat sie in einem Supply Store investiert. Aber stellen Sie sich Old Pancake als Heringsbändiger und Hosenverkäufer vor! Das mußte ja schiefgehen.« »Hat er Pleite gemacht?« Hacket fletschte die Zähne. »Verkaufen Sie mal eine Bonanza, Lady, um Warenhausbesitzer zu werden, und Sie haben mehr alte Freunde im Liquor Shop, als Haare auf'm Kopf! Old Pancake mußte froh sein, daß ihm so 'n smarter Bursche aus Los Angeles die Schulden abnahm und dafür den Store umsonst hatte. Old Pancake steht mit leeren Händen da, Miß, und er küßt Ihnen die Füße, wenn Sie ihm 'nen Whisky spendieren. Aber lassen Sie sich nichts anmerken. Er ist da verdammt empfindlich.« Hacket führte sie einige Blocks weiter zum Comstock Store. Der jetzige Besitzer war so großzügig, Comstock im Hinterhof zwischen lauter Gerümpel in einer wackligen Bretterbude hausen zu lassen. Die Tür stand offen. Comstock lag ausgestreckt auf einer Heuschütte. Das Sonnenlicht fiel in schrägen Strahlenbündeln auf sein Gesicht. Mücken tanzten in Spiralen umher. Old Pancake schien leicht angetrunken, aber seine Gedanken waren klar. »Der Red Dragon! Klar kenn' ich den, Freunde. Hat Old Pancake, solange er in Carson City noch Kredit hatte, oft genug frequentiert. Das Ragout Pe-tsai mit Hammelfleischstreifen ist besonders zu empfehlen.« Er kicherte in sich hinein. »Dazu den Reiswein nicht zu vergessen! Die Kaschemme gehört Ku-jen. Sein Reiswein ist nicht schlecht. Aber notfalls schenkt er auch einen Bourbon aus.« Julia lächelte zustimmend. »Gut, Mr. Comstock. Also Pe-tsai mit Whisky im Red Dragon. Einverstanden?« 127
Comstock schien nicht sehr begeistert. »Sie wollen also diesen schlitzäugigen Burschen dazu bringen, Lady, den Mund aufzumachen? Ich sage Ihnen, so 'n gelber Teufel schlüpft Ihnen leichter durch die Finger, als eine Forelle ins Netz. Und falls Malou wirklich seine schmutzigen Pfoten mit im Spiel hat, woran ich nicht zweifle, wird er einen unbequemen Zeugen eher umlegen, als die Gefahr einzugehen, daß er plaudert.« »Und wie können wir das verhindern?« Comstock hatte eine brauchbare Idee: Sheriff Shultz. »Vor dem Sheriff«, sagte Comstock, »hat Ku-jen einen gewaltigen Respekt. Gehen wir rüber ins Polizeibüro und bereden die Sache.« Shultz, ein hochaufgeschossener Mann Anfang fünfzig, mit aschgrauem Haar und einem durchdringenden Blick, ließ sich berichten. Er saß reglos an seinem Tisch, auf dem ein Schachbrett stand. Offenbar war gerade eine Partie unterbrochen worden. Während Shultz zuhörte, betrachtete er die Stellung der Figuren zueinander. Nichts in seiner Miene verriet, was er dachte. »Kannst du uns helfen, Dudley?« fragte ihn Comstock, nachdem Julia ihren Bericht beendet hatte. Der Sheriff saß eine Weile vor dem Schachbrett, als überlegte er, welchen Zug er machen sollte. Ein schachspielender Sheriff, das war Arizona-Jack neu. Er rümpfte die Nase. »Ich hoffe«, sagte er ungeduldig, »daß Sie endlich einen Entschluß gefaßt haben, Sheriff.« Shultz hob mit spitzen Fingern die schwarze Dame hoch und versetzte sie nach der Seite. »Schach«, murmelte er und fügte nicht ohne Schärfe hinzu: »Ein Sheriff in der Hauptstadt von Nevada, der sich nicht jeden Zug genau überlegt, ist ein wirkungsloser Mann, Mister. Und sehr bald ein toter Mann.« »Auch wenn's nur um einen Chinesen geht?« »Der Chinese«, antwortete Shultz, »ist nur eine kleine Figur im großen Spiel. Aber einer der Könige heißt immerhin Jake Malou. Haben Sie das vergessen, Mister?« 128
Shultz verzog das Gesicht. Er beauftragte einen seiner Hilfssheriffs, Ku-jen herbeizuschaffen. Der Besitzer des Red Dragon, ein alter Herr in schwarzrotem Gewand, dessen Zopf hin und her pendelte wie das Perpendikel einer Standuhr, hörte mit undurchdringlichem Lächeln zu. Der Sheriff wußte, daß er Ku-jen in eine Zwangslage manövrierte zwischen Familienpflicht und Interessenkonflikt. Kein Chinese ließ einen Verwandten im Stich. Aber es kostete Shultz ein Fingerschnippen, und Ku-jen war seine Lizenz für den Red Dragon los. Shultz beschloß, ihm eine goldene Brücke zu bauen. »Hören Sie, Mr. Ku«, sagte er, »ich kann mir denken, wie Ihnen zumute ist. Falls wir richtig vermuten, unterdrückt Ihr Neffe wichtiges Beweismaterial für einen Mordfall, und Sie helfen ihm dabei. Das ist strafbar.« Shultz nahm einen Bauern vom Brett, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. »Ich weiß, was Sie erwidern wollen, Ku-jen. Wenn Lin-li nach Virginia City zurückgeht und dort aussagt, wird ihn der Marshal wahrscheinlich einsperren. Oder noch wahrscheinlicher: Der Mörder legt ihn um.« Ku-jen hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Nur die Fingerspitzen, die leicht vibrierten, verrieten seine Nervosität. »Was soll geschehen, bitte?« fragte er leise. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Lin-li bleibt in Carson City. Sollte er sich strafbar gemacht haben, etwa wegen einem Diebstahl, so wird er nicht weiter verfolgt. Das kann ich verantworten. Vorausgesetzt, Ihr Neffe macht hier vor dem Richter seine Aussage zu dem Mordfall. Wir schicken das Protokoll nach Virginia City, und damit wäre die Sache für Lin-li erledigt. Einverstanden?« Ku-jen wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Lin-lis Aussage vor dem Richter in Carson City brachte die Wende im Mordfall Holmes. Der Junge hatte an jenem Abend bei einem Nachbarn von Julia Hühner stehlen wollen – unter chinesischen Halbwüchsigen ein beliebter Sport. Lin-li lag auf der Lauer, bis es dunkel genug war, um in den Stall einzubrechen. Dabei beobachtete er zwei Männer, die 129
im Schatten eines Schuppens, gegenüber von Julias Haus standen und die Straße im Auge behielten. Bald darauf kam ein anderer Mann die Straße entlang. Es war Phil Holmes. Lin-li, der als Boy im International arbeitete, erkannte ihn zweifelsfrei. Die Männer schlugen Holmes nieder. Einer stieß ihm ein Messer in den Rücken. Dann schleiften sie ihn über die Straße hinter Julias Haus, wo sie ihn fallenließen. Hier gab es einen Trampelpfad, der den Weg zwischen der China Town und der C-Street abkürzte. Die Männer kamen, als sie Holmes auf das Grundstück schleppten, dicht an Lin-li vorüber. Er erkannte einen der Mörder: Brendan. Der andere trug ein Halstuch vor dem Gesicht. Lin-li wußte, daß Brendan zu Malous Männern gehörte, und ihm war klar, daß es einem kleinen Chinesenjungen nicht geraten schien, sich mit einem so mächtigen Mann wie Jake Malou anzulegen. Lin-li wartete eine günstige Gelegenheit ab, sich ungesehen aus dem Staub zu machen. Er lief nach Hause und erzählte seinem Vater, was geschehen war. Der sofort einberufene Familienrat entschied, den Jungen zu Onkel Ku-jen nach Carson City zu schicken, um ihn so aus der Sache herauszuhalten… Als Richter Blake im Court House von Virginia City die Voruntersuchung eröffnete, trug Brendan dreiste Zuversicht zur Schau. Lawyer Cole Woodward, den Julia gegen Toms Willen als Verteidiger engagiert hatte, ließ Malou als Zeugen laden. Der Besitzer der F & G Mine spielte den Beleidigten, als ihn Anwalt Woodward fragte, ob er von einem Komplott gegen Mr. McFarlan etwas gewußt habe. Brendans Anwalt, den Malou bezahlte, erhob Einspruch, und der Richter gab dem Einspruch statt. Brendan grinste breit. Julia Bullette sagt unter Eid aus, daß Malou eifersüchtig auf McFarlan gewesen sei und in ihrem Beisein geschworen habe, er werde McFarlan fertigmachen. Sie schloß daraus, daß sie Mr. Malou für fähig hielt, McFarlan einen Mord in die Schuhe zu schieben. 130
Wieder erhob Brendans Anwalt Einspruch, und auch dem gab Richter Blake statt. Brendan kicherte, und Malou ließ ein böses Lächeln sehen, das eisig wirkte wie Mondlicht auf einem Gletscher. Das Lächeln erstarb, als Anwalt Woodward das richterliche Protokoll von Lin-lis Aussage verlas. Brendan protestierte wütend. Malou fuhr mit kaum gebändigter, kalter Wut empor. »Euer Ehren«, stieß er scharf seine Worte aus, »wem glaubt man vor diesem hohen Gericht: einem hergelaufenen dreckigen Chinesenburschen, der für einen Quarter jeden Meineid schwört, oder diesem ehrlichen Mann, für den ich meine Hand ins Feuer lege?« Dabei deutete er auf Brendan. McFarlan grinste. Judge Blake wand sich. Er wollte es nicht unbedingt mit Malou verderben. Am Ende stand McFarlan als freier Mann auf der Straße, von seinen Freunden stürmisch begrüßt. Blake fällte einen salomonischen Spruch. Er ließ einfach den Tatverdacht gegen McFarlan fallen, ohne ihn gegen Brendan zu erheben. Marshal Brewster wollte sich damit nicht zufriedengeben. Er beschloß, Brendan zu verhaften. Aber er kam zu spät. Als Brendan merkte, wie der Hase lief, verließ er vorzeitig den Gerichtssaal. Seitdem blieb er verschwunden. Man sah ihn nach Südosten reiten, Richtung Walker Lake und Tonopah. Wahrscheinlich hatte er inzwischen die Grenze von Arizona überschritten und sich in Sicherheit gebracht. McFarlan war durch dieses Ereignis noch schweigsamer und verschlossener geworden. Seine Vermutung erwies sich als zutreffend. Die Erzader lief in beträchtlicher Dicke durch seinen und Hackets Claim. Sie gründeten eine Bergwerksgesellschaft, die Four Aces Mine. Er wählte diesen Namen, weil sie mit Julia und Liza vier Gesellschafter waren und Ju131
lias Wappen unter einem liegenden goldenen Löwen vier Asse zeigte. Denn neuerdings besaß Julia einen eleganten Zweispänner, den zwei glänzende Rappen zogen. Auf dem Kutschbock saß ein livrierter Driver. So konnte man sie täglich in den Straßen von Virginia City bewundern – die wippenden Straußenfedern auf dem Kapotthut, selbst an warmen Sommertagen in kostbare Pelze gehüllt. Den Wagenschlag zierte dieses Wappen, das der Künstler aus Ohio bunt und gut sichtbar auf beide Türen gemalt hatte. Als Vorarbeiter nahm McFarlan Olaf Olafson unter Vertrag. Arizona-Jack wusch im hinteren Teil des Coyote Hole weiter nach Gold. Der Professor fungierte als Grubenschreiber, Apatschen-Charlie als Sicherheitschef. Schon bald machten sie sechshundert, schließlich tausend Dollar Ausbeute am Tag. Die Unkosten waren beträchtlich, aber die Four Aces begann sich zu rentieren. Es zeigte sich daran, daß Davidson Julia gegenüber erste Kaufangebote zu machen begann. Virginia City war im Begriff, sich zu verändern. Die Veteranen der Comstock Lode hatten ein Chaos der Verwilderung und Korruption geschaffen – übler als in den meisten Bonanzas der Grenzgebiete des Westens. Desperados aus allen Winkeln des Landes zogen durch die Straßen und Bars wie Treibgut. Sie raubten, betrogen und töteten, ohne daß der Marshal und seine Männer sie in aller Regel auch nur anrührten. Bei den Wahlen in politische Ämter entschied das Geld, nicht die Eignung oder das Programm. Schwächliche Rechtsprechung und Bestechung waren auch im Court House an der Tagesordnung. Zeitweise sahen sich die Gerichte von einer Flut ärgerlicher Streitigkeiten über Besitzrechte und Grenzen der Claims blockiert. Alle Gedanken waren auf raschen Gewinn ausgerichtet. Niemand empfand dieser geschundenen Landschaft gegenüber, die sie wie Maulwürfe durchwühlten, ein Gefühl von Zuneigung oder Verantwortung. 132
Washoe glich einem monumentalen Gemälde im Goldrahmen, das einen fröhlichen Weltuntergang darstellte. Als sich zeigte, daß die Erzlager der Comstock Lode unerschöpflich schienen, kehrte eine gewisse Beruhigung ein. Die Verhältnisse begannen sich allmählich zu stabilisieren. Dann explodierte das Geschäft förmlich. Am Sun Mountain hatten seinerzeit McLaughlin und O'Riley die Ophir Mine entdeckt. Sie gehörte zu den Besitzrechten, die Davidson im Laufe der Zeit für seine Bank aufgekauft hatte. Jetzt stießen die Miners in einer Tiefe von nur sechzig Metern auf eine Erzader, die mehr als zwanzig Meter dick war. Hatte man je von so etwas gehört: Silberquarz von solcher Mächtigkeit? Die Ophir Company hatte einen Griff in die Glückskiste getan, wovon jeder Digger träumte und der doch kaum einem gelang. Davidson war der Mann des Jahres. Er beschloß, sich ein Denkmal zu setzen. Da der Sun Mountain zum Besitz seiner Gesellschaft gehörte, ließ er ihn kurzerhand in Mount Davidson umbenennen. Die Landvermesser trugen diesen neuen Namen in die Karten ein. Außerdem ließ Davidson den Ingenieur Deidesheimer kommen. Denn immer wieder geschah es, daß die Stollen in größerer Tiefe zusammenbrachen und zum Bergmannsgrab wurden. Das allein hätte gewiß nicht weiter gestört, denn Arbeiter gab's genug. Das Hauptproblem lag darin, daß jeder Stollenbruch den Zugang zu reichen Erzadern verschüttete. Es gab noch keine zufriedenstellende Methode, die Schächte und Stollen sicherer zu machen. Dafür war Philip Deidesheimer der richtige Mann: ein junger deutscher Ingenieur, tatkräftig, ideenreich, im Quarzminendistrikt von Kalifornien zu Erfahrung und Ansehen gekommen. Er studierte einige Wochen lang in der Ophir Mine das Problem und konstruierte eine völlig neue Stütztechnik. Sie bestand aus verstrebten Holzrahmen, die beim Vortrieb der Stollen eingesetzt werden konnten. 133
Das war eine revolutionäre Erfindung. Sie trug entscheidend dazu bei, den großen Boom von Washoe auszulösen. Davidson machte Deidesheimer zum technischen Leiter seiner Minengesellschaft. Inzwischen hatte sich die Einwohnerzahl von Virginia City mehr als verdoppelt. Es brodelte und kochte an allen Ecken. Jeden Tag rollten die sechsspännigen Lastfuhrwerke mit dem Silber der Comstock Lode unter militärischer Bewachung über Carson City nach Sacramento und weiter nach San Franzisco. Die Union brauchte Geld. Denn die Gegensätze zwischen den amerikanischen Nordstaaten und den Südstaaten spitzten sich zu. Die Kriegsvorbereitungen verschlangen Unsummen. Virginia City schien dazu berufen, den Bestand der Nation zu retten, indem es das Silber lieferte, mit dem Washington die Armee und ihre Rüstung finanzierte. Überdies schlugen auch die Indianerkriege mit Millionen zu Buch. Die Rothäute rebellierten mit zunehmender Erbitterung. Da kam der Boom von Washoe gerade zur rechten Zeit. Damals bezog Julia Bullette ihr neues Haus in der D-Street. Zur Eröffnung ließ sie von Wells Fargo aus San Franzisco Schnittblumen bringen – für Virginia City ein unerhörter Vorgang. Sie erteilte Reginald Pratt den festen Auftrag, künftig täglich mit der Linienpost Blumen von der kalifornischen Küste zu liefern. Die Eröffnung von Julias Haus gedieh zum festlichsten Ereignis, das Virginia City bislang erlebt hatte. Selbst aus Reno und der Hauptstadt Carson City kamen die Gäste. Ganz Nevada nahm Anteil. Die größte Überraschung waren Julias Girls. Sie hatte die Mädchen nacheinander mit der Postkutsche aus San Franzisco anreisen lassen. Es waren aufregend hübsche Mädchen: jung, gut erzogen und von fester Hand regiert. Weibliche Bedienung und Croupiers: das hatte es in Virginia City bisher nicht gegeben. Julia machte den Anfang damit. Als sie ihre ersten Gäste empfing, war sie in ein leuchtend rotes Seidenkleid gehüllt. Ein mit Brillanten besetztes Diadem schmück134
te ihr Haar. Sie war zur Königin von Washoe aufgestiegen, und es gab niemanden, der ihr den Respekt versagte. Nun residierte sie in ihrem Palast und hielt Hof wie eine wirkliche Königin. Ihr Haus stand jedem offen, der sich ordentlich kleidete und anständig aufführte. Ihren Mädchen verbot sie, sich mit den Gästen einzulassen, und darauf hatte sie ein wachsames Auge. Das ganz aus Holz gebaute Haus stand an der abschüssigen Seite zum Six Mile Canyon hin auf dicken Pfählen. Die Fassade war reich mit Rokoko-Ornamenten verziert. Die Fensterläden leuchteten in sattem Gelb. Vom Portal ging eine große Halle aus, in deren hinterem Teil eine Wendeltreppe zum Obergeschoß führte. Einer der größeren Räume diente als Musikzimmer, ein anderer als Spielsaal, Julia hatte die Spieleinsätze begrenzt, um die Miners, falls sie Pech im Spiel hatten, vor dem völligen Ruin zu bewahren. Sie verdiente auch so noch genug am Roulette, an den Karten- und Würfeltischen. Julias ganzer Stolz gehörte der Küche. Sie hatte einen französischen Koch aus New Orleans engagiert, der üppige Menüs lieferte. Sie ließ französische Weine und Champagner ausschenken, aber auch den üblichen billigen Tarantula Juice, der die Gurgel ausbrannte wie Schwefelsäure und den meisten Miners neben Whisky am liebsten war. Julia hatte ihren Palast mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Er wurde binnen kurzem zum gesellschaftlichen Mittelpunkt des Minenbezirks von Washoe: das einzige wirkliche Heim, das den Bergleuten, Cowboys und Handwerkern, aber auch den Reichen und Einflußreichen gleichermaßen offenstand. Julia hatte McFarlan und seine Freunde zur Eröffnung eingeladen. Alle waren erschienen: Olafson, der Professor, Arizona-Jack, der Gambler, Apatschen-Charlie. Nur McFarlan suchte sie vergebens. Ihr Glück wäre vollkommen gewesen, wenn Tom McFarlan es mit ihr geteilt hätte. So wünschte sie es sich. Warum kam er nicht, obwohl sie ihm mit Boten einen Brief geschickt hatte? 135
Warum ließ er ihr Angebot unbeantwortet, das schäbige Camp in Gold Hill zu verlassen und das Zimmer zu beziehen, das sie im neuen Haus für ihn eingerichtet hatte? Er war auf dem besten Weg, ein reicher Mann zu werden. Hatte er es da noch nötig, in dem Rattenlager zu hausen? Aber was machte er statt dessen? Olafson und Arizona-Jack mußten zur Eröffnung des Hauses in McFarlans Auftrag einen Sack mit sechstausendvierhundert einzelnen Dollarstücken anschleppen und Julia übergeben, dazu eine detaillierte Abrechnung – Julias erster Gewinnanteil an der Four Aces Mine. War das eine Anspielung auf die Zeit, als sie im Brass Railing auftrat und die Miners sie mit Silberdollars überschütteten? Wollte Tom ihr zu verstehen geben, daß er sie verachtete? Sie zeigte nicht, was sie empfand. Wie eine strahlende Sonne leuchtete sie in ihrem Palast. Sie hatte für jeden ein freundliches Wort und für jeden ein fröhliches Lächeln. Die Männer himmelten sie an. Denn das hier war mehr, als die Goldgräber je erlebt hatten, – Lola Montez vielleicht ausgenommen. Aber die Montez war ein Komet gewesen, der auftauchte, erglühte und wieder verschwand. Niemand wußte, in welchem Winkel der Welt er jetzt leuchtete oder ob er für immer erloschen war. Anders Julia Bullette! Sie weilte mitten unter den Männern von Washoe – sinnlich und körperlich. Sie war anwesend und ansprechbar, wenn auch unantastbar. Und sie fühlte sich zu ihnen gehörig; die Männer empfanden das dankbar. Gegen Mitternacht erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Davidson – im Bewußtsein der eigenen historischen Bedeutung, da der Sun Mountain jetzt auch offiziell Mount Davidson hieß – ließ fünfzig Flaschen Champagner auffahren. Er nötigte die Anwesenden, auf Julia Bullette und die glanzvolle Zukunft von Virginia City anzustoßen. Sie nippte an ihrem Glas, lächelte nach allen Seiten und fand ein paar passende Worte. Der Lärm ging ihr auf die Nerven. Sie woll136
te ein wenig frische Luft schöpfen, doch als sie sich der Veranda näherte, fuhr sie zurück. Am Geländer, von silbernen Mondlicht umflossen, stand Liza. Sie trug ein einfaches blaues Kleid, das Julia für sie ausgesucht hatte. Der Nachtwind spielte mit ihrem blonden Haar. Ein versonnenes Lächeln lag um ihren Mund. Ihr gegenüber stand McFarlan. Er blickte Liza, die er um Haupteslänge überragte, von oben her aufmerksam an. Julia hatte ihn nicht kommen sehen. Offenbar war er nur erschienen, um Liza zu begegnen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Vorsichtig zog sie sich zurück und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Sie wußte, daß sie McFarlan verloren hatte. Aber sie war entschlossen, nie darüber zu sprechen – am wenigsten mit Liza. Den Carson River herauf ritt im Galopp ein Mann. Er trug verwaschene Blue Jeans und ein buntgemustertes Baumwollhemd, an den Füßen besticke Mokassins aus weichem Hirschleder und auf dem Kopf einen schwarzen Hut mit schmaler Krempe. Sein Reittier hatte keinen Sattel und war nicht beschlagen, also offenbar ein Indianerpferd. Der Mann hieß Andy Fulton und kam von der Williams Station am Carson River, einige Meilen von Virginia City entfernt. Es gab dort zwei oder drei Häuser: einen Handelsposten, eine Haltestelle für die Overland- und Wells-Fargo-Linien sowie eine Zweigstelle des Indianerkommissars – alles in allem waren dort nicht mehr als sechs Männer. Einer von ihnen war Andy Fulton. Er jagte den Serpentinenweg nach Gold Hill hinauf. Als er durch den Canyon einritt, schwenkte er den Hut. »Die Pahute greifen an!« rief er. Ein Trupp Miners kam aus dem Camp. Fulton zügelte sein Pferd. »Macht die Waffen klar, Männer!« sagte er. »Die Pahute kommen.« Am Halteplatz von Gold Hill stand die Conestoga nach Virginia City abfahrbereit: ein riesiger zweistöckiger Omnibus mit über137
mannshohen Rädern, der Platz für gut dreißig Fahrgäste hatte. Die zwanzig Maulesel scharrten bereits ungeduldig mit den Hufen. Die Glöckchen am buntgeschmückten Zaumzeug rasselten durcheinander. Der Sattelreiter und der Postillion hatten Mühe, die Tiere zurückzuhalten, die offenbar die Abfahrzeit im Kopf hatten und nicht länger Ruhe geben wollten. Denn der dreiteilige Maultierbus war verspätet, weil die Overlandkutsche mit Radbruch am Weg lag und die Fahrgäste nach Virginia City erst umgeladen werden mußten. Es handelte sich um eine resolute Madame und sechs aufgedonnerte Mädchen mit Kisten und Kasten. Die herumlungernden Miners guckten sich die Augen aus. Die Madame war keine andere als Mrs. Gertrude Holmes, Witwe des erstochenen Quarzminenbesitzers. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie beschlossen, das Haus in San Franzisco zu schließen, in Virginia City die Unternehmungen ihres Mannes weiterzuführen und das gerade erst von Julia Bullette geräumte Haus in der D-Street zu beziehen – nach dem unlängst eröffneten Etablissement von Rose Benjamin das zweite mit roter Laterne im Minenbezirk. Gerade eben kletterten Mrs. Holmes' Mädchen mit aufgebauschten Röcken in den Washoebus. Fulton zog die Pistole und gab einen Schuß ab. Die Gespanntiere zerrten brüllend am Geschirr. »Hebt die dicken Ärsche hoch!« rief Fulton. »Die Pahute kommen.« Was der Postillion ihm zurief, war weniger fein. Im Galopp raste Fulton weiter, Virginia City entgegen. Sam Hacket, der aus dem Camp in die Straße einbog, setzte seinen Fuchs neben Fultons schweißtriefenden Rappenhengst. »Was machst du für 'n Krakeel, Andy?« rief Hacket ihm zu. »Bist wohl schon am hellichten Tag besoffen, wie?« »Shit besoffen, Sam«, erwiderte Fulton. »Ich sag': die Pahute rücken an. Und das ist verdammt ernst. Wir täten klug dran, einen Haufen Männer zusammenzutrommeln und die Verteidigung zu organisieren.« 138
Sie stießen auf Tom Peasley, den Kommandanten der I. Feuerwehrabteilung. Peasley ließ sich in kurzen Zügen Fultons Geschichte erzählen. Es war eine scheußliche Geschichte. Da wußte Peasley, daß Not an Mann war und Eile geboten. Denn der Stamm der Pahute hatte das Kriegsbeil gegen die Weißen ausgegraben. Die Indsmen trugen die Kriegsfarben im Gesicht und hatten ihr Dorf verlassen. Frauen und Kinder befanden sich irgendwo im Gebirge in Sicherheit. Das alles deutete darauf hin, daß die Pahute ernsthaft Krieg führen wollten. Sie hatten allen Grund dazu. Fulton beschönigte nichts. »Ich war in Carson City«, berichtete er. »Als ich heute nach Williams zurückkam, sah ich die Station brennen. Ich ritt vorsichtig näher. Plötzlich schwirrte ein Pfeil und mein Pferd brach zusammen. Ich ging in Deckung und konnte zwei Pahute ausmachen, mit Kriegsfarben beschmiert. Der Korral mit unseren Pferden war leer. Ich schlich mich an und konnte einen der Rothäute abknallen. Der andere entwischte mir. Offenbar waren es Nachzügler und noch mit Plündern beschäftigt. So kam ich zu dem ungesattelten Pferd des toten Pahute.« »Und warum das alles?« entgegnete Peasley. »Wir leben doch in Frieden mit den Pahute, verdammt noch mal. Was hat die Burschen bewogen, die Williams Station auszuräuchern?« »Sie haben ganze Arbeit gemacht«, fuhr Fulton fort. Seine Stimme bebte. »Alle sind tot. Der Pedlar Smallman. Mark Walsh. Swift Kemble. Shorty Rice. Der kleine Rainie Bixler. Alle abgemurkst.« An Peasleys Schläfe schwoll eine rote Ader. »Und warum in Dreiteufels Namen? Ganz ohne Grund werden die verfluchten Indsmen doch nicht fünf Männer massakriert haben.« Fulton seufzte. »Du hast verdammt recht, Tom. Nur zu recht. Wenn der Pedlar nicht noch ein paar Atemzüge gemacht hätte, ehe er abkratzte, wäre ich genauso ahnungslos wie du. Smallman hatte gerade noch Zeit genug, mir die widerliche Geschichte zu erzählen.« Peasley schüttelte wütend den Kopf. 139
»Du bist umständlich wie eine Professorengattin im achten Monat, Andy. Nun red' endlich!« Fultons ›widerliche‹ Geschichte war die, daß Mark Walsh, Swift Kemble und Shorty Rice, drei junge Burschen von der Williams Station, sich aus lauter Übermut zwei hübsche Pahutemädchen schnappten, die im Laden von Smallman einkaufen wollten, sie in den Keller zerrten und vergewaltigten. Dann jagten sie die Mädchen davon. »Den Rest könnt ihr euch ausmalen«, fügte Fulton hinzu. »Die Pahute jedenfalls fackelten nicht lange, als die kleinen Squaws ins Dorf zurückkamen. Jetzt haben sie Blut geleckt und wollen Virginia City überfallen. Jedenfalls deutet alles darauf hin.« Die Männer machten eine Versammlung. Sie beschlossen, eine Freiwilligen-Kompanie zu bilden. Zum Kommandeur der Volunteers wählten sie Bret Masterton, einen Store-Keeper, der auch mit Ausrüstung und Waffen handelte. Masterton stellte eine Truppe von 105 Freiwilligen auf. Sie waren zum Teil beritten und mit Gewehren bewaffnet – ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Als sie abmarschbereit standen, hielt Masterton eine kriegerische Ansprache. »Männer« rief er, »Bürger von Virginia City. Die roten Hunde haben fünf Leute von der Williams Station abgeschlachtet. Mir nichts, dir nichts, mitten im Frieden. Nur weil die Jungs ein bißchen Spaß mit ein paar Squaws hatten. Das bedeutet: Wir müssen dem Gesetz wieder Geltung verschaffen. Die Rothäute sind Mörder. Also werden wir sie wie Mörder jagen und bestrafen, klar?« Die Volunteers rückten zum Carson River hinunter, um gegen die Pahute vorzugehen. Die indianischen Späher hielten die günstigsten Aussichtspunkte besetzt und meldeten Häuptling Burrowing Owl den Anmarsch der Kompanie. Kommandeur Masterton schickte zwar einen Spähtrupp voraus, der jedoch zurückkehrte, ohne daß er etwas gesehen oder gehört hatte. Ahnungslos tappten die Männer in die Falle, die ihnen Burrowing Owl in einem Canyon stellte. Als die ersten Gewehrschüs140
se krachten und ein Pfeilhagel die überraschten Männer zudeckte, war die Verwirrung perfekt. Kommandant Masterton fiel an der Spitze seiner Gruppe. Es gab zwei weitere Tote und zwei Dutzend Verwundete. In kopfloser Flucht zogen sich die Volunteers zurück. Kid Cohen, ein junger Bursche, sammelte die Reste der Streitmacht und ließ eine Verschanzung ausheben. Er schickte einen Meldereiter nach Virginia City. Es drohte eine Panik auszubrechen. Man erwartete stündlich, daß die Pahute über die Stadt herfielen. Ein Defense Committee organisierte die Verteidigung. Es war an der Zeit, ernst zu machen. Wachen zogen auf. Das Committee übergab Paul Gregg, der den Rang eines Majors der Nationalgarde von Kalifornien besaß, das Kommando über das Freiwilligenkorps. Gregg stellte drei Kompanien zu je zweihundertundfünfzig Mann auf. Die berittene Schwadron führte Tom McFarlan. Er hatte sich nicht zu dem Posten gedrängt, im Gegenteil. Als er die Vorgeschichte erfuhr, schüttelte er verärgert den Kopf. »Es ist immer dasselbe«, sagte er angewidert. »Zuerst bricht ein Weißer die Gesetze. Sobald die Roten Selbstjustiz üben, weil ihnen kein weißer Richter ihr Recht verschafft, rückt eine Heeresmacht an, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Mit anderen Worten: um Rache zu nehmen. Es ist zum Speien.« Aber McFarlan konnte sich nicht weigern, das Kommando anzunehmen. Gregg wußte, warum er ihn vorschlug. Sie kannten sich aus ihrer Dienstzeit bei der 7. US-Kavallerie, der McFarlan zuletzt als Captain angehörte. Er galt als hervorragender Offizier, dem man eine glänzende Karriere voraussagte. Den vorzeitigen Abschied nahm er wegen einer Ehrengeschichte, über die er nicht gern sprach. Gregg wußte, daß die Tochter des damaligen kommandierenden Generals in die Sache verwickelt war. Aber daran wollte er, seit er McFarlan zufällig in Virginia City wiederbegegnet war, nicht rühren. 141
Jetzt brauchte er einen erfahrenen Offizier, der sich auch im Indianerkrieg auskannte. Und der beste, den er für die berittene Schwadron haben konnte, war McFarlan. Ehe die Abteilungen abrückten, ritt McFarlan in die D-Street. Julia saß im Eckzimmer des Obergeschosses, das sie so liebte. Von hier aus hatte sie an klaren Tagen einen Blick, der gut fünfzig Meilen weit reichte. Er umfaßte das großartige Panorama der Bergkette und die in Pastellfarben schimmernde Wüste. Am Fuße des Sugar loaf peak schlängelte sich in zahlreichen Windungen das Silberband des Carson River entlang, die Ufer sattgrün umwuchert. Am fernen Horizont konnte man die silbern spiegelnde Fläche des Pyramidensees erkennen. McFarlan sah Julia am offenen Fenster sitzen. Er trug die Uniform eines Hauptmanns der US-Armee. »Hallo«, sagte er und grüßte zu ihr hinauf. »Wir reiten jetzt.« Sie biß sich auf die Lippen. »Viel Glück, Captain«, erwiderte sie mit gepreßter Stimme. Er zögerte einen Augenblick, um dann hinzuzufügen: »Du solltest nicht mit Liza und den Mädchen in diesem Haus bleiben, Julia.« Sie runzelte die Stirn. »Und warum nicht, bitte?« »Falls was schiefgeht und die Pahute über die Stadt herfallen, werden sie Brandpfeile schießen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie über den Six Mile Canyon angreifen. Dann wird dein Haus in Mitleidenschaft gezogen. Ein paar Brandpfeile genügen, es einzuäschern.« Julia winkte ab. »Wenn Captain McFarlan ein Kommando hat«, erwiderte sie mit leisem Spott, »werden wir nichts zu fürchten haben.« Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt zum Sammelplatz hinüber, ohne sich noch einmal umzudrehen. Julia ließ den Rotfuchs satteln. Sie wollte dabei sein, wenn die Truppe abrückte. 142
McFarlan war nicht der erste gewesen, der sie warnte. Eine Abordnung des Defense Committee hatte sie aufgefordert, sich mit den Mädchen vorübergehend nach Carson City in Sicherheit zu bringen. Sie lehnte ab. »Wenn ihr bleibt«, erwiderte sie, »bleibe ich auch.« Dieses entschlossene Wort machte die Runde. Die Männer waren entschlossen, Julia zu beschützen. Eine Sonderwache, aus sechs Mann bestehend, hatte den Auftrag, für Julias Sicherheit zu sorgen. Ehe sie den Palast verließ, ordnete sie an, daß Susana und die Mädchen Vorbereitungen treffen sollten, um vorübergehend in die BStreet umzuziehen. Dort war ein mehrstöckiges Hotel im Bau, das aus massivem Stein bestand und den Frauen ausreichenden Schutz bot. Julia ritt bis zur Stadtgrenze neben den Truppen her. Weit vorauf, an der Spitze seiner Schwadron, sah sie McFarlan reiten. Und sie beobachtete Liza, die neben ihm herlief und ihm zuwinkte. In McFarlans Truppe ritten auch Sam Hacket, der Professor und Arizona-Jack. Apatschen-Charlie und Jorge waren bereits gestern vorausgeritten, um die Pahute auszukundschaften. Arizona-Jack schwenkte den Hut. »Hallo, Miß«, rief er. »Wir werden auf Tom aufpassen, sollen wir das?« Er lachte breit und behäbig. Sie winkte ihm zu. »Kommt gut zurück. Und vergeßt nicht, wo ich wohne. Wenn's vorüber ist, feiern wir ein Fest. Einverstanden?« Voraus sah sie Lizas helles Kleid leuchten und ihr Goldhaar im Wind flattern. Sie lief neben McFarlans Pferd her und reichte ihm die Hand hinauf, die er ergriff und festhielt. Julia riß ihr Pferd herum und galoppierte zur Stadt zurück. Hinter ihr verwehte Arizona-Jacks helle Stimme. Er hatte das Washoe-Lied ein wenig umgemodelt: Hey-ho, my darling, hey-ho! Wir kämpfen und siegen für Washoe.
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Dann kehre ich zu dir zurück, denn du, my darling, bist mein Glück… Der Pahutekrieg dauerte noch drei Tage. Apatschen-Charlie und Jorge machten die Streitmacht von Häuptling Burrowing Owl am Fuße des Pinnacle Mount aus. Kommandeur Gregg formierte seine Abteilungen. McFarlan ritt mit seiner Schwadron den Angriff, während die beiden unberittenen Kompanien die Pahutes von den Flanken her zusammendrängten. Die eigentliche Schlacht dauerte kaum eine halbe Stunde. Die Pahutes zogen sich mit mehr als dreißig Toten und vielen Verwundeten zurück. Das Freiwilligenkorps hatte drei Tote zu beklagen. Beim Angriff hatte ein Pfeil McFarlans Arm getroffen und eine Fleischwunde gerissen, die rasch abheilte. Nach Virginia City zurückgekehrt, zog er die Uniform aus und ging in die Mine. Er hatte Philip Deidesheimer beauftragt eine Methode zu finden, den Schacht sicherer zu machen und die Stollen besser zu entlüften. Darin lag bei größerer Tiefe das entscheidende Problem. Außerdem brauchte er bessere Ausrüstung. Die Angebote der Grubenausstatter am Ort waren ihm zu teuer. Kurz entschlossen ritt er nach Sacramento und kaufte dort eine stillgelegte Mine aus. Das Gerät ließ er mit den Lastwagen transportieren, die das Silber nach Kalifornien schafften und die meist leer oder mit Lebensmitteln beladen zurückfuhren. So sparte er an die zehntausend Dollar. Abraham Lincoln war zum 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden und sollte sein Amt im März 1861 antreten. Einige Südstaaten hatten gedroht, im Falle von Lincolns Wahl die Union zu verlassen. Denn dieser verdammte ›Sklavenbefreier‹ schmeckte den Südstaatlern bei Gott und allen dreitausend Teufeln nicht. War Vater Abraham mit dem wallenden Kinnbart erst einmal Präsident, dann würde er auch für die Südstaaten die Sklaverei abschaffen, und wer sollte dann die Baumwolle pflücken? Wer den Reis pflan144
zen, die weißen Kinder hüten, die Sümpfe trockenlegen? Sollte dieser beschissene Yankee mit seiner Humanitätsduselei ihnen vom Potomac aus in die Suppe spucken? Nein und ewig nein! Es sickerten bereits Gerüchte durch, daß South Carolina den Austritt aus der Union verkündet habe und weitere Staaten sich anschließen wollten. Das aber bedeutete Bürgerkrieg. In Gold Hill hatte ein Rekrutierungsbüro der Unionsarmee seine Tätigkeit aufgenommen. Der Leutnant und die beiden Sergeanten zählten schon bald zu den Stammgästen von Julias Palast. McFarlan ließ sich nicht blicken. Julia vermutete, daß er sich heimlich mit Liza traf. Es gab gewisse Anzeichen dafür, wenn auch keine Beweise. Rasende Eifersucht schüttelte sie. Aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. Falls er Liza liebte: nun gut. Es sollte sie nicht umbringen. Aber die Ungewißheit war schlimmer als alles andere. Es brannte in ihr und peinigte sie. In diesen Tagen trat im Saal des International die erste Künstlerin auf, die im Verlaufe einer Tournee Virginia City besuchte: Antoinette Adams. Julia hatte für sich und Liza Karten bestellt. Die Sängerin war fadblond und verblüht: gut sechs Fuß groß, mit langem dürrem Hals, römischer Nase und schnarrender Stimme. Die Männer waren zutiefst enttäuscht. So jedenfalls hatten sie sich eine berühmte Künstlerin nicht vorgestellt. Sie träumten eher von einer Julia Bullette in Blond, oder einer gereiften Liza Derrick. Dennoch hielten sie tapfer und schweigend aus, bis die Sängerin die Hälfte ihres Programms hinter sich gebracht hatte. Julia war peinlich berührt. Sie wünschte zu gehen, wollte jedoch nicht unhöflich sein. Alle Blicke suchten sie und Liza; die unglückliche Künstlerin auf der Bühne beachtete niemand. In der Pause kam es zum Skandal. Ein breitschultriger Miner, mit überquellendem Kopf- und Barthaar wie ein Waldschrat, stand auf und brachte drei Cheers aus auf ›Tantchen‹ Adams. 145
Die Hochrufe dröhnten durch den Saal. Als die Künstlerin erschien, um weiterzusingen, applaudierten die Zuschauer wie rasend. »Aunty«, rief der Miner mit Baßstimme, »wie wär's, wenn wir dir genug Geld geben, damit du deinen Job an den Nagel hängen kannst? Hätt'st du doch wohl verdient, wie?« Ein Sturm der Zustimmung brauste auf, und ein Hagel von Silberdollars flog auf die Bühne. Dann drehten sich die Miners zu Julia und ließen sie hochleben. Wogender Applaus hüllte sie ein. Sie wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Die Adams verließ fluchtartig die Bühne. Der Vorhang fiel. »Julia!« riefen die Männer. »Julia! Julia!« Sie schloß die Augen. Bilder von ihrem ersten Auftritt im Brass Railing stürmten auf sie ein. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. Noch war sie schön und attraktiv. Noch trugen die Miners sie auf Händen. Aber wie lange noch? Sie ging auf dreißig. Auch die Adams hatte einmal ihr Publikum begeistert. Und jetzt? Julia hatte McFarlan an einer Säule stehen sehen: schweigend, die Arme vor der Brust gekreuzt, ohne ein Zeichen von Zustimmung oder Mißfallen. Sie spürte, daß Liza ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Und sie wußte, daß er Lizas wegen gekommen war, nicht ihretwegen oder um die Adams singen zu hören… An diesem Abend, als sie und Liza aus der Kutsche stiegen, lag vor ihrem Haus ein Mann. Julia klopfte Susana heraus und ließ eine Laterne bringen. Es war Gambler Pete. Er lag zusammengekrümmt am Boden, übel zugerichtet, aus mehreren Wunden blutend. Julia leuchtete ihm ins Gesicht. »Was für eine Gemeinheit«, murmelte sie entsetzt. 146
Offenbar war Pete überfallen worden. Eine Blutspur zog sich die Straße entlang bis zum Palast. Anscheinend hatte sich der Gambler mit letzter Kraft bis hierher geschleppt, wo er zusammengebrochen war. Julia befahl dem Kutscher, Dr. Schiebecker zu holen und McFarlan ausfindig zu machen. Mit Susanas und Lizas Hilfe schaffte sie den Gambler ins Wohnzimmer. Dr. Schiebecker kam nach einer Viertelstunde. Er untersuchte den Verletzten gründlich. Julia wich nicht von seiner Seite. Der alte Doktor schüttelte den Kopf. »Da ist verdammt nichts mehr zu machen, Madam. Eine solche Serie von Schädelbrüchen hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehen, und ich schätze, daß kaum noch ein inneres Organ heil ist. Sie müssen mit Stiefeln auf ihm rumgetrampelt sein. Mich wundert, daß er überhaupt noch lebt.« Julia beugte sich zu ihm nieder. Sie bemerkte, daß sich sein Mund bewegte. Er versuchte zu sprechen, brachte freilich kein Wort heraus. Das eine Auge war völlig geschlossen, das andere stark angeschwollen. Der Gambler konnte nur mühsam dieses Lid bewegen. Aus dem blutunterlaufenen Auge starrte er Julia an: tief erschreckt und hilfesuchend. Sie nahm seine Hand. Er versuchte den Kopf zu schütteln. Der gute alte, falschspielende lustige Gambler, dachte Julia entsetzt. Ein Schimmer schmerzlichen Bedauerns glitt über sein aufgedunsenes Gesicht. Dann fiel er in die Bewußtlosigkeit zurück. McFarlan kam, von Olafson und Arizona-Jack begleitet. Sie hatten erfahren, daß der Gambler im Pail of Blood (ausgerechnet dort) Karten gespielt und mehr als zweihundert Dollar gewonnen hatte. Dabei war er in eine Auseinandersetzung mit drei Mitspielern geraten. Offenbar hatte er, wie üblich, mit gezinkten Karten gespielt. Jedenfalls warfen es ihm die drei Männer vor. 147
Nachdem Pete das Spiel abgebrochen hatte, verließ er den Saloon. Wahrscheinlich folgten ihm die Männer, schlugen ihn zusammen und nahmen ihm das Geld ab. Dann versuchte er, sich zu Julias Palast zu schleppen. Der Gambler starb, ohne das Bewußtsein noch einmal erlangt zu haben. Kalter Zorn glitzerte in Julias Augen. »Ich habe noch nie einen so brutal zusammengeschlagenen Mann gesehen«, sagte sie. McFarlan biß sich auf die Lippen. »Das waren hinterhältige, gemeine Kerle! Aber ich habe Pete oft genug gewarnt. Er konnte das Falschspielen nicht lassen. Das mußte mal so kommen.« »Man muß wohl den Marshal benachrichtigen«, sagte Julia. McFarlan nickte. »Wir gehen am Court House vorbei. Schönen Dank jedenfalls, Julia, daß du ihm geholfen hast.« Ein Ausdruck verzweifelter Ratlosigkeit breitete sich über ihrem Gesicht aus. »Was konnte ich denn noch für ihn tun, Tom?« »Er hat deine Hilfe gesucht. Du warst seine letzte Hoffnung und dir galt sein letzter Gedanke. Ist das nichts?« Sie warf sich McFarlan an die Brust. Sie wußte nicht, wie sie sich anders hätte auf den Beinen halten können. »Was bedeutet das alles?« wimmerte sie. »Sag mir, Tom, was das bedeutet! Wie ist einem Menschen zumute, der den Weg ins Dunkel geht und der erkennen muß, daß er allein ist – in diesem Augenblick das einsamste Wesen der Welt?« Er umschloß sie mit seinen starken Armen und küßte sie leicht auf ihr Haar. Sie erschauderte unter seiner Berührung, die sie so lange entbehrt hatte und überließ sich dieser sanften, unaufdringlichen Zärtlichkeit. Es tat ihr unendlich wohl. Die Mädchen waren zusammengelaufen. Sie wirkten verstört, obwohl die meisten von ihnen bereits genug Tote gesehen hatten. Im Westen waren das alltägliche Begegnungen. 148
Liza saß in der Ecke und weinte lautlos. Der Anblick des zu einem Klumpen Fleisch, Blut und Schleim deformierten Mannes hatte sie zutiefst erschreckt. McFarlan löste sich von Julia und strich Liza übers Haar. »Weine nur, Mädchen«, sagte er. »Es ist ganz gut, sich frühzeitig mit den Grausamkeiten des Lebens vertraut zu machen.« Er ist hart, dachte Julia. Ein Mann, der das Leben kennt und auf seine Weise damit fertig wird. Sie blickte ihm lange nach. Aufregende Wochen und Monate kündigten sich an. Der Krieg war ausgebrochen, nachdem die konföderierten Südstaaten am 14. April das Unionsfort Summer erobert und Jefferson Davis zum Präsidenten gewählt hatten. Die Armee der Nordstaaten schlug zurück. Jetzt waren überall die Blauröcke zu sehen, Soldaten der Unionstruppen. In Virginia City lag ein kleines Kommando. Jeden Morgen stieg auf dem Mount Davidson am Mast die Flagge mit den Streifen und Sternen empor und flatterte tagsüber im scharfen Höhenwind der Washoeberge. Julias Palast hatte Hochbetrieb. Alle Gespräche drehten sich um Krieg und Geld. Für Washoe bedeutete das ein und dasselbe; denn die Erzminen von Virginia City waren für Washington ebenso wichtig wie die Waffenfabriken und die Rekrutendepots. Eines Abends stand Arizona-Jack in der Halle. Julia lud ihn zu einem Glas ein. »Ich will mich verabschieden, Ma'am«, sagte er und kippte das Glas hinunter. »Morgen reite ich nach Alabama.« Julia wußte, was er damit meinte. Er meldete sich zum Eintritt in die Südstaatenarmee. »Das ist nun mal so, Ma'am«, fügte er verlegen hinzu. »Ich stamme aus Montgomery, und da gehöre ich jetzt auch hin. Aber nach dem Krieg komme ich zurück.« 149
Sie lächelte ihn aufmunternd zu und ließ sein Glas nachfüllen. Was sollte sie sagen? Und wer wußte schon, was ihnen allen bevorstand? In dieser Nacht schlug die Feuerglocke an und bimmelte die Männer der Brandbrigaden aus dem Schlaf. Das Nevada Hotel, ein verschachtelter Holzbau aus der Frühzeit der Washoetage, brannte lichterloh. Julia hielt es nicht im Haus. Sie zog Hosen und Jacke an, dazu feste Stiefel, und nahm den Helm vom Haken. Rasch lief sie zur C-Street hinüber, um bei den Löscharbeiten zu helfen. Die Männer nickten ihr aufmunternd zu. Sie war eine der Ihren, und das akzeptierten sie. Die Brigade hatte alle Mühe, die Nachbarhäuser vor den Flammen zu schützen. Das Nevada war nicht mehr zu retten. Unaufgefordert brachte Liza eine Kanne Kaffee und half Julia, ihn an die Männer auszuteilen. Liza bewunderte Julia, die den Sinn ihres Lebens darin suchte, anderen zu helfen. Sie war nicht die Amüsierdame, die viele in ihr sahen. »Sie sind eine großartige Frau«, sagte Liza aus ehrlicher Überzeugung. »Die Männer verehren Sie und lassen sich für Sie in Stücke reißen. Das ist beneidenswert.« Wer wußte schon, welche Träume sie träumte und welche Hoffnungen sie hegte? Auch Liza ahnte nicht, wie verzagt Julia oft war. Niemand sollte es je erfahren. Gegen Morgen gingen sie durch die C-Street nach Hause. Die Teesalons, Bars und Spielhöllen waren noch übervoll. Die Händler und Kundenfänger versuchten noch immer Geschäfte zu machen. Sie schrien sich die Kehlen heiser. Bergarbeiter, Banditen und lächelnde Chinesen zogen vorüber. Heimkehrende Frauen aus den Nachtklubs lüfteten die bodenlangen spitzenbesetzten Rocksäume um einen Zentimeter und trippelten um die Dreckpfützen herum. Jüngere Dandies und ältere Nabobs folgten in ihrem Schatten. Eine Rotte betrunkener Männer torkel150
te vorüber. Sie umringten einen Mann, der eine Whiskyflasche schwenkte. »Hallo, Miß«, sagte er und versuchte eine Verbeugung vor Julia. Sie kannte den Mann. Es war Tim Richwein, ein Farmersohn aus Indiana, der mit tausend Dollar gekommen war und sie in einem Claim anlegte. Unlängst verkaufte er den Besitz für eine runde Million an eine Bankengruppe. Nun war er eifrig damit beschäftigt, das Geld mit vollen Händen wieder hinauszuwerfen. Eine Bande falscher Freunde lief in seinem Kielwasser und half ihm dabei. »Sie sollten heimgehen, Tim«, sagte Julia, »und sich aufs Ohr legen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Richwein hatte vergebens versucht, Julias Zuneigung zu gewinnen. Jetzt ergab er sich dem Trunk. Er lachte. »Morgen«, erwiderte er, »was wird morgen sein, Lady? Das Heute zählt.« »Wenn Sie so weitermachen, Tim, wird's bald kein Heute mehr für Sie geben.« Er schwankte. Drohend hob er den Zeigefinger. »Daran sind Sie schuld, Miß. Sie allein. Das sag' ich Ihnen.« Er kicherte. Lärmend verloren sich die Männer in der Nacht. »Was für eine Welt!« sagte Liza. »Eine schlimme Welt?« Das Mädchen blieb ihr die Antwort schuldig… Wenige Tage darauf gab es im unteren Camp nahe dem Six Mile Canyon einige Dutzend kranke Männer, am nächsten Tag bereits mehr als zweihundert, einen Tag darauf etliche Hundert. Die meisten litten an Leibschmerzen und starkem Durchfall, empfanden ständig Durst und zugleich Schluckbeschwerden. Alle klagten über Kopfschmerzen, Ohrensausen, Schwindelgefühl, oft auch über Schüttelfrost. Der Atem ging jagend und stoßweise. Es gab besonders schwere Fälle mit blutigem Durchfall, Krämpfen und Ohn151
mächten. Manche fürchteten, sterben zu müssen, so bedrängend saß ihnen die Angst im Gedärme. Die Häuser der Ärzte waren von kranken Männern umlagert. Es sah nach einer Epidemie aus. Plötzlich grassierte der Aberglaube. Hatte der Teufel seine Hand im Spiel? Schickte Gott ein Strafgericht, wie einst über Sodom und Gomorrha? Sollten etwa Hexen und Hexer ihr Unwesen treiben? Erste Verdächtigungen wurden laut. Julia ging zu Dr. Schiebecker. Der Arzt hatte die Ärmel aufgekrempelt und packte zu, wo er konnte. Er gab seinen Patienten Brechmittel, Kochsalz, Abführmittel. Julia bot ihre Hilfe an. »Wir müssen herausfinden, Doktor, was die Ursache ist.« Schiebecker hob die buschigen Augenbrauen. »Da brauchen Sie verdammt keine Brille, Miß. Es handelt sich um eine handfeste Arsenikvergiftung.« Julia erschrak. Das erschien ihr unfaßbar. »Bei Hunderten von Menschen?« fragte sie konsterniert. Dr. Schiebecker zuckte die Schulter. »Das ist mir auch ein Rätsel. Man weiß zum Beispiel, daß viele Bergleute chronische Arsenvergiftung haben. In Erzbergwerken kommt Arsenkies vor, aber praktisch nicht in Silberbergwerken. Außerdem handelt es sich hier um akute Vergiftungen.« »Und was sagen die Behörden?« Der Arzt verzog das Gesicht. »Wir stehen alle vor einem Rätsel. Wenn wir wenigstens wüßten, wo wir den Vergiftungsherd finden. Täglich kommen neue Kranke hinzu. Wir müssen in zwei Tagen mit den ersten Todesfällen rechnen.« Er hob hilflos die Hände. Julia beschloß, etwas zu unternehmen. Sie ging von Arzt zu Arzt und erkundigte sich, aus welcher Gegend der Stadt die Kranken stammten. Darüber legte sie Listen an. Sehr bald stellte sie fest, daß die Patienten fast ausschließlich aus dem Camp nahe dem Six Mile Canyon stammten. Sie teilte ihre Beobachtung Dr. Schiebecker mit. 152
»Das wäre ein Hinweis. Vielleicht trinken sie alle aus demselben Brunnen, der vergiftet ist.« Erneut machte sich Julia auf den Weg durch die Stadt, um die Kranken zu befragen. Sehr bald verdichtete sich ein Verdacht. Alle Befragten gaben an, daß das von ihnen benutzte Wasser aus dem Point-W-Brunnen stammte. »Ich werde sofort eine Wasserprobe holen«, versprach Dr. Schiebecker. »Nehmen Sie ein paar Kranke auf, Miß Bullette? Wenn's geht, warm einpacken. Können Sie Milch beschaffen? Sonst tut's auch Tierkohle. Auf jeden Fall müssen die Neuzugänge zum Erbrechen gebracht werden. Notfalls kräftig am Schlund kitzeln.« »Und welche Verpflegung?« »Nur Suppe mit Reis. Eine gute Rinderbrühe nach Möglichkeit, die weckt Tote auf.« Julia verwandelte ihren Palast in ein Hospital und stellte die Mädchen als Krankenschwestern an. Liza ging ihr zur Hand. Die Kranken lagen in allen Zimmern, in der Halle und sogar auf den Fluren. In der Tat war das Wasser des Point-W-Brunnens stark arsenhaltig. Marshal Brewster leitete eine Untersuchung ein, die im Sand verlief. Es gab nur eine Erklärung: Jemand hatte absichtlich oder aus Versehen Arsenik in den Brunnen geschüttet. Es waren zwei Tote zu beklagen. Zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli war der Vorfall vergessen, nicht freilich Julia, die Samariterin. Virginia City und Gold Hill rüsteten zu einem Fest. Washoe wollte den ersten Unabhängigkeitstag zu Kriegszeiten besonders feierlich begehen. Julia hatte der Feuerbrigade neue Ausrüstungen und eine bestickte Fahne gestiftet. Als Dank für ihre Unterstützung und tatkräftige Hilfe bei der Brandbekämpfung wählten die Vereinigten Feuerwehren von Virginia City und Gold Hill sie zur Festkönigin. Tom Peasleys Erste Kompanie machte sie außerdem zum Ehrenmitglied und verlieh ihr den Rang 153
eines Ehrenkommandanten. Auf nichts war sie stolzer als auf diese Auszeichnung. Als die Parade durch die Stadt zog, fuhr sie auf dem neuen Feuerwehrwagen, der mit Rosen geschmückt war. Die Standarte wehte im Wind. Hinterher marschierten die Volunteers in ihren prachtvollen roten Uniformen. Julia trug den ihr verliehenen Feuerwehrhelm. Eine riesige Menschenmenge säumte die Straßen. Die Männer jubelten ihr begeistert zu. Ein Regen von Papierschnitzeln ging über sie nieder. Sie schwenkte den Helm. Sie weinte vor Glück. »Das ist mein schönster Tag«, stammelte sie. »O Gott, daß ich das erleben darf.« Anschließend feierte sie in ihrem Palast. Die Feuerwehrmänner trugen sie über die Schwelle wie eine Braut. Neben der Tür stand McFarlan. Er blickte sie lachend an. »Gratuliere, Julia«, sagte er. »Ich sehe, daß Virginia City dich liebt. Welch ein schönes Gefühl muß das sein.« War das spöttisch gemeint? Wie auch immer: Liebte er sie auch nicht, so trugen doch andere sie auf Händen. Lachend sprang sie zu Boden. »Komm mit rein, Tom!« forderte sie ihn auf. »Das müssen wir feiern.« »Später«, antwortete er ausweichend. »Ich komme vielleicht später vorbei.« Sie sah ihn erst wieder, als die Nachricht von der siegreichen Schlacht bei Bull Run die Runde machte und kurze Zeit darauf Nevada sich von Utah löste, um einen eigenen Staat zu bilden. Die Männer vergossen den Whisky in Strömen. Julia wurde von einer Welle des Patriotismus' mitgerissen, die alle Staaten der Union auf den Gipfel der Begeisterung emporriß. Präsident Lincoln hatte dazu aufgerufen, Anleihen für die Sanitätskommission zu zeichnen. Das Bürgerkomitee lud zu einer Massenversammlung vor dem International ein. Mehrere tausend Menschen fanden sich ein. Viele trugen Stars-and-Stripes-Fähnchen in der Hand.
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Julia ließ im Palast alle Blumen einsammeln, die täglich mit der Postkutsche aus San Franzisco kamen, und arrangierte sie mit Liza zu einem prächtigen Korb. Vom Balkon des International herab hielt sie eine zündende Rede. »Bürger von Virginia City«, rief sie mit bebender Stimme, von wiederholtem Beifall unterbrochen. »Der Krieg hält an. Es ist unser Krieg. Die Männer sind an der Front, um für die Menschenrechte zu kämpfen. Den Soldaten der Unionsarmee verdanken wir unsere Sicherheit. Wir wollen ihnen unseren Dank abstatten durch eine Spende. Wer bietet auf diesen Blumenkorb?« Der Auktionator ließ die Gebote einsammeln. Die Dollarstücke flogen in die Sammelkisten. Julia heizte das Versteigerungsfieber durch eigene Gebote an und setzte nacheinander mehrere tausend Dollar ein. Die Auktion glich einem Taumel. »Dieser Blumenkorb geht an den Letztbietenden, Miß Julia Bullette!« rief der Auktionator. Dröhnender Jubel brandete auf. Der Militärtrompeter blies das Kampfsignal der Armee. Julia hob den Korb empor. »Wer bietet erneut?« rief sie und trieb noch einmal die Versteigerung an. Tausende von Dollars flogen in die Sammelkästen. Tom Richwein setzte hundert um hundert, schob jedem Gebot sofort hundert Dollar hinterher und erwarb den Blumenkorb, nachdem er rund fünftausend Dollar bezahlt hatte. Als Julia vom Balkon herabkam, um mit Liza nach Hause zurückzukehren, ließ Richwein den Korb plündern. Die Männer rissen die Blumen heraus und überschütteten die beiden Frauen mit einem bunten Blütenregen. Der Wind hob die Blütenblätter empor und wirbelte sie durch die Luft. Kaskaden bunter Blumen sprühten umher. Die Männer schwenkten die Hüte und sangen den Yankee Doodle: »A Yankee boy is trim and tall…« 155
Virginia City schickte eine stattliche Spende an die Sanitäts-Kommission. Ein gewisser Samuel Longhorn Clemens schrieb darüber. Er war erst im September aus Aurora gekommen und hatte in dem schmalen Verlagsgebäude von Joseph Goodmans Territorial Enterprise seinen Job als Redakteur angetreten. Clemens sah martialisch aus, als er eingekeilt in der Menge auf dem Platz vor dem International stand: mit hängendem Schnauzbart, großem Schlapphut, die blaue Wollhose in die Stiefelschäfte gestopft, einen gewaltigen Marine-Colt im Gürtel. Der junge Reporter winkte Julia zu. Sie imponierte ihm. Er verstand ihre Probleme und Beweggründe; denn auch er hatte sich aus eigener Kraft durch die Welt geboxt: als Setzerlehrling, Lotse auf dem Mississippi, Goldgräber in Kalifornien. Entsprechend lebendig und farbig waren seine Berichte. Sie brachten eine neue Sprache in die Zeitungsspalten. Das Publikum las sie mit besonderem Vergnügen. Im Februar 1863 schickte ihn sein Verleger Goodman nach Carson City. Er sollte für die Virginia City Territorial Enterprise über den Zusammentritt des ersten Parlaments von Nevada berichten. Der Hotelportier forderte ihn auf, sich ins Gästebuch einzutragen. Clemens warf einen Blick hinein. Der letzte Eintrag lautete: Baron von Finken, Deutschland, mit Diener. Clemens schrieb in die nächste Spalte: Mark Twain, Virginia City, mit Koffer. Denn die Berichte über das Nevada-Parlament zeichnete er erstmals mit seinem neuen Pseudonym: Mark Twain. Als er Virginia City ein Jahr darauf wieder verließ, war dieser Autorenname bereits berühmt. Die Welt begann aufzuhorchen. Von Washoe aus war ein neuer Stern am Himmel der Literatur aufgegangen. In jenen Tagen erlebte die Comstock Lode ihren ersten ganz großen Silberrausch. 156
Die Minen spuckten tonnenschwere Ladungen begehrten Metalls aus. Tiefer und tiefer fraßen sich die Schächte in die Erde hinein. Ganz Virginia City war von Stollen unterwühlt, kaum daß die Coyoten und Kaninchen noch Platz für ihre eigenen Löcher hatten. Da und dort begann sich bereits die Erde zu senken. In den Häuserfundamenten gab es die ersten Risse. Die Stadt war auf fünfzehntausend Einwohner gewachsen, und täglich strömten neue Menschen hinzu. Virginia City machte sprunghaft seine schmerzlichen Veränderungen durch. Maguire's in der C-Street, Washoes erstes festes Theater, eröffnete seine Pforten. Zur festlichen Premiere saß Julia in der Loge neben Mr. Best von der Best & Belcher Mining Company, die gerade erst ihr neues Büro in der Richards Residence, Ecke Taylor- und StewartStreet, eröffnet hatte. Best war ein leidenschaftlicher Verehrer von Julia, und ein gerissener Geschäftsmann obendrein. Er begann, konsequent seine Minen zu mechanisieren. Maschinen waren nun mal auf die Dauer billiger als Arbeiter. Er warf an die hundert Bergleute auf die Straße. Sie zogen demonstrierend durch die C-Street. Hunderte von Männern aus anderen Minen schlossen sich ihnen an. Erstmals gellte das Hammerlied durch die Stadt. Es kam aus den Südstaaten. Einige schwarze Miners, die ihren Besitzern weggelaufen waren, hatten es mitgebracht. Mit hocherhobenen Hämmern marschierten die Kumpels die Hauptstraße entlang, vorweg Big Ben, ein riesiger Bergmann mit gewaltigem irischem Quadratschädel und brandrotem Haarschopf. Er blieb stehen, riß den Hammer hoch, rief: »Hunh!« Die Männer formierten sich im Kreis zu Gruppen von zwanzig, dreißig Mann. Im Takt ließen sie die Hämmer zu Boden fallen. Dröhnend, im harten Rhythmus, sangen sie dazu: Take this hammer, Hunh! Nimm diesen Hammer, Hunh! Carry it to the captain, Hunh! 157
Du, trag ihn zum Boß hin, Hunh! You tell him I'm gone, Hunh! Du, sag ihm, ich hin abgehaun, Hunh! I hurt my pride, Hunh. Bin zu stolz, länger zuzuschaun, Hunh… Unterdessen erreichten die Spekulationsgewinne phantastische Höhepunkte. Aktienmanipulationen waren an der Tagesordnung. Mehrere Bankiers aus San Franzisco eröffneten neue Filialen in Virginia City, da sie ohnehin die meisten Washoeminen finanzierten. Das Geld von Washoe half San Franzisco zu bauen. Virginia City galt als die Mutter der Stadt am Südufer des Goldenen Tores. Denn erst jetzt nahm San Franzisco seinen phantastischen Aufstieg als Finanzmetropole von Kalifornien. Spekulanten pokerten, gewannen und verloren. Meistens gewannen sie. Es gehörte zur Tagesordnung, mit gefälschten Börsenberichten über Gewinn und Verlust der Bergwerksgesellschaften zu operieren. Tausende von Kleinaktionären gerieten in Panik und stießen eiligst ihre Papiere ab, die sie mit den Ersparnissen als Alterssicherung gekauft hatten. Sie wurden ruiniert und standen über Nacht mit leeren Händen da. Zu kaum einer anderen Zeit gab es in San Franzisco so viele Selbstmorde, wie in jenen hektischen sechziger Jahren. Einige Großspekulanten wurden über Nacht zu Multimillionären – bedeutende Familien von San Franzisco darunter, die den Grundstock späterer Milliardenvermögen in jenen Jahren mit WashoeAktien legten. Zeitweise sahen die Straßen von Virginia City mehr Millionäre als jede andere Stadt Amerikas. Die reichgewordenen Diggers liefen nach wie vor in Blue Jeans oder Kordhosen herum, den Schlapphut im Genick und einen Colt im Gürtel. Ob Miner oder Millionär: das machte in den Saloons und Restaurants keinen Unterschied.
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Die Spekulationsgewinnler fuhren in prachtvollen Kutschen – vierspännig, das Zaumzeug goldverziert. Zu dieser Zeit gaben Davidson und Best den Ton an. Steinreiche Nabobs wie George Hearst, Lucky Baldwin, William Sharon und Robert Graves bildete die erste Riege des Geldadels von Washoe. Sie ließen auf den Nob Hill prachtvolle Paläste bauen. Ihre Frauen entfalteten verschwenderischen Luxus. Sie rümpften die Nase über den häßlichen Mischmasch dieser Ratten- und Kaninchenstadt, der ihre Männer Macht und Reichtum verdankten. Sie gaben sich entsetzt über die lärmenden Trunkenbolde in den Bars, die ordinär fluchenden Fuhrknechte, die gelbgesichtigen Spieler und brutalen Desperados in den kristallglitzernden Saloons. Die Stadt am Fuße des Mount Davidson fraß sich immer weiter hinauf und hinunter, in die Weite und Breite, Tag und Nacht vom scharfen Wind umweht, der Tränen in die Augen trieb, und vom grünlichen Giftstaub überdampft, der die Bronchien angriff und Dauerhusten erzeugte – ein ungeheuerliches unheiliges Babel, das in allen Sprachen tönte und unter gräßlichen Flüchen bebte. Was die Pfarrer von den Kanzeln an Mahnpredigten losließen, darauf hörte kaum einer. Julias Palast hatte Hochkonjunktur. Sie erlebte jetzt ihre ganz große Zeit. Sie wußte nicht, wieviel Geld sie besaß. Sie ahnte nicht, daß es ihr unter den Fingern zu zerrinnen begann. Sie blieb, wer sie war: die Silberkönigin von Washoe. McFarlan sah es mit Befremden. Zusammen mit Sam Hacket leitete er die Four Aces Mine, und er tat es sehr erfolgreich. Die Arbeiter verdienten gut. Er hatte ein Beteiligungssystem für die älteren Männer eingeführt. Verheirateten zahlte er einen Zuschlag. Er galt als Utopist, aber das störte ihn nicht. Mit Julia rechnete er pünktlich ab. Lizas Gewinne legte er in sicheren Aktien an. Sie war inzwischen volljährig geworden, und er bot ihr an, selbst über ihr Geld zu verfügen. 159
Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben es begonnen, Tom«, antwortete sie, »und Sie wissen am besten, was zu tun ist.« Julia wußte, daß Liza McFarlan liebte, obwohl sie nie wieder darüber sprachen. Sie hatte keinen Anlaß, sich in Untergangsstimmungen zu flüchten. Nach außen trat sie strahlend auf wie eh und je. Sie hatte noch die frühen Tage der Comstock Lode erlebt, und die Männer hielten zu ihr, wie sie zu ihnen hielt. Die Frauen der Proprietors und Bankangestellten, der Verwaltungsbeamten und Geschäftsleute verachteten sie. Wenn die bessere Gesellschaft im International beim Abendessen saß und Julia mit Best oder einem der anderen Nabobs, die ihre Familien in San Franzisco zurückgelassen hatten, erschien, erstarb das Gespräch. Sie spürte, daß sich ein Ring kühlen Schweigens um sie her ausbreitete. Auch das Auf und Ab des Bürgerkriegs zerrte an den Nerven. Zuerst die Siege von Gettysburg und Nickburg, dann die Niederlagen bei Chancellorsville und Chickamauga. Plötzlich sah es so aus, als sollte General Lee mit der Armee der Konföderierten die Oberhand behalten. Welch ein fataler Aspekt! Gelegentlich brach offener Haß aus. Stammte die Bullette nicht aus New Orleans, war also eine Südstaatlerin, und eine Kreolin obendrein? Die Verdächtigungen, heimlich ausgestreut, wirkten wie wohldosiertes Gift. Es schmeckte bitter, aber noch tötete es nicht. Julia kamen die Gerüchte zu Ohren. Sie lächelte, aber ihr Lächeln machte heimlicher Resignation Platz. War das der Dank für ihren ehrlichen, ungeheuchelten Patriotismus? Hinzu kam, daß Engstirnigkeit das Leben der Stadt immer mehr einschnürte. Verlogene Ehrbarkeit legte ein Spinnennetz von Prüderie über den Bezirk. Dennoch, oder darum: Virginia City war zur zweitgrößten Stadt im Westen von Chicago geworden, die D-Street – zusammen mit dem neuen Bezirk roter Laternen rund um die Sazarac Bar in der 160
South C-Street zum größten Amüsierviertel zwischen Denver und der pazifischen Küste. Die Lokale in der Silver Street galten als besonders verrufen. Als größte aller Spielhöllen war das Esperanza gerühmt. Eine dreiviertel Meile lang beherbergte die C-Street auf beiden Seiten in jedem zweiten Gebäude einen Saloon. In ganz Virginia City waren es mittlerweile mehr als hundert. Den unbestreitbar ersten Rang als luxuriöseste und großartigste Amüsierherberge nahm die Crystal Bar in der C-Street ein. Im Oberstock residierte der Washoe Club. Dieser Millionärs-Saloon und sein Restaurant wetteiferten mit dem International um die Gunst der Reichsten. Die vornehmsten Häuser von Virginia City konnten sich durchaus mit den Nobelklubs von New York und Boston messen. Daneben wirkten die Kirchen geradezu ärmlich. Am vorteilhaftesten nahm sich noch die katholische Kirche von St. Mary's-in-theMountains aus, die von der E-Street herüber ihren Turm wie ein Bollwerk gegen die Raffgier und Zügellosigkeit emporreckte. Mitten im Viertel der leichtlebigen Damen stand Julias Palast. Die D-Street war zu einer schlechten Adresse geworden. Julia nahm es mit einem Achselzucken zur Kenntnis. Und die Miners, für die ihr Haus in erster Linie geöffnet war, scherten sich nicht darum. Sie hatte nichts zu tun mit den Madames – der Holmes, der Benjamin und den anderen. Und doch war sie eine aus der DStreet. Man sah sie jeden Tag, wie seit langem, in ihrer wappengeschmückten Kutsche durch die Stadt fahren. Die vier Asse mit dem liegenden Löwen an ihrem Wagenschlag gehörten zum täglichen Bild. Ihre Brillanten, Perlenketten und Ohrringe funkelten, ihre seidenen Roben knisterten, ihre Hutfedern wippten. Die Miners neigten respektvoll den Kopf. Und doch begann ein Zug von Melancholie Julias Gesicht zu überschatten, wie überlegen und selbstsicher sie sich auch gab.
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Das Vereinigte Frauenkomitee von Virginia City und Gold Hill hatte eine Versammlung abgehalten. Die Damen ließen eine gezielte Indiskretion durchsickern, daß sie Julia Bullette als unerwünschte, weil moralisch untragbare Person betrachteten. Sie schnippte mit dem Finger, als sie davon erfuhr, zog den Reitdreß an, steckte die Pistole in den Gürtel und ritt nach Gold Hill hinüber. Als sie durch die C-Street kam, hatte sie Lust, eine der Spielhöllen zu betreten und Roulette zu spielen. Sie stellte es sich reizvoll vor, einige tausend Dollar zu verlieren, von gaffenden Männern umlagert, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber Virginia City blieb insofern eine prüde Stadt. Nach wie vor war Frauen das Betreten der Saloons verboten, auch Julia Bullette. Eine städtische Verordnung wollte es so. In der C-Street hatte Miles Roury eine neue Bar eröffnet, die Silver Queen. Er ließ ein weiteres Bild der Silberkönigin malen, und die Miners beklebten auch das himmelblaue Kleid dieses Kolossalgemäldes mit Silberdollars. Aber die Queen sah Julia nicht mehr ähnlich: eine blaßblonde Schönheit, die ein wenig an Liza erinnert, freilich ohne deren mädchenhaften Charme. War ihre Uhr bereits abgelaufen? Vor der Silver Queen stand Tim Richwein, der mit seiner Mine eine Million gemacht hatte, umringt von den Leichenfledderern. Richwein war betrunken. »Hallo, Lady«, lallte er. Julia nickte ihm zu. Er drehte sich um und stieß die Tür zum Saloon auf. Rauch und Lärm quollen heraus. Julia gab ihrem Pferd die Sporen und ritt über die Paßhöhe hinter der Stadt zum Gold Canyon hinunter. Etwas Unbestimmtes trieb sie. Sam Hacket und der Professor kamen ihr entgegen. Sie sprach eine Weile mit ihnen. Das waren alte Freunde aus alten Zeiten. Eine Welle von Wärme und Glück überflutete sie. 162
»Tom ist im Camp«, sagte Hacket, »falls Sie ihn suchen, Ma'am.« Sie bog ins Lager ab. Der Wind zerrte an den Zeltdächern und Holzbrettern. Hemden, Blusen und Hosen, zum Trocknen aufgehängt, flatterten wie die zerschlissenen Fahnen einer Armee von Gesetzlosen in der Luft. Ratten wühlten im Abfall. Sie kümmerten sich kaum um die Menschen, als hätten sie keinerlei Furcht vor ihresgleichen. Schon von weitem sah Julia McFarlan vor der Hütte sitzen. Sie wirkte größer und ordentlicher als die übrigen Behausungen. Neben dem Eingang saß McFarlan an einem Tisch, der mit Plänen und Unterlagen bedeckt war. Er ist der Alte geblieben, dachte sie wehmütig. Und ich? Was ist mit mir? Er blickte auf, als sie näherkam. »Hallo«, sagte er und erhob sich. Ihr Herz schlug heftig. Sie stieg ab, band ihr Pferd an und setzte sich zu ihm. McFarlan deutete auf die Papiere. »Ich weiß, daß du mehr Rendite aus der Mine erwartest. Aber gegenwärtig sieht's nicht gut aus. Wir sind auf Fels gestoßen und müssen um gut dreißig Fuß tiefergehen. Dort vermutet der Geologe eine fündige Ader. Ich habe neue Spezialmaschinen bestellt und bezahlt. Hier sind die Belege, falls du sie einsehen willst.« Sie wunderte sich, wie wenig sie das alles interessierte. Es wäre ihr viel wichtiger gewesen, wenn er sich nach ihrem Befinden erkundigt hätte. Fast mürrisch entgegnete sie: »Ich habe zufällig Sam Hacket und den Professor getroffen. Das brachte mich auf den Gedanken, dich zu besuchen. Du hast dich lange nicht sehen lassen.« Er wühlte in den Papieren. »Es gibt gerade jetzt viel Arbeit, mußt du wissen.« »Ich verstehe. Sollte auch keine Aufforderung sein. Aber vielleicht wär's gut, wenn du dich ein bißchen mehr um Liza kümmern würdest.« 163
Er hob fragend den Kopf. Besorgnis spiegelte sich in seiner Miene. »Ist was mit ihr?« »Nein, nichts Besonderes. Wir kommen zurecht. Sie ist ein gutes Mädchen, oder etwa nicht?« »Weiß ich«, entgegnete er zurückhaltend. »Aber ich seh' sie kaum.« »Eben, Tom. Erinnerst du dich noch daran, daß du mich mal geküßt hast?« Er betrachtete sie prüfend. »Warum erwähnst du das jetzt, Julia?« fragte er. Sie beugte sich vor und band die Sporen fester. »Versteh's nicht falsch, Tom. Das ist lange her, und es soll vergangen bleiben, denke ich.« Es war ihm peinlich. Er wollte sich entschuldigen, aber es gelang ihm nicht. Er erwiderte: »Warum erwähnst du's also? Bin ich dir was schuldig?« Plötzlich war sie verlegen. »Nein«, antwortete sie leise. »Du bist mir nichts schuldig, Tom. Gewiß nicht. Aber vielleicht bist du Liza was schuldig. Merkst du nicht, daß sie dich liebt? Und du liebst sie ebenfalls. Mir kannst du nichts vormachen. Worauf wartest du noch?« Er nahm eine Zigarre, biß die Spitze ab und zündete sie an. Schweigend paffte er vor sich hin. Nach einer Weile entgegnete er: »Ist das alles?« Sie erhob sich. »Das wär's, Tom. Jetzt mach, was du willst.« Sie trat zu ihrem Pferd, um aufzusitzen. »Warte«, sagte er. »Wenn's dir recht ist, begleite ich dich ein Stück.« Sie ritten durchs Camp nach Süden. McFarlan blieb eine Pferdelänge voraus. Sie überquerten die Straße nach Virginia City und bogen nach Südosten ab. Auf dem alten Karrenweg schlug McFarlan Galopp an. Sie folgte ihm mühelos. Eine Zeitlang ritten sie schweigend dahin. Die Sonne begann sich der Sierra entgegenzuneigen. Ihr Licht glühte wie flüssiges Messing. Nur über dem Minenbezirk stand eine schwefelgrüne Wolke, die dem Himmel etwas von krankhafter Undurchsichtigkeit verlieh. 164
Von der Wüste herauf schimmerten hellgelb die Blumenkelche des Wundersterns, intensivgelb wuchernd dazwischen die wilden Zinnien. Weit in der Ferne stießen violett und rötlich die Felswände des Bergzuges in den türkisblauen Himmel. Pastellfarben in allen Stufungen des Regenbogens gaben der Wüste ein diffuses Licht, das sich ständig veränderte und doch so greifbar blieb, als ob es aus der Tiefe der Erde gekommen wäre und nie vergehen könnte. In langen eleganten Sprüngen setzte eine rotbraune Büschelwildkatze vor den Pferden über den Weg und verschwand zwischen dem Gebüsch im Felsgewirr. McFarlan ließ sein Pferd in Schritt fallen. An einem Bachbett, das nur wenig Wasser führte, stieg er ab. Julia folgte ihm und setzte sich neben ihm nieder. Die Hitze flimmerte in der Luft. Es war Zikadenzeit. Ihr tausendfaches schrilles Lied ließ die Luft vibrieren. Ein fünfzehn Zentimeter langer Wüsten-Hundertfüßler rückte näher. Tom schnippte ihn mit dem Stiefel fort. Der Biß des Centipedes war giftig und unangenehm, wenn auch nicht gefährlich. »Henry Comstock ist tot«, sagte McFarlan. Sie wußte nichts darauf zu erwidern. Was auch? Old Pancake, dachte sie, dieser ruppige, knorrige, großartige Träumer und Bonanzamann, an dem sich Davidson eine goldene Nase verdient hatte. Arm gestorben – ein reiches Leben… »Sam Hacket hat's von einem Wells-Fargo-Mann erfahren«, fuhr McFarlan fort. »Er traf Henrys Bruder Bill, der als Indianerscout für ein Kavallerie-Regiment reitet.« »Comstock sagte«, warf Julia ein, »daß er zu seinem Bruder nach Montana gehen wollte.« »Er ging rauf, aber er hielt's nirgends lange aus. Eine Zeitlang war er verschwunden. Eines Morgens, als Bill von einem Kundschafterritt gegen die Sioux und Cheyennen ins Quartier zurückkam, pendelte der Alte an einem Strick im Zimmer neben der Tür. Er hatte sich erhängt.« 165
Julia dachte an Henry Comstock, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte – auf dem Heulager in Carson City. Als sie heimwärts ritten, sagte sie: »Was sind deine Pläne, Tom? Wirst du in Virginia City bleiben?« »Es ist keine Stadt, um hier zu sterben«, antwortete er. Die Stadt der Ratten und Kaninchen, dachte sie. Selbst die Erde des Friedhofs im Six Mile Canyon war vom Silber vergiftet. Nach einer Weile fügte McFarlan hinzu: »Ich besitze in Nebraska ein Stück Land. Ein paar tausend Acres, und ich kann noch einige Tausend hinzukaufen. Ich denke, daß ich eines Tages dort oben eine Ranch aufbauen werde. Amerika braucht Rinder, und ich bin schon als Kind mit Rindern umgegangen. Ich wüßte, wie man einen Stamm fleischfester, widerstandsfähiger Longhorns züchten könnte.« So konnte sie ihn sich vorstellen: als Cattleman – Herr eines Ranchhauses, Herr einer großen Herde, die frei in den Plains weidete. Gras, Wasser, Himmel. Das satte Grün der Büsche am Flußufer entlang. Die endlose Weite der Rolling Prärie. Duft von Blumen und Summen von Bienen. Geruch von Baumharz und Sägespänen im Wald hinterm See, an dem das Ranchhaus steht. Freiheit… »Mach das, Tom«, sagte sie und riß ihr Pferd am Zügel. Es schoß mit einem Satz davon. Er folgte ihr kopfschüttelnd. Ihr dunkles Haar, lang aufgelöst, flatterte im Wind. Sie biß die Zähne zusammen. Wie sollte er sie verstehen? Wie auch nur erkennen, was in ihr vorging? Sie wußte, daß er jetzt an Liza dachte. Julia ritt voran. Sie hetzte ihr Pferd den halsbrecherisch steilen Pfad hinauf, der mit Felsbrocken übersät war. McFarlan folgte im gezügelten Schritt. Plötzlich peitschte ein Schuß auf. Er pfiff an seinem Kopf vorüber. Das Pferd strauchelte, rutschte mit dem rechten Vorderhuf ab und tappte ins Leere. Für einen Augenblick hingen Pferd und Reiter über dem Abgrund in der Schwebe. 166
McFarlan ließ sich blitzschnell nach hinten fallen und riß das Pferd zurück, ehe es den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Ein zweiter Schuß zerriß die hitzeflimmernde Stille am Berghang. McFarlan zog das Gewehr aus der Scabbard und glitt über die Kruppe seitlich zu Boden. »Langsam weiterreiten, nicht umdrehen!« rief er Julia zu. Er wußte, daß es lebensgefährlich war, auf dem schmalen, abbröckelnden Mule Trail zu wenden oder auch nur an der falschen Stelle anzuhalten. Gewöhnlich scheuen dann die Pferde, weil sie selbst den Schritt bestimmen wollen und sich irritiert fühlen. Wenn Julia weiterritt, war sie in Sicherheit, weil der unbekannte Schütze, nach dem Schußwinkel zu schließen, sie weiter oben am Hang nicht erreichen konnte. McFarlan hatte sich hinter einen Felsen geduckt. Sein Pferd stand schnaubend, mit zitternden Flanken, auf dem Weg. Es witterte die tödliche Gefahr. Die Schüsse waren von oben gekommen. McFarlan blickte sich um. Seitlich am Hang, etwa dreißig Meter über ihm, sprang eine Felsnase vor. Dort mußte der Schütze stecken! McFarlan schlich sich ein Stück auf dem Pfad abwärts bis zu einer Biegung, an der sich der Hang in flachen Terrassen nach oben auftürmte. Der Hang war mit Buschgruppen von blaß gelblich-grün schimmernden Teddybär-Chollas gesprenkelt, durchsetzt von leuchtend rot blühenden Rohrkakteen. McFarlan arbeitete sich im Schutz der Büsche und Felsen den Hang hinauf. Die silbern leuchtenden Stacheln der Teddybär-Kakteen sahen wie Wollfäden aus, aber sie stachen übel ins Fleisch. Die langen Stacheln der Cane-Chollas bohrten sich in den Anzugstoff und wanderten mit jeder Bewegung nach innen, um sich in der Haut festzuhaken. McFarlan achtete nicht darauf. Er erreichte ein tief eingeschnittenes Geröllbett, das im Frühjahr Wasser führte und in breiten Trep167
pen abwärtssprang. Das Gewehr schußbereit, vorsichtig Fuß vor Fuß stellend, arbeitete er sich langsam aufwärts. Dann entdeckte er den Mann, der hinter einem Felseinschnitt lauerte. Er konnte sein Gesicht nicht erkennen. Von Zeit zu Zeit gab der Mann einen Schuß ab und zog sich sofort wieder hinter die Deckung zurück. McFarlan mußte ihn hervorlocken. Er warf einen Stein nach oben, der über dem Mann gegen die Wand traf und polternd abwärts hüpfte. Der Schütze fuhr sofort herum und feuerte. McFarlan legte an und schoß. Die Kugel schlug dicht neben dem Kopf des Mannes gegen das Gestein und splitterte ein Stück Fels ab. Die scharfkantigen Splitter spritzten auseinander. Der Mann heulte ärgerlich auf. Offenbar war er im Gesicht getroffen worden. Er gab rasch hintereinander zwei Schüsse in McFarlans vermutliche Richtung ab. »Komm raus, McFarlan!« rief er, »wenn du kein Feigling bist. Ich knall' dich ab, so oder so.« McFarlan kannte die Stimme nicht. Er arbeitete sich ein Stück seitwärts und hangelte sich dann, das Gewehr umgehängt in einem engen Kamin etwa fünf Meter aufwärts, so daß er die Höhe des Mannes erreichte, der offenbar nachgeladen hatte und erneut einige wütende Schüsse zu der Stelle schickte, von der McFarlan zuletzt gefeuert hatte. Erneut nahm McFarlan einen Stein, diesmal von der Größe einer Faust und warf ihn in hohem Bogen dem Mann dicht vor die Füße. Es schien ihn zu erschrecken und zugleich zu ärgern. »Hund!« rief er, fuhr hoch, und der Hut rutschte ihm vom Kopf. Für einen Augenblick wurde ein strohblonder Schopf sichtbar, der in der Sonne aufblitzte. McFarlan drückte ab. Der strohblonde Haarschopf sackte hinter der Felsbrüstung weg, ein ersticktes Gurgeln war zu hören. Vorsichtig im Schutze einer Gruppe von Douglas-Fichten schlich McFarlan näher. Der Mann lag zusammengesunken hinter einem 168
Felsblock. Ein kleines rundes Loch, aus dem hellrotes Blut sprudelte, saß über der Nasenwurzel. Es sah schrecklich harmlos aus. Die übergroßen Pupillen des Mannes waren seitlich nach oben verdreht. Sie trugen einen Schimmer ungläubigen Erstaunens, als ob sie nicht begreifen wollten, was soeben geschehen war. Der Mann war tot. McFarlan kannte ihn nicht. Er fand etwas oberhalb, an eine Fichte angebunden, das Pferd. Er überzeugte sich, daß der Mann allein gewesen war. Dann lief er den Hang hinab, saß auf und ritt den Weg empor, bis er Julia erreichte, die auf einem schmalen Plateau angehalten hatte. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Gesicht war mit Schweißperlen übersät, die wie winzige Silberkügelchen in der Sinne glitzerten. »O Gott«, stammelte sie, »guter lieber Gott! Daß du lebst, Tom! Die Ungewißheit hat mich fast verrückt gemacht.« »Komm«, sagte er. »Vielleicht hast du den Burschen schon mal gesehen.« Sie ritten aufwärts, bis sie auf den alten Karrenweg trafen. Sie folgten ihm ein Stück nach Süden. Bereits nach zweihundert Metern erreichten sie das Pferd des Toten. Julia kannte die Schecke. Und sie kannte auch den Reiter, der hinter dem Felsen unterm Weg lag. »Es ist Stanton, einer von Malous Leuten«, sagte sie. »Er hat Arizona-Jack und mich seinerzeit auf dem Ritt nach Carson City verfolgt. Wahrscheinlich hat er zusammen mit Brendan Phil Holmes getötet. Als Brendan entwischte, verschwand auch Stanton von der Bildfläche.« »Und warum kommt er jetzt zurück, um mich abzuknallen?« Julia zuckte die Schulter. »Er hatte wohl noch immer seinen alten Auftrag zu erledigen.« »Von Malou? Ich denke, er ist nach Kalifornien zurückgekehrt.« »Ein Mann wie Malou«, antwortete Julia, »kann sich mit einer Niederlage nicht abfinden. Das ist das Schlimme an solchen Machtmenschen, und es verleiht ihnen etwas Unberechenbares. Stanton war ein Revolvermann, ein bezahlter Killer. Begreifst du, Tom?« McFarlan begriff sehr wohl. 169
»Stanton hatte das Geld eingestrichen, und Malou verlangte endlich Lieferung der Ware. Aber das ist Stantons Pech. Jeder hat nun mal sein Berufsrisiko.« Er hob Stanton empor und trug ihn nach oben. Er kippte ihn bäuchlings quer über den Sattel der Schecke, stieg auf und nahm die Zügel. Noch immer sickerte eine dünne Blutspur aus dem Schußkanal in Stantons Stirn. Als McFarlan und Julia in Virginia City einritten, kam das Gedränge in den Straßen einem Aufruhr gleich. Alle wollten die Silver Queen und den Boß der Four Aces Mine sehen. Vor allem aber den Toten. Vorm Court House band McFarlan die Pferde an. Durchs Fenster des Polizeibüros sah er Brewsters Gesicht. Er winkte ihm. Der Marshal trat auf die Straße. »Das ist der eine«, sagte McFarlan. »Wahrscheinlich wird der andere auch nicht lange auf sich warten lassen, Marshal.« »Sie meinen Brendan, McFarlan?« »Sie haben ein kluges Köpfchen, Brewster. Wie wär's, wenn Sie ihren Deputies beibringen, sich ein bißchen nach dem Einäugigen umzusehen? Täte mir leid, wenn ich auch ihn erledigen müßte, weil er mir aus dem Hinterhalt auflauert.« Auch Tom Richwein lebte nicht mehr. Er war der Vierte, der binnen weniger Wochen in der Silver Queen am Spieltisch unter dem Bild mit den aufgeklebten Dollarstücken verblutete. Und er war nicht der Letzte. Mancher Digger, der viel gewonnen und alles verloren hatte, wußte sich am Ende keinen anderen Ausweg als den Revolver. Auch manches der Mädchen aus der D-Street machte es so. Die meisten hatten ihre Karriere als Amüsierdamen oder Freelancers in einer der Leierkastenbars begonnen, bis sie schließlich in einem Haus mit roter Laterne landeten. Die Klatschspalten der Zeitungen hatten ihren pikanten Skandal, als Jeannettes Ropes, eine schmächtige blaßgesichtige Blondine, ei170
nes Morgens vor dem Haus Nr. 21 neben dem Müllkasten zusammengekrümmt lag, selbst ein Stück Abfall. Sie war tot. Ihr Gesicht war fleckig und schimmerte grün wie oxydiertes Metall. Marshal Brewster ließ Mrs. Ogden verhaften, Wirtin in Haus 21. Die rothaarige Madame schlug die Hände überm Kopf zusammen. Das mit Brillanten und Rubinen besetzte Kreuz pendelte an der Goldkette aufgeregt über dem dicken Busen. »Was sollte ich machen, alle Heiligen im Himmel!« wimmerte sie. Brewster winkte verärgert ab. »Zur Sache, Mrs. Ogden! Fassen Sie sich kurz.« »Jeannette ist verdammt ein dummes Huhn, Marshal. Als sie gestern abend nicht runterkam, wie gewöhnlich, und ein Gast nach ihr fragte, ging ich rauf und klopfte. Die Tür war abgeschlossen. Da kriegte ich's mit der Angst und ließ aufbrechen. Sie lag leblos überm Bett, am Boden eine leere Schachtel Laudanum. Was sollte ich da machen, Gott im Himmel?« »Rufen Sie Gott nicht an!« knurrte Brewster verächtlich. »Ist es richtig, daß sie das arme Ding auf den Abfall gekippt haben, damit die Müllmänner sie mitnehmen?« Die Ogden zeterte: »Sollte ich für das dämliche Luder auch noch die Beerdigung bezahlen, womöglich mit Pfarrer und allem Trara?« Der Richter verurteilte sie wegen groben Unfugs zu hundert Dollar Geldstrafe. Am Begräbnis nahmen nur die Kolleginnen teil, sieben Mädchen aus Haus 21, D-Street. Gegen Schluß der schmucklosen Zeremonie kam ein schmächtiger Miner angehetzt, dürr wie ein Zaunstecken – von jener Hektik, die Lungenkranke gewöhnlich zeigen. Offenbar kam er direkt nach Schichtwechsel aus der Grube. Er trug seine Arbeitskleidung, war mit Staub überpudert, das hagere Gesicht schweißverklebt. Der Mann weinte am offenen Grab wie ein verlassenes Kind. Mag sein, daß er das Mädchen wirklich gern hatte. Vielleicht gab's nie171
mand sonst, dem sie etwas bedeutete, und sie war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der für ihn was übrig hatte. Der Beerdigungsunternehmer wartete nicht, bis der Prediger das Gebet beendet hatte. Er nahm die Blechblumen weg und legte sie auf ein anderes Grab an der Friedhofsmauer, zu dem die düsteren Männer in den schwarzen Roben mit den weißen Halskrausen einen rohen Brettersarg trugen. Da machte einer seinen letzten Weg, der vergangenes Wochenende einen Goldtransport überfallen und dabei das Pech hatte, langsamer zu schießen, als der Deputy Marshal neben dem Kutscher. Die Geschichte besaß einen kleinen Beigeschmack. Der Gangster war unbekannt, jedoch im Distrikt zu Tode gekommen. Also mußte die Verwaltung für sein Begräbnis aufkommen. Richter Blake hatte den Fall zu entscheiden. Der alte schnauzbärtige Judge kratzte sich am Kopf: Das Pferd des Burschen war bei der Schießerei getroffen worden und krepiert. In der Tasche trug der Bandit fünf Dollar. Richter Blake verurteilte den Toten zu fünf Dollar Geldstrafe wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Denn der Bandit trug zwei Pistolen bei sich. Blake ließ sie von Amts wegen für dreißig Dollar an Scholl & Roberts verkaufen. Hut, Rock, Hose, Stiefel, Sporen und Sattel gingen an einen Trödler für achtzehn Dollar. Dann ließ der Richter einen Beerdigungsunternehmer kommen. »Okay, Corbett«, befahl er, »schaffen Sie diesen Burschen unter die Erde. Ich verfüge ein Begräbnis für dreiundfünfzig Dollar, alles in allem. Klar?« So war Virginia City… In diesen Tagen heizte ein neuer, noch phantastischerer Boom die Gemüter auf, nachdem es zwischendurch – wie beim Krieg und seinem Schlachtenglück – einige Tiefs gegeben hatte. Die Börse verzeichnete Hausse und Baisse. Jetzt kletterten die Aktienkurse auf ungeahnte Höhen. 172
Es war die große Stunde der Eilly Orrum, die in Virginia City eine Pension und in Gold Hill eine Bonanza besaß. Der Claim spuckte mächtig viel edles Metall aus. Eilly hatte eine große Saison, und auch Julia profitierte davon. Die Orrum war ein wenig spleenig und unberechenbar. Sie trank mehr, als ihr guttat. Bald sprach niemand mehr von ihr. Später wurde sie noch einmal berühmt als Seherin von Washoe. Sie hatte große Erfolge mit ihrer Kunst, aus den Karten zu lesen und im Kaffeesatz zu rühren. Schließlich verstieg sie sich zu gewagten Prophezeiungen, nachdem der religiöse Wahn über sie gekommen war. Sie sagte den Untergang des Sündenpfuhls von Washoe voraus – ein schreckliches Strafgericht Gottes, und sie fand Anhänger. Eilly verdämmerte im Wahnsinn. Virginia City hingegen gedieh großartiger denn je. Es wuchs auf zwanzigtausend Einwohner an, auf fünfundzwanzigtausend und dreißigtausend. Jetzt war bereits davon die Rede, eine Eisenbahn zu bauen. Einige Bankiers und reiche Minenbesitzer schlossen sich zusammen, um die Virginia & Truckee Railroad zu gründen. Ingenieure begannen Pläne zu entwerfen. Landvermesser machten Probevermessungen, Geologen Bodenuntersuchungen. Es häuften sich unerwartet viele Schwierigkeiten auf. Allein von Gold Hill bis hinunter zu den Mühlen am Carson River, insgesamt nur knapp 21 Kilometer, waren 17 vollständige Serpentinenkreise erforderlich, wenn die Lokomotive die Steigungen überwinden sollte. Einige der Geldgeber scheuten vor dem großen Risiko zurück. Es gab Fehlschläge. Das Projekt drohte zu scheitern. Da kaufte William Sharon von der Bank of California die V & T. Die Eisenbahn wurde später zu einer der ertragsreichsten Kurzstreckenlinien Amerikas. Allein der Erztransport brachte das Vielfache der Kosten ein. Das Kulturleben blühte nicht minder. Maguire's brachte vieldiskutierte Aufführungen zustande, und die Zeitungen hatten eine Menge Klatsch und Tratsch über die Stars auf Lager, die Washoe ihre Aufwartung machten. Es lohnte sich für sie in jedem Fall, denn kaum 173
anderswo – New York, Rom, Paris, London, Wien und Berlin eingeschlossen – waren die Gagen so fürstlich wie in der Silberstadt von Nevada. Auch Lotta Crabtree feierte in Virginia City ihre Triumphe, wie zuletzt in San Franzisco. Julia hatte Herzklopfen, als sie mit Liza ins Maguire's fuhr. Es war ganz anders als bei ›Aunt‹ Adams. Die kleine Lotta trat so auf, wie sie seit den Tagen von Grass Valley sang, tanzte und gestikulierte: als Unschuld vom Land. Sie erschien im grasgrünen irischen Kostüm, das ihre ehrgeizige Mutter geschneidert hatte, mit langem Rock, Pluderhosen und hohem Kegelhut. Oder als weißgekleidetes Engelchen. Sie machte Jigand-reel-Schritte zur Triangel, die ihre Mutter schlug, und zur Gitarrenbegleitung von Mart Taylor, ihrem Manager. Wehmut beschlich Julia, als sie erlebte, wie die Männer aus dem Häuschen gerieten und Lotta mit Gold und Silber, Scheinen und Nuggets überschütteten. Die Crabtree hatte in Grass Valley bei der Montez gelernt. Jetzt rauchte sie auch Zigarillos wie sie. Zu einer kessen Nummer trug sie den kürzesten Rock, den man je gesehen hatte, lüftete die Petticoats ein wenig und zeigte ihre herabgewickelten Strümpfe. Man konnte sogar ihre nackten Knie sehen. Jedermann fand das entzückend. Denn Lotta blieb stets das süße kleine Mädchen, verlegen und fast schüchtern. Selbst die weiblichen Zuschauer fanden die Kleine niedlich. Für die rauhen Männer war sie eine Art Tochterersatz. Es wühlte ihre Gemüter auf, so etwas Unschuldiges zu betrachten, das nette Liedchen trällerte. Julia kannte die Crabtree von Grass Valley her. Sie erinnerte sich noch gut an das kleine Mädchen, das von der Montez so verwöhnt wurde. Von ihr lernte Lotta tanzen und singen, und die ehrgeizige Mutter Crabtree wollte eine zweite Montez aus ihrer Tochter machen. 174
Das gelang auf überraschende Weise, nur daß die Montez ein männerfressender Vamp gewesen war, die Crabtree hingegen zeitlebens das unschuldige Mädchen mimte und damit Millionen scheffelte, die sie am Ende für wohltätige Zwecke stiftete. Julia saß mit Liza, wie üblich, mitten unter den Miners. Einmal, als sie Applaus entgegennahm, hob Lotta den Blick und winkte ihr zu. Nach der Vorstellung, noch umbraust von Jubel des Publikums, während ihre Mutter die Dollars und Nuggets in einen Korb schaufelte, trat Lotta auf Julia zu und streckte ihr die Arme entgegen. »War ich gut, Miß Bullette?« fragte sie und schüttelte die langen rotleuchtenden Ringellocken. »Du warst prachtvoll«, antwortete Julia. »Meinen Glückwunsch, Engelchen.« Lotta freute sich aufrichtig. »Lola würde sich sehr darüber freuen«, fügte Julia hinzu. »Hast du je wieder von ihr gehört?« Die Crabtree schlug die Augen nieder. »Vor Jahren schickte sie eine Nachricht aus Australien. Aber jetzt liegt sie auf einem Friedhof in New York. Lungenschwindsucht, heißt es. Mat Taylor hat's erfahren.« Auf Lottas Gesicht legte sich ein Ausdruck von Ratlosigkeit. Julia konnte nicht unterscheiden, ob ihre Betroffenheit echt oder gekünstelt war. »Aber wir alle müssen ja sterben«, fügte Lotta naiv hinzu. »Ich werde Mat herbitten, damit er Sie begrüßt, Miß Bullette. Er wird sich freuen, Sie zu sehen.« Julia nickte. Nachdem Lotta hinter der Bühne verschwunden war, verließ sie das Theater. Die Montez tot, dachte sie. Diese strahlende Schönheit, die Künstler und Könige eroberte, Millionäre und Bettler zu Jubelstürmen hinriß. Die durch die Welt irrlichterte wie ein unabwendbares Naturereignis. Dieser Abend ließ eine grausame Leere zurück. 175
Gab es Vorzeichen von schlimmer Bedeutung? Fingerzeige des Schicksals? Bald darauf hielt ein großer Star des amerikanischen Show-Theaterhimmels triumphalen Einzug in Washoe: Adah Menken. Seit Wochen hingen die schreiend bunten Plakate an den Straßenecken und in den Bars, adah menken kommt, die verrückte von frisco. Das Poster zeigte sie halbnackt, mit aufgelöstem Haar, vor ihrem wildaufgebäumten Rappenhengst. Die Stimmung war schon lange vor der Premiere aufgeheizt. Die Miners hatten nur eins im Kopf: die wilde schamlose großartige Adah zu sehen. Die Zeitungsleute, mit Mark Twain an der Spitze, betrachteten es kühler. Sie hatten beschlossen, den Auftritt der Menken als drittklassigen Zirkus abzutun und schrieben übereinstimmend schlechte Vorberichte. Als die Menken im International eintraf, stand eine Abordnung von Peasleys Feuerbrigade in voller Uniform vorm Hotel, die von Julia gestiftete Fahne schwenkend, und brachte ihr ein Ständchen. Die vielgeliebte Adah trug ein knallgelbes hautenges Kleid, sonst nichts. Weder Hut, noch Schmuck. Sie war jung, schön, hinreißend exzentrisch. Die Reporter drängten sich um sie. Zufällig hielt Julia, nachdem sie eingekauft hatte, mit ihrer Kutsche vorm International, eingekeilt in die gaffende Menge. Sie konnte nicht weiterfahren. Niemand kümmerte sich um sie. Alle drängten sich der Menken entgegen. »Warum«, fragte Mark Twain, »tragen Sie dieses aufreizende Gelb, Madam?« Sie lachte. »Ah, sie sind jener Bursche«, entgegnete sie, »der so scheußliche Sachen über mich schreibt, sind Sie das nicht?« Mark Twains Seehundschnauzer zuckte. »Antworten Sie, Miß Menken!« Sie machte eine weitausholende Geste.
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»Gelb ist eine mystische Farbe, Sir. Jede Frau sollte Gelb tragen, es übt eine magische Wirkung aus, denn es ist die Farbe der Wüste. Ich bin in der Wüste geboren.« »Wann?« »Irgendwann.« »Und wo?« »Irgendwo. Vielleicht in Afrika, in der Sahara, der Namib, der Kalahari. Oder sonstwo.« Sie zeigte ihre leuchtend weißen Zähne, lachte und schüttelte das aufgelöste Haar. Die Männer klatschten Beifall. »Stimmt es, daß Sie die Geliebte von Sam Houston waren?« »Ich war in Texas«, antwortete sie, rätselhaft wie eine Sphinx, »und Sam ist der ungekrönte König von Texas. Viele Zeitungen schrieben, die Adah sei Sams Adoptivtochter.« »Sind Sie es?« »Fragen Sie Sam Houston.« Gelächter rundum… Ein anderer Reporter: »Stimmt es, Madam, daß Apatschen Sie als junges Mädchen raubten und Sie die Squaw eines Häuptlings wurden, so daß Rangers ausrückten, Sie zu befreien?« Sie verzog den Mund. »Hätten Sie was dagegen, Sir? Die indianischen Häuptlinge sollen starke Männer sein. Im übrigen fragen Sie am besten Ihre Kollegen in Texas. Die Zeitungen haben darüber berichtet.« »Was halten Sie von der Montez?« fragte der Reporter der Gold Hill News. »Ist es richtig, daß Sie gesagt haben, Lola Montez sei Ihr großes Vorbild?« Adah Menken machte eine raumumgreifende Geste. »Die Montez, Sir, ist das Vorbild aller erfolgreichen Frauen. Zwischen ihr und mir gibt es nur zwei kleine Unterschiede.« »Und die wären?«
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»Lola Montez begann mit einem König und rutschte immer tiefer, über einen Zeitungsreporter bis zu einem Miner. Ich habe mit einem Preisboxer angefangen und werde bei einem Fürsten enden.« »Und der zweite Unterschied, Miß Menken?« »Die Montez ist tot, ich bin quicklebendig.« Der Jubel war unbeschreiblich… »Ist es richtig, Madam«, rief ihr Dan de Quille von der Territorial Enterprise zu, »daß Sie in New Orleans Ballettgirl waren?« Die Menken warf den Kopf zurück. Ihre Blicke glitten umher. Sie erfaßten Julia, die perlengeschmückt, mit wippendem Kapotthut ungeduldig in ihrer Kutsche saß und die unruhigen Pferde am kurzen Zügel hielt. Adah streckte den Zeigefinger aus. »Sehen Sie dorthin, Gentlemen!« Alle Augen richteten sich auf Julia, die am liebsten im Erdboden versunken wäre, denn sie befand sich in einer Situation, in der sie sich nicht wehren konnte. »Ich freue mich, Miß Bullette wiederzusehen«, rief Adah Menken mit erhobener Stimme in die Stille hinein. »Fragen Sie diese Lady! Sie war damals die Dritte von links. Ich habe solo getanzt.« Brausendes Gelächter flog auf. »Adah, Adah!« jubelten die Männer und schwenkten die Hüte. Mit einem großartigen Abgang rauschte die Menken ins Hotel. Julia ließ die Pferde anlaufen. Selbstverständlich hatte Adah nicht die Wahrheit gesagt. Denn sie hatten seinerzeit in New Orleans beide in der zweiten Reihe getanzt. Damals vertrugen sie sich nicht sehr gut. Die Menken war jünger und rücksichtsloser. Jetzt hatte sie sich gerächt. Julia wollte die Premiere nicht besuchen. Aber Liza freute sich darauf, und ihr mochte sie den Wunsch nicht abschlagen. Hunderte von Männern, die keine Karte mehr erhalten hatten, drängten sich vorm Theatereingang. Einige Spekulanten hatten ganze Sitzreihen aufgekauft und gaben die Karten jetzt gegen Höchstgebot ab. Ihr Geschäft florierte. 178
Wie üblich, wollte Julia mit Liza ihren Platz in der ersten Reihe unter den Miners einnehmen. John Piper, der neue Besitzer, trat ihr in den Weg. Er zerfloß vor Höflichkeit und devoter Besorgnis. »Tut mir aufrichtig leid, Madam«, bedauerte er, »aber Sie werden gewiß verstehen, Miß.« Julia maß ihn durchdringend. »Ich verstehe überhaupt nichts, Mr. Piper. Wir haben gültige Karten und wünschen unsere Plätze einzunehmen. Möchten Sie, bitte, aus dem Weg gehen.« Piper schien zutiefst betrübt. Er bat Julia, um des lieben Friedens willen in seiner Loge Platz zu nehmen. Julia begann zu begreifen. »Soll ich mich verstecken?« entgegnete sie. »Vor wem? Und warum?« »Sie kennen die Stimmung, Madam. Gewisse mißgünstige Elemente, manche Hetzparolen, und so weiter…« Julia verstand. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber sie wollte Liza den Spaß nicht verderben. Außerdem war ihr Widerstand herausgefordert. Sollte sie etwa kapitulieren? »Gut, Mr. Piper. Ich nehme Ihr Angebot an.« Sie saß mit Liza in der Direktorenloge. Sie trug ihre Diamantohrringe, die Brillanten und Rubine. Der kostbare schwarze Zobel schmiegte sich um ihre Schultern. Aber sie verbarg ihr Gesicht hinter dem halbgeschlossenen Vorhang. Sie hatte sehr wohl begriffen. Virginia City wollte sie nicht mehr. Die Ehrbarkeit hatte gesiegt. Auch Adah Menken hatte gesiegt. Ihr lagen jetzt die Männer von Virginia City zu Füßen. Die Menken spielte Mazeppa, das Wildpferd der Tartaren: ein Rührstück nach dem Gedicht von Lord Byron. Sie deklamierte melodramatische Verse, die den Zuhörern Tränen in die Augen trieben. Ein Ereignis jagte das andere – wie in einem Zirkus mit drei Manegen, bis zum Höhepunkt. 179
Eine knallige Dekoration verwandelte die Bühne in eine kaukasische Wildwest-Landschaft mit Felsen, Dornbüschen, Wasserfall. Auf ihrem Rappenhengst ritt Adah ein und im Kreis herum. Sie trug ein knappes fleischfarbenes Trikot auf dem Leib und war mit Riemen auf das Pferd gebunden. Ihr Haar flatterte im Gebläse der Windmaschine. Sie rollte die Augen, blickte sich um, verfolgt, gejagt. Schüsse fielen. Der Rappenhengst bäumte sich auf, blähte die Nüstern, wieherte. Adah, das gehetzte Wild. Atemlos lauschte und lauerte das Publikum, wie die Verfolger sich hinter der Bühne näherten, während Adah, die Unglückliche, sich losband, vom Pferd sprang und halbnackt, minutenlang immer im Kreis, ihren Peinigern zu entkommen trachtete. Das war beste Wildwest-Klamotte. Der entsetzten Stille folgte befreiter Jubel. Adah war die Größte. Niemand drehte sich nach Julia um, bis auf die Menken selbst. Sie schien Julia in der Loge entdeckt zu haben, oder Piper gab ihr einen Wink. Sie hob unvermittelt die Hand. Der Applaus erstarb. Sie streckte den Arm aus. »Ich höre«, rief sie, »Washoe hat eine Königin. Die Silver Queen. Wollt ihr euch nicht erheben, Männer, und eure Königin grüßen?« Die Blicke richteten sich auf die Loge. Leere, uninteressierte Blicke… Nichts von Enthusiasmus oder auch nur Verständnis. Ein vereinzelter halberstickter Ruf: »Es lebe Julia!« Die Menken lächelte. Es war ihr Triumph. Und die Männer stürmten zur Bühne empor und trugen sie auf den Händen hinaus. »Komm, Liza«, sagte Julia. Unbemerkt konnten sie das Theater verlassen… An diesem Abend floß im Washoe Club der Champagner in Strömen. Die neue Königin hielt Hof: Adah Menken. Fröstelnd lag Julia im Bett. Durch die D-Street drängte sich der Strom der Männer, die an den Häusern mit roter Laterne vorüber defilierten. Dann erschütterten Hufschläge die Nacht. 180
Julia trat ans Fenster. Eine Prozession von Reitern und Pferden kam die D-Street herab. Schüsse peitschten auf. Freudenschüsse, aus Dutzenden von Pistolen abgefeuert. Die Millionäre von Virginia City, von ihren Leibwachen begleitet, zeigten Adah die berühmte Amüsierstraße ihrer Stadt. Und sie zeigten ihr Julias Palace. Steine flogen empor. Eine Fensterscheibe zersplitterte. Julia sah die Menken mit aufgelöstem Haar in einer offenen Kutsche stehen und zu ihr heraufwinken. Ihre Stimme übertönte den Chor. »Wer ist die Königin von Washoe?« rief sie lachend. Wieherndes Gelächter folgte. »Adah, Adah!« antworteten die Männer. Julia bebte am ganzen Leib. Sie trat zurück. Kühle umwehte sie. Plötzlich spürte sie zwei zarte Arme um ihre Schultern. Liza stand hinter ihr. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Vergessen Sie's, Julia«, sagte das Mädchen. »Es ist die Sache nicht wert.« Julia stieß sie zurück. Zorn glühte in ihrem Gesicht. »Wie scheußlich«, sagte sie schweratmend, »wie erbärmlich und widerwärtig!« Liza weinte haltlos. Julia blickte sie verwundert an. Dann strich sie ihr sanft übers Haar. »Verzeih, Liza. Ich hab's nicht böse gemeint.« Liza warf sich an ihre Brust. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das haben Sie nicht verdient.« »Als ob es im Leben darauf ankäme, Kind! Du wirst es noch erfahren.« Nachdem Liza gegangen war, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war dreißig geworden, schon beinahe einunddreißig. War sie alt? War sie häßlich? Sie fühlte sich nicht alt, sondern müde und leer. Ausgeleert… Unterdessen sonnte sich die Menken in ihrem Ruhm.
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Mark Twain hatte einen begeisterten Bericht über ihre Vorstellung im Enterprise veröffentlicht, den viele amerikanische Zeitungen nachdruckten. Adah hielt im International Audienzen ab – im hautengen wüstengelben Seidenkleid, ein Champagnerglas in der linken Hand, während sie mit der rechten ihrem Schoßhund schnapsgetränkte Zukkerwürfel ins Hängemaul stopfte. Abends im Sazerac Saloon bot sie öffentlich an, gegen jeden zu boxen, der Mut dazu hatte. »Mein erster Mann, als ich sechzehn war, verdiente sich als Preisboxer sein Geld«, rief sie, »und von ihm habe ich eine Menge gelernt.« Sie ließ Boxhandschuhe bringen und streifte sie über. Ihren ersten Gegner, einen großsprecherischen Miner, schlug sie nach zehn Sekunden zu Boden, für den zweiten brauchte sie nicht viel länger. Der Bursche, ein Gespannführer, rieb sich die geschwollene Backe. »Sie hat eine Linke«, sagte er bewundernd, »die selbst einem Kaninchen zu blauen Augen verhilft.« Die Miners machten ihr einen Goldbarren im Wert von zweitausend Dollar zum Geschenk, dazu fünfzig Minenaktien, die sie später für eintausend Dollar das Stück verkaufte. Als die Menken Virginia City verließ, gab ein Zug von mehreren tausend Männern der Kutsche das Geleit. Auf Adahs Wunsch, um Julia zu demütigen, nahm das Gespann seinen Weg ausnahmsweise durch die D-Street. Die Mädchen drückten ihre Gesichter an den Fensterscheiben platt. Vor Julias Palast hielt der Zug an. Die Männer sangen vieltausendstimmig einen veränderten Vers des Washoeliedes: Hey-ho, my darling, hey-ho! Wir geleiten die Königin von Washoe, und das Glück und das Gold rollt umher. Hey-ho, my darling, nimm's nicht so schwer…
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Julia war nicht zu Hause. McFarlan hatte erfahren, daß Jake Malou zu einer der Vorstellungen von Adah Menken in die Stadt gekommen war. Er, so hieß es, habe die Demonstration organisiert und einige tausend Dollar bezahlt, damit die Männer das Spektakel mitmachten und Julia ausbuhten. Er nahm späte Rache. Auch Julia kam es zu Ohren. »Malou hat noch nicht aufgesteckt, Tom«, sagte sie. McFarlan schwieg verbissen. Man hatte Brendan in Virginia City gesehen. Niemand dachte mehr daran, ihm die alte Geschichte – den Mord an Phil Holmes – noch nachzutragen. Marshal Brewster war nicht mehr im Amt. Der neue Sheriff kam aus Carson City. Was scherte ihn der alte Schnee aus vergangenen Jahren. McFarlan wußte, daß er auf der Hut sein mußte. Der Bürgerkrieg war zu Ende. Am 3. April 1865 hatte sich General Robert Edward Lee mit den Resten der Südstaatenarmee ergeben. Noch konnten die Menschen nicht begreifen, was es für das ganze Land bedeutete. Waren die alten Gegensätze damit begraben, die tiefen Gräben zwischen Nord und Süd eingeebnet? Da erschütterte ein neues, folgenschweres Ereignis die Nation. Präsident Lincoln war tot. Noch auf dem Schlachtfeld von Gettysburg hatte er seine Stimme erhoben, um die Vereinigten Staaten zu beschwören und das Glaubensbekenntnis zur freiheitlichen Demokratie zu erneuern: government of the people, by the people, for the people, Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk… Am 15. April saß der Präsident in der Loge des Theaters von Washington. Mit einem Schuß streckte ihn der Schauspieler John Wilkes Booth, ein junger Fanatiker aus dem Süden, nieder, weil er diesem ›häßlichen Pavian‹ Abraham Lincoln nicht nachsehen wollte, daß er den Negersklaven die Freiheit gab. 183
Ein Schrei des Entsetzens flog millionenfach durchs Land. Tagelang hatten die Besucher von Julias Palace kein anderes Gesprächsthema als den Präsidentenmord. Das Auf und Ab der Comstock Lode setzte sich fort. Die ganz Großen des Silbergeschäfts schickten sich an, in Virginia City die Herrschaft zu übernehmen: John Mackay, James Fair, James Flood und William O'Brien. Sie regierten wie Könige, und als die Silberkönige von Washoe geboten sie über ihr Reich. Die Epoche des allmächtigen Geldadels war angebrochen, die Pionierzeit der Bonanzamänner und Diggers endgültig vorbei. Aus jener Zeit stammte auch Julia Bullette. Warum trat sie nicht sang- und klanglos ab? Julia wollte nicht aufgeben. Hier hatte sie Fuß gefaßt. Das war ihre Stadt, die sie entstehen und wachsen sah. Freilich war es ein wenig stiller in ihrem Palast geworden, ehrlich gestanden: sogar erheblich stiller. Es kümmerte Julia erst, als Davidson ihr Schwierigkeiten machte. Über Geld hatte sie nie nachgedacht. Jetzt geriet sie mit ihrem Bankkonto ins Minus. Davidson spielte den Großzügigen. Er bot ihr Kredit an – nicht sehr viel, aber es genügte für die Übergangszeit. Sie verkaufte ihre Anteile am Saloon, und eine Weile war sie sorgenfrei. Gewiß hätte sie mit McFarlan sprechen können. Sie besaß noch immer ein Viertel an der Four Aces Mine. Aber sie wußte, daß McFarlan und Hacket augenblicklich jeden Dollar in die Ausrüstungen steckten. Es wäre ihr schäbig vorgekommen, sie jetzt um Vorschüsse anzugehen. Als sie erneut in Zahlungsschwierigkeiten geriet, half Davidsons Bank noch einmal mit einer Summe aus. Sie überschrieb zur Sicherheit den Palast. »Rein der Ordnung halber«, sagte Davidson lächelnd. »Selbstverständlich, Julia, wird Ihnen meine Bank nicht den Stuhl vor die Tür setzen. Andererseits: Private Gefühle dürfen in finanziellen Fragen keine Rolle spielen.« 184
Davidson residierte längst auf dem Nob Hill in einem prunkvollen Palais, hatte Frau und Kinder nachkommen lassen und besuchte den Washoe Club, nicht mehr Julias Palace. Sie verstand sehr wohl. »Okay, Davy«, sagte sie. »Auch Gefühle haben ihren Stellenwert. Es fragt sich nur, ob vor oder hinter dem Komma und mit wie vielen Nullen.« Julia nahm es ihm nicht einmal übel. Warum auch? Wie am Anfang ihrer goldenen Washoejahre, versetzte sie heimlich einigen weniger wertvollen Schmuck. Sie kannte einen jüdischen Trödler, der diskret und reell war. Dann verkaufte sie etliche Bilder und Barockmöbel. Lachend sagte sie: »Ich schmeiß' den alten Plunder raus. Virginia City ist schließlich eine moderne Stadt geworden.« Niemand ahnte, wie schwer sie sich von jedem einzelnen Stück trennte. Eines Morgens, als Susana zum Einkaufen gehen wollte, lag ein Brief im Flur. Nicht im Briefkasten, sondern unter der Tür hindurchgeschoben. Im Umschlag steckte ein Zettel. Die Buchstaben waren aus der Zeitung ausgeschnitten. Die Nachricht lautete: die silver queen wird sterben. Nachdenklich starrte sie auf das Blatt. War das Malous Warnung, oder wessen Urheberschaft sonst? Sie empfand seltsamerweise keine Furcht um ihr Leben. Nur um McFarlan bangte sie. Sie mußte ihn mahnen, auf der Hut zu sein. Olafson und dem Professor, die an diesem Abend den Palast besuchten, gab sie eine kurze Nachricht mit: du musst dich in acht nehmen, tom. trau keinem ausser dir selbst. versprich mir das, bitte… Bedeutete dies nicht auch, ihr zu mißtrauen? Und Olafson, Apatschen-Charlie, dem Professor, allen anderen, selbst Liza? Nahm es wunder in der Ratten- und Kaninchenstadt? Daß sie eine Drohung erhalten hatte, teilte sie McFarlan nicht mit. Sie zerriß das Blatt und 185
ließ die Schnitzel einzeln ins offene Kaminfeuer flattern. Sie schaute zu, wie sie verbrannten… Wieder fegte der Wind mit Urgewalt um den Mount Davidson. Er rüttelte an den Zeltstangen des Camps und den Säulenportalen der prachtvollen Villen, mit denen sich Virginia City schmückte wie eine schöne Frau mit ihren Juwelen. Dann stob der erste Blizzard von der Sierra herab und deckte das Land zu. Die zahllosen Schneekristalle glitzerten in der Frühwintersonne. McFarlan stieg mit Sam Hacket in die Four Aces Mine ein Sie hatten einen neuen Schacht gebohrt, um nach Südwesten zu graben, nachdem die Sohle des alten Schachts nichts mehr hergab. McFarlan konstruierte eine andere Art von Winde. Die Anregung hierfür hatte Philip Deidesheimer gegeben, kurz bevor er starb und kaum mehr ins Grab mitnahm als eine enttäuschte Hoffnung. Davidson und die anderen Minenbosse hatten an seiner revolutionären Stütztechnik und den anderen Erfindungen Millionen verdient. Deidesheimer selbst war bettelarm gestorben – so jämmerlich wie die Kirchenmaus von St. Paul's Episcopal-Kirche in der FStreet, die der Küster am Tag von Deidesheimers Begräbnis verhungert und erfroren hinterm Altar fand und auf den Abfall warf. McFarlan und Hacket probierten herum. Irgend etwas funktionierte nicht an der Winde. Sie lief eine Weile und blieb dann stehen. Offenbar lag es an der Sicherung. Olafson, Hacket und McFarlan arbeiteten einige Stunden daran. Dann schien endlich alles zu klappen. Inzwischen war es dunkel geworden. »Wir probieren es morgen früh aus«, entschied McFarlan. »Bis gegen Mittag kannst du in den Schacht einfahren lassen, Olaf.« Am anderen Morgen bei Hellwerden machten sie einen Probelauf. Alls ging gut. »Jetzt fahr du runter, Olaf«, sagte McFarlan.
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Olafson wischte sich die öligen Hände am Overall ab und stellte sich in den Fahrkorb. McFarlan schloß das Gitter und ließ die Winde arbeiten. »Alles okay, Boß!« rief Olafson von unten. »Gut, Olaf. Sam und ich kommen jetzt runter, um doppelt zu belasten.« »Ihr könntet erst noch mal Gewicht reinlegen, Tom«, antwortete Olafson. »Sicherheitshalber.« »Blödsinn!« antwortete Hacket ungeduldig. »Hat's dich Riesenroß getragen, Olaf, wird's uns Ochsen auch aushalten.« Sie stiegen ein. Apatschen-Charlie bediente die Winde. Auf halber Höhe begann plötzlich das Seil zu rucken und gab einen feinen singenden Ton von sich. Der Korb fing einige Stöße ab, dann sackte er schnell nach unten. »Die Winde dreht durch!« rief Apatschen-Charlie. »Ich versuche, das Zahnrad einzurasten. Haltet euch fest da unten!« Plötzlich begann der Korb zu kippen. Hacket hatte das Gitter geöffnet, um nach oben zu blicken. Er verlor das Übergewicht und fiel in die Tiefe. Dumpf schlug er unten auf. Der Fahrkorb ächzte in den Fugen, als er plötzlich mit einem Ruck anhielt und gegen die Schachtwand schlug. Er hing zehn Meter über der Sohle. McFarlan war vor Schweiß so naß, als hätte er gerade ein Bad genommen. Sein Overall war völlig durchtränkt, und schwarze Brühe sickerte aus den Hosenbeinen über die Stiefel. »Sag, was mit Sam los ist, verdammt noch mal!« schrie er nach unten. Olafson gab außer einem wütenden Grunzen keinen Laut von sich. Nach zwei Stunden war McFarlan wieder frei. Sie sicherten den Korb mit Seilen ab und reparierten die Winde notdürftig. Dann holten sie den Korb nach oben. Jetzt konnten sie auch Hacket bergen und Olafson heraufholen. Hacket war tot. Er hatte sich das Genick gebrochen. 187
Sie stellten fest, daß die Sicherung an der Winde offenbar über Nacht angesägt und bei der starken Belastung durch zwei Personen gebrochen war. Reine Sabotage also. Sie konnten nicht viel mehr herausbringen als die Tatsache, daß Ed Rollings über Nacht vom Wächter auf dem Grubengelände gesehen worden war. Rollins tauchte vor einigen Monaten auf. Er behauptete, daß er aus der Südstaatenarmee desertiert sei und sich über Mexiko nach Virginia City durchgeschlagen habe. Er verstand was von Bergbaumaschinen, weil er in einer peruanischen Kupfermine gearbeitet hatte. Daraufhin stellte ihn Olafson ein. Über Apatschen-Charlies bronzenem Gesicht lag ein grünlicher Schimmer. Er sah aus wie ausgespuckt. »Ich komme gleich wieder«, sagte er und setzte sich in Trab, dem Tor entgegen. McFarlan und Olafson bauten aus Stangen und Zelttuch eine Bahre. Sie banden sie zwischen McFarlans und Charlies Pferd fest. Dann legten sie die Leiche darauf. »Wir werden ihn ins Camp bringen«, sagte McFarlan mit eisiger Miene. »Mach hier die Arbeit, Olaf! Kann sein, daß Charlie und ich einige Zeit unterwegs sein werden.« Olafson nickte. Er wußte, was bevorstand. McFarlan saß auf, griff in den Zügel von Charlies Pferd und ritt langsam zum Tor. Apatschen-Charlie unterhielt sich mit ›Butcher‹ Follis, dem Torwächter. Follis hatte nur einen Arm. Der andere war ihm als Sergeant in McFarlans Schwadron abhanden gekommen, als sie seinerzeit in Minnesota den Sioux in die Hand fielen und ein Tomahawkhieb sie infiziert hatte. Nach ihrer Flucht mußte der Regimentsarzt Follis den Arm amputieren. Der ›Butcher‹ kam vor gut einem Jahr nach Virginia City, weil er erfahren hatte, daß McFarlan hier eine Mine besaß, und er erhielt den Posten am Tor. »Frag den Butcher, Tom«, sagte Apatschen-Charlie. »Er weiß was über Ed Rollins.« 188
»Also, Follis?« Der Wächter hatte eine dicke Knollennase und eine wulstige Narbe quer überm Gesicht. Das verlieh ihm ein martialisches Aussehen. Er trug immer noch seine verblichene Armeemütze. Er nahm die Mütze ab und wischte das Schweißband aus. Dann setzte er sie umständlich wieder auf und machte eine Art Ehrenbezeigung. Er konnte es sich einfach nicht abgewöhnen. »Das war so, Captain, Sir«, sagte er, »daß nämlich Ed Rollins gestern Maschinendienst hatte. Nachdem Sie, Mr. Hacket und Mr. Olafson die Mine verlassen hatten, machte ich mit Timmy den ersten Rundgang.« Er tätschelte seinem Wachhund, einer prachtvollen dänischen Dogge, den Hals. »Weiter!« »Beim abgesoffenen Schacht ›B‹ schlug Timmy an. Ich dachte, er hat ein paar Ratten aufgestöbert. Ich ließ ihn laufen, und er wühlte in einem Stapel Grubenholz, das hinterm Schacht liegt. Da fand ich diese Jacke.« Er nahm eine graue Militärjacke vom Haken, wie sie in der Südstaatenarmee üblich war. »Wissen Sie, wem sie gehört?« Follis nickte. Apatschen-Charlie sagte: »Es ist Rollins' Jacke. Der zweite Knopf ist durch einen Holzknebel ersetzt, und am Ärmel hat sie einen Riß.« »Noch was, Follis?« »Heute nacht, gegen drei, bellte Timmy. Ich dachte, es kommen ein paar betrunkene Burschen am Tor vorbei, auf dem Weg ins Camp. Ich ging mit Timmy raus. Er zog mich zum Zaun rüber, hinter dem Ihr alter Claim liegt, Mr. McFarlan. Da sah ich eine Gestalt übern Zaun steigen. Ich ließ Timmy frei, der sofort fassen wollte. Ich rief: ›Stehenbleiben! Verdammt, bleib stehen!‹ Aber er war bereits drüben und verschwand im Coyote Hole. Ich gab einen Schuß ab, aber es war zu dunkel. Er ist entwischt.« »Haben Sie ihn erkannt?« »Ich will 'ne Heumatratze fressen, Captain, Sir, mit Verlaub, wenn das nicht Ed Rollins war, dessen Jacke ich beim Schacht ›B‹ fand.« 189
McFarlan überlegte. »Gut, Follis. Wann hat Rollins wieder Dienst?« »Zur Mittagsschicht, Mr. McFarlan.« »Lassen Sie sich nichts anmerken. Fragen Sie vorsichtig die Männer aus, die zur ersten Schicht kommen. Sag Mr. Olafson Bescheid, er soll Rollins festhalten, falls er kommt. Vorwärts, Charlie!« Charlie stieg auf. Sie ritten aus dem Tor. »Denkst du, daß Rollins wieder zur Arbeit antreten wird, Tom?« fragte Charlie. »Falls er die Winde angesägt hat, bestimmt nicht. Dann wird er verduften.« Sie ritten im Schritt den Weg zur C-Street hinauf, um nach Gold Hill abzubiegen. Apatschen-Charlie blickte starr geradeaus. Sein langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Sein Gesichtsausdruck blieb unbeweglich. Hacket wippte im Takt der Pferde auf seiner Trage, als sei er unschlüssig, ob er wieder aufstehen oder den langen Schlaf fortsetzen wolle, der so plötzlich über ihn gekommen war. McFarlans Blick streifte Hackets Gesicht. Die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bildeten zwei unnatürlich dicke Kugeln. Hatte er in den Augenblicken des Falles und des Sterbens etwas Schreckliches, Unfaßbares gesehen? Von allen Seiten näherten sich die Miners der Frühschicht. Sie tippten an die Mützen, um McFarlan und Charlie zu grüßen. McFarlan gab nicht, wie es sonst seine Art war, Bescheid. Die Männer entdeckten die Bahre und Hacket darauf. Ein Zug bitterer Verwunderung huschte über ihre Gesichter. Sie blieben stehen, drehten sich um, ließen die Hand fallen, in der sie den Henkelmann trugen und zogen die Mütze vom Kopf. Sie bildeten zu beiden Seiten der Straße ein schweigendes Spalier, durch das McFarlan und der Apatsche hinaus zum Canyon ritten. Im Camp hoben sie den Leichnam von der Bahre und legten ihn in der Hütte auf die Pritsche. 190
Jorge, der sich den Fuß verstaucht hatte und nicht zur Arbeit gehen konnte, humpelte herbei. Er betrachtete den Klumpen leblosen Fleisches. Für den Augenblick war er fassungslos. »So 'ne Scheiße«, knurrte er, »so 'ne verdammt stinkende Bergmannsscheiße! Wie ist 'n das passiert?« Er nahm eine Decke und wollte sie Hacket übers Gesicht ziehen. Dabei stieß er eine Serie spanischer Flüche aus, die selbst die Mädchen aus der D-Street zum Erröten gebracht hätten. »Laß ihn«, sagte McFarlan. »Er soll noch 'n bißchen Zeit haben, sich diese beschissene Welt anzusehen, ehe sie ihn einbuddeln.« »Wie kann er was sehen mit geschlossenen Augen?« entgegnete Jorge kopfschüttelnd. »Ein Toter«, erwiderte McFarlan nachdenklich, »sieht eben auf andere Weise als wir, Jorge. Und hat wohl auch andere Sorgen als wir. Weißt du, wo Rollins wohnt, Charlie?« »Ich werd's rauskriegen, Tom, verlaß dich drauf. Mir wird er nicht entwischen.« »Okay. Bring ihn her, Charlie!« »Tot oder lebendig?« »Lebendig. Wir brauchen ihn noch. Hör dich nebenbei nach Brendan um. Ich schätze, daß er sich noch in der Gegend herumtreibt, bis er erfährt, ob's geklappt hat. Trommle noch ein paar zuverlässige Männer zusammen. Sie sollen dir suchen helfen.« Der Apatsche steckte eine zweite Pistole und ein Paket Patronen ein. »Ich komme mit«, sagte Jorge entschlossen. McFarlan betrachtete Jorges linkes Bein, das dick angeschwollen war und in einem aufgeschnittenen alten Schuh steckte. »Kannst du denn reiten, Jorge?« »Nur 'n paar Minuten noch, dann kann ich reiten.« Er nahm die lange Treibpeitsche aus seiner Zeit als Cowboy vom Haken und wickelte liebevoll den Riemen um den mit Leder überzogenen Holzgriff. Unterdessen hielt er den verstauchten Fuß mit191
samt dem Schuh eine Weile in einen Wasserbottich und setzte sich dann ans prasselnde Feuer. »Ein altes Hausrezept der Vaqueros«, sagte er. McFarlan kannte das Mittel. Wenn der Schuh am Fuß trocknete und sich zusammenzog, hielt das knochenharte Leder fest wie eine Gipspackung. Es tat höllisch weh, aber es half. McFarlan hörte nicht, wie draußen der Hufschlag verklang. Er steckte sich eine Zigarre an und hockte sich neben Hacket auf die Pritsche. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit strich er dem Toten eine Haarsträhne aus der Stirn, zupfte eine Falte aus Hackets Overall und zog ihm schließlich die Stiefel aus, als ob er's ihm so bequem wie möglich machen wollte. Dann beobachtete er eine struppige Ratte, die in der Tür erschien und ihn von weitem beschnupperte. Er blinzelte ihr zu, ohne sich zu rühren. Die Ratte zog sich vorsichtig zurück und erschien nach einigen Minuten unter Hackets Pritsche. Sie war durch ein Loch in der Seitenwand wieder hereingekommen. Als sie frech wurde und auf die Pritsche sprang, um Sam anzufallen, packte McFarlan sie mit einem Griff am Genick, schlug sie wütend auf den Boden und schleuderte sie angewidert ins Feuer. Sie begann sofort zu brennen und verbreitete einen scheußlichen Geruch, wie nach röstendem Fleisch und ranzigem Fett. McFarlan mußte in diesem Augenblick etwas Böses tun. Es war ein unwiderstehlicher Zwang in ihm. Die Ratte war nur bewußtlos gewesen. Noch einmal kam sie zu sich und starrte ihn aus angstgeweiteten Augen an, zuckte verzweifelt und sackte dann zusammen. Die Flammen schlossen sich über ihr. McFarlan wandte sich ab und verließ die Hütte. Er blinzelte ins Licht. Gegenüber, auf einem Zeltpfosten, hockte mit leicht gespreizten Flügeln ein Bussard, der nach Mäusen Ausschau hielt. McFarlan betrachtete ihn eine Zeitlang, bis der Vogel träge aufflatterte. Er ging 192
in die Hütte zurück und setzte sich wieder neben Hacket auf die Pritsche… Gegen Abend kam Ron Ceprevich, einer der Männer aus Apatschen-Charlies Wachmannschaft, herbei. »Ich soll Ihnen von Charlie bestellen, Mr. McFarlan«, berichtete Ceprevich »daß sie eine Spur haben. Charlie sagt, es kann noch 'n paar Stunden dauern. Ich soll Ihnen was zu essen machen, meint Charlie.« »Iß du was, Ron«, erwiderte McFarlan und steckte sich noch eine Zigarre an. Er wich nicht von der Pritsche. Er beobachtete Ceprevich, der sich Speck und Eier briet, das Essen hinunterschlang und wieder davonritt. Es ging auf die vierte Morgenstunde, als die Tür aufflog. Rollins torkelte herein. Hinter ihm erschienen Jorge und Apatschen-Charlie. Rollins trug die Hände auf dem Rücken gebunden. Er hatte keine Stiefel an. Sein Oberkörper war nackt. Verkrustete rote Striemen zogen sich kreuz und quer über die Haut. Er fror erbärmlich. »Wir haben ihn hinterm Gold Canyon abgefangen«, berichtete der Apatsche. »Er kam den Mule Trail herauf, von den Horse Ranges her. Als er uns erkannte, wollte er umkehren. Jorge ließ die Peitsche knallen. Sein Pferd scheute, Jorge schlug ihn mit der Peitsche runter und zog ihm bei dieser Gelegenheit gleich das Hemd mit aus.« »Warum trägt er keine Stiefel?« »Manche Leute laufen besser barfuß«, antwortete Jorge grinsend. Rollins Füße waren mit Blutblasen und Rißwunden bedeckt. Seine verschlagenen Augen blickten ängstlich umher. McFarlan erhob sich langsam. Er deutete auf Hacket. »Kennst du den, Rollins?« Rollins hatte ein Flackern im Blick, als er den Toten ansah. Hackets Gesicht hatte sich mit Flecken überzogen. Rollins nickte zaghaft. »Also, rede!« Er begann zu zittern. »Was wollen Sie von mir, Mr. McFarlan?« stieß er hervor. 193
»Sag, was du weißt, aber schnell! Und laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.« Rollins blickte trotzig zu Boden. »Warst du heute nacht auf dem Minengelände?« »Ich – ich … ja, Sir.« »Hast du die Windensicherung am neuen Schacht angesägt?« »Warum sollte ich, Mr. McFarlan.« »Kennst du Brendan? Wo steckt er?« Rollins bäumte sich auf. »Das ist verrückt«, kreischte er, »total verrückt. Ich habe nichts damit zu tun.« »Mit was?« Rollins sackte zusammen und preßte die Lippen aufeinander. »Soll ich ihn 'n bißchen behandeln, Chef?« fragte Jorge. »Ich will alles wissen, alles«, antwortete McFarlan wütend. »Aber macht es draußen. Ich kann's nicht leiden, wenn Sam das mit ansehen muß.« »Es wäre ihm ein Vergnügen«, sagte Jorge und stieß Rollins mit dem Peitschenknauf gegen den Bauch, daß er rückwärts aus der Hütte taumelte. McFarlan versuchte, nicht darauf zu achten. Er konnte es nicht sehen und nicht hören, wenn sie einen Mann schlugen, obwohl er Rollins weiß Gott nicht bedauerte. Er hatte einmal mit ansehen müssen, wie drei verrottete Rothäute Pitty Brown, einen schwarzen Korporal, mit dem zusammen er in ihre Hände fiel, zu Tode prügelten. McFarlan stand an einen Baum gefesselt, halb bewußtlos, und sie schütteten ihm jedesmal Wasser ins Gesicht, ehe sie wieder auf Pitty einschlugen. Er würde den Gesichtsausdruck des geschundenen Mannes sein Lebtag nicht vergessen. Und er wußte, daß er niemals einen Menschen zusammenschlagen konnte… Er hörte Rollins draußen brüllen, und er begann Home sweet Home zu summen, um das Geschrei zu übertönen. Dann schleppten sie den Mann wieder herein. Er war übel zugerichtet. »Mach's Maul auf, Amigo!« knurrte Jorge. »Er hat nämlich beschlossen, freiwillig zu reden, Tom.« 194
»Also, Rollins?« Es kam heraus, daß der Bursche nicht aus Lees Armee desertiert war, sondern zu den Männern gehörte, die Malou nach seinem Weggang aus Virginia City engagiert hatte. Malou schickte Brendan und ihn nach Washoe. Rollins, der die Graujacke trug und sich deshalb als Deserteur ausgab, verschaffte sich in der Four Aces einen Job. Denn er hatte den Auftrag, McFarlan zu töten. »Wie bist du darauf gekommen, die Sicherung der Winde anzusägen, Rollins?« Der Mann wand sich unter Schmerzen. »Als ich in Peru war, in den Kupferminen von Ica, da hat's mal einer gemacht, um den Vormann umzulegen, aus Rache.« »Was hat dir Malou dafür gezahlt?« »Brendan hat mir 'n Hunderter extra gegeben, in Malous Auftrag.« »Und wo steckt Brendan jetzt?« Rollins hatte sich offenbar mit seinem Schicksal abgefunden. »Wenn ich draufgehe«, murmelte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, »soll der scheeläugige Hund auch verrecken.« »Er sagt«, berichtete Apatschen-Charlie, »daß sich Brendan in den Horse Ranges versteckt hält. Es gibt dort in der Two Women Gorge eine verlassene Bonanza mit einer alten Hütte. Rollins ritt gestern nacht hinaus, aber Brendan schickte ihn zurück, weil er sichergehen wollte, daß es mit dir auch geklappt hätte, Tom.« McFarlan nahm die Winchester von der Wand. »Gut, ich werde das erledigen.« »Laß mich mitreiten, Tom«, bat der Apatsche. »Das ist meine Sache, Charlie.« Ein Blitzen sprang in seine Augen. »Sam war auch mein Kumpel, Tom!« erwiderte er. »Gut, Charlie. Einverstanden. Du bleibst hier, Jorge, und läßt Rollins nicht entwischen! Wir werden ihn später dem Sheriff übergeben. An ihm mache ich mir nicht die Finger schmutzig.« Jorge rümpfte die Nase. »Leg dich hin, Freundchen«, sagte er. 195
Rollins ließ sich wimmernd zu Boden fallen. Jorge schnürte ihm die nackten Füße zusammen, nahm sein Messer aus dem Gürtel und setzte sich zu Hacket auf die Pritsche an den Platz, den McFarlan seit gestern eingenommen hatte. »Er wird nicht entwischen, Chef!« sagte Jorge. McFarlan nahm sein Gewehr und ging hinaus. Apatschen-Charlie folgte ihm. Sie stiegen auf und ritten nach Osten, den Horse Ranges entgegen. Als die Sonne über die Bergkimme stieg, brach ein fröstelnder blasser Novembertag an. Das zaghafte Licht zitterte über die Salzbüsche der Wüste hinweg. Sie ritten schweigend und kamen rasch voran. Eine verspätete Eule stob auf, stieß ein erschrecktes ›Huuuhuuu‹ aus und flatterte aufgeregt in ein Versteck. Es schien ein friedlicher Tag zu werden. Selbst zu dieser Jahreszeit war die Wüste belebt. Sie überquerten ein Flußbett. Eine Rotte Krähen wippte umher und schlug Lärm. Weit voraus ritt ein Trupp Pahute. Die Rothäute und ihre Pferde glitten wie violett getönte Schatten vor der Sonne her und verschwanden seitwärts im Hügelland. McFarlan und Apatschen-Charlie kannten den Weg zur Two Women Gorge in den Horse Ranges, die bläulich aus der Ebene ragte, der Kamm mit roten Lichtflämmchen betupft. Sie brauchten gut zwei Stunden, um das Mesa zu überqueren. Dann stieg der mit Stauden von Utah-Wacholder und Pinyon-Pinien gesäumte Weg allmählich an. Nach einer weiteren Stunde erreichten sie einen kleinen Höhenzug. »Wir werden die Schlucht umreiten und von Osten kommen«, sagte McFarlan. »Falls Brendan wachsam ist, vermutet er die Gefahr aus Westen.« Charlie nickte. Sie bogen hinter der Höhe nach Süden ab, schlugen einen Bogen und hielten nach einer Stunde in einer buschumstandenen Senke an. Sie banden ihre Pferde fest, nahmen die Gewehre und stiegen durch den Krüppelwald zu einer Anhöhe hinauf. Nach zehn Minuten lag die Two-Women-Schlucht vor ihnen. Vom Berg her hatte sich ein 196
Bachbett eingegraben, das in Windungen zur Schlucht hinuntersprang. Unten sahen sie, an den Hang geschmiegt, die alte Goldgräberhütte liegen. Dünner Rauch kräuselte empor. Im Schutz der Büsche stiegen sie abwärts. Hoch über der Schlucht kreiste ein Geier. Seine ausgefransten Flügel trieben sanft bewegt auf dem Wind. Sie erreichten, als das Bachbett umbog und steiler hinabstürzte, eine buschumsäumte Felsplatte. »Bleib hier, Charlie«, sagte McFarlan, »und halte die Augen offen. Den Rest erledige ich.« Der Apatsche nickte, hockte sich beim Gebüsch an den Rand der Felsplatte und legte das Gewehr in den Schoß. McFarlan ließ seine Winchester zurück. Neben dem Bachbett glitt er durch das wuchernde spröde Gramagras zu Tal. Nach wenigen Minuten war er unten angekommen, schlich zur Rückseite der Hütte und um die Hütte herum. Er warf einen Blick durchs Fenster. Brendan hockte am Boden, aß Bohnen mit Speck und trank aus einem Becher. Am Boden neben ihm stand eine Tequilaflasche. McFarlan ging zur Vorderseite und stieß mit dem Fuß die Tür auf. »Komm raus, Brendan!« rief er. »Es ist Zeit für dich.« Die Tequilaflasche fiel um und rollte über den Bretterboden. Eine Weile lag lastende Stille über der Schlucht. »Bist du's, McFarlan?« antwortete Brendan schließlich. Er schien seinen ersten Schreck überwunden zu haben. Plötzlich bellten zwei Schüsse. Das morsche Holz der Hüttenwand splitterte neben der Tür. McFarlan war schon vorher zur Seite getreten. »Das hat keinen Zweck, Brendan«, sagte er. »Aber ich geb' dir eine Chance. Nimm deine Waffen und gehe zwanzig Schritt geradeaus. Dann dreh dich um.« McFarlan wartete, die rechte Hand über dem Gürtel. Nach gut einer Minute trat Brendan aus der Tür. Sein Gesicht war starr geradeaus gerichtet. Er blinzelte verwundert in die Sonne. Ohne sich 197
umzudrehen, ging er von der Hütte weg zu den verrotteten Holzverschalungen, in denen das Wasser vom Bachbett abgeleitet wurde. Hier hatten früher die Diggers Gold ausgewaschen. »Jetzt dreh dich um!« Brendan machte noch einen endlos langen Schritt, als ob er damit dem Unheil entfliehen könnte, setzte dann den rechten Absatz auf und drehte sich im Zeitlupentempo um seine Achse. – McFarlan stand neben der Tür der Hütte. Brendan trug die schwarze Binde nicht. Die leere Augenhöhle sah aus wie ein winziger Krater, von wulstigen Narben eingefaßt. Die linke Gesichtshälfte zuckte nervös. »Was willst du, McFarlan?« stieß Brendan hervor. »Sam Hacket schickt mich.« Brendan schien nicht zu begreifen. Er schüttelte den buschigen Schopf. »Wieso Hacket? Was habe ich mit Hacket zu schaffen?« »Zieh, Brendan! Du bist ein Killer. Aber ich gebe dir trotzdem eine Chance.« Brendan hatte die Arme schlaff herabhängen. Seine Hände zuckten fahrig. Dann hielt er inne. Es arbeitete in seinem Gesicht. Er sah in McFarlans blaue Augen, die ihn so kühl betrachteten, als seien sie aus Gletschereis gemacht. Als Brendans rechte Hand zum Gürtel fuhr, blitzte Mündungsfeuer auf. Ein Schuß peitschte, gleich darauf ein zweiter. Brendans Hand, die den Pistolenknauf berührt hatte, machte eine Reflexbewegung. Seine Kugel fuhr dicht vor ihm in den Sand. Er stieg auf die Fußspitzen empor, hob die Schultern ein wenig und drehte sich in einer Spirale zu Boden. Er lag auf dem Rücken. Der Schatten des Geiers, der sich in großen Kreisen allmählich tiefer geschraubt hatte, glitt über Brendans zerquältes Gesicht und den weitgeöffneten Mund. Auf seiner Brust breitete sich Blut aus. Es tropfte zu Boden, zog eine schmale Spur und versickerte im Sand. McFarlan schob den Revolver in den Gurt zurück. 198
Dann stieg er den Hang hinauf. Apatschen-Charlie hatte sich erhoben. Seine Gestalt stand hochaufgerichtet gegen den Himmel. Er wartete, bis McFarlan sein Gewehr aufnahm. Sie gingen zu den Pferden und saßen auf. Hacket war begraben. Julia ritt mit McFarlan und den Männern zum Friedhof hinaus. An der Spitze einer unübersehbaren Kavalkade von Miners, die zu Sams Ehren das Pferd nahmen, bewegten sie sich dem Six Mile Canyon zu. McFarlan stand zwischen Julia und Liza am offenen Grab. »Jetzt hat auch Davidson seine späte Rache«, sagte Julia. McFarlan drehte den Hut zwischen den Händen. »Meinst du, er hat was damit zu tun?« Julia schüttelte den Kopf. »Nein, Tom. Er macht seine Geschäftspartner fertig, wenn er kann, und holt selbst aus den Toten noch Profit heraus. Aber er bringt keinen um. Nur wird es ihm nicht gerade eine schlaflose Nacht verursachen, daß Sam tot ist. Das hier war Malous Werk, von San Franzisco aus sicherer Entfernung.« »Mit Malou«, sagte McFarlan, »werde ich später abrechnen.« Den Heiligen Abend verbrachte Julia mit Susana, Olafson, Apatschen-Charlie, Jorge, den Mädchen und einigen Miners der ersten Stunde, die nichts auf der Welt ihr eigen nannten außer ihrem Pferd, falls sie eines besaßen, und ein paar herben Kindheitserinnerungen. – McFarlan war Anfang Dezember, als überraschend einige warme Tage um den Mount Davidson fielen und den Schnee zu schmelzen begannen, mit Liza nach Nebraska aufgebrochen. Er wollte ihr das Land zeigen und den Platz, an dem er sein Ranchhaus zu bauen gedachte – für spätere, bessere Tage. Julia hatte Kuchen gebacken, so wie sie es aus ihrer Kindheit wußte. Noch immer brachte Wells Fargo täglich von der kalifornischen Küste Schnittblumen. Aus buntem Papier machte sie Bänder und 199
Sterne. Sie legte Geschenke auf den Tisch, und stellte einige Flaschen Whisky dazu. Liza fehlte ihr. Ein Schatten von Wehmut glitt über ihr schönes, müdes Gesicht. Gegen Mitternacht bat sie die Männer heimzugehen und schickte die Mädchen ins Bett. Es gab nur noch zwei. Die anderen hatte sie bereits entlassen. Eine Weile saß sie bei Susana, die in der Küche das Geschirr spülte und aufräumte. »Ich habe was für dich gespart, Susana«, sagte sie. Die Mucama hob den Kopf. »Wofür gespart, Señora?« entgegnete sie. »Du sollst nach Tampico zurückkehren. Sagtest du nicht, daß es dort einen Hombre gibt, der im Hafen eine kleine Taberna kaufen könnte?« »Er hat nicht genug Geld, Señora. Und ich bin zum Heiraten zu alt geworden.« »Aber der Hombre wäre noch zu haben, wie?« Ein dürres Lächeln glitt über Susanas Gesicht. »Wer außer mir möchte ihn wohl nehmen und behalten, bitte sehr!« »Siehst du, Susana. Und für ihn ist das Geld. Es sind nur dreihundert Dollar. Reicht das für eine kleine Taberna?« »Davon können sie in Tampico drei Kneipen haben, Señora. Aber wer sorgt für Sie, wenn ich fort bin?« »Denise ist da, und Liza wird zurückkommen.« Anfang Januar setzte sie Susana in die Overland-Kutsche, die in Carson City Anschluß an die Fernverbindung nach Tucson und El Paso hatte. Die Abende waren still geworden in Julias Palast, der längst der Bank gehörte. Daß Davidson sie überhaupt noch darin wohnen ließ, hing mit seiner sentimentalen Erinnerung an ihre erste Begegnung zusammen und mit den Hoffnungen, die er seinerzeit daran knüpfte. In einer frostkalten Januarnacht klopften drei Männer an die Tür von Julias Palace. Sie saß im Salon und legte Karten. Sie erhob sich und öffnete. – Bald darauf sahen zwei Miners drei Männer in lan200
gen Umhängen die D-Street entlanggehen. Aber das war nichts Auffälliges in dieser Gegend, die Tag und Nacht nicht zur Ruhe kam. Am anderen Morgen, als Julia nicht wie üblich aufstand, betrat Denise ihr Zimmer und zog die Gardinen zurück. Julia lag quer über ihrem breiten französischen Bett. Sie war halbnackt. Ihr Kleid lag zusammengeknüllt am Boden. Julias Mund war weit geöffnet wie zu einem erstickten Schrei, ihre Augen starrten erstaunt ins Leere. Denise lief heulend auf die Straße. Der Sheriff und Dr. Schiebecker, der als Coroner fungierte, untersuchten die Leiche. Schiebecker stellte Würgemale an Julias Hals fest. Offenbar hatten die unbekannten Täter den gesamten Schmuck geraubt. Das war alles, was ihr geblieben war: eine Kollektion von Broschen, Ohrringen, Ketten und Ringen – großzügige Geschenke aus den Jahren ihres Triumphes. Der Sheriff zuckte die Schulter. »Wie gelebt, so gestorben«, bemerkte er ungerührt. »Schafft sie ins Leichenschauhaus!« Und noch einmal erregte sich Virginia City wie auf der Höhe ihres Ruhms. Die Männer konnten kaum ihre Tränen unterdrücken. Ihre Silver Queen war tot. Sie wollten es nicht fassen. Und vielleicht bereuten sie es auch ein wenig, daß sie sich in der letzten Zeit kaum um sie gekümmert hatten. Als der Sheriff und die Gerichtsbehörden nach Ansicht der Miners nichts oder fast nichts taten, um den Mörder ausfindig zu machen, fand eine Protestversammlung statt. Die Männer wählten ein Vigilance Committee. Der Sicherheitsausschuß sollte den Täter jagen und zur Strecke bringen, wenn es die Behörden schon nicht fertigbrachten oder nicht wollten. Am Begräbnistag formierte sich in der Stadt ein Zug, der nach Tausenden zählte. Die Minen und Quarzmühlen hatten für den Vormittag geschlossen. Die Saloons hängten schwarze Tücher vor die Türen und Fenster. Miles Roury ließ die beiden Kolossalgemälde im Brass Railing und der Silver Queen mit einem schwarzen Flor dekorieren. Jorge wollte gesehen haben, daß er aus Schmerz sogar eine Träne im Augenwinkel zerdrückte. 201
Als sich der Zug in Bewegung setzte, marschierten die Männer der Feuerbrigaden in ihren blauen und roten, mit Perlmuttknöpfen verzierten Uniformen vorweg. Die bunte Fahne, die Julia zum Unabhängigkeitstag gestiftet hatte, war mit einem Trauerband behängt. Der Wind zerrte an dem bestickten Tuch, ein kalter Südwest. Der Leichenwagen und die vier Zugpferde waren mit schwarzen Bändern und Rosetten dekoriert. Julia lag aufgebahrt hinter den Glasscheiben des Wagens, ihr seidiges Haar war rund um das schmale Gesicht drapiert wie eine dunkle Wolke. Das Musikkorps der Nevada-Miliz intonierte den Trauermarsch. In den Straßen, die der Zug hinaus zum Friedhof im Six Mile Canyon nahm, waren alle Fenster geschlossen. Hinter den Vorhängen lauerten die ehrbaren Damen, die so oft über Julia Bullette die Nase gerümpft hatten, der Trauerparade nach. Sie sahen ungezählte Männer weinen, die barhäuptig dem Sarg folgten in der größten Prozession, die Virginia City je gesehen hatte. Den Sarg eskortierten Olafson, Apatschen-Charlie, Jorge und einige andere Reiter aus der Schwadron, die McFarlan seinerzeit in den Pahutekrieg geführt hatte. Der einarmige ›Butcher‹ Follis führte Julias lediges Reitpferd am Zügel. Wie bei einem hochdekorierten Soldaten, hatte Follis Julias Reitstiefel mit den Schäften nach unten in die Steigbügel gesteckt. Der leere Ärmel seines linken Arms löste sich aus dem Gürtel und pendelte im Schritt hin und her. Sie begruben die Tote außerhalb der Friedhofsmauer in ungeweihter Erde. Kein Pfarrer – nicht der baptistische, noch der katholische; weder der von den Congregationalisten, Methodisten noch der der Episcopalkirche – wollte erlauben, daß die Silberkönigin im Friedhof, angesichts des Erlöserkreuzes, einen kleinen Platz fand. Das Gebet sprach Arizona-Jack, der einige Tage vor dem Mord aus einem Gefangenenlager gekommen war, nachdem der Krieg endgültig seine Pforten geschlossen hatte und der Süden widerwillig, besiegt und gedemütigt, in die Arme der Union zurückgekehrt war. 202
Der Trompeter der Miliz blies kriegerisch und wider alle Übung das Alarmsignal der Armee Boots and Saddles. ›Auf in die Stiefel und Sattel!‹ Aber es hörte sich ergreifend an in diesem Augenblick. Der Wind trug die spitzen Trompetentöne bis in die Stadt hinüber. Arizona-Jacks Gebet war schmucklos. »Sie ist eine von uns gewesen«, sagte er. »Sie hat Virginia City mit aufbauen helfen und mehr für Washoe getan als viele der Scheißer, die sich die Mäuler wegen ihr zerfranst haben. Sie ist uns ein guter Kamerad gewesen all die verfluchten Jahre über. Ich bin kein professioneller Leichenredner, und an meiner Stelle sollte eigentlich ein Priester stehen. Aber die Pfaffen haben gekniffen, Gott sei's geklagt.« Er schluckte. »Darum sage ich zu dir: Schlaf, Julia, schlaf in Frieden und Herrlichkeit! Gott der Herr wird dich in seine Arme nehmen und dir einen Kuß auf den hübschen Mund drücken, ehe ihn die Würmer annagen. Denn Gott der Herr hat dich lieb, Julia, wie wir dich liebhaben. Und wenn all die Kacker, die dich verabscheuen, längst ein Haufen Mist sind und vergessen, wirst du hell und heller erstrahlen in deinem Ruhm als Silver Queen von Washoe. Leb wohl, Mädchen.« – Apatschen-Charlie schüttelte seine lange Mähne, die im Wind flatterte. Arizona-Jack mußte an das Gebet denken, das McFarlan vor Jim Derricks Felsengrab am Pahute Pool sprach. Tom hat's besser gekonnt als ich, dachte er zerknirscht. Warum, verflucht und zugenäht, ist er ausgerechnet heute nicht da? Hat sie ihn nicht mehr geliebt, als je ein Mensch ihn wird lieben können – uns und selbst Liza eingeschlossen? Der Vereinigte Bergwerkschor von Virginia City und Gold Hill sang ein Kirchenlied, glory, glory, halleluja, praise the lord… »Amen«, sagte Arizona-Jack und stieß mit der Stiefelspitze eine gefrorene Erdscholle hinab. Sie fiel dumpf polternd auf den Sargdeckel. Die Tausende zogen in die Stadt zurück. Die Milizband spielte, fast fröhlich und leichtfüßig, die Melodie von the girl i left behind me. Als ob sie gerade einen gefallenen Kameraden zu Grabe getragen hätten… 203
Die Firma Funeral Equipments stellte am 21. Januar 1867 diese Rechnung aus: An die Nachlaßverwaltung von Julia Bullette, zu Händen von Agent T.W. Wilson. Vorgedruckt: Rosenholz-, Mahagoni- und Bleisärge. Totenhemden, Kragen und Krawatten. Sargbeschläge aus Silber und Weißblech. Handschriftlich: 1 Mahagonisarg zu 75 Dollar. 1 Platte zu 10 Dollar. 1 Bukett Metallblumen leihweise zu 3 Dollar. Dazu Leichenhemd, Leichenwagen bespannt, Träger usw. Total 147 Dollar. Die Sargbeschläge der Silver Queen waren aus Weißblech, nicht aus Silber. Die Rechnung kam aus der DStreet unbezahlt zurück. Der Beerdigungsdirektor wußte sich zu helfen. Er schickte einen Boten in die Four Aces Mine, und Olafson zahlte es aus der Grubenkasse. Da die Miners dem Sheriff drohten, ihn totzuschlagen, falls er nicht endlich etwas unternahm, um den Mord an Julia aufzuklären, fand eine eher oberflächliche Untersuchung statt. Auch die Zeitungen wollten keine Ruhe geben. Für die Boulevard-Blätter, die früher kein gutes Haar an Julia gelassen hatten, war das ein gefundenes Fressen. Der Staatsanwalt bestellte auch Mrs. Gertrude Holmes ins County Court House. Die Madame hatte, da sie inzwischen von Davidson Julias Palace gekauft hatte, um ihr blühendes Geschäft zu erweitern, mit Denise den Nachlaß gesichtet und eine Liste aufgestellt. Da der Mörder den Schmuck mitgenommen hatte, blieb so gut wie nichts. Es reichte längst nicht aus, Julias Schulden zu bezahlen. Vor allem interessierte den Staatsanwalt, wer Julia Bullette wirklich gewesen war. »Hieß sie Bullette?« fragte er. »Sie hieß Mary Minieri«, behauptete Gertrude Holmes und brachte für diese Annahme einige vage Vermutungen bei. Aber sie konnten nicht recht überzeugen. 204
Die Unsicherheit blieb. Die wahre Identität der Silver Queen wurde nie festgestellt. Diese wilden Jahrzehnte fragten auch nicht danach. Ihnen genügte es, schillernde Gestalten zu schaffen, sie zum Ruhm zu führen und an ihnen vorüberzueilen. Diese wilden Jahrzehnte machten Amerika groß… McFarlan und Liza kamen Anfang März nach Virginia City zurück. Sie gingen zu Fuß ins Six Mile Canyon hinüber. Liza hatte Blumen mitgebracht. All die Jahre war Julias Palace täglich mit frischen Schnittblumen geschmückt. Lizas Strauß war von der langen Fahrt ein wenig verblüht. Liza und McFarlan standen vor dem schmucklosen Grab mit der Holzplatte, die eine ungelenke Aufschrift trug: julia bullette, ermordet januar 1867. Wer die Silberkönigin tatsächlich gewesen sei, kam noch einmal zur Sprache, als endlich der Mörder, mehr durch Zufall, den Behörden ins Netz ging. Er wurde bei einem Einbruch gefaßt. In seiner Tasche fand sich ein Schmuckstück, das aus dem Raubgut stammte. Der Mann hieß John Millain. Er gab zu, daß er sich im Palast auskannte, da er gelegentlich zwischen Julia und ihren Geschäftspartnern Nachrichten übermittelte. Es ließ sich keine direkte Verbindung zwischen Millain und Malou herstellen. Als das Große Schwurgericht des Washoe County John Millain des Mordes an Julia Bullette für schuldig befand und zum Tod durch den Strang verurteilte, weilte Jake Malou gar nicht mehr unter den Lebenden. Er war in San Franzisco an Fischvergiftung gestorben – eine Folge eines widerwärtigen Geizes, der sich nur im Falle von Julia Bullette eine Ausnahme gestattet hatte. Den Fisch, einen stattlichen Lachs von achtzehn Pfund Gewicht, fing Malou selbst vor der Küste von San Franzisco. Er ließ jeden Tag ein Stück davon zubereiten. Und er aß auch dann noch davon, 205
als das Fleisch in der Sommerhitze längst verdorben war und stank wie eine Sickergrube. Das war der Grund, warum sich McFarlan nicht mehr um ihn zu kümmern brauchte. Um so eifriger kümmerte sich das Vereinigte Frauenkomitee von Virginia City und Gold Hill um John Millain. Die Damen starteten einen regelrechten Kreuzzug, um Julias Mörder die Freiheit zu gewinnen: entweder, weil er überhaupt unschuldig sei, so die eine Version, oder da er die Stadt von einer schlimmen Plage befreit hatte. Täglich, im Turnus, schleppten die Ladies des Komitees Wein, Braten und Delikatessen ins Gefängnis. Selten genoß ein Mörder in der Todeszelle so viel Köstlichkeiten wie John Millain. Ein letztesmal rief die längst verblichene Silberkönigin von Washoe ganz Virginia City auf die Beine. Der Galgen war im Norden der Stadt aufgestellt worden – in der großartigen Naturkulisse einer Felsenschlucht. Tausende strömten am Hinrichtungstag hinaus. Minen, Saloons und Schulen hatten geschlossen. Eine Stunde nach Mittag traf Millain, von einem Priester begleitet, in einer Kutsche auf dem Hinrichtungsplatz ein. Weitere Wagen mit dem Sheriff, dem Staatsanwalt, dem Richter und anderen Offiziellen folgten der Armsünderkarre. Millain stieg auf das Podest, bat um den Segen des Priesters, verbeugte sich artig vor dem Publikum und hielt eine schmeichelnde Rede an die ehrbaren Damen: »Ich danke für alle Liebe und Güte, die Sie, ehrenwerte Ladies, mir in den vergangenen Wochen erwiesen haben. Ich wünschte sehnlich, es vergelten zu können. Sie haben mir in diesen schlimmen Tagen der Verzweiflung und Schande die Kraft Ihrer edlen Seelen geschenkt.« Erstes Schluchzen klang zu ihm herauf. Millain nickte dankbar. »Von Ihnen, liebwerte Ladies, kamen mir Trost und Erquickung. Ich appelliere nicht an die Gerechtigkeit, die meine Beteuerungen nicht hören will. Ihnen jedoch, hochachtbare Damen von Washoe, 206
sage ich dies: Ich bin unschuldig. Man hängt einen Mann, der es nicht verdient.« Es klang eingelernt, beinahe schal. Man sah über Hunderte von Gesichtern Tränen rinnen, ausnahmslos Frauen. Sie flossen noch immer, als sich unter Millain die Falltür öffnete und sein hagerer Körper in der Schlinge baumelte. Als Millain am Galgen starb, hatten McFarlan und Liza die Stadt bereits verlassen. Olafson führte die Mine weiter, bis sie erschöpft war und absoff. Arizona-Jack ging als Vormann mit auf die Four Aces Ranch nach Nebraska. Apatschen-Charlie beschloß, das Land seiner Väter in Arizona und Mexiko aufzusuchen, wo Häuptling Cochise für die Freiheit seines Volkes kämpfte. Charlie versprach, in Nebraska einen Besuch zu machen, sobald die Unabhängigkeit der Apatschenvölker gesichert sei. Dazu kam es nie, und Charlie starb im hohen Alter, ohne daß er je die Four Aces Ranch gesehen hätte. Mit Millains Tod am Galgen war die Legende um die kreolische Schönheit Julia Bullette endgültig und unwiderruflich geworden. Der wachsende Abstand verklärte ihr Bild und hob die Silberkönigin von Nevada auf das Podest, das nur Personen der Geschichte vorbehalten bleibt. Daran war nicht zuletzt Washoe selbst schuld. Denn der Aufstieg und das Glück von Virginia City, gespeist aus der fast unerschöpflichen Erzader unterm Mount Davidson, hielt noch viele Jahrzehnte an, bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts. Eine Zeitlang, ehe die Virginia & Truckee Railroad ihren Betrieb einstellte, fuhr zwischen Virginia City und Carson City ein elegant möblierter Clubwagen mit, der den Namen julia bullette trug. Ihn benutzten vor allem die Silberkönige der späteren Jahre und Jahrzehnte, um bei einem Glas Champagner weiterzuspinnen an den schönen alten Geschichten aus der schönen alten Goldgräberzeit von Washoe. 207
Virginia City ging nicht unter, als die letzte Silbermine ihre Schächte schloß. Die Stadt am Fuße des Mount Davidson – 22 Meilen von Reno, 17 Meilen von Carson City, 38 Meilen von der Ponderosa Ranch entfernt – ist zu einem Museum geworden – eine Geisterstadt, und doch noch lebendig. Die Touristen schlendern heute durch die C-Street und die D-Street. Sie trinken an der Theke des Bucket of Blood oder der Silver Queen einen Whisky, und können sich in die wilden Tage der Julia Bullette zurückversetzt fühlen. Unter der Stadt ziehen sich die stillgelegten Erzschächte hin. Es ist gespenstisch, sie zu besichtigen und den Schweiß noch zu riechen, den Tausende von Miners hier vergossen haben. Die alten mechanischen Musikautomaten spielen noch immer. Die Slotmachines sind abgeblättert und rasseln etwas zu laut. Aber sie funktionieren noch. Mit etwas Glück spuckte einer der einarmigen Gangster, den der Tourist mit ein paar Dimes oder Quarters gefüttert hat, einen vollen Jackpot in den Pappbecher: im Nachgang des riesigen Glücksspiels, das aus der Erde von Washoe ein ungeheures Vermögen ausgrub. In zwei Saloons hängen bis auf diesen Tag die Porträts der unsterblichen Julia Bullette. Von Tom McFarlan und seiner Frau Liza hat die Geschichte nichts überliefert…
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