Freder van Holk Die Räuber vom Pfirsichblütenweg
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verla...
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Freder van Holk Die Räuber vom Pfirsichblütenweg
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 0196 29, Telex 02 161024
Printed in Germany
November 1979
Scan by Brrazo 03/2006
1. Hal Mervin ärgerte sich. »Ich möchte bloß wissen, wozu wir nach Fu-san gekommen sind?« fragte er gereizt. »Etwa, bloß, um hier herumzusitzen und Daumen zu drehen?« Er hatte Grund, sich zu ärgern. Er hatte sich vor genommen, Juan Garcia zu fangen und ihm seine Gemeinheiten auszutreiben, und nun sah es aus, als müßte er unverrichteter Dinge wieder nach Hause fliegen. Aber Hal hatte seinen Ehrgeiz. Juan Garcia hatte an Sun Koh ein niederträchtiges Verbrechen begangen. Er hatte ihn verschleppt und an einer schweren Augenkrankheit erblinden lassen. Dann hatte er versucht, das Tal der Abenteurer zu besetzen. Das war ihm mißlungen. Er war gerade noch rechtzeitig im Flugzeug geflohen, wurde aber von Dennhardt, einem Piloten Sun Kohs, verfolgt und beobachtet. Dennhardt hatte ihn bis nach Südko rea hinein auf dem Bildschirm gehabt und ihn über einem ausgedehnten Sumpfgebiet abstürzen sehen. Da er allein war, hatte er nun die Verfolgung abge brochen und war nach Mexiko zurückgekehrt, um Bericht zu erstatten. Er hatte nur Hal berichten können, denn Sun Koh befand sich bereits in ärztlicher Behandlung und strenger Klausur, und Nimba saß vor seiner Tür und 5
bewachte ihn. Hal war gleichsam der Herr im Haus, und seine Wut auf Juan Garcia sowie sein Ehrgeiz überwältigten seine Vorsicht. Er teilte der Sonnen stadt mit, daß er einen kleinen Urlaub nehmen wür de, und flog mit Dennhardt zusammen wieder los, um Juan Garcia zu jagen. Er nahm Zipp mit, einen langbeinigen, hageren Asketen, den er im Tal der Abenteuer kennengelernt hatte, da Zipp über die lebenswichtigen Landes- und Sprachkenntnisse verfügte. Und jetzt saßen sie seit Tagen in einem Hotelzim mer in Fu-san und kamen nicht weiter. »Also, jedenfalls sind wir geplatzt«, stellte Hal nach einer Weile ruhig fest. »Sie sind sicher, Mister Dennhardt, daß er eine Notlandung machen mußte und daß die Maschine im Sumpf versank. Schön. Andererseits steht jetzt aber auch ziemlich fest, daß er nicht nach Fu-san gekommen ist.« Dennhardt hob die Schultern. »Tut mir leid, aber es sieht so aus. Verstehen kann ich es nicht. Er könnte sich natürlich nach Norden gewandt haben, aber was will er dort? An der De markationslinie geht für ihn die Welt zu Ende. Ich glaube nicht, daß ihm der Norden liegt.« »Vielleicht liegen ihm die Sümpfe?« erwog Zipp. »Klar!« höhnte Hal. »Sein Arzt wird ihm Moorbä der verordnet haben.« »Es ist eine Frage der Logik«, dachte Zipp uner 6
schüttert weiter nach. »Warum stürzt er ausgerechnet in diesen Sümpfen ab?« »Na, da fragen Sie doch mal Ihre Logik, Sie Schlaukopf.« »Ich bin schon dabei«, erwiderte Zipp würdig. »Garcia konnte jede beliebige Richtung einschlagen und jedes beliebige Land aufsuchen. Warum tat er es nicht? Nun, er wußte vermutlich, daß er verfolgt wurde. Und nach allem was er angestellt hatte, rech nete er damit, daß seine Verfolger nicht gerade nach sichtig sein würden. Er mußte also einen Platz errei chen, an dem er sich wirklich sicher fühlen konnte. Die Sümpfe!« Hal verdrehte die Augen. »Großartige Logik! Bei uns gewöhnlichen Leuten nennt man das Quatsch. Glauben Sie wirklich, daß Juan Garcia in einen Sumpf springt, um eines Tages als Braunkohle wieder zum Vorschein zu kommen? Das liegt ihm nicht. Im Mindestfall hätte er eine rich tige Landung gebaut, um das Flugzeug zu behalten.« »Vielleicht als Wegweiser für seine Verfolger?« Zipp lächelte freundlich. »Unter den gegebenen Um ständen konnte er sich der Verfolgung nur entziehen, wenn er den Eindruck erweckte, mitsamt dem Flug zeug im Sumpf untergegangen zu sein.« »Hm«, machte Hal. »Der Gedanke ist nicht schlecht. Solche Tricks sind seine Spezialität. Aber warum taucht er dann nicht in Fu-san auf?« 7
»Vielleicht hat er in den Sümpfen Freunde gefun den.« »Na, na.« »Insofern hat er recht.« Dennhardt mischte sich ein. »Ich habe auch schon davon gehört. In Südkorea leben immer noch Hunderttausende von Menschen ohne Heimat, ohne Dach über dem Kopf und ohne Nahrung für den nächsten Tag, in Elendsquartieren aus dem Krieg. Besonders im Norden des Landes herrscht Elend, das selbst durch die großzügigsten Hilfsaktionen nicht beseitigt werden kann. Und das Elend macht nicht einmal vor den Sümpfen halt. Hauptsächlich sollen sich dort allerdings Banditen angesammelt haben, die von den sicheren Sümpfen aus das Land ausplündern.« »Banditen?« überlegte Hal laut. »Hm, das wäre auch etwas für Juan Garcia. Nur – man müßte eben etwas Genaues wissen. Es gibt ja Leute, die reden große Töne, als ob sie das Land wie ihre Westenta sche kennen, aber wenn es darauf ankommt…« Er brach bedeutungsvoll ab, aber Zipp ließ sich nicht beunruhigen. »Das Schicksal hat einen langen Atem«, murmelte er. Er saß am Abend in der Hotelhalle. Dennhardt war zum Flugplatz hinausgefahren, und Zipp hatte sich zurückgezogen, ohne irgendwelche Erklärungen ab zugeben. 8
Das Hotel war ein modernes internationales Haus, das ebenso irgendwo in Amerika hätte stehen kön nen, zumal es mit amerikanischen Geldern erbaut worden war. Es sah von außen wie ein riesiges Aqua rium aus, besaß Klimaanlage, Bar, Appartements, Dachgarten, Lifts und alles, was dazugehörte. Die große Hotelhalle war um diese Zeit ziemlich belebt. Überwiegend waren es amerikanische Famili en, die englische Sprache herrschte vor. Es fiel nicht leicht, sich vorzustellen, daß wenige hundert Meter entfernt armselige Menschen in schiefen Hütten hau sten, die aus Kistenbrettern und dünnen Blechen zu sammengeschlagen worden waren. Hal Mervin beobachtete den gedämpften Trubel um sich herum ohne besonderes Interesse und über legte nebenbei, was er anstellen könnte, um an Juan Garcia heranzukommen. Er interessierte sich nicht einmal für Jane Flower, obgleich er sie direkt auf sich zukommen sah. Er saß an einem kleinen Tisch, neben dem noch ein zweiter Sessel stand. Dieser Sessel war frei. Jane Flower blieb unmittelbar vor Hal stehen. Sie war eine knochige, männlich wirkende Frau um die Fünfzig, trug graues kurzgeschnittenes Haar, einen schwach angedeuteten Oberlippenbart, einen Leber fleck unter dem linken Auge sowie kräftige Pferde zähne, dazu ein Kostüm aus grauer Seide, das wie die weibliche Ausgabe eines Smokings wirkte, eine 9
umfangreiche Handtasche und einen Skizzenblock. Ihre Stimme klang nach Whisky und Zigaretten, war rauh und heiser, wenn auch nicht grob. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, den Platz zu wechseln, junger Mann«, sagte sie barsch, worauf Hal interessiert aufblickte und einen Seufzer der Er leichterung ausstieß. Nichts fehlte ihm mehr als je mand, auf den er seinen Mißmut abladen konnte. »Nicht das geringste, junge Frau«, erwiderte er nachlässig. Jane Flower hob ihre grauen Brauen und sah sich den Jüngling im Sessel näher an. »Nun?« drängte sie nach einer Pause. »Bitte?« fragte Hal harmlos. »Sie wollten den Platz wechseln.« »Oh, von Wollen war keine Rede«, murmelte Hal. »Wir waren uns einig, daß ich nichts dagegen hätte. Vielleicht setzen Sie sich inzwischen nebenan. Ich habe gelernt, daß man aufstehen muß, wenn eine Dame an den Tisch tritt, und ich möchte auf keinen Fall unhöflich erscheinen.« Jane Flower musterte ihn noch aufmerksamer. »Interessant!« zensierte sie nachdenklich. »Scha de, daß ich so wenig Umgang mit Kindern habe. Ei ne Kinderfrau würde mir bestimmt verraten können, was Ihr merkwürdiges Verhalten bedeutet.« Hal lief rot an, wahrte aber seine Würde. »Das kann ich Ihnen auch erklären, meine Dame. 10
Es bedeutet nur, daß jemand unhöflich zu mir war. Die Großmütter halten auch die Erwachsenen noch für Kinder, aber wenn sich unsereins von seinen Kin derjahren aus sieht, kommt man sich doch so vor, als ob man Anspruch auf die übliche Höflichkeit hätte.« »Oh!« sagte Jane Flower überrascht und lachte dann. »Nun gut, aber die Großmutter war auch nicht besonders höflich. Würden Sie mir bitte diesen Ses sel überlassen? Ich bin nämlich Malerin und skizzie re gern, während ich hier herumsitze, und dieser Ses sel ist so ziemlich der einzige, der günstiges Licht hat.« Hal erhob sich und verbeugte sich. »Bitte.« Er wechselte den Platz, und Jane Flower ließ sich in den angewärmten Sessel nieder. Ein Kellner stellte ihr ohne Aufforderung ein Getränk hin. Sie schnürte ihren Skizzenblock auf und fischte sich einen Kohle stift aus ihrer Tasche heraus. Darüber vergingen ei nige Minuten. Dann nahm sie einen Schluck aus ih rem Glas und blickte zu Hal hinüber. Ihre Stimme klang geradezu sanft. »Ich nehme an, daß wir uns jetzt wieder vertragen. Ich bin Miß Flower.« »Hal Mervin«, sagte Hal höflich. »Sind Sie mit Ihren Eltern hier?« »Nein«, erwiderte Hal weniger höflich. »Sie wer den es nicht fassen, weil ich kein Pappschild mit 11
Namen und Reiseziel am Hals hängen habe, aber ich bin alt genug, um allein reisen zu können.« »Oh, das wollte ich nicht bezweifeln«, beschwich tigte sie belustigt. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie skizziere, während wir uns unterhalten?« Hal schielte mißtrauisch zu ihr hin. »Hm, das kommt darauf an, was Sie dann darun terschreiben. Urwaldaffe aus Borneo, nicht? Oder Kirschbaum im Frühling. Oder malen Sie etwa zufäl lig so, daß man sich darauf erkennt?« »Das Erkennen wäre möglich.« Sie lächelte. »Ich bin ein bißchen altmodisch und skizziere die Men schen immer so, wie sie aussehen.« »Aha, aber Sie sollten lieber einen von diesen Ko reanern oder Japanern oder Chinesen zeichnen. Das ist rationeller.« »Wieso rationeller?« fragte sie, während sie ihren Kohlestift über das Papier gleiten ließ. »Nun, die sehen sich alle ähnlich. Wenn Sie einen Koreaner malen, haben Sie gleich das Porträt von einer ganzen Million. Und eine Million Käufer ist rationeller als ein einziger.« Sie zwinkerte ihm über den Block hinweg zu. »Sie scherzen! Für mich sehen Chinesen so ver schieden aus wie für Sie Amerikaner. Jeder einzelne hat seine persönliche Note. Sie sehen es bloß nicht.« »Hm, kann auch sein«, gab Hal zu. »Wahrschein lich liegt es an meinen schwachen Augen, aber vor 12
läufig fällt es mir noch schwer, diese Leute vonein ander zu unterscheiden. Wie machen Sie das?« »Ansehen und skizzieren. Sobald Sie jemand zeichnen, merken Sie, wie verschieden sie sind.« »Bei mir nicht. Wenn ich ein Dutzend Gesichter zeichne, sehen sie alle durch die Bank wie schlecht gebackene Brötchen aus.« Sie lachte. »Pech, nicht?« »Man muß eben mit seinen Talenten haushalten. Können Sie wirklich malen, oder tun Sie nur so?« »Banause!« knurrte sie. »Kunst ist nicht gerade Ih re starke Seite, sonst würden Sie meinen Namen kennen. Hier, stecken Sie es sich hinter den Spiegel.« Sie riß das Blatt ab und reichte es über den Tisch. Die Zeichnung bestand nur aus wenigen Strichen, aber Hal erkannte sich mühelos. »Alle Achtung!« sagte er erstaunt. »Ich nehme al les zurück, was ich gedacht habe. Darf ich das behal ten?« »Von mir aus.« »Und Ihre Unterschrift?« Sie lachte ihm ins Gesicht. »Sie Schlauberger! Mit Signum ist das Blatt fünf hundert Dollar wert. Wollen Sie etwa an mir reich werden?« Hal gab ihr das Blatt hinüber. »Ihr Signum bitte. Ich kaufe für fünfhundert Dol lar.« Sie zog überrascht die Brauen hoch, signierte 13
und fuhr ihn grob an: »Lassen Sie gefälligst Ihr Geld stecken, mein Freund. Ich finde es ungehörig, daß Sie in Ihrem Alter so bedenkenlos fünfhundert Dollar ausgeben dürfen. Und ich werde mir nicht nachsagen lassen, daß ich neuerdings Jugendliche ausplündere.« »Hm, dann also herzlichen Dank, Miß Flower. Darf ich Sie wenigstens zum Abendessen einladen?« »Sie dürfen überhaupt nichts«, grollte sie. »Aber Sie können mir erzählen, was Sie hier treiben. Wol len Sie auch nach Soeul?« »Nein. Was soll ich in Soeul? Das ist doch das Ende der Welt.« »Das auch, aber ich habe mir erzählen lassen, daß am Ende der Welt die Hölle liegt. Und für mich wird es dort allerhand zu sehen geben. Also, was haben Sie in Fu-san zu suchen?« Hal zögerte. »Hm, einen Mann, der eigentlich in Ihre Hölle paßt. Er sieht tatsächlich wie ein Mittelding zwischen einem spanischen Grande und einem Teufel aus, ge malt von Greco.« »Was wissen Sie schon von Greco? So ungefähr wie dieser?« Sie nahm ein Blatt aus ihrem Block und hielt es Hal hin. Juan Garcia! Nur wenige Striche, aber Juan Gar cia, wie er leibt und lebt! »Da bin ich platt«, gestand Hal atemlos. »Das ist 14
er. Wo haben Sie ihn gesehen?« »Hier«, sagte sie. »Gestern abend hier in der Hal le. Er saß dort drüben und tuschelte mit einem Ein heimischen.« »Er wohnt hier im Hotel?« »Das glaube ich nicht. Er ging fort, und ich habe ihn nicht wieder bemerkt. Wer ist er?« »Ein gewisser Garcia, ein ganz großer Verbrecher. Sie wissen nicht zufällig irgend etwas über diesen Mann?« »Nichts. Aber vielleicht kann Ihnen der Koreaner dort drüben etwas sagen. Der dritte Tisch von links.« Hal drehte möglichst unauffällig den Kopf. Der Mann war allein. Er war ganz in Weiß gekleidet. Sein rundes gelbliches Gesicht war fast ausdruckslos. Er war ein Gast wie viele andere. Hal überdachte die Situation in aller Eile. Wenn dieser Mann in Verbindung mit Juan Garcia stand, würde ihn jede Frage aufmerksam machen. Anderer seits stand jetzt alles dafür, daß Juan Garcia bereits über die Verfolgung unterrichtet war. Vor allem bot der Koreaner vermutlich die einzige Chance, etwas über Garcias Aufenthalt zu erfahren. »Würden Sie mir die Skizze für einige Minuten überlassen?« »Von mir aus. Aber stellen Sie lieber nichts an. Ich habe mir sagen lassen, daß diese Koreaner ziem lich heimtückisch werden können, wenn man sie 15
reizt. Soll ich lieber mitkommen?« »Nein«, sagte Hal grinsend. »Sie haben ohnehin keine Schürze, an der ich mich festhalten kann.« Damit stand er auf und schlenderte mit der einge rollten Skizze in der Hand durch die Halle. »Darf ich?« fragte er höflich, als er den freien Ses sel neben dem Koreaner erreicht hatte. Er setzte sich, nachdem der Koreaner aus dem Sitz heraus eine Verbeugung angedeutet hatte. Ein wenig später hielt ihm Hal die Skizze vor das Gesicht. »Sie kennen diesen Herrn?« Der Koreaner blickte auf die Skizze, drehte dann langsam den Kopf und richtete seine schwarzen Au gen auf Hals Gesicht. Dazu nahm er sich so viel Zeit, daß Hal das Blatt wieder einrollen konnte. »Ich sah ihn gestern abend«, sagte er sanft wie ei ne Katze, die sich an ein Mauseloch herantastet. »Er saß dort, wo Sie jetzt sitzen.« Er sprach ein gepflegtes Englisch, um das ihn Hal nur beneiden konnte. Es gab zugleich eine vorzügli che Tarnung ab. »Und?« drängte Hal. Der Koreaner deutete wieder eine Verneigung an. »Sie erlauben, daß ich mich vorstelle. Ich heiße Shu micho und besitze hier in Fu-san ein Exportge schäft.« »Hal Mervin. Ich befinde mich auf der Durchreise und möchte diesen Herrn sprechen. Er ist ein Be 16
kannter von Ihnen?« »Oh, keineswegs«, sagte der Koreaner höflich. »Er setzte sich an diesen Tisch, und wir hatten eine Un terhaltung, wie sie unter Fremden üblich ist. Ich er fuhr nicht einmal seinen Namen.« Hal glaubte ihm kein Wort. Miß Flower hatte die beiden miteinander tuscheln sehen, und eine Malerin war gewiß die letzte, die unter den gegebenen Um ständen eine vertrauliche Tuschelei mit einem ober flächlichen Gespräch verwechseln konnte. Es hatte aber wohl kaum viel Sinn, dem Mann die Pistole auf die Brust zu setzen. »Schade!« seufzte Hal. »Zehntausend Dollar sind eine ganze Menge Geld.« Shu micho ließ das in sich einsinken, dann nickte er zustimmend. »Oh, gewiß, zehntausend Dollar sind viel Geld.« »Und das bloß für eine Adresse«, seufzte Hal. »Zehntausend Dollar für den, der mir sagen kann, wo ich den Mann finde.« Der Koreaner entschloß sich zu einem Lächeln. »Ich bin Kaufmann, mein Herr. In unserem Stand ist es nicht Sitte, in großen Zahlen zu sprechen, sofern man sie nicht durch Bankausweise belegen kann.« Hal zog ein Bündel Reiseschecks aus seiner Ta sche und blätterte sie langsam auf, ohne sie aus der Hand zu geben. Er verließ sich auf die scharfen Au gen seines Partners. 17
»Wozu erst den Aufwand?« murmelte er gleich gültig. »Schecks genügen auch schon. Falls Sie zu fällig wissen sollten, wo ich den Herrn finde…« »Ich könnte das vielleicht erfahren«, murmelte Shu micho. »Es gibt da gewisse Möglichkeiten…« »Sie wissen es nicht?« »Noch nicht.« »Ich könnte morgen abend wieder hier sein und zehntausend Dollar in bar bei mir haben.« »Das wäre zu empfehlen, wenn ich auch noch nicht sicher bin, Ihnen die Adresse beschaffen zu können.« »Also gut, ich werde mich entsprechend einrich ten. Was haben Sie mit ihm zu tun?« »Oh, nichts.« »Na schön«, sagte Hal und stand auf. »Ihre Ange legenheit. Bis morgen.« Shu micho lächelte weiter, und Hal ging zu der Malerin zurück. Sie erwartete ihn voll Neugier. »Nun?« »Er kennt ihn nicht, aber er will mir bis morgen abend die Adresse beschaffen.« Sie schüttelte den Kopf. »Erstaunlich! Sie müssen ein besonderes Talent besitzen, mit diesen Leuten fertig zu werden. Mir ist es noch nie gelungen.« »Sie sollten es auch einmal mit zehntausend Dol lar versuchen«, meinte Hal. »Aha, mein Freund Shu 18
micho hat es eilig. Er zieht schon los.« Der Koreaner verließ eben die Halle. Eine Weile später bemerkte Jane Flower Bekannte und setzte sich zu ihnen. Es war eine Familie Caroll, mit der sie zusammen nach Soeul reisen wollte. Kaum hatte sie ihren Platz verlassen, ließ sich ein Mann darauf nieder, nachdem er flüchtig einen Gruß gemurmelt hatte. Er befand sich in den mittleren Jah ren und sah so sehr nach einem treusorgenden ameri kanischen Familienvater aus, daß man unwillkürlich eine Kinderschar um ihn herum vermißte. Der Kell ner setzte ihm einen Whisky-Soda mit Eisstücken vor. Nachdem er sich eine Weile umgesehen und zwischendurch einige Male behaglich geschnauft hatte, wandte er sich an Hal. »Allerhand Leute hier, nicht?« »Allerhand«, bestätigte Hal. »Komisches Nest, dieses Fu-san, nicht?« »Komisches Nest«, bestätigte Hal. Der Mann trank einen Schluck aus seinem Glas, dann sinnierte er weiter: »Interessant, aber eigentlich nichts für einen Fremden, nicht? Zuviel Hintergrün de, falls Sie verstehen, was ich meine. Zuviel dunkle Elemente in solchen Städten. Nehmen Sie diesen Shu micho, mit dem Sie sich vorhin unterhielten. Ein Freund von Ihnen?« »Bis jetzt nicht.« »Sondern?« 19
»Neugierig?« fragte Hal trocken. »Hm, man interessiert sich, nicht? Ich sah zufällig, daß Sie ihm Reiseschecks zeigten. Und Shu micho ist nicht der Mann, mit dem man Geschäfte machen sollte.« »Warum nicht?« Der andere zuckte mit den Schultern. »Nun, ich wollte Ihnen nur einen Tip geben. In Fu-san läuft mancher mit einem harmlosen Gesicht herum, der in Wirklichkeit gar nicht so harmlos ist.« »Habe ich mir schon gedacht«, entgegnete Hal. Der Mann warf ihm einen wenig vertrauenerwek kenden Blick zu und brummte: »Ich bin zwar nur ein einfacher Vertreter für Landmaschinen. Aber man hört so allerhand. Spionage, Waffenschmuggel, Poli tik – in Fu-san gibt es mehr als genug davon. Als Fremder muß man da verdammt vorsichtig sein, sonst gerät man in eine Mühle hinein, in der man zerquetscht wird.« »Aha, ich verstehe. Sie wollen mich gewisserma ßen warnen.« »Nicht bloß gewissermaßen. Was war eigentlich auf dem Blatt, das Sie Shu micho zeigten?« »Oh, nur eine Skizze«, erwiderte Hal. »Die Stand orte der Minuteman-Raketen in Südkorea.« Der andere reagierte, als ob ihn jemand empfind lich gestoßen hätte. Er schnappte nach Luft. »Die Lage der…« 20
Er brach ab. Offenbar war ihm aufgefallen, daß er zu grob reagiert hatte. Er preßte seine Lippen aufein ander. Hal grinste freundlich. »Verdammt!« sagte sein Partner. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen.« »Wieso?« Der andere verzichtete auf eine Antwort. Erst nach einer ganzen Weile meinte er mürrisch: »Jedenfalls sind Sie gewarnt. Hier ist nicht alles so harmlos, wie es scheint, und dieser Shu micho hat es besonders dick hinter den Ohren. Wir haben mehr zu tun, als auf kindliche Gemüter aufzupassen. Sie sind zu jung, um hier mitzuspielen.« »Wahrscheinlich sind Sie vom hiesigen Fremden verkehrsverein«, erwiderte Hal kühl. »Wie wäre es mit einer Liste der Personen, mit denen sich ein Be sucher hier unterhalten darf, ohne daß irgend jemand vom amerikanischen Geheimdienst nervös wird?« »Verdammt!« fluchte der Mann abermals und ging davon. Eine Viertelstunde später hatte Hal das Herumsit zen satt und nahm den Lift, um in sein Zimmer zu kommen. Er hatte es fast erreicht, als dicht vor ihm eine Tür aufgestoßen wurde. Jane Flower, die Male rin, stürzte heraus. Sie sah erschreckt und verwirrt aus. Sie prallte vor ihm zurück. 21
»Sie?« »Hoppla!« sagte Hal. »Habe ich Sie erschreckt?« »Sie?« wiederholte sie. »Ich – mein Gott, nein, aber es ist etwas Furchtbares passiert. Er liegt in meinem Zimmer.« »Wer?« »Dieser Koreaner.« »Allerhand! Vorhin war er doch noch ganz nüch tern. Moment, den werde ich gleich auf die Beine bringen.« Sie hielt ihn fest. »Nicht! Sie verstehen nicht. Er ist tot. Erstochen!« »Ach!« Hal blickte nach vorn und nach hinten. Der Gang war leer. Die Türen blieben geschlossen. Er faßte die Malerin beim Arm und drückte sie in den Vorraum hinein. Jetzt hielt sie ihn am Arm fest. »Gehen Sie nicht hinein. Das ist nichts für einen jungen Mann.« »Machen Sie sich keine Sorgen um mein seeli sches Befinden«, sagte er scharf und machte sich frei. »Schließlich geht mich das eine Menge an.« Er ging durch den schmalen Vorraum, den links das Bad und rechts eine Schrankwand begrenzte, und stieß die innere Tür auf. Shu micho lag mit dem Ge sicht nach unten auf dem Teppich. Auf dem Rücken seiner weißen, verschobenen Jacke war ein Blutfleck zu sehen. Der Stoff wies einen kleinen Riß auf. 22
Hal kniete neben dem Toten nieder. »Tot, nicht wahr?« fragte Jane Flower, als er wie der aufstand. »Ich verstehe das nicht. Was wollte er hier in meinem Zimmer? Und wer hat ihn erstochen? Warum?« »Leicht zu verstehen«, sagte Hal nachdenklich. »Ich zeigte ihm Ihre Skizze. Er interessierte sich da für, was Sie mit der Angelegenheit zu tun hatten, und sah sich folgerichtig bei Ihnen um. Irgendwer muß ihn dabei beobachtet haben, irgendwer, der ihn diese zehntausend Dollar nicht verdienen lassen wollte – oder vielleicht irgendwer, der nicht will, daß Juan Garcia aufgespürt wird. Schnelle Arbeit!« Sie musterte ihn argwöhnisch. »Sie scheinen mehr zu wissen als ich.« »Kann sein.« »Wir müssen die Polizei benachrichtigen.« »Sicher.« »Mein Gott, welches Unglück!« seufzte sie. »Ich wollte doch nach Soeul! Jetzt werden sie mich hier festhalten, bis diese Angelegenheit geklärt ist. Und möglicherweise versuchen sie auch noch, diesen Mord mir in die Schuhe zu schieben.« Hal überlegte. Wenn die Polizei diese Frau ins Verhör nahm, würde sie erfahren, welche Rolle er gespielt hatte und sich auch an ihn halten. Das konn te mehr Verzögerung und öffentliches Interesse be deuten, als ihm lieb war. 23
Der Teppich, auf dem der Tote lag, war nicht groß. Wenn man ihn einfach hineinwickelte… »Ich könnte den Toten in ein anderes Zimmer bringen, Miß Flower. Dann hat ein anderer den Är ger, und die Polizei kann sich den Kopf zerbrechen.« »Aber das geht doch nicht«, sagte sie unsicher. »Das ist doch nicht korrekt!« »Korrekt nicht, aber praktisch.« »Aber die anderen Zimmer sind doch alle abge schlossen.« »So viele verschiedene Schlüssel haben sie in die sen Hotels selten. Einer von unseren Schlüsseln wird schon irgendwo passen. Ich kann es ja auf jeden Fall einmal ausprobieren.« »Aber – aber…« Hal ließ sie einfach stehen und ging los. Der Gang war nach wie vor leer. Die Stunde war besonders günstig. Die Gäste saßen in der Halle oder beim Abendessen oder an der Bar. Für das Personal war wohl auch gerade Essenszeit. Er probierte kaltblütig die beiden Schlüssel aus. Die entsprechende Tür lag gleich schräg gegenüber. Der Schlüssel klemmte reichlich, aber er schloß. Der Rest bestand aus fünf Minuten Angst. Hal ging hinein und holte den Teppich heraus, der sich nicht von dem Teppich im Zimmer der Malerin unterschied. Die Räume waren alle zum Verwechseln ähnlich eingerichtet. Mit dem Teppich stahl er sich hinüber. 24
Jane Flower hatte sich noch immer nicht beruhigt, beobachtete aber interessiert, wie Hal den Toten in ihren Teppich einrollte und forttrug. Wenige Minuten später rollte Hal den sauberen Teppich im Zimmer der Malerin aus. »Geschafft!« sagte er befriedigt. »Shu micho liegt dort drüben hinter der abgeschlossenen Tür. Ich weiß nicht, wer in dem Zimmer wohnt, aber der Betref fende wird sich wundern. Jetzt kommt es nur darauf an, daß Sie keine Ahnung haben. Denken Sie, daß Sie das schaffen werden?« »Ich werde drei Schlaftabletten nehmen und mich schlafen legen«, seufzte Jane Flower. »Das nimmt mir gewöhnlich jede Ahnung. Aber sie sind ein un glaublicher junger Mensch. Ich hätte das nie fertig gebracht. Einfach in ein anderes Zimmer zu gehen! Mein Gott, wenn die Polizei dahinterkommt – wenn ich nicht irre, gibt es da gewisse Bestimmungen…« »Gesetze«, berichtigte er. »Und die Todesstrafe. In solchen Gegenden sind sie ein bißchen rückständig. Und sie würden die Leute nicht davon überzeugen können, daß Shu micho nicht Ihr Liebhaber war, den Sie mit in Ihr Zimmer genommen haben…« »Hören Sie auf!« unterbrach sie ihn. »Das ist eine Unverschämtheit! Sehe ich so aus, als ob ich…« »Das ist der richtige Tonfall«, sagte Hal grinsend. »Damit gehen Sie nur mal richtig los, wenn die Poli zei hier herumschnüffelt. Gekränkte Unschuld und 25
so. Und vergessen Sie, Ihre Zähne einzusetzen. Das macht immer einen guten Eindruck.« »Ich hätte Lust, Ihnen eine herunterzuhauen«, sag te sie wütend. »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« »Angenehme Nachtruhe«, wünschte Hal höflich und entfernte sich. Hal befand sich erst wenige Minuten in seinem Zimmer, das nur einige Türen entfernt lag, als Denn hardt zurückkam und sich nach ihm umsah. Er be richtete, daß das Flugzeug ordnungsgemäß überholt worden war und startbereit stand. Abermals einige Minuten später erschien der lange Zipp. »Die Welt ist voller Freuden«, meditierte er, nach dem die fragenden Blicke der beiden anderen aufge fangen hatte. »Ein gewisser Yang tschi lebt in der Stadt. Ein sehr ehrenwerter Herr aus China, der dort einst als Mandarin lebte. Er ist der Freund seiner Freunde, und seine Ohren hören tausend Stimmen.« »Muß ziemlich anstrengend sein. Hoffentlich hat er auch die Stimme Garcias gehört?« »Er hat, vorwitziger Knabe«, erwiderte Zipp etwas weniger würdig. »Ein gewisser Tu Hsing ist in den Sümpfen aufgetaucht und hat sich mit einem gewis sen Yang Hsiung angefreundet. Dieser Yang Hsiung ist der Anführer einer Räuberbande, die am Pfirsich blütenberg haust. Und der gewisse Tu Hsing ist ein 26
bleicher Teufel, dessen Beschreibung auf einen ge wissen Juan Garcia paßt.« »Na, na?« stichelte Hal. »Hoffentlich hat Ihnen Ihr gewisser Yang tschi mit diesem gewissen Tu Hsing an einem gewissen Örtchen – Mann, ausgerechnet Pfirsichblüten! – nicht ein gewisses Märchen aufge bunden. Zufällig ist nämlich dieser gewisse Juan Garcia gestern abend hier in Fu-san gesehen wor den.« »Wem sagst du das, Söhnchen?« wehrte Zipp ab. »Dieser gewisse Yang Hsiung ist nur ein einfacher Hauptmann, besitzt aber auch seinen Ehrgeiz. Er braucht moderne Waffen. Der gewisse Tu Hsing be sitzt insofern Talente. Es ist bekannt, daß er gestern mit einem gewissen Shu micho über die Lieferung gewisser Waffen von der Maschinenpistole an auf wärts verhandelte. Er ist jedoch schon wieder in die Sümpfe zurückgekehrt, denn Shu micho wird von den Amerikanern beobachtet, und es ist nicht gut, geschäftliche Verbindungen dieser Art deutlich wer den zu lassen. Mit schlichten Worten, mein jugendli cher Freund: Wir werden Garcia aus den Sümpfen herausholen müssen.« »Wieso? Wenn er früher oder später wieder nach Fu-san kommt…« »Später. Waffen kosten Geld. Der gewisse Yang Hsiung wird erst noch einige glückliche Streiche verüben müssen, bevor er Waffen kaufen kann. Mein 27
ehrenwerter Freund Yang tschi rechnet mit Monaten. Ich habe mich belehren lassen, daß wir mit dem Flugzeug mitten im feindlichen Lager landen müß ten. Der gewisse Yang tschi empfiehlt eine Bahn fahrt. Die Bahn nach Soeul führt stellenweise dicht an den Sümpfen entlang, und wenn man in Ping-fu aussteigt, kann man einen Pfad benutzen, der an den Pfirsichblütenberg heranführt. Es ist jedoch ange bracht, einen Führer mitzunehmen, wenn man nicht in den Sumpf geraten will.« »Hm, einen Führer? Haben sie den Fremdenver kehr hier wirklich schon so weit entwickelt? Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Räuberbande…« »Jugendliche Vorstellungen sind immer be schränkt«, unterbrach Zipp sanft. »Es handelt sich um einen gewissen Carlin, der hier in Fu-san wohnt Er spielt den verkommenen Amerikaner, gehört aber vermutlich dem amerikanischen Geheimdienst an. Er kennt die Sümpfe und ist mit einigen Leuten, die dort leben, befreundet.« »Und Sie meinen, daß er uns führen würde?« Zipp hob die Schultern. »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Yang tschi hält es für möglich, daß es der richtige Zeitpunkt für ei nen gewissen Carlin wäre, in die Sümpfe zu gehen und einiges für die hiesige Politik zu tun. Vielleicht gefällt es ihm, sein Gesicht dadurch zu wahren, daß er unsere Führung übernimmt?« 28
»Ziemlich undurchsichtige Geschichte«, murrte Hal. »Immerhin – wir können es natürlich nicht ver suchen. Aber wenn…« »Was ist denn da draußen los?« unterbrach der Pi lot und ging zur Außentür. Sie horchten. Auf dem Gang herrschte ungewöhnliche Unruhe. Menschen liefen hin und her. Stimmen schwirrten durcheinander. Hal Mervin trat mit Zipp und Dennhardt zusam men auf den Gang hinaus. Tatsächlich herrschte dort einiger Trubel. Das Hotelpersonal drückte sich her um, einige Gäste erschienen, zwei einheimische Po lizisten versuchten teils barsch, teils höflich mit den Neugierigen fertig zu werden, der Hotelmanager lief nervös auf und ab. Ein Stück weiter lehnte der treusorgende amerika nische Familienvater an der Wand und rauchte eine Zigarette. Er sah reichlich verdrossen aus. Hal schob sich an ihn heran. »Was ist denn los?« »Verfluchte Schweinerei!« knurrte der Mann ge reizt. »Das Zimmermädchen hat mein Bett richten wollen und dabei einen Toten in meinem Zimmer gefunden. Mehr weiß ich selbst noch nicht. Die Poli zei ist drin, und sie lassen mich nicht hinein.« Hal schluckte. So genau hatte er es wirklich nicht treffen wollen. Ausgerechnet einer vom Geheimdienst! 29
»Peinlich«, murmelte er voll Mitgefühl. »Wer ist es denn?« Der Mann drehte sich ein Stück herum und fixierte Hal. Sein Blick war nicht gerade freundlich. »Shu micho«, sagte er mürrisch. »Oh!« staunte Hal. »Das finde ich aber übertrieben von ihnen, so für mich zu sorgen. Ich hätte ihn mir schon vom Leibe gehalten.« »Scheren Sie sich zum Teufel!« fauchte der Ame rikaner ihn an. * Hal Mervin hob den bronzenen Drachenkopf, der als Türklopfer diente, und ließ ihn fallen. Dumpf dröhn te der Schlag in das kleine Steinhaus hinein, das in mitten eines vernachlässigten Ziergartens lag. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet. Ein un tersetzter Chinese erschien. Sein langer, weitärmeli ger Rock und die runde Kappe wirkten peinlich sau ber. Der Chinese verbeugte sich in stummer Erwar tung. »Mister Carlin zu sprechen?« erkundigte sich Hal. Mit einer abermaligen Verbeugung kam die Ant wort: »Ich nicht wissen. Ich gehen und Mistel Callin flagen.« »Ach herrjeh«, murmelte Hal, dann sagte er lauter: »Also anwesend ist er. Sage ihm, Mister Hal Mervin 30
wünsche ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.« Der Diener verbeugte sich wieder stumm und schlug die Tür zu, was Hal entrüstet als Unhöflich keit auffaßte. Zwei Minuten vergingen, dann erschien der Chi nese wieder und verkündete: »Mistel Callin läßt bit ten.« »Gut«, sagte Hal und trat ein. »Das nächstemal schlage gefälligst die Tür nicht so kräftig zu, alter Freund, verstanden?« Er tippte während seiner Belehrung dem Chinesen wohlwollend in die Seite, stieß dabei aber überra schenderweise nicht auf das Fleisch, sondern auf ei nen harten Gegenstand. »Hoppla«, meinte er verwundert, »das war aber fest. Du bist wohl gepanzert?« Der Diener nahm Abstand. »Mistel Callin haben viel Besuche«, sagte er und grinste dünn, »und Besuchel alles almes Lin Tschung schlagen.« »Na, na«, wehrte Hal ab, »schlagen?« Der Chinese öffnete bereits eine Tür und deutete mit einer Bewegung an, daß Hal dort eintreten solle. Hal trat ein. Der Raum machte mit seiner europäischen Ein richtung einen gemütlichen Eindruck. Von dem Mann, der am Tisch saß, konnte man das nicht be 31
haupten. Er wirkte verlottert und nachlässig. Sein Gürtel war offen, das Hemd verschoben, und die Haare waren zerrauft. Das Gesicht zeigte Müdigkeit und Verdrossenheit. Hal konnte sich während der ganzen Unterhaltung kein abschließendes Urteil bilden, da Carlin ununter brochen den Kopf in die linke Hand gestützt hielt und dadurch seine Miene leicht verschob. Seine Au gen wirkten jedenfalls wenig erfreulich. Die Lider lagen wie schwere Vorhänge darüber. Sie hoben sich nicht ein einziges Mal so, daß man den Ausdruck der Augen hätte beurteilen können. Ständig gaben sie nur einen schmalen Schlitz frei. »Was wünschen Sie?« erkundigte sich Carlin, oh ne sich zu erheben und in einem Tonfall, der keinen Zweifel darüber ließ, daß ihm der Besuch kaum er wünscht war. »Ich hörte, daß Sie Koreanisch sprechen wie ein Koreaner und besser als irgendein Weißer die Ver hältnisse dieses Landes kennen«, vergewisserte sich Hal. »Und wenn?« kam es gleichgültig zurück. »Wer hat Ihnen das erzählt?« »Ein gewisser Yang tschi.« »Der Mandarin?« »Eben der.« »Wie kommen Sie mit ihm zusammen?« »Durch einen Freund.« 32
Das Interesse, das Carlin vorübergehend gezeigt hatte, flaute ab. »So, und was wollen Sie?« Hal hatte sich seine Geschichte zurechtgelegt. »Mein Vater ist englischer Großkaufmann. Er be schäftigte einen Sekretär, einen Mexikaner namens Juan Garcia. Dieser stahl meinem Vater während ei nes vorübergehenden Aufenthaltes in Hongkong wichtige Papiere und floh. Wir konnten seine Spuren anfänglich verfolgen. Sie führten nach Fu-san. Von hier aus benutzte er die Nord-Süd Bahn, stieg aber bei der Haltestelle Ping-fu aus. Dort ging seine Spur verloren. Wir nehmen an, daß er sich in den Sumpf gebieten östlich der Bahn verborgen hält.« »Dann muß er verrückt sein«, warf Carlin schlep pend ein. »Warum?« »Dort gibt es kein Versteck für Fremde, wenig stens nicht für Lebende.« »Vielleicht hat er dort Freunde?« Carlin setzte zu einer Antwort an, brach jedoch ab und fragte: »Was soll ich bei der Geschichte?« »Sie sollen diesen Garcia finden und ihn mir brin gen. Oder richtiger: Sie sollen als Führer und landes kundiger Dolmetscher dienen, damit wir ihn finden können.« Carlin lachte kurz auf. »Mehr nicht? Sie haben eine Ahnung von Korea!« 33
Hal hob die Schultern. »Für die Ahnung sollen Sie eben zeichnen. Ich biete Ihnen pro Tag zwanzig Pfund und bei Erfolg tausend Pfund extra.« Das Angebot schien doch zu wirken. Carlin schwieg lange. »Sehr großzügig«, meinte er dann spöttisch, »aber für einen Toten schon zuviel. Ich verzichte.« »Warum?« Carlin gähnte. »Nehmen Sie an, daß ich keine Lust habe, reich zu werden.« »Das sollte wohl ein Scherz sein? Ich führe ein ernsthaftes Gespräch mit Ihnen.« »Ich aber nicht«, lehnte Carlin gelangweilt ab. »Wenn einer zu mir kommt und mir erzählt, ich soll ihn in den Sümpfen herumführen, um einen Mann zu fangen, so ist das kein ernsthaftes Thema. Dort ist man nämlich eine Stunde von der Bahn entfernt ein toter Mann, wenn man auf den Einfall kommt, als Weißer dort herumzuspazieren.« »Wir können uns ja verkleiden.« »Einfälle!« murmelte Carlin verächtlich. »Übri gens hat der gewöhnliche Koreaner auch nicht mehr Aussichten als ein Weißer. Nein, das ist nichts für mich. Leben Sie wohl.« »Sie wollen nicht?« »Sie haben mich ganz richtig verstanden. Lin 34
Tschung!« Der Chinese verbeugte sich an der Tür. »Führe den Herrn hinaus.« Hal verbarg seinen Ärger und folgte dem Diener. Lin Tschung schloß die Tür sehr sorgfältig hinter ihm, dann nahm er seine Kappe ab und zog den lan gen Rock herunter. Jetzt stand er plötzlich in kurzer Khakihose und weißem Sporthemd da und wirkte plötzlich gar nicht mehr chinesisch. Gleich darauf zog er auch das Hemd herunter. Eine feingliedrige Stahlweste wurde sichtbar. Mit einigen Griffen hatte er sie abgeschnallt, dann zog er das Hemd wieder über und ging zu Carlin hinein. Der sah jetzt auch wesentlich anders aus. Die Kleidung war in Ordnung, die Haare waren ge kämmt. Von Müdigkeit war nichts mehr zu sehen und sogar die Augen waren voll aufgeschlagen. »Na, Bill?« meinte er freundlich zu dem Eintre tenden. »Was meinst du zu diesem ungewohnt frühen Besuch?« Der Chinese, an dem nur noch die Augenpartie chinesisch wirkte, grinste breit. »Ein heller Bursche«, antwortete er in fehlerfreiem Englisch. »Er hatte nach zehn Sekunden heraus, daß ich die Panzerweste trug. Ich hatte noch keine Zeit gefunden, sie abzulegen. Warum haben Sie das An gebot nicht angenommen?« 35
»Weil es fauler Zauber war. Ich muß mich unbe dingt bei Yang tschi erkundigen, ob die Empfehlung stimmt und wie er dazu kommt.« »Das Geld hätten Sie mitnehmen können«, bedau erte Bill oder Lin Tschung. »Seit Monaten warten wir auf eine Gelegenheit und nun…« »Gestern abend ließ mir Schi Hsiu mitteilen, daß er mich zu sprechen wünsche«, gab Carlin bedeu tungsvoll zurück. »Ich schätze, es wird bald Gele genheit dazu geben. Aber ich hätte die Sache auch so nicht übernommen. Erstens war die Geschichte zu dunkel, und zweitens belaste ich mich nicht mit der Verantwortung für das Leben dieser Leute. Die Sümpfe haben es in sich.« »Für Sie doch nicht?« »Wer kann das sagen? Für Fremde auf jeden Fall. Doch nun geh schlafen, es kann sein, daß ich dich heute noch brauche.« Lin Tschungs Gesicht spannte sich plötzlich. »Drehen Sie sich nicht um«, sagte er leise. »Es ist jemand am Fenster. Ich will hinausgehen und sehen, daß ich ihn erwische.« »Unsinn«, knurrte Carlin, »bis dahin ist er fort.« Er drehte sich herum, sprang mit zwei Sätzen zum Fenster und riß es auf. Unten stand Hal Mervin und grinste freundlich herauf. »Sind Ihre Zahnschmerzen vorüber, Mister Car 36
lin?« erkundigte er sich. »So sieht man Sie doch we nigstens mal richtig, wenn Sie sich nicht immer die Backe halten.« »Was haben Sie hier herumzuschnüffeln?« fauchte Carlin ihn an. »Wieso?« fragte Hal harmlos. »Ich wollte Ihnen bloß noch sagen, daß Sie mich jederzeit durch Yang tschi erreichen können, falls Sie etwa noch zu ande ren Entschlüssen kommen. Ich wollte Ihren Diener nicht erst bemühen und dachte mir, daß es besser sei, gleich ans Fenster zu klopfen. Ich konnte doch nicht ahnen, daß Sie schon wieder neuen Besuch haben.« Carlin musterte ihn. »So?« fragte er. »So?« Dann schloß er langsam den Fensterflügel. Hal ging fröhlich pfeifend weg. »Der Knabe scheint hoffnungsvoller zu sein, als ich annahm«, bemerkte Carlin nachdenklich zu Lin Tschung. »Wir werden uns um ihn kümmern müs sen.« Irgendwo klingelte es. »Der Apparat«, sagte der Diener. Carlin ging in den angrenzenden Raum, der als Schlafzimmer eingerichtet war. Dort stand ein Tele fonapparat auf dem Nachttisch. »Carlin.« »Carlin? Verzeihung, das war falsch verbunden. Ich wollte…« 37
Carlin legte den Hörer bedächtig ab. »Meine Ahnung«, sagte er zu dem neugierig her einblickenden Diener. »Die Zeiten der Ruhe sind vorbei.« Am Spätnachmittag dieses Tages saß Owen Carlin dem chinesischen Kaufmann Schi Hsiu in dessen kleiner Empfangshalle gegenüber. Schi Hsiu mußte zu den Reichen der Stadt gehö ren, das bewies nicht nur die Ausstattung der Halle mit kostbaren Wandbehängen, Kissen und Teppi chen, sondern auch seine Kleidung selbst. Der lang fallende Rock zeigte herrliche Muster auf Seide, die kostbare Künstlerarbeit verrieten. Kappe und Pantof feln waren ähnlich bestickt, um den Hals schlang sich eine wertvolle Perlenkette, und an den Fingern blitzten mächtige Ringe. Schi Hsiu hatte solche Aufmachung nötig, wenn man seine unförmige Gestalt einigermaßen überse hen sollte. Er wuchtete wie ein auseinandergelaufe ner Koloß auf seiner breiten Sitzbank. Man war ge neigt, zu bezweifeln, daß er sich überhaupt aus eige ner Kraft erheben konnte. Trotzdem lag eine gewisse Würde über seiner ganzen Erscheinung. Sie strahlte vor allem von seinem Gesicht aus, das bei allem Fett Ruhe und Freundschaft ausdrückte. Als Carlin auf den Kissen Platz genommen hatte, klatschte Schi Hsiu in die Hände. Unverzüglich glitten 38
Diener herein, stellten lackierte Tischchen mit feinen Schalen, Wein, Gebäck und Konfekt europäischer Herkunft herein und verschwanden wieder. Während Carlin sich einschenkte, zog der Chinese an einer Schnur, worauf der große Fächer über seinem Haupt, der von außen her bedient wurde, zur Ruhe kam. Also eine ganz geheime Unterredung, dachte Car lin und wurde noch gleichgültiger. Schi Hsiu streckte die Hände in die weiten Ärmel seines Gewandes und harrte schweigend. Erst als Carlin das zweite Glas Wein ausgetrunken hatte und fragend zu ihm hinblickte, eröffnete er das Gespräch. »Schi Hsiu ist glücklich, den ehrenwerten Herrn zu sehen.« Eine Höflichkeit war der anderen wert. »Euer armseliger Diener wird sich stets des Tages erinnern, an dem so ein weiser und mächtiger Herr ihm die Pforten seines hohen Palastes öffnete.« »Eure überwältigende Freundlichkeit ermutigt mich, mein Inneres vor Euch auszubreiten und Eure Ohren mit meinem Geschwätz zu füllen.« »Ihr schüttet Eure Gnade über mich aus. Sprecht!« Schi Hsiu kam zur Sache. »Der Ruhm Eurer kriegerischen Taten hat Euch viele Freunde und ehrerbietige Diener verschafft«, fühlte er vor. »War es nicht ein gewisser Tsai Kiu, der den Schwur ablegte, für alle Zeiten Euer Diener zu sein?« 39
Carlin, dessen Augen fast ebenso geschlossen wa ren wie die seines Gegenübers, deutete eine Vernei gung an. »Eurer Weisheit ist nichts verborgen. Tsai Kiu er wies mir unverdiente Ehren, weil ich mit ihm zu sammen kämpfen durfte.« »Man sagt, daß Ihr ihm das Leben gerettet habt«, berichtete Schi Hsiu ziemlich nüchtern. »Ihr wißt sicher, daß Tsai Kiu jetzt in den Sümpfen lebt?« »Ein Gerücht drang an meine Ohren.« Der Chinese lächelte flüchtig. »Man sagt, daß Tsai Kiu Euch den Posten eines Generals angeboten habe?« Carlin gab sich erstaunt. »Wie käme meine geringe Wenigkeit zu einer sol chen Stellung? Und wie ist es möglich, daß Tsai Kiu solche Posten zu vergeben hat?« Der Chinese stieß scharf vor. »Ihr wißt, daß Tsai Kiu die Sümpfe beherrscht!« Carlin ließ ihn nicht herankommen. »Ich wage nicht, Eurer Weisheit zu widerspre chen«, gab er gelassen zurück. Schi Hsiu machte mit überraschender Leichtigkeit eine ausholende Geste. »Wir wollen offen miteinander sprechen. In den Sümpfen haben sich die Reste der aufgelösten Armee gesammelt und mit den dort hausenden Räuberban den zusammengetan. Sie sind zur Landplage der 40
Provinz geworden und scheuen sich selbst nicht, die Züge zu überfallen und zu berauben. Man hat sie und die Krieger zusammengefaßt und zu einem großen Heer gemacht, das inmitten der Sümpfe lebt. Der Führer ist Tsai Kiu, Euer Bruder und Diener. Man sagt, daß er die Absicht hat, den Krieg von neuem zu entfesseln.« Carlin wiegte den Kopf hin und her. »Diese Gerüchte kommen mit den Füßen der Wahrheit. Tsai Kiu verfügt über viele Menschen und lehrt sie zu kämpfen. Seine Boten gehen durch die Provinzen und nennen seinen Namen als den Namen eines Mannes, der das Reich wieder groß machen will.« »Tsai Kiu ist stets ruhig und besonnen gewesen.« »Tsai Kiu hat die Absicht, die Regierung zu stür zen und zum Kampf gegen Nordkorea aufzurufen«, sagte der Chinese. »Er hat viele Anhänger. Die Nachgiebigkeit unserer Regierung hat viel böses Blut geschaffen.« »Ich weiß«, bestätigte Carlin. »Aber solche Pläne lagen nie bei Tsai Kiu.« Schi Hsiu nickte. »Tsai Kiu ist Soldat. Es sind seine Ratgeber, die ihn treiben. Sie möchten den Krieg.« »Ich habe verstanden. Und was wünscht Ihr von mir?« Der Chinese beugte sich vor. 41
»Tsai Kiu ist Euer Freund. Er wird auf Euren Rat hören.« »Aha, ich soll ihn aufsuchen? Warum seid Ihr ei gentlich mit seinen Plänen nicht einverstanden?« »Sie würden Korea noch mehr Blut kosten«, erwi derte Schi Hsiu. »Sprecht mit Tsai Kiu. Ihr seid der einzige, dem er wirklich trauen wird. Ich zahle Euch für…« »Wartet«, unterbrach Carlin. »Gebt mir einen Tag Bedenkzeit, dann will ich Euch sagen, ob wir weiter verhandeln werden.« »Ich erwarte Euch morgen zur gleichen Stunde. Doch nun erlaubt, daß ich besseren Wein…« Carlin erhob sich. »Danke. Ich möchte mich verabschieden. Es war mir eine hohe Ehre, meine schmutzigen Füße in die ses herrliche Haus setzen zu dürfen.« Die Redensarten flossen hin und her. Man trennte sich ganz in chinesischem Stil. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte Carlin eine Un terredung, die noch geheimer war als die mit Schi Hsiu. es war bezeichnend für ihn, daß er dabei einen völlig nüchternen Eindruck machte und schon eine Stunde später schwer angeschlagen in einer RakiSchenke saß, die als Deckmantel für die weiter hin ten gelegene Opiumstube diente. Ein paar koreanische Kulis, zwei Japaner, ein asia 42
tischer Russe und einige schwer bestimmbare Typen, allesamt ärmlichstes Volk, bevölkerten die Schenke. Was hinten im Rausch lag, ließ sich nicht sagen. Es gab noch einen zweiten Eingang. Zwei Stunden fast hatte Carlin gesessen, als durch die Tür eine Gesellschaft hereindrängte, die ganz und gar nicht in diese Kneipe paßte: drei Herren ver schiedenen Alters im Abendanzug und zwei Damen in großer Abendkleidung. Der jüngere Kavalier an der Spitze trat sehr selbstsicher auf, die beiden ande ren Herren blickten ziemlich betroffen, und auf den Gesichtern der Begleiterinnen mischten sich Neugier, Übermut und Angst. In der Runde der Zechenden wurden einige Flüche und Bemerkungen laut, dann beachtete man die Ein tretenden nicht mehr. Aber nur scheinbar. Carlin sah hier und dort gieriges Funkeln. Die Kühe kamen zum Schlächter. Kao Liän, der Besitzer der Schenke, eilte den Be suchern mit tiefen Verbeugungen entgegen, rückte ein Tischchen zurecht, bewegte Kissen und lud mit gleitenden Handbewegungen ein, Platz zu nehmen. Carlin starrte auf seine Tasse, beobachtete aber un ter dem Schlitz der Lider. Ein unschicklicher Bursche, jeden Durchreisenden in die garantiert echten Schenken und Opiumhöhlen hineinzuführen. Es war ein Spiel mit dem Feuer, ein sehr gefährliches Spiel. George Gaffney mußte das 43
als Attache der amerikanischen Botschaft eigentlich wissen. Die jüngere der Damen war eine auffallend hüb sche Frau. Älter als zwanzig war sie kaum. Jetzt sah sie her. Es war nicht gerade angenehm, ihr in diesem Zustand aufzufallen. Die beiden Kulis neben Carlin stießen sich an. Lange würde es nicht dauern, dann gab es hier drin einen kleinen Tumult, aus dem die Fremden ohne Schmuck und Brieftasche, vielleicht sogar ohne Le ben herauskommen würden. »Das ist doch ein Weißer?« bemerkte die junge Frau ziemlich laut. Gaffney beugte sich zu ihr hinüber und erwiderte leiser, aber für Carlin doch noch verständlich: »Ein heruntergekommener Abenteurer, ehemals Instrukti onsoffizier der Armee. Der Alkohol macht ihn all mählich fertig.« »Pfui«, meinte sie voll Abscheu. »Wie kann ein Mann sich so gehen lassen?« Carlin fühlte die Bemerkung als scharfen Stich. Er erhob sich schwerfällig und schwankte auf die Ge sellschaft zu. »Good evening«, knurrte er düster. »Möchte wis sen, was ihr an mir auszusetzen habt? Treibt euch gefälligst nicht hier herum, wenn euch die Leute nicht passen. Ich habe keine Lust, mich von jeder dummen Gans bekritteln zu lassen – hoppla.« 44
Er schwankte vorwärts, drohte zu fallen und stütz te sich auf Gaffneys Schulter, wobei er ihm zuflü sterte: »Raus, höchste Gefahr!« Schon stand er wieder. »Das ist eine Unverschämtheit!« flammte ihn die Frau an. Carlin grinste und angelte täppisch nach ihrem Hals. »Gehört zu dem kleinen Abenteuer, schönes Kind. Wie wär’s mit Ihrer Kette als Andenken?« Die Herren sprangen auf, die Frau schlug nach Carlins Hand. Gaffney warf eine Münze auf den Tisch und drängte hinaus. »Kommen Sie, wir wollen gehen, es wird unge mütlich.« »Die Polizei!« kreischte die ältere Dame. Gaffney schob sie und die andere gewaltsam zur Tür, die beiden Herren zückten ihre Revolver. Carlin taumelte zwischen der Gruppe und den Ku lis. Gegen einen, der anspringen wollte, rempelte er in letzter Sekunde so stark, daß der Mann gegen die Wand fiel. Dabei höhnte und schimpfte er auf die Besucher und machte immer wieder den Versuch, an die Frau heranzukommen und ihr die Kette vom Hals zu nehmen. Die Fremden beeilten sich außerordentlich. Nachdem draußen endlich das Auto mit ihnen 45
wegfuhr, schimpfte Carlin lallend weiter und schalt die Kulis ungeschickte Tölpel. Sie steckten es schul terzuckend ein. Zwei Minuten später saßen alle wie der auf den Kissen und schlürften. * Der Nord-Süd-Expreß, der sich von Fu-san aus auf die Reise nach Soeul begab, galt als Luxuszug. Den drittletzten Wagen hatte Philipp Carroll für sich und seine Begleiter mit Beschlag belegt. Carroll war Amerikaner, einer von den tüchtigen Kaufleuten, die ihre Zweigstellen auf der ganzen Welt Geld für sich verdienen lassen. Er war reich, ohne zu den ganz Großen zu gehören. Augenblicklich verband er das Angenehme mit dem Nützlichen, das heißt, er unter nahm eine Vergnügungsreise und sah gleichzeitig bei seinen Zweigstellen nach dem Rechten. Allerdings empfand er selbst sehr wenig Vergnügen bei der ta gelangen Fahrt von Fu-san nach Soeul. Der vergnüg liche Teil lag bei seiner Tochter. Anne Carroll war von Owen Carlin in jener RakiSchenke ganz richtig auf zwanzig Jahre geschätzt worden. Sie machte den Eindruck eines sehr natürlichen, gesunden, jungen Menschen, dem der unverdorbene, warmherzige Charakter aus den lebenslustigen Au gen leuchtete. Die grauen Augen hatte sie übrigens 46
vom Vater, das braune, leicht gewellte Haar, das schmalgeschnittene Gesicht, die bräunliche Haut und die Schlankheit von der Mutter. Ihre Mutter hatte im Laufe der Jahrzehnte die Schönheit gegen eine gewisse Stattlichkeit einge tauscht. Bei aller fraulichen Würde wirkte sie jedoch noch recht lebendig und jugendlich. Diese drei bildeten die Familie Carroll. Die Ge sellschaft Carroll war etwas größer. Sie hatte sich allerdings erst in Fu-san zusammengeschlossen und besaß keine inneren Bindungen. Ein Geschäftsfreund Carrolls namens Denison, eine ältere Kunstmalerin, Jane Flower und Bruce Mitchell, ein langjähriger Se kretär Carrolls, erweiterten den Familienkreis. Die Fahrt verlief gleichförmig. Aber dann schlen derte wie von ungefähr Owen Carlin in den Wagen hinein. Die kurze Hose und der breite Cordgürtel mit seinen leeren Schlaufen und Haken schienen etwas abenteuerlich, aber er war sauber gekleidet sowie einwandfrei rasiert und gekämmt. Sein braunes Ge sicht wirkte scharfkantig und fest. Die Augen lagen allerdings auch jetzt unter dem fast geschlossenen Vorhang der Lider, wodurch sein Gesicht einen ei gentümlichen, fremdartigen Ausdruck erhielt. Carlin lehnte sich neben die Tür und beobachtete die kleine Gesellschaft. Mrs. Carroll bemerkte ihn zuerst. Sie stieß ihren Mann an und flüsterte ihm zu: »Phil, der betrunkene Amerikaner aus Fu-san.« 47
Gleichzeitig mit Carroll blickte auch seine Tochter auf, dann die anderen, die Carlin unbekannt waren. Carroll erhob sich nach einigen Augenblicken zö gernd und kam einige Schritte auf Carlin zu. Er räusperte sich. »Mister Carlin, wenn ich nicht irre?« »Sie irren sich nicht«, erwiderte Carlin, ohne seine lässige Haltung zu verändern. Carroll wußte nicht recht, was er sagen sollte. Er mußte seine Verlegenheit erst durch wiederholtes Husten überbrücken, bevor er erklären konnte: »Hm, ich glaube, wir haben Ihnen unrecht getan. Mister Gaffney behauptete, Sie hätten uns durch Ihr Eingrei fen vor einem sehr unliebsamen Zwischenfall be wahrt.« »Leicht möglich«, sagte Carlin gleichgültig. »Gaffney war ein Narr, daß er Sie dorthin führte. Sie sind fremd im Land und solche Schenken sind keine geeigneten Aufenthaltsräume für…« »…dumme Gänse«, erinnerte Anne Carroll schnell. Carlin lächelte sie aufreizend an und bestätigte träge: »Ganz recht, Miß Carroll. Sie gehören in eine Hotelhalle, aber nicht zu Kao Liän.« »Sie sind sehr – frech«, stellte sie fest. »Aber Anne«, tadelte ihre Mutter. »Mister Carlin hat recht, wenn er uns unsere Torheit vorhält. Außer dem war er doch – er war…« 48
»Sagen Sie ruhig, daß ich betrunken war«, ermun terte Carlin. »Das geschieht häufig.« »Traurig genug«, meinte Anne. Carlin hob zum erstenmal die Lider und sah sie voll an. Das verwandelte ihn so, daß sie verwundert an seinen Augen hängen blieb. »Sehr traurig, Miß Anne«, sagte er lächelnd. »Ich würde Ihnen ernsthaft abraten, sich das Trinken an zugewöhnen.« Die Lider sanken wieder. Philipp Carroll räusperte sich gewaltig. »Sehr freundlich von Ihnen. Wir sind Ihnen natür lich zu Dank verpflichtet. Wenn ich Sie bitten dürf te…« »Lassen Sie Ihr Scheckbuch vorläufig stecken«, empfahl Carlin gelangweilt. »Wir können dann spä ter alles in einem abmachen. Vielleicht sammelt sich noch dies und jenes an.« »Wie meinen Sie das?« »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Ich bin gebeten worden, Sie auf dieser Reise zu betreuen, solange ich mich im Zug befinde.« »Sie?« kam es mehrstimmig. Carroll fügte hinzu: »Sind Sie der zuverlässige Mann, der von Fu-san aus unser Reisemarschall sein sollte?« »Ihre Freude ist nicht übermäßig«, stellte Carlin spöttisch fest, »ich werde Ihnen jedoch kaum zur 49
Last fallen. Ich hielt es nur für notwendig, mich ein mal sehen zu lassen, damit Sie wissen, an wen Sie sich im Notfall halten müssen.« Carroll suchte zu verwischen. »Unsinn, Sie mißverstehen mich. Ich meinte nur, daß man doch hier wahrhaftig sicher genug reist.« »Zweifellos«, sagte Carlin und drückte sich von der Wand ab. »Ich sitze weiter vorn, falls Sie mich brauchen.« Er ging zur Tür, drehte sich im Rahmen jedoch noch einmal um und sagte zu Anne Carroll hinüber: »Übrigens, Miß Carroll, die dumme Gans bitte ich mir zu verzeihen. Sie machen einen ganz netten und vernünftigen Eindruck.« Die Zurückbleibenden hatten einen ausgiebigen Gesprächsstoff gefunden. Die Urteile, die über Carlin fielen, waren vernichtend genug. Die einzige, deren Meinung abwich, war Mrs. Carroll. »Es ist nicht richtig«, sagte sie zu ihrer Tochter, »einen Menschen nach so kurzer Bekanntschaft ab zuurteilen. Dieses Korea ist ein merkwürdiges Land und prägt wohl auch die Menschen, die nicht hier geboren wurden. Wenn Carlin geschwiegen hätte, würde ich ihn heute für einen prachtvollen jungen Mann gehalten haben.« »Er hat aber nicht geschwiegen«, erwiderte Anne. »Ja, er hat sich wie ein Rüpel benommen, wenig stens von unserem Standpunkt aus. Er hat wie ein 50
Betrunkener gesprochen und war doch nüchtern. Und vor zwei Tagen war er betrunken und handelte doch wie ein Nüchterner.« * Nicht weit hinter der Lokomotive saßen drei Chine sen in einem kleinen Abteil. In der rechten Ecke hatte es sich Lin Tschung, der Diener Owen Carlins, bequem gemacht. Er trug eine schwarze Hose und eine sehr helle Jacke, dazu ein seidenes Käppchen auf dem haarlosen Schädel. Sein gelbes dickes Gesicht glänzte in stiller Zufriedenheit. Man konnte ihn für einen chinesischen Kaufmann halten, der sich in äußeren Dingen der Neuzeit ange paßt hat, aber gleichzeitig zu erkennen gibt, daß er innerhalb seines Heimes die uralte Tradition wahren möchte. Ihm gegenüber in der anderen Ecke gab sich Ho Tao tiefen Betrachtungen hin. Ho Tao trug die einfa che Kutte und den mehrspitzigen Hut des BuddhaMönches. Seine Sandalen waren stark abgenutzt. Am Strick, der den Rock hielt, hing die Gebetstrommel, mit deren Hilfe die Anrufe Buddhas tönend unter stützt wurden. Ho Tao war sehr lang und recht dürr, soweit man aus seinem Gesicht schließen konnte. Sicher war er ein Fanatiker aus dem Norden, denn der strenge 51
Ernst seiner Mienen veränderte sich nie, und die Au gen hoben sich kaum einmal vom Boden. Pi Yung zu seiner Rechten gehörte zu ihm. Er war wohl sein Schüler und zugleich ein Scholar des Klo sters. Er trug die kurze Hose und den Kittel des un geweihten Klosterschülers. Seine Haare waren nicht geschnitten. Sein linkes Auge lag unter einem Pfla ster, und an der rechten Schläfe überdeckte ein ande res Pflaster eine stattliche Beule. Diese drei waren in Fu-san eingestiegen. Bereits wenige Minuten nach der Abfahrt deutete Lin Tschung einen dreifachen Stirnaufschlag an und begann zu sprechen. »Erlaubt ehrwürdiger Priester, daß ich Eure erhabenen Gedanken störe. Ich bin Lin Tschung, ein Kaufmann aus Soeul.« »Man nennt mich Ho Tao, den Himmelragenden«, kam die Antwort in ebenso flüssigem Koreanisch. »Die Güte meiner Vorgesetzten erhob mich zum Ka plan des Tempels von Tai an tschou. Ich bin auf dem Weg nach Wu tschang, um wichtige Briefe zu über bringen. Das ist Pi Yung, der sich bemüht, in die er habenen Lehren des Konfutse einzudringen.« »Ich bin glücklich, in so erhabener Gesellschaft reisen zu dürfen. Doch sagt, wo stürzte Euer Scholar so unglücklich, daß seine Augen darunter litten?« »Er stürzte nicht«, belehrte Ho Tao ernst. »Ein Ausschlag überfiel ihn und bedrohte seine Augen. Er ist eine armselige Kreatur, denn er ist nicht nur halb 52
blind, sondern auch stumm. Doch erlaubt…« Er erhob sich und stelzte hinaus, treulich gefolgt von Pi Yung. Auf dem leeren Gang blieben die beiden dicht ne beneinander stehen. Der stumme Pi Yung hatte plötz lich seine Sprache wiedergefunden, und zwar die englische, denn er zischelte jetzt zu Ho Tao hinauf: »Den Kerl habe ich schon gesehen. Er spielt den Diener bei Carlin, der uns eigentlich führen sollte. Er sieht zwar chinesisch aus, aber ich lasse mich hän gen, wenn er wirklich ein Chinese ist. Bei Carlin konnte er jedenfalls plötzlich fließend Englisch spre chen.« »Hm«, sinnierte Ho Tao, der jetzt auch die engli sche Sprache benutzte. »So ist das! Ich werde ihm auf den Zahn fühlen. Ich fürchte allerdings, daß er Sie erkannt hat, wie Sie ihn.« »Das ist nicht zu ändern und macht auch nichts, wenn er nicht absichtlich bei uns sitzt.« »Gehen wir durch den Zug.« Würdevoll wandelte er voraus. Bescheiden trat Pi Yung in seine Fußstapfen. Zwei Wagen weiter ent deckten sie Owen Carlin. »Das ist die Höhe«, meinte Pi Yung empört. »Erst lehnt er entschieden ab, und jetzt fährt er mit uns. Was meinen Sie dazu?« »Ich enthalte mich einer Meinung«, sagte Ho Tao düster. 53
Als sie in ihr Abteil zurückkehrten, saß Lin Tschung im Halbschlaf. Er schien die beiden Mitfah rer nicht vermißt zu haben. Ho Tao trat ihm absichtlich auf die Füße. Natür lich entschuldigte er sich geziemend. Lin Tschung wehrte höflich ab. »Sucht nicht zu entschuldigen, was mir zur Ehre gereicht. Es wird mir eine glückliche Erinnerung sein, daß ich von einem erhabenen Priester Buddhas gestreift wurde.« »Eure Güte überwältigt mich«, flötete Ho Tao. »Daran erkennt man den wahren Sohn des Großen Reiches. Wie unflätig würden doch diese Fremden sprechen. Kennt Ihr die Sprache der Fremden?« Lin Tschung verzog bedauernd das Gesicht. »Meine Einfalt vermag das Gestammel ihrer Zun gen nicht zu fassen.« »Ihr seid allzu bescheiden. Wie sagt doch Konfut se über den Bescheidenen?« Lin Tschung legte den Kopf zur Seite. »Ja, wie sagte er gleich? Der gewisse Lin Tschung ist ein ungebildeter Kaufmann, der tief unter Eurer großen Weisheit steht.« »Der Bescheidene ist wie die Pflaumenblüte. Sie bringt köstliche Frucht, obwohl sie klein ist«, zitierte Ho Tao ohne Zögern. »Sagtet Ihr nicht, daß Ihr in Soeul Euren Palast besitzt?« Lin Tschung nickte. 54
»Meine schmutzige Hütte verbirgt sich in Soeul.« »Dann kennt Ihr sicher den sehr ehrenwerten Sung Wang aus Yün tschong hsiän, der unweit des Ya mens des Präfekten ein prächtiges Haus bewohnt?« Lin Tschung wich aus. »Ich hörte seinen Namen schon oft, aber ich sah ihn noch nicht selbst, da ich selten in Soeul weilte. Meine Geschäfte zwingen mich zu reisen. Doch er laubt…« Er ging hinaus. »Jetzt ist er warm geworden«, sagte Pi Yung. »Wahrscheinlich wird er sich bei Carlin gute Ratsch läge einholen. Was haben Sie ihm erzählt?« »Ich habe ihn nach einem Sung Wang in Soeul ge fragt. Der Mann lebt natürlich überhaupt nicht. Lin Tschung war sich nicht ganz einig, ob er die Be kanntschaft zugeben sollte oder nicht.« »Also steht er nicht sicher auf den Beinen. Aber passen Sie auf, wir werden schon noch herauskrie gen, was er für eine Muttersprache spricht. Man rei che mir eine Stecknadel.« Pi Yung beschäftigte sich hingebungsvoll an Lin Tschungs freiem Platz. Nach fünf Minuten kehrte der ehrsame Kaufmann aus Soeul zurück. Er lächelte die beiden höflich an, stieg vorsichtig über Pi Yungs Füße und ließ sich nieder. Im nächsten Augenblick sauste er hoch. 55
»Goddam!« brüllte er auf Englisch. »Welcher Ha lunke hat mir…« Er brach ab, setzte auf Chinesisch bedeutend ge mäßigter an und untersuchte dabei geflissentlich sein Sitzpolster. Er wollte offenbar sein Gesicht nicht se hen lassen. Als er sich umdrehte, trug er wie vorher glatte Freundlichkeit zur Schau. Er hielt zwischen zwei Fingern eine Stecknadel. »Dies war die Ursache des Schmerzes«, erläuterte er. »Ich werde bei der Bahnverwaltung…« Pi Yung war allmählich dunkelrot im Gesicht ge worden. Jetzt platzte er wiehernd heraus und stam melte zwischendurch: »Mensch – oller Chinese – schwindeln Sie sich keinen Bruch ab – die Steckna del stammt von mir – wollte sehen, wo Sie geboren sind!« Li Tschung setzte sich behutsam nieder. Ho Tao betrachtete ihn ernst. Pi Yungs Lachen riß ab, es wurde sehr still. »Wir sind ja eine feine Schwindelgesellschaft«, bemerkte Lin Tschung endlich in unverfälschtem Englisch. »Der Stumme kann auf einmal reden und unter seinem Pflaster hat er doch höchstens einen Kirschkern, nicht wahr, Mister Hal Mervin?« »Genau geraten«, sagte Hal grinsend. »Der Original chinesische Kaufmann aus Soeul entpuppt sich als chinesischer Diener und dieser 56
wieder als Engländer, der auf den Namen Bill Mor lan getauft wurde«, fuhr Lin Tschung fort. »Hoffentlich«, bemerkte Hal zwinkernd. »Die Stunde der Bekenntnisse hat keine Geheim nisse«, sagte Morlan. »Nur einer wahrt sie noch, un ser ehrenwerter Ho Tao, von dem ich immer noch nicht weiß, ob er echt oder nachgemacht ist.« »Zipp ist mein Name«, sagte der Priester Buddhas. »Eigentlich heiße ich John Smith, aber erstens wür den Sie frevelhafterweise daran zweifeln, und zwei tens habe ich mich dieses Namens fast völlig ent wöhnt. Falls es Ihren Atem nicht aus dem Gleichge wicht bringt, will ich Sie hiermit ersucht haben, mich fernerhin mit Zipp anzusprechen.« »Na, na«, machte Bill. »Wollen Sie mich nun ver kohlen, oder…« »Er meint es ernst«, beruhigte Hal. »Sie müssen sich schon an den Drehwurm gewöhnen. Er hat eine chinesische Amme gehabt.« »Einen chinesischen Diener«, berichtigte Zipp ernst. »Ach, daher sprechen Sie so ausgezeichnet Chine sisch?« Zipp lächelte flüchtig. »Ich wurde in China geboren. Yang tschi war in Peking mein Jugendgespiele.« »Deshalb also hat Yang tschi auf sich berufen las sen?« murmelte Bill nachdenklich. »Hm, wir hielten 57
es eigentlich für Schwindel. Und nun wollen Sie wohl auf eigene Faust in die Sümpfe und Ihren Mann suchen?« »Jawohl«, antwortete Hal herausfordernd. »Paßt es Ihnen nicht?« Bill zuckte mit den Schultern. »Mir schon, aber an Ihrer Stelle würde mir’s nicht passen. Ich glaube nicht, daß man Sie für einen Chi nesen hält und Ihnen den Schwindel mit der Stumm heit glaubt. Und wenn doch – Sie wären nicht der einzige Chinese, der die Sümpfe nicht wieder verlas sen hat.« »Pah, man wird uns nicht gleich auffressen. Wenn der Mann, den wir suchen, dort Unterschlupf gefun den hat, werden wir uns auch durchschlagen« »Offengestanden, wir hielten die Geschichte für Humbug. Mister Carlin wird sehr überrascht sein, wenn er hört, daß sie wahr sein soll.« »Warum hat Mister Carlin eigentlich abgeschla gen?« »Tja, das ist so eine Sache. Da müssen Sie ihn schon selbst fragen. Ich glaube, er strengt sich nicht gern an.« »Erzählen Sie das jemand anders, aber nicht mir, verehrter Herr. Ihr Mister Carlin scheint der größte Schwindler von uns allen zu sein. Ich habe mich nach ihm erkundigt. Jeder erzählt mir, er sei ein he runtergekommenes, verlottertes Individuum. So sah 58
er auch aus, als ich bei ihm war. Aber später, als ich ihn vom Fenster aus beobachtete, machte er einen ganz anderen Eindruck. Und wie hat ihn Yang tschi genannt, Zipp?« »Den Mann mit den drei Gesichtern«, gab dieser düster Auskunft. »Yang tschi empfiehlt mir keinen Saufbruder.« »Hm, hm.« Hal klopfte ihm auf die Schulter. »Strengen Sie sich nicht wegen einer Ausrede an. Von uns aus kann er sich sonst was für eine Maske vorbinden. Es ist bloß schade, daß er nicht mit von der Partie ist. Yang tschi behauptete, er sei der einzi ge, der in den Sümpfen Bescheid wüßte und dort nichts zu befürchten habe. Wenn er aber etwas ande res vorhat, müssen wir uns eben von Ping-fu aus al lein den Weg suchen.« »Heißt das, daß Sie in Ping-fu aussteigen wollen?« »Allerdings.« »Das trifft sich ja prächtig. Da können wir ja gleich einen Klub aufmachen.« »Soll das heißen, daß Sie und Carlin ebenfalls in Ping-fu aussteigen wollen?« »Ganz genau.« »Ihr seid Gauner!« Owen Carlin war von dem Bericht, den er später erhielt, nicht gerade entzückt. »Du hast dich hineinlegen lassen«, stellte er fest. 59
»Das durfte eigentlich nicht passieren. Aber rück gängig läßt sich’s nicht machen. Übrigens fährt Pa wel Smirnow im Zug mit.« Der Diener stieß einen Pfiff aus. »Er spielt so eifrig Karten und beachtet mich so wenig, daß ich bald annehme, er fährt meinetwegen mit. Sein sogenanntes Töchterchen ist auch mit von der Partie.« »Sollte Schi Hsiu unvorsichtig gewesen sein?« »Tja, läßt sich schwer sagen. Verschwinde jetzt.« Bill Morlan glitt in den anschließenden Wagen. Owen Carlin blieb in der Ausbuchtung des Gan ges, von der die Tür ins Freie führte, stehen und blickte zum Fenster hinaus, als habe er die Heran kommende überhaupt noch nicht bemerkt. Feodora Smirnow ließ sich dadurch nicht ab schrecken. Sie ließ sich überhaupt so leicht durch nichts abschrecken. Man glaubte ihr das gern auf den ersten Anblick hin. Ihre ganze Aufmachung war ge wollt. Selbstbewußt und anspruchsvoll spielte sie die große Dame, als ob sie noch vor einigen Jahren keine kleine Gouvernementsschreiberin gewesen wäre. »Sieh da, Mister Carlin«, flötete sie entzückt. »Hoffentlich habe ich nicht eine Geheimkonferenz gestört?« Carlin wandte sich langsam nach ihr um. »Doch«, erwiderte er spöttisch, »ich gab eben mei nem Diener Anweisung, die Hosen zu bügeln.« 60
»Stehen Ihnen so festliche Ereignisse bevor?« fragte sie lächelnd. »Man ist von Ihnen gar nicht ge wöhnt, daß Sie sich um der lieben Eitelkeit willen in solche Unkosten stürzen.« Er legte den Kopf zurück. »Cherchez la femme, Miß Smirnow, Ihre Anwe senheit im Zug verpflichtet ungemein. Ich habe die Absicht, Ihnen den Hof zu machen.« Sie girrte belustigt. »Ausgezeichnet! Diese Fahrt ist ohnehin schreck lich langweilig. Vater spielt schon die ganze Zeit, und um mich kümmert sich niemand. Ich komme mir furchtbar verlassen vor.« Carlins Mundwinkel zuckten. »Armes Kind, schon jetzt diese Gefühle, und dabei liegt noch die lange Strecke bis Soeul vor uns.« »Oh, sie wird kurz werden, wenn Sie sich ein biß chen Mühe geben. Ich hoffe, daß Sie Ihr Wort wahr machen und mir Gesellschaft leisten werden.« Jetzt wußten beide genauso viel wie vorher über ihre Reiseziele. »Mit Vergnügen«, antwortete er. »Ich fürchte nur, daß Ihnen an meiner Person sehr wenig liegen wird. Eine schöne junge Dame wie Sie kann sich ihre Ka valiere auswählen.« »Sagen Sie das nicht«, meinte sie aufreizend. »Ich habe nun einmal gewisse Vorliebe für Sie.« »Persönlich oder beruflich?« erkundigte er sich. 61
Sie zuckte zusammen. »Wie meinen Sie das?« Er hob die Schultern. »War nur ein Einfall von mir. Irgendwo hörte ich einmal, Sie wären Mitglied des russischen Nachrich tendienstes.« Sie hatte sich wunderbar in der Gewalt und brach te es sogar fertig, aufzulachen. »Aber, Mister Carlin, welche Spaße! Von wem wollen Sie denn das gehört haben?« »Von wem?« Er überlegte. »Was weiß ich. Jeden falls war ich wieder einmal betrunken.« Sie brachte ihr Gesicht dicht an das seine. »Waren Sie schon mal betrunken?« »Nee«, sagte Carlin grinsend, »das behaupten bloß immer die anderen.« »Merkwürdig«, meinte sie, »ich hörte über Sie, Sie seien in Wirklichkeit ein sehr tüchtiges Mitglied des amerikanischen Nachrichtendienstes.« Er hob erstaunt die Lider. »Hoffentlich trinken Sie nicht auch, Miß Smir now?« »Pfui«, entrüstete sie sich, »wie können Sie so et was einer Dame gegenüber sagen? Aber Sie gefallen mir, Mister Carlin.« »Die Sympathie ist gegenseitig«, behauptete er ernst. »Sie sagen das so kühl und sachlich, Mister Car lin…« 62
»Ich bändige mühsam meine Leidenschaft.« »Oh«, girrte sie, »wie fabelhaft Sie sich beherr schen können.« Sie rutschte mit ihren Händen an seiner Schulter hoch, aber er faßte sofort ihre Handgelenke und löste sie. »Nicht, liebste Miß Smirnow«, bat er. »So schüchtern?« Jetzt grinste er unverhohlen. »Das weniger, aber ich habe nun einmal keine Lust, im betäubten Zustand aus dem Zug zu fallen.« Das saß. Durch ihren Körper ging ein Schlag, ihr Gesicht verzerrte sich einen Moment lang. »Sie sind – ein spaßiger Gesellschafter«, stieß sie mühsam heraus. »Ich glaube doch, Sie trinken zuviel. Wollen Sie nicht meine Hände loslassen?« Er nickte, ohne ihr den Gefallen zu tun. »Schöne Hände haben Sie – und gefährliche Hän de. Man müßte sie für immer festhalten können.« »Ein Heiratsantrag?« fragte sie in meisterhafter Beherrschung. Er griff etwas nach und öffnete mit sanfter Gewalt ihre Hände. »Vielleicht«, erwog er. »Ähnliche Wünsche äußert freilich manchmal auch der Staatsanwalt.« »Pfui«, entrüstete sie sich wieder. »Lassen Sie los, Sie tun mir weh!« »Aber nein.« Er lächelte niederträchtig. »Sie wer 63
den mir doch Ihre süßen kleinen Hände nicht entzie hen wollen. Was Sie da für einen entzückenden Ring tragen…« »Loslassen!« fauchte sie. »Ich schreie!« »Beeilen Sie sich«, riet er gelassen und preßte mit einem scharfen Ruck ihre beiden Handflächen ge geneinander. Sie schrie nicht. »Oh«, sagte sie nur leise, als sie den feinen Stich fühlte. »Sie sind mir über. Es stimmt also doch, daß Sie im Nachrichtendienst stehen?« Er ließ ihre Hände los und verbeugte sich. »Sie schmeicheln mir. Es stimmt nur, daß ich gern den Zug noch ein Stück weiter benutzen möchte.« Sie lehnte sich an die Gegenwand. Ihr Gesicht war jetzt verfallen. »Ich auch, Mister Carlin. Ich hoffe, daß Sie mich nicht hinauswerfen. Das sollte auch mit Ihnen nicht geschehen.« »Seien Sie beruhigt, Miß Smirnow«, erwiderte er höflich. »Nehmen Sie meine Bewunderung mit in Ihren Schlaf.« Sie rutschte zusammen. Nachdenklich betrachtete Carlin die Frau einige Sekunden lang, dann ging er fort. Man würde sie bald finden und sich um sie kümmern. Einige Stun den würde sie schon schlafen, sicher aber so lange, wie man es von ihm erhofft hatte. 64
Man hatte ihn also in Verdacht, im amerikanischen Nachrichtendienst zu stehen. Nun, dieser Verdacht traf hierzulande jeden Weißen, dessen tägliches Le ben nicht klar festgelegt war. Immerhin, Pawel Smirnow ging schon ziemlich weit. Es sah wirklich aus, als habe Schi Hsiu nicht dichtgehalten. Wahr scheinlich hatte die Frau nur auf den Busch geklopft, weil sie annahm, daß diesmal die Interessen der Amerikaner mit denen Schi Hsius gleichlaufen wür den. Owen Carlin erledigte seine Betrachtungen dar über mit einem Schulterzucken. Pawel Smirnow würde sich schon noch rühren und früher oder später verraten, was er eigentlich wußte. * Der Zug hatte den ersten größeren Aufenthalt. Es war Abend geworden. Über dem vielgestalteten Menschengewimmel des Bahnhofs lag das gelbliche Licht der großen Lampen. Owen Carlin bummelte am Zug entlang. »Na, Mister Carlin«, flüsterte Hal neben ihm, »sind die Zahnschmerzen vorüber?« Carlin blickte zur Seite. »Ah, der ehrenwerte Pi Yung«, murmelte er sarka stisch. »Zahnschmerzen sind immer noch besser als Leibschmerzen, die Sie in den Sümpfen bekommen 65
werden. Und nun verschwinden Sie, wir fallen auf.« »Wir reden noch darüber.« Owen Carlin ging weiter. Er wurde bald von Pawel Smirnow angesprochen, der ausnahmsweise einmal nicht spielte, sondern aus dem heruntergelassenen Fenster blickte. »Hallo, Carlin«, sagte Smirnow. »Auch frische Luft schöpfen?« Carlin blickte flüchtig hoch. »Ganz recht. Wie geht es Miß Smirnow? Ich hörte, es sei ihr nicht wohl?« Smirnow winkte durch eine Handbewegung ab. »Hat nichts zu sagen. Frauen haben solche Anfäl le. Feodora schläft augenblicklich.« »Ich wünsche ihr gute Besserung.« »Augenblick noch, Carlin. Haben Sie nicht Lust, ein Spielchen mitzumachen? Unser vierter Mann hat aufgegeben, und bis Soeul ist noch viel Zeit. Oder fahren Sie nicht so weit?« Carlin dachte gar nicht daran, seine Karten aufzu decken. »Doch, aber offengestanden reizt es mich nicht zu spielen. Ich werde mir lieber eine anständige Flasche besorgen.« »Schade, aber wenn aus dem Spiel ohnehin nichts mehr wird, leiste ich Ihnen vielleicht ein bißchen Ge sellschaft dabei.« »Würde mich freuen«, sagte Carlin ohne viel Be 66
geisterung. Er ließ sich nun nicht mehr aufhalten, sondern schlenderte weiter. Anne Carroll stand vor den Trittstufen ihres Wa gens. Ein halbnackter Kuli überschüttete sie mit ei nem Wortschwall, aus dem sie vergeblich einen Sinn zu erfassen versuchte. Auch durch die Gesten erriet sie ihn nicht. Trotzdem bereitete es ihr offensichtlich Spaß. Carlin lehnte sich an die Ecke des Nebenwagens, kreuzte die Arme über der Brust und genoß die Sze ne. Sie hatte ihn bemerkt. Eigentlich war sie ent schlossen gewesen, ihn einfach nicht zu beachten, aber die stille Musterung von der Seite her ging ihr bald auf die Nerven, so daß sie sich entschloß, ihn lieber zu beschäftigen. »Was sagt er, Mister Carlin?« Carlin war so versunken gewesen, daß er sich jetzt unwillkürlich straffte, als plötzlich die Frage kam. Langsam und schleppend, als wollte er seine Re aktion wieder ausgleichen, gab er Antwort: »Er sagt, daß die fremde Blume schön sei wie eine Mandelblü te zur Zeit des Mittelfrühlingsmondes, daß Ihr An blick berausche wie Dattelwein beim Drachenboot fest und daß…« Verwundert und leicht empört unterbrach sie ihn. »Das ist doch gar nicht wahr.« 67
Er lächelte. »Ich finde, der Mann hat nicht so unrecht.« »Aber nein, ich meine doch, daß er das überhaupt nicht gesagt hat. Ich habe ihn doch bloß gefragt, ob das hier eine große Stadt ist.« »Das schließt noch lange nicht aus, daß er neben bei Ihre Schönheit in ausgesuchten Worten preist. Ja, es ist eigentlich selbstverständlich. Er kennt Sie nicht und fühlt sich als höflicher Mann verpflichtet, zu nächst Ihre sämtlichen Tugenden aufzuzählen. Diese Leute sind nun mal so. Sie reden tausend Worte um eins herum, ranken kunstvolle Blumengewinde der Sprache um eine Kleinigkeit, die wir grob herauspol tern, heben den anderen in den Himmel und machen sich selbst so niedrig wie möglich – kurz, sie sind ungemein höfliche Menschen.« »Die Leute die ich bis jetzt gesehen habe, machten meistens nicht gerade einen kultivierten Eindruck.« Er nickte. »Was würden Sie sagen, wenn man Amerika nach seinen Gepäckträgern, Hotelangestellten und Solo tänzern beurteilen würde?« »Das wäre falsch, wenn es auch oft genug ge schieht.« »So falsch ist es auch, fremde Länder nach den Menschen zu beurteilen, die der Durchreisende ken nenlernt. Die Menschen der Fremdenviertel sind Mischlinge des Geistes und der Kultur. Sie haben an 68
Tradition verloren und an Verschlagenheit gewon nen.« »Aber der Mann eben sah nicht aus wie einer, des sen höchster Genuß eine formvollendete Unterhal tung mit seinen Freunden ist. Er kam mir recht ärm lich und schäbig vor.« Carlin verbiß sich das Lächeln, nur sein Tonfall wurde leicht spöttisch. »Man merkt, Daß Sie Amerikanerin sind, Miß Anne. Ihr…« »Warum nennen Sie mich eigentlich bei meinem Vornamen?« unterbrach sie ihn. Er hob die Lider etwas. »Tat ich das? Es ist wohl eine dumme Angewohn heit von mir, etwas, das mir gefällt, mit dem Namen zu bezeichnen, der mir am passendsten scheint. Car rolls gibt es drei in diesem Zug. Anne Carroll aber ist einmalig. Und – Sie gefallen mir.« »Soll das eine Beleidigung sein oder eine Schmei chelei?« »Beide Annahmen verraten, wie schlecht Sie von mir denken. Fühlen Sie sich geschmeichelt, so war es eine Lüge, fühlen Sie sich beleidigt, so unterstellen Sie Wahrheit. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dür fen Sie sich als beleidigt betrachten.« »Sie sind ein merkwürdiger Mann, Mister Carlin«, sagte sie gedankenvoll. Die Falten an seinen Mundwinkeln vertieften sich. 69
»Die gleiche Phrase hörte ich schon einmal heute von einer Frau. Und eine Minute später konnte ich sie gerade noch rechtzeitig davon überzeugen, daß ich keine Lust hatte, aus dem Zug zu stürzen.« Sie sah ihn etwas hilflos an. »Ich verstehe Sie nicht. Vielleicht erscheinen Sie mir deshalb so merkwürdig. Ich glaube, meine Mut ter hat recht.« »Womit?« »Sie behauptet, man dürfe kein abschließendes Ur teil über Sie fällen. Manche Männer hätten drei Mas ken als dicke Schichten um sich gelegt, und Sie ge hörten vielleicht zu diesen.« Er schwieg. »Jetzt habe ich Sie wohl schrecklich beleidigt?« Er löste die Arme von der Brust und erwiderte ru hig: »Nein, ich überlege mir nur gerade, daß ich Ih nen wie Ihrer Mutter sicher als recht interessanter Typ vorkomme, von dem Sie zu Hause erzählen können. Ihre Mutter ist eine kluge Frau, aber sagen Sie ihr, daß es ganz darauf ankommt, was sich unter den drei Schichten verbirgt. Es ist meist besser, man bohrt da nicht nach, da sonst der romantische Reiz verloren geht. Immerhin ist es ein bemerkenswertes Erlebnis für mich, daß man mir einen sogenannten edlen Kern zutraut. Richten Sie ihr meine Verehrung dafür aus.« Sie seufzte. 70
»Schade, daß Sie die Augen immer so hartnäckig geschlossen halten. Man weiß nie genau, wie Sie es meinen.« Ihre offene Art gefiel ihm immer mehr. Er hob langsam die Lider. »So besser?« Jetzt sah sie, daß seine Augen von dunklem Grau waren. »Ja«, sagte sie, »so sehen Sie – weniger chinesisch aus. Warum senken Sie eigentlich die Lider immer?« Er lächelte. »Auch eine schlechte Angewohnheit, die ich mir hier erworben habe.« »Sie leben schon lange in diesem Land?« »Zehn Jahre, Miß Anne, davon die geringste Zeit in den großen Städten.« »Zehn Jahre«, wiederholte sie. »Dann müssen Sie allerdings die Leute kennen. Ich stelle es mir grauen haft vor, immer so unter fremden Menschen zu le ben.« »Man gewöhnt sich daran. Nur manchmal wünscht man sich’s anders – heute zum Beispiel.« »Warum gerade heute?« Er beobachtete unentwegt ihr Gesicht. »Einmal kommt die Stunde im Leben jedes Mannes, in der er eine Frau kennenlernt und dabei die Gewiß heit empfindet, daß diese Frau eigentlich vom Schick sal für ihn bestimmt wurde. Ich empfand diese Gewiß 71
heit in jener Rakischenke in Fu-san, als ich Sie sah.« Sie schwiegen. »Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte er end lich. »Irgendwo habe ich einmal das verrückte Wort gehört: ›Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an.‹ Halten wir uns daran. Übrigens liegt mir nichts fer ner, als Ihnen eine Liebeserklärung machen zu wol len. Ich bin eben ein merkwürdiger Mensch.« »Sie sind es, und doch habe ich jetzt sehr viel Zu trauen zu Ihnen. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Sie nicht vergessen wollten, daß Sie unser Rei sebegleiter sind.« »Einstweilen. Ich verabschiede mich jetzt.« »So schnell? Sie wollten mir noch erklären, wieso man merkt, daß ich Amerikanerin bin.« Er mußte sich erst besinnen. »Ach so? Nun, Sie fanden die Schäbigkeit des Ku lis unvereinbar mit meinen Behauptungen, weil Ihre Maßstäbe eben vorzugsweise wirtschaftlicher Natur sind. Kulturelle Form und Reife ist jedoch vom Wirt schaftlichen unabhängig, wenigstens…« Ein Aufblitzen warnte ihn in letzter Sekunde. Mit einer Schnelligkeit, die sie hinter seiner bisherigen trägen Haltung nicht vermutet hatte, duckte er sich. In der Wagenwand zitterte plötzlich ein langes Messer. Carlin richtete sich auf und spähte über den Bahn steig. Dort hinten lief ein Eingeborener davon. 72
Nun drehte er sich halb um und zog den Stahl aus dem Holz. Einige Male hob und senkte er das Messer in der offenen Hand, dann warf er es unter den Wa gen. Der gute Pawel rührte sich. Es war auch leichtsinnig genug, hier herumzuste hen. Anne Carroll begriff ganz allmählich, daß man auf diesen Mann einen Mordversuch unternommen hatte, während sie sich mit ihm unterhielt. »O Gott«, hauchte sie jetzt, »man hat das Messer nach Ihnen geworfen?« Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Hat nichts zu sagen, Miß Anne. Es war eine Bot schaft von einem guten Freund.« »Man wollte Sie ermorden.« »Aber nicht doch«, beruhigte er, als er merkte, daß sie zitterte. »Es war ein harmloser Scherz.« »Das ist nicht wahr«, widersprach sie. »Wenn Sie sich nicht geduckt hätten, wären Sie getroffen wor den. Wollen Sie den Vorfall nicht melden?« »Nein«, gab er kurz zurück. »Doch nun steigen Sie ein, wir fahren bald ab.« Sie war überrascht, als er ihr folgte. Sie wollte die Tür zum Innern des Wagens öffnen, da hielt er ihre Hand fest. »Warten Sie bitte. Ich möchte mich von Ihnen ver abschieden.« 73
»Wollen Sie nicht mit hineinkommen?« Er lächelte. »Danke, ich muß darauf verzichten. Erleuchtete Räume besitzen manchmal eine merkwürdige Anzie hungskraft. Also leben Sie wohl. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Sie erwiderte seinen Händedruck. »Ich Ihnen auch, Mister Carlin. Ich – meinten Sie das vorhin im Ernst, als Sie sagten, ich gefiele Ih nen?« »Sehr!« Sie holte tief Atem. »Nun, wenn Sie weniger merkwürdig wären, könnten Sie mir auch gefallen. Leben Sie wohl.« Sie riß ihre Hände los und öffnete die Tür. Owen Carlin sah sie noch einmal im hellen Licht, dann stand er allein. Er blieb noch eine ganze Weile am gleichen Platz stehen. Es war ein Glück, daß niemand den träumeri schen Ausdruck seines Gesichtes sah, sonst hätte sich Carlin in dieser Minute seinen ganzen Ruf verdor ben. Als draußen der Abfahrtslärm einsetzte, schritt er wieder mit verschlossenen und undurchdringlichen Zügen davon. *
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Der Expreß rollte durch die Nacht. Südlich von Ping-fu begann das Sumpfgebiet, das sich über fast hundert Kilometer Länge erstreckte. Der Zug durchquerte es nicht, aber er fuhr in gut zehn Kilometer Entfernung am Rande dieses Gebie tes entlang, das seit Jahrhunderten oder gar Jahrtau senden als Schlupfwinkel für ausgebrochene Sträf linge, arbeitsscheue Tagesdiebe und sonstiges Gesin del galt. Trotzdem blieb die Bahn im allgemeinen unbehel ligt. Das lag an der Wirksamkeit einiger Strafexpedi tionen infolge moderner Bewaffnung. Jedenfalls ge hörten Überfälle auf die Bahn zu den Seltenheiten. In dieser Nacht aber geschah es. Li Kün, der Heizer auf der schweren Schnellzug lokomotive, riß die Tür zur Feuerbuchse auf, so daß die rotflammende Glut herausschoß. Die lange Eisenscharre fuhr in die Feuerbuchse hinein. Kraftvoll drückte Kün nach, zog zurück, bog sich wieder vor, daß die schwärzlichen Schlacken brachen und die weiße Vollglut zum Vorschein kam, über der stiebend die Feuerfunken an den Kessel rohrnieten emportanzten. Mit einem Schwung holte Kün die schwere Schar re wieder heraus und ließ sie polternd in ihre ge wohnte Ecke fallen. Dann zog er wie stets ein schmutziges Tuch aus der rechten Hosentasche, 75
wischte sich den Schweiß von der Stirn und steckte es wieder zurück. Nun nahm er die breite Schaufel und wiegte den Körper seitlich zurück zum Tender. In diesem Augenblick bemerkte er die beiden Männer, die über Laufbretter und Kupplung hinweg auf den Tender gestiegen waren und die Revolver auf ihn wie auf den ahnungslosen Lokführer richteten. Ihre Körper mit der zerknitterten und verschmutzten Kleidung waren deutlich zu sehen, auch die vorge streckten Arme mit den Waffen, aber die Gesichter wurden vom Feuerschein kaum getroffen und ver schwanden in der Dunkelheit der Nacht. Li Kün war kein Held, aber der Umgang mit Wei ßen, einige Kriegs jähre und sonstige Erlebnisse hat ten ihn gelehrt, auch in der Minute der größten Angst immer das Gegenteil von dem zu tun, was er eigent lich tun mochte. Er warf sich daher nicht zitternd auf die Eisenplanke und versteckte sein Gesicht, sondern trieb den Schwung der Schaufel weiter, ließ sie los und schrie dabei auf. Die eiserne Schaufel fuhr auf den einen der Män ner zu, so daß dieser ausweichen mußte, ins Rut schen und Stolpern kam und nun fluchend auf Li Kün zu stolperte. Vielleicht hätte dieser die Gelegen heit benutzt, den etwas verwirrten Angreifer zu überwältigen, wenn nicht sein Schicksal schon mit dem des Lokführers entschieden worden wäre. 76
Dieser hatte sich bei dem Ausruf herumgedreht und dabei die Dienstwaffe, die er stets in der Tasche mit sich führen mußte, herausgerissen. Er kam aber nicht mehr zum Schuß, sondern zuckte mit den Ar men hoch, verschob die Lippen, als wollte er noch etwas sagen, und drehte sich schwerfällig zur Seite. Sein Oberkörper schlug auf die Gegensteuerung nie der. Li Kün beobachtete das aus einem Augenwinkel und erkannte, daß er allein gegen die beiden nichts ausrichten konnte. Seine Hand ließ den Schürhaken wieder los. Er duckte sich, so daß er durch den Herab taumelnden verdeckt blieb, riß die Eisentür auf, um klammerte die Griffstange und warf seinen Körper hinaus. Er hatte gerade seinen Kopf hinuntergebracht, als ein zweiter Schuß auf dem Riffeleisen verspritzte. Halb besinnungslos griff er nach, hockte eine Sekunde auf der untersten Stufe, sah rechts die hohen Räder und die stampfenden Stangen, unter sich Schiene und Schotter, links nächtliche Ebene, dann stieß er sich ab und warf die Beine nach vorn. Die Füße rammten an, er überschlug sich, kollerte und blieb liegen. Der letz te Wagen stampfte vorüber, als er begriff, daß der Sprung ihm nicht viel geschadet hatte. Die beiden Männer auf der Lokomotive blickten flüchtig zurück. »Das hätte der Narr einfacher haben können«, knurrte der eine. 77
Der andere, ebenfalls ein Koreaner, schien die Angelegenheit schon vergessen zu haben. Er über prüfte die Apparate und zog den Fahrthebel etwas zurück. Mit dem Bein warf er die Tür der Feuerbuch se zu. Doch dann bemerkte er den schlaffen Körper des Lokführers auf der Umsteuerung. Er lüftete ihn an und befahl dann kurz: »Faß an!« Sie hoben den Toten ab und legten ihn auf den Boden. Signale. »Kiä yang tschen«, stellte halblaut einer der bei den den Namen der Ortschaft fest. »Noch achtzehn Li«, brummte der andere. Weit in der Ferne flammte ein rötlicher Punkt auf. »Die Fackel«, murmelte der, der die Maschine jetzt führte. »Sie sind zur Stelle.« Er ruckte den Fahrthebel wieder ein Stück ein, so daß sich die Geschwindigkeit verringerte. Das Fackellicht wurde schnell größer. Ein Stück dahinter glomm es zum zweitenmal wie ein böses, wütendes Auge in der Nacht auf. Heulend strich der Dampf durch die Sirene. Der Koreaner auf der Maschine arbeitete jetzt schnell und sicher. Fahrthebel zurück, die Kurbel der Gegensteuerung wirbelte herum, die Hand spannte sich um den Hebel der Luftdruckbremse. Jetzt befand sich der nur noch durch eigene Wucht schiebende Zug zwischen den beiden Fackeln. Ein Druck, und 78
hart und knallartig schlugen überall die Bremsbacken gegen die Eisenräder und würgten quietschend ihren rollenden Lauf ab. Der Zug stand. Einige Fenster klirrten, ein paar Köpfe fuhren neugierig heraus. Dann kreischte eine Stimme auf. Von beiden Seiten brandete die Flut gegen die Wagen an, hier wie dort Dutzende von bewaffneten Chinesen. Sie stellten sich auf die Trittbretter, dran gen in die Wagen ein oder blieben wenige Schritte entfernt mit schußbereiten Gewehren stehen. Einige Schüsse knallten in der vorderen Hälfte des Zuges, dann quoll allmählich der Lärm aus den Wa gen heraus. Die Banditen leerten den Zug. Owen Carlin stand auf dem Gang, als der Brems druck kam. Er wollte in einer halben Stunde ausstei gen und hatte deshalb darauf verzichtet, sich erst schlafen zu legen. Er taumelte einige Meter vorwärts. Inzwischen kombinierte sein Hirn mit höchster Schnelligkeit. Weshalb hielt der Zug hier auf freier Strecke? Hatte er nicht in der Nähe eine erhobene Fackel mit eini gen Leuten gesehen? Er preßte das Gesicht an die Scheibe. Da rannten Gestalten aus der Dunkelheit. Der Zug wurde überfallen. Und Anne Carroll schlief. 79
Er fand es nicht weiter merkwürdig, daß er zuerst an diese Frau dachte, sondern lief ohne lang zu über legen den Zug entlang. Im Laufen zog er eine Pistole und knallte einige Schüsse vor sich her, um die Fahrgäste so schnell wie möglich munter zu machen. Die ersten Menschen traten ihm verwirrt in den Weg. Er stieß sie rücksichtslos beiseite und erreichte gerade noch den Wagen der Carrolls, als dort die er sten Banditen eindringen wollten. Im Anlauf warf er sie hinaus und schlug die Tür wieder hinter sich zu. In dem schwach erleuchteten Wagen herrschte Ratlosigkeit. »Bitte kleiden Sie sich so rasch wie möglich an«, rief Carlin jetzt. »Der Zug ist überfallen worden. Packen Sie Ihre notwendigsten Sachen in kleine Kof fer. Sie müssen unter Umständen damit rechnen, in wenigen Minuten durch die Nacht zu marschieren. Beeilen Sie sich und kümmern Sie sich nicht um das, was sonst um Sie vorgeht.« »Verdammte Schweinerei«, schimpfte Carroll. »Das sind Sie doch, Carlin. Wir haben Waffen!« »Völlig zwecklos. Machen Sie keinen Gebrauch davon. Und weg von den Fenstern!« In den Fenstern standen schon die Schatten von Banditen, gleichzeitig wuchtete es in Carlins Rücken. Er drehte sich um, öffnete die Tür, fing aber die drängenden Gestalten mit seinem eigenen Körper 80
und mit der vorgehaltenen Pistole ab. Der vorderste der Banditen stemmte sich erschrocken zurück und klemmte dadurch die anderen ab. Carlin stand in ei ner strategisch günstigen Stellung. Er konnte ebenso schlecht von den Fenstern wie von der Tür aus be schossen werden, nur die Gegentür bot große Gefahr. Carlin wartete nicht ab, bis sich aus der Stauung ein Angriff entwickelte. Er sprach schnell und hastig, aber so laut, daß man ihn durch den ganzen Wagen hindurch und an den Fenstern hören konnte. »Hört auf mich«, sagte er auf Koreanisch. »Ich bin Owen Carlin, der Mann, den Tsai Kiu, der Herr der Sümpfe, seinen Bruder nennt, der weiße Taifun, des sen Namen ihr sicher schon gehört habt. Ich bin be waffnet. Die ersten zehn von euch, die in diesen Wa gen eindringen, sterben von meiner Hand. Ihr müßt nur ganz kurze Zeit warten, dann will ich euch frei willig meine Waffen geben und mit den anderen den Wagen verlassen. Wartet oder wählt den Tod, auch ihr dort drüben.« Es war nicht klar, ob sein Name oder die Drohung wirkte, jedenfalls erfolgte kein Vorstoß. Aber nach einer Pause rief einer, der in der Nähe der Tür stand: »Der weiße Taifun ist hier? Ich kenne ihn!« »Und ich kenne dich, Li Kweh aus Wu whe kün«, antwortete Carlin sofort. »Haben wir nicht zusam men gekämpft?« »Tsai«, kam es freudig zurück, »so ist es. Freunde, 81
das ist der weiße Taifun. Wartet, wie er befohlen hat.« »Wollt ihr euch durch List täuschen lassen?« rief jemand von der anderen Tür. Carlin hatte einen guten Verteidiger an dem ehe maligen Soldaten. »Der weiße Taifun lügt nicht. Siehst du nicht, daß Frauen in diesem Wagen sind? Ist es nicht Sitte, daß Frauen nicht unbekleidet herumlaufen sollen? War tet!« Ein verächtliches Schnauben kam zurück, aber der Betreffende wagte keinen Angriff, und die anderen verhielten sich still. »Li Kweh«, rief Carlin hinaus, um die Zeit zu überbrücken, »was habt ihr im Sinn? Wollt ihr den Zug ausplündern?« »Ja, weißer Taifun«, kam es ungeniert zurück. »Es soll viel Geld im Gepäckwagen sein.« »Und die Fahrgäste?« »Auch die Gäste des Zuges haben viel Geld und Schmuck. Man wird ihnen beides abnehmen.« »Und sie dann freilassen?« »Ich weiß nicht. Viele sicher, aber nicht alle. Wer reich ist, wird nicht arm durch ein Lösegeld. Es ist gerecht, daß er für die Armen etwas tut.« »Man wird euch eine Strafexpedition auf den Hals schicken, wenn ihr die Fremden gefangen nehmt.« »Das muß Yang Hsiung wissen.« 82
»Das ist euer Anführer?« »Ja, Yang Hsiung, der Rothaarteufel, und Tu Hsing, genannt die weiße Teufelsfratze. Sie führen die Brüder vom Gelbschlamm-Moor.« »Gehört ihr nicht mehr zu Tsai Kiu?« »Wir wissen es selbst nicht genau. Sind die Frem den nicht bald fertig, weißer Taifun? Der Zug ist schon leer.« »Gleich.« Carlin wandte sich an die Insassen des Wagens. »Wie weit sind Sie?« Anne Carroll trat zu ihm. »Wir sind fertig, Owen. Kennen Sie diese Leute?« »Nur einen. Es sind Räuber aus den Sümpfen. Wahrscheinlich werden sie Ihren Schmuck und den Herren die Brieftasche abfordern. Bitte geben Sie das Zeug ohne Widerstand. Darüberhinaus haben Sie kaum etwas zu befürchten. Allenfalls wird man noch Lösegeld fordern und Sie einige Zeit festhalten, bis es eingetroffen ist.« Sie faßte seinen Arm. »Ich – ich fürchte mich. Es ist alles so unbekannt und schrecklich. Bitte bleiben Sie bei uns!« »Ich bleibe bei Ihnen, Anne.« Gleich darauf verließen sie den Wagen. Die Chi nesen waren so unsicher in bezug auf Carlin gewor den, daß sie ihm nicht einmal die Waffe abnahmen.
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Hal Mervin, Zipp und Bill Morlan, die drei falschen Chinesen, fuhren gleichzeitig hoch, als der Zug zum Stehen kam. Sie hatten sich die Zeit mit tiefsinnigen Gesprächen vertrieben und ebenfalls auf Schlaf ver zichtet, weil sie auch bald aussteigen wollten. Bill Morlan erfaßte die Lage zuerst. »Alle Wetter«, murmelte er nach einem Blick ins Freie, »das sieht fast so aus, als wollte man uns über fallen. Natürlich, da kommen sie schon gerannt.« Hal Mervin hatte im Nu seine Pistole bei der Hand. »Denen werden wir einheizen.« Morlan wehrte ab. »Nicht schießen. Das sind sicher einige hundert Leute. Hier hilft bloß zu verschwinden.« »Ach was, ich…« »Machen Sie keinen Unsinn! Fort, am besten unter die Wagen!« Morlan drückte die Tür auf und glitt in den Spalt zwischen Trittbrett und Wagenwand. Hal vertraute nun doch der größeren Erfahrung und folgte nach. Zipp blieb jedoch oben. »Zu spät«, klagte er. »Die Länge meiner Gliedma ßen gestattet mir nicht mehr, ungesehen zu verschwin den. Doch fürchtet nichts, meine Freunde, mein vor trefflicher Geist wird mich vor Ungelegenheiten be wahren. Und verschwindet gefälligst von diesem Wagen. Es ist möglich, daß man euch gesehen hat.« 84
Damit setzte er sich bedächtig in die offene Tür und blickte erwartungsvoll auf die Bewaffneten, die bereits auf wenige Meter herangekommen waren. »Hoho, ein Pfaff«, brüllte einer und riß ihn am Arm herunter. »Hoffentlich ist nicht der ganze Zug voll von solchen Hungerleidern. Oder trägst du Tem pelschätze bei dir, Kahlgeschorener?« Zipp machte seinen Arm frei und schlug dem Mann ins Gesicht, so daß er zurückstolperte. »Das ist mein Schatz, Verwegener«, dröhnte er düster. »Wie kannst du es wagen, Ho Tao, den man den Himmelragenden aus dem Tempel von Tai an tschou nennt, so derb anzufassen?« Die anderen Banditen, die nur zum geringen Teil in den Wagen eingedrungen waren, lachten laut auf. Der Geschlagene hatte jedoch weniger Humor, denn er rückte drohend wieder näher. Einer seiner Kameraden fiel ihm in den Arm und beruhigte: »Laß gut sein, der sehr ehrenwerte Ho tao hat recht.« »Verdammt handfester Priester«, murrte der ande re. »Wie es sich geziemt für euch Brüder vom Busch«, verkündete Ho Tao. »Doch komm zu mir, der du auf den Tempelschatz so begierig bist, ich will dir ein goldenes Pflaster auflegen.« Er hielt einen Beutel hoch. Doch das lockte nicht nur den, der gerufen worden war. 85
»Sieh da, er hat Geld«, murmelten ein paar. Ho Tao langte eine Handvoll Goldstücke heraus. »Fast hätte es mich den Kopf gekostet«, sagte er nachdenklich, »denn man hätte mich um ein Haar gefangen, als ich es stahl. Nun wollte ich es den Brü dern vom Tao hua schan, den Brüdern vom Pfirsich blütenberg bringen, um zu zeigen, daß ich würdig sei, bei ihnen aufgenommen zu werden. Aber es soll mir recht sein, es an euch zu verteilen, wenn ihr er laubt, daß ich bei euch bleiben darf.« »Hört, hört«, brüllten einige. »Da haben wir ja ei nen hübschen Fang gemacht.« »Keine Sorgen«, rief ein anderer, »wir sind die Brüder vom Tao hua schan, die Bande aus dem Gelbschlamm-Moor.« »Nicht möglich«, wunderte sich Ho Tao unnach ahmlich. »Gib her«, drängte einer. »Was du schnell gibst, braucht nicht zu der gemeinsamen Beute abgeliefert werden. Du kannst dich uns anschließen.« Ho Tao verteilte schnell in die hingereckten Hän de. »Welch glückliche Fügung des Himmels, euch wackere Burschen zu treffen. Pfote weg, vereh rungswürdiger Freund, du hast schon bekommen. So, der Rest ist für den gewissen Ho Tao, den man den Himmelragenden nennt.« Ho Tao hatte sich zu den Banditen geschlagen, 86
und – was wichtiger war – sie hatten ihn ohne viel Förmlichkeit in ihren Kreis aufgenommen. Man war es in den Sümpfen gewohnt, daß Neue ankamen. Und daß diese Neuen Priester waren, kam gar nicht so sehr selten vor. Die Gebote der Klöster und Tem pel waren streng, und manch einer, der in früher Ju gend zum Diener Buddhas bestimmt worden war, merkte später, daß er nicht im geringsten dazu taugte. Bill Morlan und Hal Mervin hatten Zipps Rat be folgt. Sie waren mit größter Geschwindigkeit ein Stück davongekrochen und hatten sich zwischen Achsen und Fahrgestell eines Wagens geklemmt. Gefährlich wurde die Lage nur, wenn man die Un tergestelle planmäßig absuchte oder den Zug anfah ren ließ. Hal schielte am Radkreuz vorbei ins Freie. Dicht vor ihm bewegten sich Beine und Füße. Ein Stück entfernt sah er schon mehr. Da eilten Räuber hin und her, zerrten Fahrgäste und schleiften Gepäckstücke. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, weil das Licht dürftig war. Der Schauplatz wurde nur erhellt durch einige rötlich glühende, rauchende Fackeln, die die Szene düster und wild machten. Lange Zeit verging. In den Trubel kam Ordnung. Die Gepäckhaufen verschwanden, die Fahrgäste stellten sich in einer lockeren Reihe auf. Dann wurde es hell. Ein Trupp Männer näherte sich langsam. Er schritt die Reihe der Fahrgäste ab. 87
Der ganze Trupp trug Fackeln in den erhobenen Händen. Nur zwei Männer an der Spitze hatten ihre Hände frei. Diese beiden waren offenbar die Anführer und sichteten die Fahrgäste. Der eine war ein Koreaner. Hal Mervin beachtete ihn kaum. Der andere war ein Weißer. Er trug europäische Kleidung. Seine Haltung und Bewegung war so un verkennbar charakteristisch, daß Hal kein Licht ge braucht hätte, um die teuflische Fratze dieses Mannes genau zu studieren. Das war der Mann, um dessentwillen Zipp und er sich hier befanden, den sie suchten. Es war Juan Garcia. Hal Mervin hätte vor Ärger fast laut geflucht, weil er ihn zwanzig Meter vor sich sah und sich ganz ru hig verhalten mußte. * An der Zugspitze glühten die Fackeln auf und be wegten sich langsam an der verängstigten Reihe ent lang. Die Häuptlinge der Bande sichteten ihre Beute. Yang Hsiung und Tu Hsing gingen Seite an Seite von einem Fahrgast zum anderen. Yang Hsiung trug den Beinamen ›der Rothaarteu 88
fel‹. Er verdankte ihn der schmutzig-rötlichen Farbe seines Haares. Rohheit und Grausamkeit, Gier und Verschlagenheit zeichneten sein gelbes Gesicht, das durch einen schiefgedrückten Unterkiefer eine be sonders abstoßende Note erhielt. »Die weiße Teufelsfratze«, so nannte man heim lich oder offen Tu Hsing, den sich Yang Hsiung zum Unterführer erkoren hatte. In Mexiko hieß er Juan Garcia. Er trug wahrhaftig eine Teufelsfratze, und der stechende Blick der Augen wie das höhnische Lächeln der dünnen farblosen Lippen paßte zu dieser Bezeichnung. Der stark mitgenommene Anzug un terstrich, daß er ein Weißer war. Yang Hsiung trug übrigens Uniform mit den Rangabzeichen eines Hauptmanns. Langsam schritten sie vorwärts. »Brieftasche, Geld und Wertsachen«, kam es im mer wieder von den Lippen des Koreaners, worauf das jeweilige Opfer sich des Gewünschten entledigte und es dem Banditen aushändigte, die mit Säcken den beiden Häuptlingen folgten. Ein anderer Bandit suchte nach der freiwilligen Ablieferung schnell und gewissenhaft den Reisenden ab, zauberte verborgene Schätze hervor und riß die Ringe von den Fingern. Die beiden Häuptlinge überlasen inzwischen die Papiere, die ihnen ausgehändigt wurden, dann folg ten schnelle Fragen, nach Herkunft und Besitz, manchmal eine kurze Beratung der beiden und dann 89
die Entscheidung über die Person. Der eine durfte an den Wagen herantreten in der befreiten Gewißheit, daß man sich nicht weiter um ihn kümmern würde, der andere mußte in den Ring der Banditen folgen, der an der Zugspitze gebildet worden war. Er mußte sich mit dem Gedanken vertraut machen, ungewisse Tage vor sich zu sehen, bis ein Lösegeld eingetroffen war oder sonstige Wünsche der Banditen erfüllt wa ren. Jetzt kam Pawel Smirnow an die Reihe. Er stand neben dem Koffer, auf dem Feodora Smirnow müde und halb betäubt saß. »Brieftasche, Geld und…«, murmelte Yang Hsi ung wie gewöhnlich. »Hat Yang Hsiung ein so schlechtes Gedächtnis?« fragte Smirnow zwinkernd. Der Koreaner prüfte überrascht das Gesicht, dann streckte er die Hand aus. »Sieh da, mein Freund Stefano…« »Pawel Smirnow«, korrigierte der andere. »Nennst du dich jetzt so? Ich hätte dich fast nicht erkannt. Damals trugst du einen Bart.« »Man verändert sich«, sagte der Russe grinsend. »Doch wir wollen später darüber sprechen, ich habe ohnehin mit dir zu reden. Ich hoffe, daß du mich jetzt ungeschoren läßt und mich dafür mit in deinen Schlupfwinkel nimmst.« »Der erste, der sich das wünscht. Du bist als mein 90
Gast willkommen. Wer ist das?« »Meine Tochter Feodora.« Jetzt grinste der Koreaner. »Seit wann hat man dich mit Familie gesegnet? Na, gut. Warte hier, bis ich fertig bin.« Smirnow nickte. »Gut. Doch halt, noch eins. Weiter unten steht ein Mann, der sich Owen Carlin nennt. Wenn ich nicht irre, hat er die Absicht, zu Tsai Kiu zu gehen. Ich glaube, er steht im amerikanischen Nachrichten dienst. Es wäre mir lieb, wenn du dich des Mannes annehmen würdest.« Yang Hsiung verzog das Gesicht. »Ein Amerikaner zu Tsai Kiu? Dein Hinweis ist nicht schlecht.« Er schritt weiter. Fast am Ende des Zuges stand eine kleine Reise gesellschaft, die aus dem Amerikaner Carroll, seiner Frau, seiner Tochter, sowie seinem Sekretär, einem Kaufmann und Jane Flower bestand. Außerdem be fand sich jetzt Owen Carlin bei ihr. Carroll und seine Tochter befanden sich am weite sten vorn. Ihnen galt zuerst die monotone Aufforde rung des Koreaners: »Brieftasche, Wertsachen und Geld!« Carroll lieferte bereitwillig ab, was er besaß, und Anne Carroll reichte ihren Schmuck hin. Tu Hsing nahm Carrolls Papiere. 91
»Sie sind Amerikaner?« »Jawohl«, erwiderte Carroll finster. »Ich protestie re gegen diese Ausraubung und mache Sie darauf aufmerksam, daß ich den Vorfall unserer Vertretung melden werde.« Tu Hsing grinste dünn. »Sie wird ohnehin davon erfahren. Sie sind reich?« »Ja«, gab Carroll unwillig zu. »Was soll das?« Die Frage galt dem Chinesen, der ihn mit flinken Fingern nach verborgenen Dingen absuchte. »Eine kleine Leibesvisitation«, erklärte Tu Hsing. »Sie sind imstande, Lösegeld aufzubringen?« »Keinen Cent.« »Fünfzigtausend Dollar werden Sie sich schon wert sein. Das ist Ihre Tochter?« Bevor Carroll noch bejahen konnte, gab es einen Zwischenfall. Anne Carroll gab dem Banditen, der sie ebenfalls abtasten wollte, eine Ohrfeige. »Das ist eine Unverschämtheit«, sagte sie laut und warf gleichzeitig einen Blick auf Carlin, der zwar herangekommen war, sich aber passiv verhielt. Tu Hsing meckerte auf. »Ah, eine sehr energische junge Dame. Halt die Fackel näher, Kerl. Sieh da, und sehr hübsch, auffal lend hübsch auch noch. Nun, Miß Carroll, Sie haben schon recht, wenn Sie die schmutzigen Hände nicht an sich heranlassen. Aber untersuchen müssen wir 92
Sie schon, damit Sie nicht etwa eine kleine Waffe bei sich tragen. Ich werde mich selbst der Mühe unter ziehen.« Der Hohn war offenbar. »Unterstehen Sie sich«, sagte sie scharf und wich zurück. Das hinderte Tu Hsing freilich nicht, die Hände nach ihr auszustrecken. Als sie die junge Frau berührten, trat Owen Carlin schnell vor und verabreichte Tu Hsing einen Schlag auf die Kinnspitze, der ihn hinten überkippen ließ. Im Nu brandete Lärm auf. Yang Hsiung riß seine Pistole heraus und schlug sie auf Carlin an, ein Dut zend Banditen warfen sich auf ihn. Carlin schüttelte sie mit einigen schwingenden Bewegungen von sich ab. Li Kweh war geschickt vor seinen Boss getreten, so daß dieser nicht schießen konnte. Gleichzeitig winkte er seinen Kameraden, mit denen sich Carlin vorhin unterhalten hatte. Sie drängten heran und schlossen ihn ein, so daß die an deren Banditen nicht heran konnten, Carlin aber auch keinen Gegner in unmittelbarer Nähe fand. »Hör auf, weißer Taifun«, riet Li Kweh schnell, als sich Carlin nach neuen Angreifern umsah. Carlin verstand. Er rückte seine Sachen zurecht. »An mir soll’s nicht liegen. Wenn wir auch eure Gefangenen sind, so könnt ihr uns doch anständig behandeln. Ist das Yang Hsiung, der Rothaarteufel?« Der geschickte Li Kweh gab jetzt erst den Anfüh 93
rer frei, der mit seiner Pistole etwas töricht und ver loren in dem großen Kreis stand. »Verzeih, großer Yang Hsiung«, bat er dabei, »daß ich dein Gesicht deckte. Ich wollte nicht, daß der weiße Taifun sich versehentlich an deiner Person vergreift.« »Narr«, knurrte Yang Hsiung unwillig, »ich hatte die Pistole in der Hand.« »Oh, der weiße Taifun ist schneller als die Kugel. Du hast sicher schon von ihm gehört. Er hat auf un serer Seite gekämpft.« »Ich hörte seinen Namen«, sagte Yang Hsiung ru higer. »Und ich den Euren«, sagte Carlin, während er he rantrat, »als den eines tüchtigen Offiziers, der schon längst General sein sollte.« Yang Hsiung schluckte die dicke Schmeichelei wie süßen Likör. »Auch der Name des weißen Taifun wurde mit Ehrfurcht bei den Regimentern genannt«, sagte er. »Doch wie nennt Ihr Euch sonst?« »Owen Carlin.« Yang Hsiung hob die wimperlosen Lider. »Ah, Owen Carlin? Seit wann steht Ihr im ameri kanischen Geheimdienst?« Carlin zuckte nicht einmal zusammen. Er hatte sich gedacht, daß Pawel Smirnow eine solche Karte ausspielen würde. 94
»Welcher Narr hat es gewagt, dem sehr ehrenwer ten Yang Hsiung eine solche Lüge vorzusetzen?« fragte er zurück. Auf den Lippen des Koreaners erschien ein bos haftes Lächeln. »Ein Mann, der es eigentlich wissen müßte. Was wollt Ihr bei Tsai Kiu?« Carlin schüttelte den Kopf. »Der Mann, der es eigentlich wissen müßte, scheint wenig Achtung vor Eurem Zorn zu haben, daß er es wagt, Euch einen ganzen Haufen Lügen vorzubringen. Ich befand mich auf der Fahrt nach Soeul, um dort eine Beschäftigung zu suchen.« Yang Hsiung überlegte lange, während er unabläs sig Carlins Gesicht beobachtete. »Ihr seid ein guter Offizier«, sagte er endlich. »Ich habe den weißen Taifun oft rühmen hören. Warum geht Ihr nicht zu Tsai Kiu, der solche Offiziere braucht?« Carlin log mit unverschämter Sicherheit und Über legenheit. Er hatte außerdem aus der Unterhaltung mit Li Kweh genug erfahren, um damit arbeiten zu können. »Ah«, rief er erstaunt, »kennt Ihr Tsai Kiu nicht? Als er Hauptmann, wie Ihr ward und wie ich, da schätzte ich ihn als einen Bruder. Aber er hat sich ge wandelt, seitdem er sich den Herrn der Sümpfe nennt. Niemand hat Lust, Diener zu sein, wo er einst der ge 95
achtete Freund war. Doch was sage ich Euch das, der Ihr selber vor Tsai Kiu kniet und ihm dient?« »Ihr irrt«, erwiderte Yang Hsiung nachdrücklich. »Ich bin frei und niemand, vor allem nicht Tsai Kiu, hat mir zu befehlen!« Carlin verbeugte sich. »Bravo, das ist ein Wort, das meine Achtung vor Euch zum Turm werden läßt. Ihr seid ein Mann, den man mit zehn Stirnschlägen grüßen müßte, und es ist eine Ehre für mich, Euer Gefangener zu sein.« Der Koreaner ging auch auf das ein. Seine Züge wurden fast wohlwollend. »Der gewisse Yang Hsiung ist nur ein kleiner Mann«, meinte er voll altchinesischer Höflichkeit. »Es ist auch keine Rede davon, daß Ihr mein Gefan gener seid. Niemand von uns wird den weißen Tai fun belästigen.« »Tsai«, klang ringsum die Zustimmung auf. »Eure Lippen sind voll Güte, wie Eure Stirn voller Weisheit und Euer Herz voller Tapferkeit ist«, pries Carlin. »Welche Freude muß es sein, in Euerer Nähe leben zu dürfen.« Yang Hsiung biß bereitwillig auf den Köder, zu mal dies seinen eigenen Wünschen entsprach. »Was hindert Euch daran?« fragte er schnell. »Ihr seid ohne Beschäftigung, wie Ihr sagt? Warum sollt Ihr nicht wieder Offizier werden wie einst? Die Brü der vom Gelbschlamm-Moor werden sich freuen, 96
dem weißen Taifun dienen zu können.« Carlin hob die Schultern. »Ihr sprecht, wie es Euch Euer großes Herz ein gibt«, versetzte er zögernd. »Wie könnte ich mich in Eure kleine Schar eindrängen und da Ehre beanspru chen, wo Euch allein schon nicht genug Ehre angetan wird? Solltet Ihr nicht ein General über viele zehn tausend Mann sein? Ich sah aber nur einige hundert. Wie könnte ich mich da noch eindrängen?« Yang Hsiung kniff das linke Auge zusammen. »Hat nicht mancher mit einer kleinen Schar be gonnen, der dann groß und mächtig wurde? War nicht auch Tsai Kiu ein kleiner Mann, dessen Namen niemand kannte? Er wird wieder groß werden, weil die Brüder gern zu dem Mann gehen, dessen Namen sie mit Ehrfurcht nennen. Wenn Ihr mit mir zum Berg der Pfirsichblüte kommt, wird unsere Schar bald groß und stark sein, ein Heer, vor dem die Re gierung zittern wird.« Das war für asiatische Verhältnisse sehr deutlich und offen gesprochen und stellte alle Beweggründe klar. Dieser Yang Hsiung war auf Tsai Kiu neidisch und wollte sich selbst eine Machtstellung aufbauen. In seinen Träumen sah er sich wahrscheinlich als den großen Eroberer. Bis jetzt war er bedeutungslos, aber er hoffte, durch den weißen Taifun Zuzug zu be kommen, vor allem an gedienten Soldaten, die den Amerikaner von den Feldzügen her kannten. Und 97
wahrscheinlich traute er auch seinen eigenen militä rischen Fähigkeiten doch nicht so ganz und hoffte, in Carlin einen tüchtigen Organisator zu gewinnen. Owen Carlin spielte genau. Wenn er jetzt zu schnell darauf einging, verscherzte er sich die Rang stellung. Es mußte Yang Hsiung überlassen bleiben, ein Angebot zu machen. »Ihr meint?« gab er zurück und ließ damit alles of fen. Der Koreaner rückte schnell heraus. »Das ist meine Überzeugung, und deshalb will ich Eure wertvolle Hilfe gewinnen. Ihr sollt mein erster Unterhäuptling sein und nach mir der oberste Gene ral aller Truppen, die wir haben werden. Man wird Euch die gleichen Ehren erweisen wie mir.« Das war ein Angebot, das sich hören ließ. Carlin nahm sich trotzdem Zeit. »Eure Güte ist größer als meine Fähigkeit, sie zu erfassen«, erwiderte er geschmeichelt. »Ich wage nicht einzustimmen, weil ich fürchte, meine geringen Fähigkeiten werden Euch enttäuschen. Erlaubt, daß ich einen Tag darüber nachdenke.« Yang Hsiung lächelte säuerlich. »Die Klugheit preist man, die langsam reift, aber bedenkt, daß Ihr morgen schon weit von hier sein werdet, wenn…« »Erlaubt, daß ich Euch unterbreche. Ich werde mich Euch selbstverständlich anschließen.« 98
Yangs Gesicht hellte sich auf. »Ah, dann hoffe ich, daß der weiße Taifun morgen einer der Unseren sein wird.« »Ich hoffe, daß ich trotz meiner Unfähigkeit den Mut finde, Euren Vorschlägen zuzustimmen. Doch was ist mit dem da?« Carlin wies auf Tu Hsing, der sich jetzt allmählich aufrichtete. Yang Hsiung zwinkerte vertraulich. »Das ist Tu Hsing, einer meiner Ratgeber. Ihr werdet seine Vorzüge bald schätzen lernen.« »Hoffentlich werden seine Ratschläge nicht mir gelten. Er wird nicht vergessen, daß ich ihn geschla gen habe.« »Er ist ein kluger Mann und wird verzeihen, was Ihr in Unkenntnis tatet.« Tu Hsing dachte natürlich nicht an Verzeihung. Er wußte nicht, was verhandelt worden war, kannte die veränderte Lage nicht und zog deshalb auch sofort seine Pistole, als er sich aufgerichtet hatte. »Ah, das ist doch der Kerl, der mich nieder schlug«, murmelte er haßerfüllt auf Englisch, denn Koreanisch beherrschte er nicht. »Ich…« Yang Hsiung hielt ihn fest, weil er taumelte. »Laß die Waffe, Tu Hsing«, flüsterte er schnell. »Das ist der weiße Taifun, den ich zu meinem Unter häuptling bestimmt habe. Es ist Eurer würdig, ihm zu verzeihen.« 99
Tu Hsing blickte ziemlich geistesabwesend bald auf den Koreaner, bald auf den Amerikaner. »Euer Unterhäuptling?« »Er trägt einen guten Namen als Offizier und soll unsere Truppe führen«, flüsterte Yang Hsiung. Tu Hsing wandelte sich schnell. Er verbeugte sich geschmeidig. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen, und be trachte es als einen Irrtum, daß Ihr mich nieder schlugt.« Carlin hätte mit Vergnügen von neuem zugeschla gen, aber er hütete sich, das Spiel zu verderben. In Korea ließ sich nur etwas erreichen, wenn man Ner ven behielt, den Gegner mit der größeren Höflichkeit einwickelte und die eigenen Absichten so stark wie möglich verborgen hielt. »Die Freude liegt auf meiner Seite«, erwiderte er höflich. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich einer übereilten Anwandlung folgte. Ich mißverstand eine Ihrer Bewegungen und nahm an, daß Sie dieser jun gen Dame zu nahe treten wollten, die unter meinem Schutz steht.« Tu Hsing, der die Lage nicht völlig überschaute, hütete sich zu widersprechen. »Das lag mir natürlich fern«, versicherte er und wandte sich dann an Yang Hsiung: »Müssen wir nicht weiter? Wir haben Zeit vertan, wenn ich mich nicht irre.« 100
Yang Hsiung nickte und wollte weiter, doch Carlin hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Warte, Yang Hsiung. Ihr hörtet, daß diese Frau unter meinem Schutz steht. Das gilt auch für diese anderen. Ihr seht, daß sie ihre Wertsachen in den Händen halten. Sie tun das auf meine Anordnung hin. Wenn Ihr mir mißtraut, dann untersucht die Männer. Aber die Frauen laßt nicht berühren, denn das ist eines so gebildeten und taktvollen Mannes, wie Ihr es seid, nicht würdig.« Yang neigte zustimmend den Kopf. »Niemand soll sie abtasten, wenn Ihr es nicht wünscht. Wollt Ihr, daß wir ihnen ihr Eigentum zu rückgeben?« Carlin spürte das Lauern in der Stimme des ande ren. »Wie könnte ich das wollen?« fragte er verwun dert. »Es sind Fremde, denen es nichts schadet, wenn sie zum allgemeinen Wohl beitragen.« »Ihr sprecht sehr klug«, äußerte Yang Hsiung sein Wohlwollen. »Das allgemeine Wohl hat einen guten Fürsprecher in Euch.« »Ich versuche, Eurem hohen Vorbild nachzuah men. Doch sagt, was soll mit den Fremden gesche hen?« Carlin sprach absichtlich Koreanisch, weil er sich nicht von Tu Hsing in die Quere kommen lassen wollte. Es war bezeichnend, daß sich Yang bei seiner 101
Antwort der englischen Sprache bediente und damit den anderen wieder einbezog. »Was geschieht mit den Fremden?« überlegte er laut. »Sie sind sicher reich.« Tu Hsing griff sofort ein. »Jeder von ihnen wird uns ein großes Lösegeld bringen. Wir führen sie doch mit uns, wie Ihr be schlossen hattet?« Yang Hsiung blickte auf Carlin. Der hob die Schultern. »Es wäre wünschenswert, wenn wir zum allge meinen Wohl Lösegelder von diesen Fremden erhal ten könnten. Aber wäre es auch klug, sie mit uns zu führen?« »Warum fragt Ihr?« fragte der Rothaarteufel lau ernd. »Die Konsulate, zu denen die Fremden gehören, werden sehr viel Lärm schlagen. Die Regierung ist schwach und muß alles tun, um sie zufriedenzustel len. Man wird ein ganzes Heer in die Sümpfe schik ken, um die Fremden zu befreien und Euch zu stra fen!« »Die Sümpfe bieten guten Schutz, und die Solda ten sind den Brüdern vom Busch nicht abgeneigt.« »Vielleicht«, gab Carlin zu. »Aber Euer Name wird schneller bei den Fremden bekannt werden, als Euch lieb sein kann. Ihr kennt die Macht der Frem den und wißt, wie sie Euch schaden können!« 102
Yang Hsiung lächelte freundlich. »Fragt Tu Hsing, ob wir das nicht bedachten. Wir ließen manchen frei, obwohl er Lösegeld bringen konnte. Doch um die Amerikaner und Engländer brauchen wir uns nicht zu kümmern. Aber – wenn Ihr meint, daß wir das allgemeine Wohl zurückstel len und auf das Lösegeld dieser Leute verzichten sol len, dann wollen wir sie freilassen.« Owen Carlin befand sich in der Klemme. Er kannte die Mentalität dieser Leute gut genug, um zu wissen, was hinter diesem Angebot steckte. Nahm er es an, dann würde Yang Hsiung doch an seinen ursprüngli chen Absichten festhalten, nur mit dem Unterschied, daß dann Carlin seine Überlegenheit und Stellung eingebüßt hätte, die er jetzt noch zum Schutz der Ge fangenen einsetzen konnte. Nahm er es nicht an, so konnte er Anne Carroll und den ihren die Gefangen schaft nicht ersparen. Er saß fest, jede weitere Für sprache würde den Koreaner mißtrauisch machen. Er schüttelte den Kopf. »Ihr mißversteht mich, Yang Hsiung«, gab er ru hig zurück. »Ihr seid der Anführer, und bei Euch liegt die Weisheit der Entscheidung. Wie könnte ich von mir aus dazu neigen, auf die Lösegelder zu ver zichten, die mir selbst zugute kommen werden? Ich wollte nur nicht unterlassen, Euch auf Bedenken aufmerksam zu machen, die meinem einfachen Verstand kamen.« 103
In Yangs Augen blitzte es befriedigt auf. Eine ge genteilige Antwort von Carlin hätte ihn zumindest in die unangenehme Lage gebracht, auf die eben ge wonnene wertvolle Hilfskraft verzichten zu müssen. »Wir werden diese Leute also mitnehmen, damit sie uns Lösegeld bringen. Doch nun müssen wir uns beeilen.« Owen Carlin blieb bei der Carrollschen Gesell schaft. Als sich Yang Hsiung und Tu Hsing weiter zu den restlichen Fahrgästen begeben hatten, sagte er leise zu Anne Carroll und den anderen: »Es ließ sich nicht vermeiden, daß man Sie fortführt. Sie werden so lange als Gefangene bei den Räubern leben müs sen, bis das Lösegeld eintrifft. Wenn Sie sich’s eini germaßen leisten können, Mister Carroll, dann rate ich Ihnen, keine Schwierigkeiten zu machen. Ich fürchte, Sie haben von außen her wenig Hilfe zu er warten. Vereinbaren Sie aber eine längere Frist, ich hoffe nämlich, Sie in absehbarer Zeit auch ohne Lö segeld frei zu bekommen.« »Wie wollen Sie das anfangen«, erkundigte sich Carroll, »wo Sie doch selbst Gefangener sind?« »Ich bin es nicht. Sie haben leider unser Gespräch zum größten Teil nicht verfolgen können. Yang Hsi ung hat mich als Unterhäuptling und Instruktionsof fizier in seine Bande aufgenommen.« Carroll prallte förmlich zurück, und seine Tochter stieß einen leisen Schrei aus. Plötzlich stand Miß 104
trauen zwischen der Gesellschaft und Carlin. Er wußte, welche Vermutung da aufgekommen war. Man kannte ihn ja nicht, sondern wußte nur, daß er sich betrunken in Fu-san herumgetrieben hatte. War es da ein Wunder, wenn man nun annahm, er hätte schon vorher mit den Banditen in Verbindung gestanden, wenn man alles für Lüge und Heuchelei hielt, was er ihnen jetzt sagte? Mochten sie denken, was sie wollten! Nur – Anne Carroll hätte eigentlich eine bessere Meinung von ihm haben sollen. »Wußten Sie schon vorher von diesem Überfall, Mister Carlin?« »Nein.« »Gehörten Sie schon früher zu der Bande?« »Auch nicht, Miß Anne. Ich ging auf Yang Hsi ungs Vorschläge ein, um bei Ihnen bleiben und Sie befreien zu können.« »Aber Sie kannten die Leute doch schon?« »Nur einen, einen ehemaligen Waffengefährten. Ich war Offizier der koreanischen Armee.« Sie atmete auf, und er war glücklich über dieses Aufatmen. »Ich danke Ihnen, Mister Carlin.« »Vertrauen Sie mir trotzdem?« »Ja«, sagte sie. »Ich verstehe Ihre Handlungsweise nicht, und ich verstehe alles nicht in diesem Land. Mutter sagt, man muß auch seinen Instinkt gemäß 105
urteilen, und dieser Instinkt – spricht für Sie.« »Jedenfalls ist das eine sehr dunkle Geschichte, Mister Carlin, das muß ich schon sagen«, fuhr Car roll dazwischen. »Ich habe ja nichts gegen Sie, aber unsere erste Bekanntschaft in Fu-san fand nicht ge rade unter, hm, schmeichelhaften Umständen statt, und jetzt sind Sie plötzlich Räuberhauptmann? Ich kann mir nicht helfen, mit meinen Vorstellungen ei nes Ehrenmannes stimmt das alles nicht gerade über ein.« Carlin wurde sofort verschlossen. »Sie machen aus Ihrem Herzen keine Mördergru be«, sagte er lässig. »Aber vielleicht liegt der Fehler bei Ihren Vorstellungen. Denken Sie darüber nach, Sie werden viel Zeit dazu bekommen. Im übrigen rate ich Ihnen, sich fertig zu machen. Yang Hsiung kehrt um.« Eine Viertelstunde später marschierte der Trupp der Räuber mit den Gefangenen durch die Nacht den Sümpfen zu. * Li Kün, der Heizer der Schnellzuglokomotive, der in letzter Minute abgesprungen war, stolperte durch die Nacht. Weit vorn donnerte der Zug. Zwei Fremde standen auf der Lokomotive und hatten damit den Zug in der Hand. Li Kün wußte, was das bedeutete. 106
Irgendwo würden sie ihn zum Stehen bringen, ir gendwo würden rechts und links Räuber auftauchen und Zug und Fahrgäste ausplündern. Er mußte den Vorfall melden. Der Lauf des Zuges wurde von den Blockstationen aus überprüft. Wenn der Zug aus einem Block he rausging, und im nächsten nicht eintraf, würde man vielleicht stutzig werden, rückfragen und nachfor schen. Ach was, von den Blockstationen würde sich be stimmt niemand wegrühren. Ja, wahrscheinlich wür de man nicht einmal die Ortspolizei alarmieren. Die Stationen lagen zu nahe am Sumpf. Wer hatte Lust, seinen Pflichteifer mit einem Messer im Rücken zu bezahlen? Möglicherweise waren die Blockwärter auch schon vorher bestochen worden. Außerdem, was konnten die Leute schon unter nehmen? Diese kleinen Durchgangsstellen besaßen keine Reservezüge. Man konnte nur telegrafieren und Hilfe heranrufen. Das würde lange genug dau ern, um die Räuber verschwinden zu lassen. Immerhin. Li Kün lief, was seine Beine und seine Lunge hergaben. Lichter tauchten an der Strecke auf. Die Blockstation von Kiä yang tschen. Die nächste Blockstation lag dann fast vierzig Li nördlich, zwi schen den beiden sollte wohl der Überfall stattfinden. Keuchend vor Erschöpfung stieg Li Kün die stei 107
len Stufen hinauf und taumelte in den erleuchteten Raum hinein. Wie still war es hier oben! Natürlich, der Block wächter lag lang ausgestreckt auf einer Pritsche und lächelte friedlich gegen die Decke. Die Teetasse auf dem Boden bewies, wie gut diese Leute ihre Dienst stunden verbrachten. Li Kün warf sich in aufsteigendem Zorn auf den schlafenden Wärter, packte ihn vorn am Hemd und rüttelte ihn. »Steh auf, Nichtsnutz!« Pai Schong, den man die Kiä yang tschen auch den Kurznasigen nannte, fuhr mit einem Schreckenslaut auf. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den rußverschmierten, zerzausten Mann über sich sah, dessen starke Armmuskeln genug Kraft verrie ten, um ihn einfach zu zerdrücken. Er begann sofort zu wimmern: »Oh, edler Herr, sehr mächtiger und gewaltiger Herr, verschont mein nichtswürdiges Le ben, erdrosselt mich nicht und…« Li Kün riß ihn hoch. »Laß das Gewäsch«, knurrte er zornig. »Steh auf. Wie heißt du?« »Pai Schon, Euer Gnaden«, bekannte der Kurzna sige demütig, während er Halt auf seinen Beinen suchte. »Ich bin nicht Euer Gnaden«, fuhr Li Kün ihn an, »sondern Li Kün, der Heizer des Nachtschnellzuges. 108
Wie kommt es, daß du schläfst, während du deinen Dienst halten sollst?« Pai Schon zog seine Sachen zurecht und besann sich auf seine Würde. Wie kam dieser einfache Hei zer dazu, ihn so derb anzufassen und sich aufzuspie len, als sei er ein großer Herr? »Du bist der Heizer des Schnellzuges?« murmelte er tückisch. »Nun, wie kommt es, daß du friedliche Leute überfällst, während du doch auf deiner Loko motive stehen solltest?« Li Kün pendelte mit dem Arm. »Antworte Kerl, sonst werfe ich dich aus dem Fenster!« Pai Schon duckte sich und gab bereitwillig Aus kunft. »Verzeiht, sehr ehrenwerter Li Kün. Es kommen wenige Züge hier durch, und es ist genügend Zeit, um den erschöpften Leib zu strecken.« »Was dir schon den Leib erschöpft?« rief Li Kün höhnisch. »Ist der Nachtschnellzug ordnungsgemäß passiert?« Pai Schon nickte. »Er kam zur gewohnten Minute.« »Hast du die Rückmeldung vom nächsten Block erhalten?« Pai Schon zog den Kopf noch mehr ein. »Leider nicht, sehr ehrenwerter…« Li Kün besaß augenblicklich keinen Sinn für Höf 109
lichkeiten. »Halt’s Maul. Warum nicht? Hast du nachgefragt, Meldung erstattet?« Der Kurznasige zuckte bedauernd mit den Schul tern. »Es war nicht möglich, erhabener Herr. Der ge wisse Pai Schon hat es versucht, aber der Telefonap parat versagte!« Mit einem Sprung hatte ihn Li Kün an der Kehle. »Was, der Apparat versagte? Hund verdammter, auf den Trick habe ich gewartet. Natürlich willst du dich dahinter verstecken. Der Zug wird in aller Ruhe ausgeplündert und kein Mensch erfährt etwas davon. Der nächste Block hat sicher auch noch keine Durchgangsmeldung bekommen, he?« »Gnade, Gnade«, winselte Pai Schon. »Ich konnte doch nicht – der Apparat arbeitet nicht – ich…« Der Heizer schleuderte ihn gegen die Wand. »Verfluchter Schuft, du steckst mit den Räubern unter einer Decke. Ich möchte wissen, wieviel Geld du geschluckt hast. Aber hör zu, Bursche, ich gebe dir drei Minuten Zeit. Wenn bis dahin der Telegra fenapparat nicht so arbeitet, daß du die nächsten Sta tionen verständigen kannst, erwürge ich dich mit meinen eigenen Händen, verstanden? Und nun los, an die Arbeit und beeile dich!« Zitternd stolperte Pai Schon von der Wand weg an den Morseapparat. Er fürchtete sich vor diesem wil 110
den schwarzen Kerl, und zugleich verfluchte er die Räuber, die so schlecht gearbeitet hatten, daß sie ihn für die kärgliche Belohnung so in Lebensgefahr brachten. »Verzeiht, großer Herr, aber der Fehler liegt nicht hier. Ich glaube, man hat die Leitung zerschnitten.« Li Kün war auf einen Stuhl gesunken. All die Auf regung und Anstrengung erschöpften ihn. Deshalb fuhr er jetzt nicht auf, sondern sagte müde: »Das konntest du schon lange feststellen, Halunke. Suche dir deine Leute zusammen und geh sofort los, um die Leitung in Ordnung zu bringen.« »Ich darf den Block nicht verlassen«, wandte Pai Schon etwas kühner ein. »Beeile dich«, gebot Li Kün schärfer. »Nimm Fackeln und Knallkapseln mit und halte den nächsten Zug auf der Strecke auf. Die Ausplünderung des Schnellzuges können wir ja nicht mehr verhindern, aber niemand soll mir nachsagen, daß ich nicht alles getan habe, was möglich war. Und gib acht, daß man es dir nicht nachsagt. Du bürgst mir also dafür, daß die Leitung so schnell wie möglich in Ordnung kommt, dann meldest du, daß der Schnellzug über fallen wurde.« Pai Schon nickte eifrig. »Ich werde alles tun, was du befiehlst. Niemand soll mir nachsagen, daß ich mit den verfluchten Räu bern unter einer Decke stecke.« 111
»Da wirst du dich aber gewaltig anstrengen müs sen«, brummte der Heizer spöttisch. »Los, fang an. Ich werde unterdessen euren Polizeimeister aufsu chen. Wo wohnt er?« »Im vierten Haus auf der rechten Seite der Straße zum Weißfischtempel, die am Yamen beginnt.« »Das genügt.« Li Kün hatte seine Erschöpfung überwunden. Er eilte hinaus. Pao Ko, der Polizeimeister von Kiä yang tschen, der wegen seines langen Bartes auch »der Schönbär tige« genannt wurde, schlief, als Li Kün an seine Tür pochte. Schlaftrunken schrie er durch die Papierwän de hindurch: »Wer wagt es, so unverschämt gegen meine Tür zu schlagen? Ich werde den Kerl einen Kopf kürzer machen lassen, wenn er nicht sofort ver schwindet und ehrbare Leute schlafen läßt, wie es sich zu dieser Stunde gehört!« Li Kün besaß als weitgereister Mann wenig Re spekt vor den kleinen Herrschern eines Dorfes und schrie zornig zurück: »Und ich werde mit dem Präfek ten sprechen und dafür sorgen, daß du in das finstere Loch fliegst, wenn du nicht sofort aufstehst, und die Tür öffnest. Ich bin Li Kün, der Heizer des Nacht schnellzugs, der von Räubern überfallen wurde!« Wieder rollte der Baß des Polizeigewaltigen: »Ich komme sofort, aber hüte dich, wenn du dir einen schlechten Scherz erlaubt hast.« 112
Nun begann eine Frauenstimme zu zetern. »Willst du schon wieder fort? Bist du nicht gerade erst betrunken nach Hause gekommen? Sicher steht einer deiner Zechkumpane draußen und holt dich un ter diesem Vorwand von hier weg!« »O schweig, liebliche Pflaumenblüte. Was ver stehst du von den Pflichten der Männer?« »Was verstehst du von den Pflichten eines Man nes, du alter Säufer?« »O Ku, geliebtes Weib«, seufzte Pao Ko verdros sen, »deine Zunge wird dem Giftstachel eines Skor pions immer ähnlicher. Schlafe weiter, wonnige Pflaumenblüte.« Die Antwort der Pflaumenblüte fiel nicht gerade mild aus. Li Kün zog sich vorsichtshalber zurück, da er nicht wußte, ob nicht der Drachen des Polizeimei sters erscheinen würde. Doch Pao Ko kam selbst, eingehüllt in einen bun ten Schlafrock und belastet mit allem, was ihn tags über zierte. »Ihr habt die liebliche Pflaumenblüte gehört«, seufzte er. »Folgt mir zum Yamen in mein Arbeits zimmer, dort will ich Euch anhören.« Li Kün verzichtete mitfühlend auf jede Antwort und trabte stumm neben dem Polizeimeister zu des sen in geringer Entfernung liegenden Amtsraum. Dort kleidete sich Pao Ko vollends an, gewann gleichzeitig an Würde und Sicherheit und zeigte sich 113
endlich bereit, mit seiner Tätigkeit zu beginnen. »Was führt Euch also mitten in der Nacht zu mir?« begann er streng, nachdem er sich kräftig geräuspert hatte. Li Kün hatte Zeit genug gehabt, um ruhig zu wer den. Er wußte, daß es zu spät war, um noch irgendwie die Ausraubung des Zuges zu verhindern. Damit wurde diese Meldung an den Polizeimeister zur Formalität. Allenfalls konnte man noch versuchen, die Verfolgung recht bald aufzunehmen. »Ich bin der Heizer des Nachtschnellzuges«, erwi derte er sachlich. »Man hat ein Stück vor diesem Ort die Lokomotive überfallen. Mir gelang es, noch rechtzeitig abzuspringen. Der Blockwärter behauptet, der Telegrafenapparat sei nicht in Ordnung, so daß wir jetzt nicht wissen, was mit dem Zug geschehen ist. Jedenfalls dürfte er nicht weit von Kiä yang tschen angehalten und ausgeplündert worden sein.« Der Polizeimeister zog die Brauen zusammen. »Was erzählt Ihr da?« fragte er drohend. »In dieser Gegend wohnen nur ehrbare Leute. Es ist undenkbar, daß sie ein solches Verbrechen begehen.« »Ihr vergeßt, daß die Sümpfe nicht weit entfernt sind«, erinnerte Li Kün. »Die Sümpfe? Ah, richtig, die Sümpfe. Ihr meint, daß von dort aus die Räuber gekommen sind?« »Allerdings«, sagte Li Kün ungeduldig. »Ich den ke, wenn Ihr mit Euren Leuten Euch beeilt, könnt Ihr 114
noch auf die Räuber stoßen.« Der Polizeimeister strich bedächtig seinen zwei zipfligen Bart. »So schnell geht das nicht. Zunächst wäre zu prü fen, ob Eure Angaben auf Wahrheit beruhen. Dann müssen wir den Blockwärter verhören. Es läßt sich auch nicht vermeiden, zunächst die Stelle aufzusu chen, an der Ihr von der Lokomotive abgesprungen seid. Doch dazu müßten wir den Morgen abwarten. Und dann…« Das war ein bißchen stark für den Heizer. Er sprang zornig auf. »Verdammt noch mal, und unterdessen sind die Räuber schon längst in den Sümpfen, nicht wahr? Denkt Ihr etwa, sie warten eine Woche, bis Ihr kommt? Beeilt Euch gefälligst und handelt sofort, sonst wird es zu spät!« Pao Ko schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie könnt Ihr es wagen, so mit mir zu sprechen? Ich walte meines Amtes!« »Nur noch so lange, bis ich dem Präfekten berich tet habe!« »Unverschämtheit! Ich habe meine Vorschriften und werde genauso handeln, wie es in ihnen vorge sehen ist. Ich werde ein Protokoll aufnehmen lassen und dem Präfekten beweisen, daß ich alles Erforder liche tat.« Li Kün beugte sich vor. 115
»Ihr werdet schleunigst alle Eure Leute zusam menrufen und mit ihnen die Strecke abgehen, ver standen? Wenn Ihr keine Lust dazu habt, werde ich Euch so lange prügeln, bis Ihr welche bekommt.« Der Polizeimeister fuhr auf. »Ihr droht mir?« Der Heizer patschte grinsend gegen die Muskel stränge seiner nackten Arme. »Ich werde bald noch mehr tun. Ruft Eure Leute zusammen und beeilt Euch. Ich warte hier.« Pao Ko zog ab. Nach einer halben Stunde erschien er an der Spitze eines bewaffneten Haufens. Bevor Li Kün die Lage noch erfaßte, deutete der Polizeimeister auf ihn und sagte: »Da ist er, der Räuber und Aufrührer, der mir an’s Leben gehen will. Greift ihn!« Li Kün schlug um sich, aber es waren zu viele, die sich auf ihn stürzten. Ein paar Minuten später war er gefesselt. »Verfluchte Kerle«, keuchte er in ohnmächtiger Wut. »Steckt denn hier alles mit den Banditen unter einer Decke?« Der Polizeimeister machte eine dramatische Geste. »Hört, wie er uns beschimpft!« »Der Schnellzug ist überfallen worden«, stöhnte Li Kün mit einem letzten Versuch, die Vernunft sie gen zu lassen. »Wir werden deine Angaben untersuchen«, ver 116
sprach Pao Ko würdevoll. »Sollte es sich zeigen, daß du die Wahrheit gesprochen hast, werden wir dich wieder freilassen. Aber jetzt stehst du in dem Ver dacht, selbst ein Räuber zu sein, der uns zu dunklen Zwecken von hier fortlocken will. Wenn es Tag wird, wollen wir weiter sehen.« An der Tür tauchte Pai Schon, der Kurznasige auf. »Wie spricht doch die Weisheit aus Eurem Munde, hochehrenwerter Pao Ko«, rühmte er. »Auch mich wollte der unverschämte Fremde zwingen, bei Nacht meinen Posten zu verlassen, damit er seine unguten Absichten verwirklichen konnte. Niemand geht bei Nacht einen Weg, den er bei Tag gehen kann.« »Schufte, erbärmliche«, würgte Li Kün und zerrte an seinen Fesseln. »Führt ihn ab«, gebot der Polizeimeister. »Bringt ihn in das Gefängnis zum Kerkermeister. Dann legt euch schlafen und wartet, bis der Morgen kommt. Auch ich werde zur Pflaumenblüte zurückkehren.« Li Kün spie wütend nach ihm. »Möge sie dir das Lager zur Hölle machen!« Dann riß man ihn fort. So kam es, daß in dieser Nacht niemand erfuhr, was mit dem Nachtexpreß geschehen war. Der Block hinter Kiä yang tschen vermißte zwar den Zug zur planmäßigen Zeit, machte sich aber keine übermäßi gen Sorgen darüber, da er nicht gemeldet worden war. Übrigens waren die Sorgen zwecklos, denn es 117
gab keine telefonische Verbindung nach Süden mehr, so daß eine Anfrage nicht möglich war. Wahrschein lich hatte eine Gleisreparatur oder ein ähnlicher Zwi schenfall die Verzögerung notwendig gemacht. Erst am Morgen kümmerte man sich um die Ange legenheit. Man fand natürlich gleich den Zug und die restli chen Fahrgäste, die geduldig in den Wagen warteten, bis die Behörden kamen. Man stellte auch fest, wel chen Weg die Räuber gezogen waren. Man verfolgte ihn bis zu dem Ufer des schlammigen Wasserarmes, mit dem das Gelbschlamm-Moor begann. * Bill Morlan und Hal Mervin krochen steifbeinig un ter dem Wagen hervor, unter dem sie sich versteckt hatten, als der Überfall erfolgte. »Was nun?« fragte Morlan und blickte den in der Ferne schwankenden Fackeln der Räuber nach. Hal löste behutsam die Pflaster aus seinem Ge sicht. »Vor allem muß ich mich waschen, dann nehmen wir die Verfolgung auf.« »Umgekehrt ist es besser«, murrte Bill. »In den Sümpfen werden wir ohnehin wieder dreckig. War um haben Sie das Zeug nicht drauf gelassen? Aus größerer Entfernung konnte man Sie immerhin noch 118
für einen Einheimischen halten.« Hal verzog das Gesicht. »Wenn Sie wüßten, wie das Zeug spannt, würden Sie nicht so reden. Warten Sie, ich bin gleich wieder da. Halten Sie dem Publikum inzwischen Vorträge.« Bill schloß sich lieber an und wusch sich ebenfalls den Schmutz der Wagenachsen herunter. »Ihr Kamerad Zipp hat es ja geschafft«, setzte er im Waschraum das Gespräch fort. »Die Brüder vom Gelbschlamm-Moor haben den sehr ehrenwerten Priester Ho Tao stillschweigend in ihren Reihen auf genommen.« »Tatsächlich?« staunte Hal. »Ich wollte Sie schon danach fragen. Ich dachte, er hätte sich freiwillig in Gefangenschaft begeben.« »Nein, ich hörte jedes Wort. Es hat ihn sein Geld gekostet, aber er hat wohl nun ziemliche Bewegungs freiheit bei den Banditen. Ein geschickter Schauspie ler, Ihr Kamerad. Und auf die Koreaner versteht er sich so gut wie mein Herr.« »Was ist denn übrigens mit dem geworden?« Morlan, der die Verhandlungen Carlins mit Yang Hsiung nicht hatte verfolgen können, hob die Schul tern. »Sie haben ihn geschnappt. Ich sah ihn mit den anderen abmarschieren. Aber seinetwegen habe ich eigentlich keine große Angst. Er wird sich schon he raushelfen.« 119
»Dann können Sie ja beruhigt nach Hause gehen?« Bill ließ vor Verwunderung das Handtuch sinken. »Ich? Wieso?« »Nun, wenn er sich allein raushilft?« »Deswegen muß ich doch zur Stelle sein und ein greifen, wenn es nötig ist. Außerdem wollen wir noch weiter, mein Lieber. Ich muß schon sehen, daß ich mit ihm in Verbindung komme.« Hal überlegte. »Hm, mir geht es ja ähnlich. Zipp wird sich wei terhelfen, aber ich muß mit ihm Verbindung aufneh men, damit er weiß, wohin er seinen Mann zu brin gen hat.« »Wen denn?« »Juan Garcia. Er scheint übrigens hier etwas ge worden zu sein, denn er durchsuchte die Reisenden.« »Meinen Sie den Weißen neben dem uniformier ten Koreaner?« »Eben den.« »Und den wollen Sie schnappen?« Hal schüttelte unmutig den Kopf. »Aber Mann, das sage ich Ihnen heute schon das dreiundzwanzigste Mal. Wir sind doch bloß unter wegs, um diesen Garcia zu fangen.« »Hm, ich habe das immer für einen besseren Witz gehalten. Wie wollen Sie das fertigbringen, den Kerl gegen seinen Willen aus der Mitte der Banditen her auszuholen?« 120
Der Jüngere winkte überlegen ab. »Das erledigt alles Zipp. Er wird ihn in die Arme nehmen und angeschleppt bringen, verlassen Sie sich darauf. Ich muß bloß mit ihm in Verbindung kom men, damit er weiß, wo ich auf ihn warte.« »Ich möchte bloß wissen, was ihm das nützen soll. Die Schwierigkeit liegt darin, das Gebiet der Bandi ten zu verlassen.« »Braucht er nicht. Die Hauptsache ist, daß er ihn ein Stückchen abseits bringt. Alles andere erledige ich mit dem Flugzeug.« Morlan riß die Augen auf. »Haben Sie etwa ein Flugzeug zur Hand?« »Klar!« »Donnerwetter, Donnerwetter«, schnaufte er. »Da brauchten Sie doch gar nicht erst mit der Bahn zu fahren, sondern wären gleich mit dem Flugzeug zu dem Räubernest gestoßen.« »Ach, ja«, höhnte Hal, »da hätten sie uns natürlich mit offenen Armen aufgenommen, was? Erstens mußten wir nach Fu-san, und zweitens waren wir eben nicht so dumm, uns im Flugzeug bemerkbar zu machen. Da hätte Garcia nämlich sofort Bescheid gewußt. Nein, wir wollten das, was Zipp inzwischen getan hat, nämlich Fühlung mit der Bande suchen und uns dann unseren Mann greifen.« »Hm, das hätte ich freilich auch getan. Wo haben Sie denn das Flugzeug?« 121
»In der Nähe?« sagte Hal. »Ich werde den Piloten gleich mal verständigen. Sie sind doch fertig? Hier am Zug möchte ich die Maschine nicht gerade landen lassen, sonst stürmen die übriggebliebenen Fahrgäste sie.« Morlan wurde immer neugieriger. »Was heißt verständigen? Können Sie dem Piloten Mitteilungen machen?« Hal zog die Sprechdose aus der Tasche. »Natürlich. Das ist hier ein winziger Kurzwellen sender, der genügt. Hallo, Mister Dennhardt?« Die Rückmeldung kam, und Hal gab Anweisung. »Allerhand«, murmelte Bill. »Sie sind ausgerüstet! Flugzeug, Sender in der Westentasche… So möchte unsereins auch mal arbeiten können!« »Beim Schuhputzen?« fragte Hal grinsend. »Was, wieso? Ach so – hm, natürlich.« »Natürlich«, äffte Hal nach, »tun Sie nur nicht so unschuldig. Daß es bei Ihnen und Ihrem Chef nicht stimmt, habe ich schon lange gerochen. Yang tschi munkelte auch was darüber. Ich weiß nur noch nicht, für wen Sie eigentlich arbeiten.« »Ich auch nicht«, sagte Morlan zwinkernd. »Ge hen wir los?« Sie verließen den Zug und marschierten in die Nacht hinein. Nach einer Weile setzte Hal das Ge spräch fort. »Ich denke, es wird nichts schaden, wenn wir 122
einstweilen zusammenhalten. Ich gebe Ihnen die Ge legenheit, das Flugzeug zu benutzen, und Sie glei chen es damit aus, daß Sie nicht nur Ihrem Chef, sondern auch Zipp Bescheid sagen, wo wir mit der Maschine zu finden sind.« »Ist gemacht«, stimmte Morlan bereitwillig zu. »Sie müssen dann aber auch Räuber spielen!« »Kann ich ausgezeichnet. Sie bringen mich mit dem Flugzeug in den Sumpf hinein, alles andere ist dann meine Sache.« »Schön.« Hal Mervin sprach noch einige Male mit dem Pilo ten, dann setzte das Flugzeug auf einem Acker neben dem Weg auf und übernahm die beiden, um dann sofort wieder hochzusteigen. »Wie in einem Fahrstuhl«, brummte Bill Morlan und begann seine Neugier zu befriedigen. Hal Mer vin mußte ihn förmlich gewaltsam auf die dunkle Schlange aufmerksam machen, die sich auf der Erde mit einem fackelglühenden Feuerkopf vorwärts be wegte. »Dort marschieren sie!« »Mit einigen Bomben hätte sich alles erledigt«, knurrte Morlan gehässig. »Auch Mister Carlin und die anderen Reisenden«, erinnerte Hal. »Wollen Sie sich ein Stück voraus an den Wegrand setzen, oder die Bande lieber im Sumpfgebiet erwarten? Das Ziel ist wohl klar, sicher 123
ist es jener Berg mit den Bauten.« »Der Tao hua schan, der Pfirsichblütenberg. Brin gen Sie mich in seine Nähe. Es ist besser, wenn die Kerle nicht auf den Verdacht kommen, daß ich mich ebenfalls in dem Zug befand.« Hal Mervin gab dem Piloten Anweisung. Sie lan deten an einer Stelle, an der freies Wiesengelände in die Bewaldung des aufsteigenden Berghanges über ging. Hier verließ Bill Morlan das Flugzeug, nach dem er sich mit Anweisungen und guten Wünschen eingedeckt hatte. Als das Flugzeug wieder hoch in der Luft stand, vertraute es der Pilot dem Automaten an und wandte sich nach Hal Mervin um, der sich bemühte, die gel be Schminke von seinem Gesicht herunterzubekom men. »Die Zentrale hat angerufen, Mister Mervin. Sie sollen sich melden, sobald Sie wieder im Flugzeug sind.« »Wer wünscht denn das?« »Sun Koh!« Jetzt fuhr Hal hoch. »Wieso? Wie kommt er zur Zentrale? Er sitzt doch weit vom Schuß und hat überhaupt keine Ahnung, daß wir hier sind?« Der Pilot zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist ihm die Ahnung inzwischen ge kommen?« 124
»Das fehlte gerade noch«, murmelte Hal betroffen und wechselte zu dem Kurzwellensender und Emp fänger hinüber. »Endlich. Ihr Anruf wird dringend erwartet«, mel dete sich die Zentrale. »Augenblick, ich stelle die Verbindung her.« Dann kam die Stimme, die Hal im Augenblick gar nicht so gern gehört hätte. »Was hast du wieder einmal für einen Einfall ge habt, Hal? Ich nehme an, du genießt einen kleinen Urlaub, statt dessen gehst du auf Räuberjagd?« Hal war ganz klein. »Ich habe doch nicht gedacht, daß Sie es erfahren würden!« jammerte er. »Sind Sie denn wieder zurück und gesund?« »Ja.« »Das ist fein. Aber Sie brauchen doch sicher noch Schonung. Bis dahin bin ich wieder zurück. Wie geht es Miß Joan und den anderen?« »Das wüßtest du ganz genau, wenn du hier geblie ben wärst«, kam es zurück. »Jetzt berichte du. Du bist Garcia gefolgt?« »Ja. Ich wollte den Halunken tot oder lebendig fangen.« »Sehr dramatisch, aber doch nicht ganz die geeig nete Beschäftigung für dich. Du wirst sofort zurück kommen!« »Das geht doch nicht«, wehrte Hal erschrocken ab. 125
»Und warum nicht?« »Zipp ist unter die Räuber gefallen, ich kann ihn nicht im Stich lassen.« »Verdient hat er’s schon, wenn er deine Einfälle noch unterstützt. Wo befindet er sich?« »Bei den Räubern vom Gelbschlamm-Moor. Ich kann ihn schlecht benachrichtigen, da muß Morlan erst mit ihm Fühlung aufnehmen.« »Wer ist das wieder?« »Der Diener von Carlin. Und Carlin muß auch erst aus dem Sumpf heraus. Und überhaupt können wir doch die gefangenen Weißen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, sondern müssen die Leute doch befreien und…« »Stop«, kam es aus der Ferne, »das geht durchein ander. Wer ist Carlin? Von welchen Gefangenen sprichst du? Willst du nicht der Reihe nach berich ten?« Hal kam der Aufforderung nach. Er versäumte da bei nicht, eindringlich das voraussichtlich gräßliche Schicksal der gefangenen Fahrgäste zu schildern und zu unterstreichen, und daß er der einzige sei, der sie befreien und alles zu einem glücklichen Ende führen könne. Das verfehlte seine Wirkung nicht. »Nun gut, bleibe, wo du bist, und versuche die Angelegenheit zu einem guten Ende zu führen. Ich bitte mir aber erstens aus, daß du das Flugzeug nicht 126
verläßt und nicht wieder versuchst, einen Koreaner zu spielen, und zweitens verlange ich täglich genau en Bericht.« Hal hätte noch ganz andere Dinge versprochen. Als er in Gnaden entlassen wurde, mußte er Denn hardt an den Apparat rufen. Der Pilot sagte ein hal bes dutzendmal »Ja« und »Jawohl«, dann schaltete er ab. Hal wollte nicht fragen, aber er hatte Dennhardt schwer in Verdacht, daß dieser für seine Sicherheit verantwortlich sein sollte. Nun, das war zu ertragen. Hal hatte ja nicht die Absicht, das Flugzeug wieder zu verlassen. Zipp würde eben früher oder später Garcia bringen, und damit war der Fall erledigt. Dachte Hal. * Auf dem Pfirsichblütenberg. Vor vielen Jahrhunderten hatten hier fromme Brü der ein Kloster errichtet, um in Stille und Abgeschie denheit Buddha zu dienen. Sie hatten den Berg und seine nähere Umgebung urbar gemacht, denn sie fanden guten Boden, der Getreide und Früchte aller Art trug. Lange waren sie jedoch nicht die Herren des Klosters geblieben. Räuber nisteten sich ein, ver drängten die Mönche und entweihten das Kloster. Seitdem war es ein Räubernest geblieben und hatte ganz allmählich sein Gesicht geändert und den Be 127
dürfnissen der Brüder vom Busch angepaßt. Die Bauten waren erweitert und befestigt worden, man hatte Palisaden und Bollwerke angelegt, ein freies Vorfeld geschaffen und was der Dinge mehr waren. Die Räuber fühlten sich auf dem Pfirsichblüten berg verhältnismäßig sicher. Ihr Schutz war das Moor. Der Berg lag nur zehn Kilometer weit im Gelbschlamm-Moor drin, aber diese zehn Kilometer waren für den Uneingeweihten kaum überwindbar. In der großen Halle des Klosters saß nun Yang Hsiung, der Anführer der Bande, auf seinem breiten goldbeschlagenen Sessel, feierte das Siegesmahl und überwachte die Verteilung der Beute. Links von ihm hatte Tu Hsing, die weiße Teufelsfratze, Platz ge nommen, rechts von ihm der weiße Taifun. Vor den dreien häuften sich die Genüsse des Gaumens. Da gab es fette Hühner, Enten, Gänse und Schweine, sowie schmackhafte Fische, die man in den Gewässern am Fuße des Berges gefangen hatte, zarteste Lotoswurzeln, köstliche Früchte, wie Pfirsi che, Datteln, Aprikosen, Mispeln, Feigen, Kastanien, Pflaumen und Birnen, dazu wundervollen Wein ei gener Herstellung. An den Seiten der Halle war die gesamte Beute der Nacht aufgestapelt worden. Da sah man Vorhän ge, Betten und Polsterbezüge auf einem Haufen lie gen, daneben blitzte das Porzellan und das silberne Geschirr des Speisewagens, daran reihten sich die 128
Koffer mit dem Eigentum der Fahrgäste. Es war ein stattlicher Reichtum, der da zusam menkam, und es war nicht leicht, ihn gerecht aufzu teilen. Der Anführer vermied alle Streitigkeiten, in dem er die kostbarsten Stücke, deren Wert man schlecht schätzen konnte, auf seinen Teil nahm. Auch die beiden Unterhäuptlinge wurden gut be dacht. Es war ein Tag voller Geschäftigkeit. Nunmehr wurden die Gefangenen hereingeführt und noch einmal ausführlich verhört. Das überließ Yang Hsiung der weißen Teufelsfratze, die sich mit den Fremden besser verständigen konnte. Tu Hsing horchte die Gefangenen aus, dann schob er ihnen Papier und Füllfederhalter hin und ersuchte sie höflich, an ihre Verwandten, Beauftragten oder Konsulate zu schreiben, daß es ratsam sei, diese oder jene Summe durch einen einzelnen Boten zur Was serschenke am Gelbschlamm-Moor zu schicken, um dafür den jeweiligen Gefangenen in Empfang zu nehmen. Währenddessen herrschte ringsum auf dem Berg fröhliches Leben in den zahlreichen Hütten, die wie Nester an die alten Steinmauern des Klosters ange klebt waren, auf den Plätzen, die einst als Höfe ge dient hatten, und draußen auf dem freien Vorgelände. Bill Morlan konnte als Lin Tschung ungefährdet hin und her gehen und sich mit den Örtlichkeiten 129
vertraut machen. Er war klug genug, sich keiner Rot te anzuschließen, um nicht bei der Beuteverteilung einen Streit hervorzurufen und Veranlassung zu ge ben, sich mit ihm näher zu beschäftigen. Endlich stieß er auf Zipp. Er saß im Kreis seiner neugewonnen Freunde und hielt eine Gänsekeule zwischen den Fingern, von der es dann und wann fettig auf seine Kutte tropfte. Wie von ungefähr erblickte Ho Tao den dicken Lin Tschung, der sich unauffällig bemerkbar zu ma chen versuchte. Sofort streckte er feierlich den Arm aus und rief: »Sind meine Augen von der Sehnsucht verschleiert oder sehe ich dort wirklich den ehren werten Lin Tschung? Tritt heran und setz dich neben mich. Die hochedlen Herren ringsum werden sich gleich mir freuen, dich hier zu sehen.« Lin Tschung fühlte sich nicht ganz wohl, weil ihm der andere nicht mehr nüchtern erschien. Doch dann verneigte er sich nach allen Seiten und hockte sich neben Ho Tao nieder. Der drängte ihm mit sanfter Gewalt die halb abgeknapperte Gänsekeule auf und reichte ihm den Becher. Es dauerte lange, bevor sich Ho Tao dazu ent schloß, einmal beiseite zu treten. Lin Tschung schloß sich ihm an und erhielt so Gelegenheit, ein offenes Wort zu reden. »Sie erinnern sich wohl kaum noch daran, daß Sie nicht bloß zum Fressen und Saufen hergekommen 130
sind«, eröffnete er. »Erst Braten, dann Taten«, wehrte Zipp ab. »Wie kommt es, daß Sie hier sind? Was macht unser jun ger Freund?« Bill Morlan berichtete. Die Begeisterung bei Zipp war nicht gerade groß. »Aus der Entfernung werden Tauben zu Spatzen«, sagte er düster. »Wie kann ich schon heute nacht hier weg? Es wird nicht so leicht sein, diesen Garcia zu verschleppen. Im übrigen gefällt es mir hier. Ich habe selten so nette Menschen getroffen.« »Und so gutes Essen und Trinken«, knurrte Mor lan boshaft. »Die netten Menschen können verdammt unangenehm werden, wenn sie merken, wer hinter Ho Tao steckt. Ich habe jedenfalls bestellt, was ich zu bestellen hatte.« Zipp schüttelte den Kopf. »Es ist nicht möglich, heute etwas zu erreichen, richten Sie das dem erfolgbegierigen Jüngling aus. Nur wer langsam handelt, handelt klug. Er soll ruhig jede Nacht an der vereinbarten Stelle sein, früher oder später werde ich mich schon einfinden. Wir sol len doch auch die Gefangenen befreien?« »Schon, schon!« »Na also«, sagte Zipp befriedigt. »Ich werde mich vor allem mit Ihrem Herrn in Verbindung setzen. Ich hoffe, daß er nicht zu stolz sein wird, mit mir zu sprechen. Welche Rolle spielt er eigentlich?« 131
Die letzte Frage kam im Gegensatz zu Zipps son stigem Tonfall sehr schnell und scharf. Morlan zuck te unwillkürlich zusammen. »Was – wieso? Er ist doch auch gefangen wor den?« »Er ist Unterhäuptling der Bande!« Morlan riß die Augen auf. »Donnerwetter, das nenne ich tüchtig.« »Allzu tüchtig«, knurrte Zipp lakonisch. »Sie denken doch nicht etwa, daß er mit den Räu bern unter einer Decke steckt?« Zipp fiel in seinen gewohnten Ton zurück. »Meine Grundsätze erlauben mir nicht zu denken, liebwertester Freund und Mitkämpfer. Ich werde aber mit Interesse Ihren Erklärungen lauschen.« Bill Morlan sah ein, daß er Erklärungen geben mußte. »Owen Carlin stand früher als Offizier bei den Ko reanern. Wahrscheinlich hat man ihn erkannt. Er war sehr beliebt, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er in dem Häuptling der Bande einen Freund gefunden hat.« »Yang Hsiung ist kein Freund, dessen man sich rühmen kann. Weiter.« »Weiter nichts.« »Also bleiben die Karten verdeckt?« »Carlin will zu einem gewissen Tsai Kiu, der das große Sumpfgebiet hinter dem Gelbschlamm-Moor 132
beherrscht. Es handelt sich dabei um politische Din ge. Tsai Kiu bildet eine Armee aus, so daß innerpoli tische Wirren zu befürchten sind. Es gibt nun Leute, die sie sich wünschen, es gibt aber auch welche, die sie nicht wünschen. Mister Carlin ist mit Tsai Kiu befreundet und will mit ihm über diese Dinge spre chen.« »Er ist also Geheimagent?« »Wenn Sie so wollen?« »Wird er bei der Befreiung der Gefangenen auf unserer Seite stehen?« »Unbedingt!« Zipp überlegte. »Gut, dann will ich mich mit ihm in Verbindung setzen.« »Überlassen Sie mir das zunächst«, bat Morlan. »Ich habe nichts Erhebliches dagegen einzuwen den«, sagte Zipp und ging schleunigst in die koreani sche Sprache über, da sich einige der Räuber näher ten. »So halte dich nicht auf, ehrenwerter Lin Tschung, sondern eile, auf daß du zu deinem Anteil kommst.« Es dauerte lange, bevor er Owen Carlins Aufmerk samkeit auf sich gezogen hatte, und noch länger, be vor dieser in einem stillen Winkel neben ihm stand. »Wie kommst du hierher, Bill?« erkundigte sich Carlin. »Ich war froh, daß du dich anscheinend recht zeitig verdrückt hattest.« 133
Bill Morlan berichtete zum zweitenmal von seinen Erlebnissen. »So, so«, meinte Carlin nachdenklich, »die beiden haben also ein Flugzeug zur Verfügung. Das kann natürlich von großem Vorteil sein. Nur – wir bringen die anderen nicht fort.« »Sie wollen die Gefangenen befreien?« »Frag nicht so dumm. Ich selber hätte es nicht nö tig gehabt, mit herzugehen. Aber man kann doch die anderen nicht ihrem Schicksal überlassen.« »Na, die meisten werden wegen eines Lösegeldes nicht umkommen.« »Du redest wie ein Narr. Es sind Frauen dabei. Außerdem fürchte ich, daß Yang Hsiung gar nicht daran denkt, seine Gefangenen freizugeben, wenn das Lösegeld eintrifft.« »Donnerwetter!« Carlin nickte düster. »Der Kerl ist ein Schuft durch und durch. Er weiß ganz genau, daß man ihm nicht viel anhaben kann. Er wird Nachforderungen stellen und sich diebisch freuen, wenn es seinetwegen diplomatische Konflikte gibt. Das scheint mir nämlich der Sinn der ganzen Sache zu sein. Er spielt ein viel größeres Spiel, als es zunächst den Anschein hat. Erinnerst du dich an den Russen, diesen Pawel Smirnow mit seiner Tochter?« »Gewiß.« »Nun, Yang tut mir gegenüber, als ob die beiden 134
seine Gefangenen wären. In Wirklichkeit behandelt er sie aber als Gäste, und ich lasse mich hängen, wenn diese durchtriebene Feodora ihm nicht den Kopf verdreht.« »Smirnow arbeitet für Moskau.« »Das ist es ja eben. Sein Genosse sitzt bei Tsai Kiu, um ihn seinen Wünschen gefügig zu machen. Ich nehme an, daß Smirnow ihn unterstützen sollte, nun aber hier ein geeignetes Betätigungsfeld gefun den hat und von hier aus operiert. Ganz klar ist mir die Sache allerdings noch nicht.« »Was wollen Sie tun?« Carlin hob die Schultern. »Das größere Spiel da gegensetzen. Meine Karten sind nicht schlecht. Ein Teil der Bande hat mich in guter Erinnerung von den Feldzügen her. Es sind sehr viele Soldaten hier, die in die Sümpfe gegangen sind, um sich Tsai Kiu an zuschließen, dem Tsai Kiu, der seine Erhebung ge gen die jetzige Regierung plant. Es sind also keine eigentlichen Räuber, sondern Soldaten mit edleren Motiven. Und Yang Hsiung hat mich zu ihrem Be fehlshaber eingesetzt.« Morlan runzelte die Stirn. »Ein großes Spiel. Aber Sie werden Zeit dazu brauchen.« »Das allerdings. Gibt sich vorher die Möglichkeit, die Gefangenen herauszubekommen, um so besser. Verständige diesen Mister Mervin entsprechend. Es 135
kann nichts schaden, wenn er sich bereit hält.« »Soll er Hilfe herbeischaffen?« »Auf keinen Fall«, widersprach Carlin entschie den. »Sobald Yang Verdacht schöpft oder in die Klemme kommt, tötet er die Gefangenen und ver schwindet im Busch. Die Befreiung muß von innen her erfolgen. Allenfalls könnte man die Verbindung mit Tsai Kiu aufnehmen. Warte bis zum Abend, dann werde ich dir ein Schreiben aushändigen. Versuche Mister Mervin zu überreden, daß er dich zum Berg der klaren Lüfte bringt. Du kennst ihn?« »Ja.« »Bring den Brief zu Tsai Kiu, dann kommst du zu rück. Ich werde dich als Verbindungsmann brau chen.« »Ist gemacht, Herr.« »Verschwinde!« Es wurde höchste Zeit für Owen Carlin, daß er in die Halle zurückkam. Tu Hsing, die weiße Teufels fratze, verhandelte eben sehr eifrig mit dem Anführer und war wenig beglückt, als Carlin wieder auftauchte. Yang Hsiung winkte Carlin heran, ließ seine Blik ke listig zwischen seinen beiden Unterhäuptlingen hin und her gehen und deutete dann auf den Haufen Wertsachen, der zwischen ihm und Tu Hsing lag. »Hört, weißer Taifun«, meinte er aalglatt, »für die weiße Frau sind zehntausend Dollar Lösegeld festge setzt worden.« 136
»Für Miß Carroll?« »So heißt sie wohl. Zehntausend Dollar – ist das nicht ebensoviel?« Carlin beugte sich über den Haufen. An Hand ein zelner Stücke stellte er fest, daß das der Anteil der Teufelsfratze an der Beute war. Worauf wollte Yang Hsiung hinaus? »Ja«, sagte er nach einer Pause, »das ist sogar be stimmt mehr.« Yang Hsiung hob den Kopf und starrte ihm aus druckslos ins Gesicht. »Wenn also diese Sachen für die weiße Frau gege ben werden, dann ist ihr Lösegeld erfüllt, nicht wahr?« Carlin zuckte mit den Schultern. »Das kann man schon sagen. Warum fragt Ihr?« »Warte. Wenn das Lösegeld gezahlt wird, muß man doch die weiße Frau freilassen. Oder was meint Ihr?« »Man müßte sie freilassen«, gab Carlin steif zu rück. »Man müßte sie also dem übergeben, der das Lö segeld für sie zahlt?« Jetzt begriff Carlin so ungefähr, worauf die Fragen hinauslaufen sollten. Die Wut schoß in ihm hoch. »Rede deutlich«, sagte er barsch. »Ich habe keine Lust, Rätsel zu raten.« Der Rothaarteufel wies auf Tu Hsing. »Er hat das Lösegeld für die weiße Frau erlegt und 137
fordert sie nun für sich. Meint Ihr, daß man sie ihm geben soll?« Owen Carlin preßte die Fingernägel in die Hand flächen hinein und biß die Zähne aufeinander, um nicht loszuschlagen. Nur nicht die Besinnung verlie ren. Yang Hsiung lauerte auf einen Ausbruch. Die Hand hielt er natürlich in der Tasche. Wahrscheinlich hatte er dort einen Revolver stecken. Viele Sekunden vergingen. Endlich sagte Carlin heiser, aber beherrscht: »Ich sagte Euch, daß die weiße Frau unter meinem Schutz steht. Sie wird nicht verhandelt!« Yang Hsiung kniff das linke Auge zusammen. »Wollt Ihr uns das Lösegeld bringen? Ihr solltet Euch freuen, daß sie so schnell ausgelöst wird. Na türlich gehört sie dem, der das Geld für sie gibt.« Carlin hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen, statt dessen erwiderte er gelassen und höflich: »Es ist eine schwierige Frage, Yang Hsiung, denn ich bin ebenfalls bereit, meinen Anteil als Lö segeld zu geben.« Er leerte seine Taschen und legte alles vor Yang Hsiung hin. Natürlich kam es dem Banditen nur dar auf an, auf diese Weise die Anteile der beiden Unter häuptlinge zu erwerben. Seine Gier war eben stärker, als seine Klugheit. Tu Hsing erfaßte offenbar früher als der Anführer, wie dieser in der Klemme saß. Hastig stieß er heraus: 138
»Das gilt nicht, ich hatte Miß Carroll bereits einge löst. Ihr kommt zu spät, Mister Carlin.« »Ihr irrt«, sagte Carlin drohend. »Miß Carroll stand von Anfang an unter meinem Schutz. Und es ist darüber hinaus nicht denkbar, daß sie von einem Toten befreit wird.« Tu Hsing blitzte ihn wütend an. »Ihr droht mir?« »Ich werde es bei der Drohung nicht bewenden lassen«, entgegnete Carlin kalt. »Ich werde niemals zulassen, daß die junge Frau in Eure Gewalt kommt, verstanden?« »Vollkommen«, sagte Tu Hsing grinsend. »Ihr vergeßt aber, daß dieser Streitfall nicht zwischen uns beiden entschieden wird, sondern Yang Hsiung zu bestimmen hat. Er ist unser Anführer, und seine Ent scheidung gilt für uns beide.« Yang Hsiung fühlte sich geschmeichelt. »Ihr sprecht klug«, begann er zögernd. »Ihr habt beide das Lösegeld gezahlt, doch gönnt keiner dem anderen den Besitz der weißen Frau. Nun gut, dann soll sie keiner von euch beiden für sich haben, son dern wir wollen warten, bis das Lösegeld für sie ein trifft, und sie dann fortschicken.« Das war zwar geschickt, doch Tu Hsing war damit nicht einverstanden. »Wie weise ist doch Eure Entscheidung«, spottete er. »Sobald das Lösegeld eintrifft, werden Eure bei 139
den Unterhäuptlinge von Euch gehen und Euch allein lassen, um ihren Streit um die Frau auszutragen. Nein, Yang Hsiung, Ihr werdet Euch schon entschei den müssen, wem die Frau gehören soll!« Yang Hsiung blickte finster drein. Diese Worte paßten ihm gar nicht. Er suchte nach einem Ausweg. »Ihr wollt Euch nicht fügen?« fragte er drohend. Tu Hsing spielte mit einem der Ringe, die zu sei nem Haufen gehörten. »Ich füge mich, aber der Streit zwischen uns wird nicht zu Ende sein, wenn Ihr nicht einem von uns die Frau zusprecht.« »Ich bin mit dem Vorschlag Yang Hsiungs einver standen«, mischte sich Carlin ein. »Sie soll keinem von uns zugesprochen werden, sondern frei sein, wenn das Lösegeld eintrifft. Ihr Vater kann sie dann mitnehmen.« Tu Hsing feixte. »Ihr Vater? Wird er die Sümpfe verlassen?« »Was heißt das?« »Das heißt«, sagte Hsing gedehnt, »daß der weise Yang Hsiung beschlossen hat, nach dem ersten Lö segeld ein zweites zu fordern und dann die Fremden immer noch als Geiseln zu behalten, damit man ihm nicht etwa Flugzeuge auf den Hals schickt und dieses schöne Fleckchen zerstört.« Das war die brutale Bestätigung dessen, was Car lin geahnt hatte. 140
»Ach so«, sagte er nickend. »Ihr begreift«, wandte sich Tu Hsing an den Ko reaner, »daß Ihr einem von uns die Frau zusprechen müßt.« Yang Hsiung begriff.
»Ich werde sie töten lassen«, schlug er vor.
»Ihr würdet Euch zwei Feinde machen«, sagte
Carlin kalt. »Dann werde ich sie zu mir nehmen.« »Carlin hat auffallend recht«, höhnte Tu Hsing. »Schweigt«, fuhr Yang Hsiung ihn wütend an. »Ihr seid Narren, daß ihr euch um eine Frau streitet!« Tu Hsing zuckte mit den Schultern. »Ihr habt meinen Anteil genommen und müßt sie mir geben.« »Das gleiche behaupte ich«, warf Carlin ein. »Schweigt!« Yang Hsiung dachte nach. »Die weiße Frau mag selbst entscheiden«, verkün dete er endlich, »zu wem sie gehören will. Ihr seid beide gleichen Ranges und habt beide das gleiche Lösegeld gezahlt. Sie soll zwischen euch wählen.« »Nein«, widersprach Carlin sofort.
»Warum nicht?« fragte Yang Hsiung lauernd.
»Man stellt eine weiße Frau nicht vor eine solche
Wahl. Bedenkt, daß sie sich vielleicht für keinen von uns beiden entscheiden will.« Der Koreaner zuckte mit den Schultern. 141
»Die Frauen der Koreaner können auch nicht wäh len, sondern fügen sich den Wünschen ihrer Angehö rigen. Habt Ihr einen besseren Vorschlag?« Carlin schwieg. Yang Hsiung wandte sich an Tu Hsing. »Nun wie gefällt Euch mein Vorschlag?« »Ich bin einverstanden«, sagte Tu Hsing. »Dann bleibt es also dabei«, sagte Yang Hsiung aufatmend. »Ich werde sie holen lassen.« Owen Carlin lehnte sich nicht mehr auf. Es hatte keinen Zweck, mit dem Koreaner in dieser Angele genheit zu diskutieren. Er hätte Anne Carroll nur zu gerne diese Szene erspart. Aber es war unvermeid lich gewesen. »Die Frau wird also entscheiden«, sagte Yang Hsi ung. »Wehe dem, der sich dagegen auflehnt. Wir werden sie rechtmäßig mit dem vermählen, den sie auswählt, damit alle unsere Leute wissen, wem sie gehört.« Anne Carroll kam. Yang Hsiung gab seinen beiden Unterhäuptlingen ein Zeichen zu schweigen. »Tretet näher, Miß Carroll«, begann er mit beton ter Höflichkeit. »Ihr seht diese beiden Männer?« »Ja«, erwiderte sie leise. Yang Hsiung wies auf Tu Hsing. »Das ist mein Unterhäuptling Tu Hsing, genannt die weiße Teufelsfratze. Er ist ein Weißer und ein mächtiger Mann in seinem Land. Man rühmt ihm 142
große Klugheit und Schlauheit nach. Er versteht es, geschickte Pläne zu schmieden und hat alle Aussicht, immer höher zu steigen und eines Tages einen hohen Posten zu bekleiden.« Nun wies er auf Carlin. »Das ist mein Unterhäuptling Carlin, genannt der weiße Taifun, der auch von Eurem Blute ist. Er gilt als tapferer Offizier, dessen Namen man häufig an den Lagern nennt. Er versteht es, die Heere zu führen und Siege zu erringen. Auch er wird eines Tages ho he Posten bekleiden und von Ruhm umgeben sein.« Anne Carroll blickte von einem zum anderen. Sie verstand nicht, warum dieser schreckliche Koreaner die beiden Männer pries. »Was soll das?« fragte sie zu Carlin hin. Der schüttelte den Kopf. Jetzt hatte allein Yang Hsiung das Wort. Dieser nahm auch die Frage auf. »Die beiden ehrenwerten Männer«, fuhr er fort, »haben den Wunsch vorgebracht, Euch zur Frau zu nehmen. Sie sind beide gleichen Ranges, und nie mand will zurücktreten. So sollt Ihr nach der Sitte Eures Landes zwischen beiden wählen. Wen Ihr be stimmt, mit dem sollt Ihr morgen vermählt werden.« Dieser Eröffnung war die junge Frau nicht ge wachsen. Sie starrte mit weitgeöffneten Augen auf den Koreaner und bemühte sich vergebens, eine an dere Deutung seiner Worte zu finden. »Was soll ich?« fragte sie nach einer Weile. 143
Yang Hsiung wiederholte geduldig, aber mit ei nem scheußlichen Lächeln: »Es fällt Euch schwer, die Ehre zu fassen. Ihr sollt einen dieser beiden er wählen, damit Ihr morgen mit ihm getraut werdet!« »Das ist – unmöglich«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sie haben doch Lösegeld gefordert, und wenn es eintrifft, werden wir frei?« Yang Hsiung zuckte mit den Schultern. »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Bis dahin ist eine lange Zeit. Ich will nicht, daß sich meine beiden Unterhäuptlinge Euretwegen streiten. Da sie beide Euch haben wollen, sollt Ihr die Entscheidung tref fen.« Der Blick der Frau wanderte zu Carlin. Dieser trat einen kleinen Schritt vor. Er verbarg seine Qual und Spannung hinter gleichgültiger Gelassenheit. »Yang Hsiung meint es ernst«, erklärte er sach lich. »Ich konnte Ihnen das leider nicht ersparen. Tu Hsing wollte Sie wirklich gegen Zahlung des Löse geldes kaufen, worauf ich das gleiche Angebot machte. Es bleibt Ihnen tatsächlich jetzt nichts ande res übrig, als zwischen uns beiden zu wählen. Das ganze ist eine Sache des Vertrauens, selbst wenn morgen eine Vermählungszermonie durchgeführt wird. Gesetzlich ist diese nicht gültig, und darü berhinaus ist die Angelegenheit allein eine Sache des Vertrauens.« Er hätte gern mehr gesagt, aber es schien ihm un 144
zweckmäßig zu sein, Yang Hsiung darauf aufmerk sam zu machen, daß er die vorgesehenen Zeremonien als Komödie betrachten wollte. Seine Worte hatten Anne Carroll die Ruhe zu rückgegeben. »Ich soll also Sie oder den anderen als meinen zu künftigen Mann bestimmen?« vergewisserte sie sich. »Ja.« »Und was geschieht, wenn ich mich weigere?« Carlin hob die Schultern. »Vermutlich läßt man dann die Würfel entschei den.« »Um Gottes willen«, rief sie, »dann…« »Einen Augenblick bitte«, mischte sich Tu Hsing ein. »Nachdem Mister Carlin seine Überredungskün ste hat spielen lassen, darf ich wohl auch einige Wor te sagen. Zunächst möchte ich feststellen, daß er Ih nen eine unrichtige Auffassung vermittelt hat. Nicht mein Verhalten hat diese unangenehme Lage für Sie heraufbeschworen, sondern sein Verhalten. Er hat zuerst Yang Hsiung gedrängt, Sie ihm zu verkau fen.« »Das ist eine unverschämte Lüge«, knurrte Carlin. »Sagen Sie«, entgegnete Tu Hsing grinsend. »Im übrigen lassen Sie mich jetzt reden, ich habe Sie auch nicht unterbrochen. Also, Carlin wollte Sie kau fen, darauf habe ich natürlich Einspruch erhoben. Er behauptete, Sie seien bereits mit ihm verlobt und 145
ähnliche Dinge. Ich weiß nicht, ob das zutrifft, aber jedenfalls widersprach es meinen Empfindungen, Ihre Notlage auszunützen und Sie zum Gegenstand eines Kaufs werden zu lassen.« Anne Carroll blickte scheu auf Carlin. »Was sagen Sie dazu, Mister Carlin?« Owen Carlin spürte wütenden Schmerz in sich, weil sie auf die glatten Worte einging und mehr oder weniger an ihm zweifelte. Hatte sie keine Augen? Wahrhaftig, er war ein Narr, daß er sich eingebildet hatte, sie sähe ihn nicht ungern. Wahrscheinlich sah sie ihn nur deshalb nicht ungern, weil er ihr Erleich terungen verschaffte. Jetzt war sie bereit, zu dem überzulaufen, der mehr versprach. Hätte sie die leise ste Beziehung zu seiner Person gespürt, dann hätte sie überhaupt nicht erst ins Schwanken kommen dür fen. Vertrauen? Ja, eben Vertrauen fehlte. »Nichts«, stieß er verächtlich aus, »nichts, als daß jedes Wort Lüge war. Was ich Ihnen sagte, gilt nach wie vor. Sie sollten mehr Vertrauen haben, Miß Car roll!« Sie preßte die Lippen aufeinander. Vertrauen? Wem konnte sie hier noch vertrauen? Die Spannung lastete immer schwerer. Jetzt beugte sich Anne Carroll über den Tisch zu Yang Hsiung hin, der unwillkürlich zurückwich. »Yang Hsiung«, fragte sie, »welcher von den bei den Männern lügt?« 146
Die Frage kam allen überraschend. Sie war ein ge schicktes Manöver, um die Wahrheit aufzudecken. Aber Yang Hsiung ließ sich nicht überrumpeln. Mit gewollt undurchdringlicher Miene gab er nach einer Pause Antwort: »Es ist jedem Werber überlas sen, auf seine Weise für sich zu sprechen, nachdem der Freiwerber geredet hat. Wer will da sagen, was Wahrheit ist und was Lüge, wo eine Frau im Spiel ist?« Sie sah ihn zornig an. »Ihr könnt mir sagen, wer zuerst an Euch herange treten ist, um mich zu kaufen.« Jetzt lächelte Yang Hsiung. »Ich vergaß es.« »Ihr wollt es nicht verraten?« Yang Hsiung wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht? Doch entscheidet Euch!« Nun schwiegen alle. Die Sekunde der Entschei dung war herangerückt. Anne Carroll blickte von Owen Carlin auf Tu Hsing und wieder zurück auf Owen Carlin. Welchem von den beiden sollte sie sich in die Hände geben? Zögernd streckte sie die Hand aus. »Ich wähle diesen.« »Verdammt«, fluchte Tu Hsing, der sein Spiel ver loren sah. Yang Hsiung neigte den Kopf. »Ihr habt entschieden. Morgen werden wir das 147
Fest Eurer Vermählung feiern.« Owen Carlin trat innerlich unsagbar erleichtert, äußerlich aber finster an Anne Carroll heran. »Kommen Sie, Miß Carroll, ich bringe Sie zu Ih rem Vater zurück.« Sie schloß sich gehorsam an. Plötzlich war sie traurig. Eine Ahnung stieg in ihr auf, daß sie mit Carlin wohl durch eine Komödie eng verbunden werden würde, daß aber diese Stunde eine Kluft zwischen ihnen geschaffen hatte, die sie weiter voneinander entfernte, als sie es bisher waren. * Die Kerzen brannten in der kleinen Halle des ehema ligen Klosters auf dem Pfirsichblütenberg, die Weih rauchkessel dampften schwerduftende Wolken um das Abbild des ewig lächelnden Boddhisatva. Die Bonzen, die vergessen hatten, die Kopf schnür zu erneuern, zelebrierten mit feierlichen Gesichtern die Messe, die Glöckchen und Klingsteine schlugen ein tönig bimmelnd an, der Goldflitter blitzte, der Vorbe ter schwang seine Stimme, andächtig murmelte die Menge, die Trommeln rasselten. Anne Carroll und Owen Carlin waren nach korea nischem Ritus ein Ehepaar geworden. Yang Hsiung, der Anführer der Räuberbande, hat te seine Ankündigung wahr gemacht. Damit war 148
nach Yangs Meinung der Streitfall begraben. Nichts hinderte seine beiden Unterhäuptlinge mehr, freund schaftlich nebeneinander für die zukünftige Macht und Größe Yang Hsiungs zu arbeiten, der eine als Diplomat, der andere als Offizier. Owen Carlin führte die junge Frau am Arm zurück zur Zelle, die ihr mit ihrer Mutter zusammen als Aufenthalt diente. Er spürte, wie sie zitterte, deshalb sagte er beruhigend: »Die Komödie ist vorbei, Miß Carroll. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu ma chen.« »Ich bin so aufgeregt«, flüsterte sie. »Wie eine Braut an Ihrem Hochzeitstag«, erwider te er kalt. »Der Klimbim hat Sie etwas mitgenom men, er ist aber nicht der Aufregung wert. Sie sind um eine merkwürdige Erinnerung reicher geworden, mehr nicht.« »Mehr nicht?« fragte sie unsicher. Sein Gesicht wurde noch finsterer. »Schlagen Sie sich endlich diese albernen Be fürchtungen aus dem Kopf. Ich denke nicht daran, aus der Komödie irgendwelche Folgerungen zu zie hen. Ich habe Ihnen das schon einmal versichert. Es steht Ihnen frei, über mich zu denken, was Sie wol len, aber es wäre bestimmt taktvoller, mich nicht dauernd zu beleidigen.« »Das will ich auch nicht, und ich erkenne Ihre gu ten Absichten an. Aber nach den Sitten dieses Lan 149
des bin ich doch tatsächlich Ihre Frau geworden?« »Natürlich«, knurrte er, »aber das ergibt keine Rechtsverbindlichkeit für Sie. Sie sind genauso frei wie bisher. Wir müssen nur für die Zeit Ihrer Gefan genschaft den Schein aufrechterhalten, um diesem Tu Hsing die Möglichkeit zu nehmen, Annäherungs versuche zu machen. Die öffentliche Meinung steht gewissermaßen auf Ihrer Seite. So wenig diese Räu ber auch taugen mögen, Sie finden bei jedem einzel nen von ihnen Schutz gegen etwaige Nachstellungen der weißen Teufelsfratze. Das ist der Zweck der Übung.« Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie vorsichtig: »Warum haben Sie eigentlich meinen Schutz über nommen, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie nun bei diesen Leuten als verheiratet gelten?« Er lachte kurz auf. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, Miß Carroll. Es ist Ihnen vermutlich unfaßbar, daß ich soviel Anstand habe, um Sie nicht der Willkür eines Halunken auszuliefern.« Sie senkte den Kopf. »Sie sind mir wohl sehr böse?« Carlin zuckte mit den Schultern. »Böse? Ich wüßte nicht, woher mir die Berechti gung zu derartigen Gefühlen käme. Unsere Bezie hungen sind wohl zu flüchtig, um solche Aufwen dungen zu machen.« 150
»Sie waren früher freundlicher.« »Ich war ein Narr!« Sie wagte nicht, das Gespräch weiterzuführen. Stumm schritten sie nebeneinander durch den langen Gang, an dem die Zellen der Gefangenen lagen. Vor einer der Türen machten sie halt. Der Wächter kam mit dem Schlüssel. Carlin faßte den Mann bei der Schulter, drehte ihn herum und herrschte ihn an: »Du weißt, daß diese Frau jetzt meine Frau ist?« »Jawohl«, sagte der Wächter eifrig. »Du weißt auch, daß niemand sie belästigen darf, vor allem nicht Tu Hsing?« »Ich weiß, ich weiß«, versicherte der andere. »Ich mache dich und die anderen Wächter mit eu ren Köpfen verantwortlich, daß ihr nichts geschieht. Verstanden? Und noch eins: Sie darf sich selbstver ständlich frei bewegen, darf ihre Zelle verlassen und zu ihrem Vater gehen, wenn sie Lust hat. Ihre Zelle bleibt unverschlossen. Sorgt aber dafür, daß immer zwei Mann Wache bei ihr sind, wenn sie das Haus verläßt.« »Es wird alles geschehen, wie du befiehlst, weißer Taifun.« »Gut, dann schließ auf!« Während sich die Zelle öffnete, gab Carlin der jungen Frau kurz den Inhalt des Gesprächs wieder. »Die Zelle wird von nun an unverschlossen blei ben. Sie können sie jederzeit verlassen, um zum Bei 151
spiel auch Ihren Vater zu besuchen. Sobald Sie das Gebäude verlassen, werden zwei der Leute Ihren Schutz übernehmen. Und nun leben Sie wohl. Ich hoffe, daß Sie recht bald die Freiheit wiedererlangen werden.« Mrs. Carroll stand erwartungsvoll in der geöffne ten Zelle. Ihre Tochter blieb aber neben Carlin ste hen, als wartete sie auf etwas. Als er schwieg, nahm sie seine Hand. »Ich – ich danke Ihnen, Mister Carlin!« Er riß seine Hand los und ging davon. Die junge Frau blickte ihm ein Stück nach, dann trat sie lang sam in die Zelle. Ihre Mutter hatte allerlei Fragen, aber Anne Car roll schüttelte nur den Kopf und begann zu weinen. Als Owen Carlin aus dem Gebäudekomplex heraus ins Freie trat, waren auf dem Vorgelände seiner An weisung gemäß bereits die Rotten aufgestellt. Räu berrotten. Es waren vierhundert Mann, die Carlin nach Yang Hsiungs Willen zu einer brauchbaren Kampf truppe erziehen sollte. Sie standen in einer Ordnung, die man ebensogut Unordnung bezeichnen konnte. Ein Teil der Rotten war nichts anderes als lose Haufen, andere wieder, die aus ehemaligen Soldaten bestan den, hatten sich straff aufgestellt. Die Bekleidung war ebenso unterschiedlich wie die Bewaffnung, 152
zwischen die Gesunden hatten sich Krüppel ge mischt, zwischen die anständigen Gesichter ausge sprochene Verbrechertypen. Frauen und Kinder trie ben sich natürlich auch zwischen den Rotten herum. Als Carlin erschien, trat Ruhe ein. Man wartete, was geschehen würde. Carlin schritt einmal an dem Haufen entlang, dann gab er seinen ersten Befehl: »Frauen und Kinder zu rück!« Das löste zunächst beträchtliche Verwirrung und einiges Protestgeschrei aus, aber nach einigen Minu ten war der Platz so weit geräumt, daß es Carlin nur noch mit den Räubern allein zu tun hatte. Nun begann die Arbeit. Carlin ließ vor allem sämt liche Soldaten und Kriegsteilnehmer vortreten. Das waren rund hundertfünfzig Mann, die sich vor ihm in mustergültiger Ordnung aufstellten. Kein schlechtes Verhältnis, hundertfünfzig gegen zweihundertfünfzig. Wenn es darauf ankam, mußten die Soldaten mühelos die Oberhand behalten. Owen Carlin war jahrelang Instruktionsoffizier in koreanischen Diensten gewesen. Das hatte ihm nicht nur seinen guten Ruf bei diesen Soldaten, sondern auch eine genaue Kenntnis der Einstellung dieser Leute eingebracht. Diese Soldaten mußten für ihn, den weißen Tai fun, dessen Freundschaft mit Tsai Kiu nicht unbe kannt war, leicht zu gewinnen sein. Sobald er sie hin 153
ter sich hatte, konnte er aber Yang Hsiungs Spiel durchkreuzen und gleichzeitig die Gefangenen frei lassen. Die Räuber hatten Interesse am Lösegeld, die Soldaten aber nicht. Owen Carlin ging die Reihen der ehemaligen Sol daten ab. Er nahm sich Zeit dazu, um jeden einzelnen kennenzulernen. Bei jedem erkundigte er sich nach der militärischen Laufbahn. Diesen oder jenen, der ihm besonders zuverlässig erschien, holte er heraus, vor allem seinen Kriegskameraden Li Kweh, mit dem er bereits während des Überfalls auf den Nacht expreß die Bekanntschaft erneuert hatte. Da stand einer, der am Karabinerhaken eine sil berne Kaffeetasse hängen hatte, sein Beuteanteil aus der Beraubung des Zuges. Carlin deutete darauf hin, als er den Mann nach Namen und Rang gefragt hatte. »Was ist das?« »Mein Trinkbecher.« »Ich denke, du bist Soldat gewesen?« sagte Carlin. »Für einen Soldaten ist dieses Ding zu schwer und zu auffällig, außerdem genügt es, wenn du aus der Fla sche trinkst. Was willst du mit dem Becher?« »Verkaufen!« »Hoffentlich wirst du reich davon, damit du we nigstens dafür entschädigt bist, daß du so mutig warst, einen Zug zu überfallen. Jetzt habe ich Solda ten vor mir. Die Räuber stehen dort drüben. Mit dem Becher Räuber, ohne Becher Soldat. Wirf ihn weg 154
oder tritt aus!« Der Mann blickte zunächst unsicher in Carlins Ge sicht, dann grinste er. »Danke, weißer Taifun.« Er löste den Becher vom Haken und warf ihn im Bogen weg. Carlin atmete auf. Später traf er auf einen Solda ten, der ihm flüchtig bekannt vorkam. »Wer bist du?« fragte er ihn wie alle anderen. »J Tschang aus Su tschou.« »Kenne ich dich nicht von früher, J Tschang?« »Ich freue mich, daß du dich an mich erinnerst, weißer Taifun. Ich wurde von dir am Maschinenge wehr ausgebildet, als damals die große Explosion erfolgte.« »Richtig«, sagte Carlin. »Dann kennst du Tsai Kiu?« »Ja.« »Warum bist du dann nicht bei ihm?« Auf dem Gesicht des anderen erschien Verwunde rung. »Sind wir nicht alle bei ihm? Sein Heer ist groß, deswegen können wir ihn nicht gleichzeitig sehen, aber Yang Hsiung führt doch seine Befehle aus!« So ging Owen Carlin von einem zum anderen, prüfte, musterte und sichtete. Zugleich weckte er aber auch mit Bemerkungen und Fragen den Stolz und die Aufmerksamkeit der Leute, wobei er sich 155
nicht scheute, ziemlich weit zu gehen, um erst einmal einen Abstand zu den Räuber rotten zu schaffen und auf den Gegensatz zwischen Tsai Kiu und Yang Hsi ung hinzuweisen. Er legte Zündstoff, der sich in den abendlichen Gesprächen auswirken mußte. Anschließend teilte er die Soldaten flüchtig in Gruppen ein, nachdem er sich so viele Leute heraus gezogen hatte, wie er als Gruppenführer brauchte. Dann nahm er sich die eigentlichen Räuber vor. Ei nen kleinen Teil davon schied er aus und steckte sie zu den Soldaten, die anderen übergab er den ausge wählten Gruppenführern. Damit war seine Arbeit für diesen Tag beendet. Am Nachmittag ließ ihn Yang Hsiung zu sich ru fen. Owen Carlin kam ahnungslos in die Halle, in der der Anführer wie gewöhnlich saß. Er stutzte erst, als er nicht nur Tu Hsing zu Yangs Seite fand, sondern auch den Russen Pawel Smirnow. Außerdem fiel ihm auf, daß eine Reihe bewaffneter Räuber in der Halle herumlungerte. »Ihr habt mich zu sprechen gewünscht?« erkun digte er sich. Yang Hsiung nickte sofort und sagte: »Es ist nicht recht von mir, daß ich Sie an einem so freudigen Tag störe, aber es ist notwendig, daß wir uns über man cherlei unterhalten.« Er gebrauchte die englische Sprache, obwohl Car 156
lin Koreanisch gesprochen hatte. Das war kein gutes Zeichen, ließ sich aber durch die Rücksichtnahme auf Tu Hsing erklären. »Eine Unterhaltung mit Ihnen kann die Freude des Tages nur erhöhen«, gab er kühl zurück. »Aber was hat ein Gefangener bei der Beratung der Häuptlinge zu suchen?« »Mister Smirnow ist jetzt kein Gefangener mehr. Er ist der Beauftragte einer großen Macht und kann uns wertvolle Dienste leisten.« Carlin grinste. »Sieh da, auf einmal, Mister Smirnow? Hoffent lich haben Sie es schriftlich, daß Sie ein Agent sind?« Smirnow hüstelte. Yang Hsiung sprang für ihn ein. »Er hat alle Dokumente vorgelegt, die notwendig waren, um ihn auszuweisen.« Carlin blickte immer noch auf den Russen. »Wie unvorsichtig, mein Lieber.« Jetzt grinste Smirnow. »Ich bin eben bei aller Unvorsichtigkeit vorsichti ger als andere Leute.« »So?« Owen Carlin begriff, daß diese Besprechung eine Drohung für ihn barg. Smirnow hatte etwas voreilig eine Andeutung gemacht. Yang Hsiung räusperte sich. »Mister Carlin, Sie waren schon sehr tätig heute, 157
nicht wahr? Wie haben Ihnen unsere Truppen gefal len?« »Nicht schlecht. Es wird aber viel Arbeit kosten, sie zu einer brauchbaren Kampfeinheit auszubilden.« »Das wird Ihnen auf Grund Ihrer hervorragenden Methoden sicher gelingen. Manche Leute beklagen sich nur darüber, daß Sie die ehemaligen Soldaten als Schar herausnahmen und zu besonderen Gruppen einteilten?« »Der Unverstand hat immer zu klagen«, wehrte Carlin gleichgültig ab. »Es ist selbstverständlich, daß ich die gedienten Soldaten nicht mehr so auszubilden brauche wie die anderen. Deshalb nahm ich sie her aus.« »Ich zweifelte nicht an der Weisheit Ihrer Maß nahmen«, sagte Yang Hsiung. »Doch man hat mir berichtet, daß Sie den Überfall auf den Zug verächt lich gemacht und manche gezwungen haben, ihre Beutestücke fortzuwerfen?« »Stimmt auffallend«, gab Carlin gelassen zu. »Sie haben mich geworben, um Ihnen ein Heer zu schaf fen, auf das Sie sich stützen können. Wenn ich mit einer Räuberbande exerzieren sollte, könnte ich alles lassen, wie es ist. Soldaten aber, die Kerntruppe ei nes Heeres werden sollen, können nicht wie die Krämer behängt herumlaufen und müssen sich ab gewöhnen, ihren Ehrgeiz mit einem gestohlenen Sil berlöffel zu befriedigen.« 158
»Sie sprechen sehr klug, Mister Carlin«, sagte Yang Hsiung bedächtig. »Es ist aber ein Unterschied zwischen Räubern und Soldaten, und Sie werden si cher eine brauchbare Gruppe aufstellen. Doch – Mi ster Carlin, für wen eigentlich? Für mich oder für Tsai Kiu?« Carlin wurde sehr aufmerksam. Der Kernpunkt war berührt worden. »Eine merkwürdige Frage, Yang Hsiung«, erwi derte er schleppend. »Ich nahm an, daß die Leute Ih nen die Treue geschworen hätten und daß ich sie für Sie ausbilden sollte. Haben Sie inzwischen Ihre Freundschaft mit Tsai Kiu erneuert?« »Reden wir von Ihnen«, bog der Koreaner sanft zurück. »Tsai Kiu ist Ihr Freund. Ist es nicht merk würdig, daß Sie ein Heer gegen ihn aufstellen wol len?« Carlin hob die Schultern. »Freundschaften sind nun einmal vergänglich.« »Ah, Sie wollen sagen, daß Sie keine Beziehungen zu Tsai Kiu haben?« »Ganz recht.« Yang Hsiung beugte sich vor. »Und doch schickten Sie heute nacht einen Boten mit einem Brief zu Tsai Kiu?« Das ist der Kernpunkt! »Das ist mir neu. Haben Sie so schlecht geträumt, Yang Hsiung?« 159
»Sie bestreiten es?« »Ich bestreite nicht, was nicht geschehen ist!« Yang Hsiung war jetzt zum erstenmal erregt. Er wandte sich an den Russen. »Dann sprechen Sie, Mister Smirnow!« »Mit Vergnügen«, sagte dieser bereitwillig. »Sie hatten heute nacht ein bemerkenswertes Gespräch mit Ihrem Diener, Mister Carlin?« »Ich habe keinen Diener bei mir«, lehnte der ruhig ab. »Ah, ich habe aber Ihren Diener Lin Tschung, der in Wirklichkeit Bill Morlan heißt, im Zug gesehen. Bei den Gefangenen befand er sich nicht, doch heute nacht erkannte ich ihn ganz genau, als Sie hinter dem kleinen Tempel mit ihm sprachen.« »Sie müssen sehr lebhaft geträumt haben!« Der Russe grinste. »Sehr lebhaft, in der Tat. Ich sah, wie Sie Ihrem Diener einen Brief übergaben und hörte, wie Sie ihn beauftragten, das Schreiben zu Tsai Kiu zu bringen. Er sollte dazu überraschenderweise sogar ein Flug zeug benutzen. Leider gelang es mir nicht, Ihrem Diener bis zum Flugzeug zu folgen, aber da es heute nacht zurückkommen soll, hoffe ich es doch kennen zulernen.« Carlin drückte die Fingernägel in die Handflächen. Der Kerl hatte das ganze Gespräch mit Bill be lauscht. 160
»Sie verfügen über eine ausgezeichnete Phanta sie«, stellte er ironisch fest. »Sie wollen alles abstreiten?« fauchte der Russe. Carlin zuckte verächtlich mit dem Kopf und wand te sich an Yang Hsiung. »Wenn ein Mann so träumt, daß er selbst bei Tag seine Geliebte für seine Tochter ausgibt, soll man von seinen Worten nicht viel halten!« Der Stich war gut geführt. Der Koreaner ruckte so fort auf. »Miß Smirnow ist nicht die Tochter von ihm?« »Sie haben vielleicht zusammen eine Tochter«, meinte Carlin bedeutungsvoll. »Lüge!« schimpfte Smirnow. »Lassen Sie sich von ihm nicht ablenken. Doch wir wollen später über Dinge reden, die Zeit haben. Sie stehen also mit Tsai Kiu in Verbindung, Mister Carlin?« »Ich hoffe, daß Sie klug genug sind, die Lüge zu durchschauen, Yang Hsiung. Warum sollte ich an Tsai Kiu Briefe schreiben? Und woher sollte plötz lich ein Flugzeug kommen? Würde ich hier sitzen, wenn ich mit einem Flugzeug fort könnte?« Jetzt mischte sich zum erstenmal Tu Hsing, der grinsend dagesessen hatte, in das Gespräch ein. »Die Gefangenen!« Der Koreaner griff den Hinweis sofort auf. »So ist es. Sie wollen nicht fort, weil Sie die Ge fangenen befreien wollen. Und vielleicht sind Sie 161
von Tsai Kiu auch beauftragt worden, den Pfirsich blütenberg in Ihre Gewalt zu bringen?« »Ein schlechter Ratgeber ist schlimmer als hundert gute Ratgeber, die man nicht hat«, wandelte Carlin ein Sprichwort ab. »Sie sind doch sonst ein kluger Mann, Yang Hsiung?« Yang Hsiung forschte unentwegt mit fast ver schlossenen Augen. »Es ist schwer, die Wahrheit zu finden, weißer Taifun. Ich werde Sie foltern lassen!« Carlin war einen Schein blasser geworden, aber er behielt seine Stimme in der Gewalt. »Foltern? Wie klug von Ihnen, Yang Hsiung. Doch kommen Sie nicht schneller zum Ziel, wenn Sie den Russen foltern lassen? Er braucht nur seine Lüge zuzugeben, während ich erst eine ganze Ge schichte erfinden müßte, um Sie zu befriedigen. Las sen Sie ihn foltern, dann erfahren Sie bei der Gele genheit gleich, welche Bewandtnis es mit seiner hüb schen Tochter hat!« Da beging Smirnow einen Fehler. »Ich erhebe Einspruch!« rief er erschrocken. Carlin lächelte. »Ah, er erhebt Einspruch.« Yang Hsiung blickte zu dem Russen hin. »Na gut, dann will ich euch beide zugleich foltern lassen.« Jetzt mußte Tu Hsing um seines neuen Bundesge 162
nossen willen helfend eingreifen. »Vielleicht ist es einfacher, wenn wir warten, bis das Flugzeug wiederkommt. Dann haben wir den Beweis gegen Carlin, wenn Sie schon Smirnows Be richt nicht glauben. Nehmen Sie Carlin einstweilen gefangen und warten dann das Flugzeug ab.« Der Vorschlag gefiel Yang Hsiung. »Gut, sehr gut«, sagte er. »Mister Carlin wird nicht böse sein, wenn er nach der anstrengenden Tä tigkeit des Vormittags die Ruhe genießen darf. Sie sind bewaffnet, Mister Carlin?« »Genügend«, beantwortete er die gestellte Frage, »um im Notfall der Bande vom Pfirsichblütenberg ihrer besten Köpfe zu berauben, bevor man mir et was antun kann. Aber nichts liegt mir ferner als das. Ich bin davon überzeugt, daß Sie mich morgen um Entschuldigung bitten werden, Yang Hsiung. Ich bin Ihr Gefangener.« »Lassen Sie die Hand von der Pistole!« warnte Tu Hsing. Carlin beobachtete die Warnung nicht, sondern zog seine Waffe aus dem Gürtel und legte sie auf den Tisch. Und Tu Hsing schoß nicht. Yang Hsiung war doch blaß geworden. Er hatte zwar den Räubern im Hintergrund rechtzeitig ein Zeichen gegeben, aber als nun Carlin die Waffe in seiner Hand hielt, begriff er, daß sein Leben nichts wert gewesen wäre, wenn Carlin sich zu einem ver 163
zweifelten Entschluß aufgerafft hätte. Kein Wunder, daß seine Stimme jetzt erleichtert klang: »Sie sind es freiwillig, weißer Taifun. Ich werde dafür sorgen, daß man Sie wie einen Gast behandelt.« Owen Carlin kreuzte die Arme über der Brust und verzichtete auf eine Fortführung des Gesprächs. Es ist selbst mitten im Gelbschlamm-Moor nicht leicht, Räuberhauptmann zu sein. Der ehrenwerte Yang Hsiung kam den ganzen Tag nicht mehr dazu, den Genüssen des Daseins zu frönen, da ihn die »Staatsgeschäfte« zu sehr in Anspruch nahmen. Er war sich mit seinen Unterführern kaum einig geworden, als Li Kweh mit einigen seiner Freunde erschien und ziemlich stürmisch verlangte, Yang Hsiung zu sprechen, worauf dieser klugerweise sei nen vertrauten Wachen Befehl gab, sie vorzuführen. Li Kweh war sehr erregt. Er verzichtete auf die Stirnaufschläge, auf die Yang Hsiung eigentlich An spruch erheben durfte, und trat sogar ziemlich her ausfordernd auf. »Höre, Yang Hsiung«, sagte er barsch, »du hast den weißen Taifun als Gefangenen eingesperrt? Warum ist das geschehen?« Yang Hsiung lächelte, denn erstens enthielten Li Kwehs Fragen Vorwürfe, und zweitens ärgerte er sich über die Dreistigkeit, mit der Li Kweh auftrat. »Ist der weiße Taifun dein Freund, daß du dich so um ihn sorgst?« fragte er zurück. 164
»Er war mein Hauptmann, und ich habe mit ihm zusammen gekämpft. Und jetzt hast du ihn selbst als Offizier über uns alle gesetzt. Wir verehren ihn und wollen nicht, daß ihm etwas geschieht.« Yang Hsiung blähte die Nasenflügel. »Der weiße Taifun wird stolz darauf sein, daß sei ne Freunde so mutig für ihn eintreten, daß sie sogar laut wie Betrunkene auftreten.« Nun brach die Wut aus ihm heraus. Er zischte nur noch: »Ihr Schufte, wie könnt ihr es wagen, so aufzutreten? Noch nicht einmal einen Gruß haltet ihr für nötig? Das ist eine Frechheit, eine Rebellion. Ich werde euch…« »Schweig!« schrie Li Kweh zornig. »Du wirst dich hüten, uns anzurühren. Du siehst wohl nicht, daß wir bewaffnet sind? Wir sind keine Räuber, die vor dir winseln, sondern Soldaten. Du siehst hier nur mich und meine Freunde, aber draußen stehen hundert fünfzig, die mich hereingeschickt haben. Wage es, deine Leute gegen uns zu hetzen! Du würdest schnel ler am Ende sein, als du glaubst. Wir wollen wissen, was hier geschieht. Eben noch hast du den weißen Taifun zum Häuptling gemacht und zum Ausbil dungsoffizier ernannt, und jetzt ist er gefangen? Wir kennen den weißen Taifun vom Krieg her. Er ist ein Freund von Tsai Kiu. Was fällt dir ein, ihn einfach gefangen zu nehmen?« Yang Hsiung hatte sich zu weit vorgewagt. Jetzt schwankte seine ganze Stellung auf der Spitze eines 165
Dolches. Er wußte, daß diese Soldaten praktisch die Oberhand besaßen. »Wie wunderbar habt ihr die Probe bestanden«, pries er, ohne Rücksicht darauf, daß seine plötzliche Wandlung ziemlich unglaubwürdig scheinen mußte. »So lobe ich mir den Soldaten, treu und offen. Daß du und deine Freunde in einen Irrtum geraten seid, ist nicht eure Schuld. Ihr habt recht, ich hätte euch alles, was geschehen ist, schon lange bekanntmachen müs sen.« »Dann hole es jetzt nach«, grollte Li Kweh. Yang Hsiung nickte einige Male. »Hast du nicht in der Nähe gestanden, als ich mich mit dem weißen Taifun am Zug unterhielt und ihn bat, freiwillig mit zum Pfirsichblütenberg zu kom men?« »Allerdings, ich stand dabei.« »Erinnerst du dich nicht, daß ich den weißen Tai fun nach seinem Freund Tsai Kiu fragte und daß er darauf erwiderte, er sei nicht mehr dessen Freund, weil Tsai Kiu allzu stolz geworden sei?« »Das ist richtig«, gab Li Kweh kleinlaut zu. Yang Hsiung blickte kummervoll. »Ist nicht der weiße Taifun ein guter Offizier, von dem man rühmend spricht?« »Das ist er bestimmt!« »Dann wirst du mich verstehen, Li Kweh, denn du bist ein kluger Kopf und ein ehrlicher Mann. Hatte 166
ich nicht recht, wenn ich trotzdem versuchte, diesen tüchtigen Mann für uns zu gewinnen? Wir brauchten ihn, und seine Verstimmung gegen Tsai Kiu konnte schwinden. Hättest du an meiner Stelle nicht auch alles getan, um ihn zu überreden?« Li Kweh rutschte bereitwillig auf die glatte Bahn. »Ja, ich hätte auch versucht, ihn für uns zu gewin nen.« »Siehst du, ich habe es getan. Du weißt, daß ich ihn über die ganze Schar setzte und ihn zum Unter führer neben mir ernannte. War das nicht viel einem Mann gegenüber, den ich gefangen genommen hat te?« »Das stimmt. Doch warum…« »Warte«, bat Yang Hsiung sanft. »Du sagst nun, daß ich ihn eingesperrt habe. Nun, er ist eingesperrt, aber er wird als Gast behandelt, bis sich alles geklärt hat. Doch sage: Ist es richtig, daß ihr alle mir mit vie len Stirnaufschlägen Ergebenheit und Gehorsam ge schworen habt?« »Das ist richtig, aber…« »Warte noch. Ihr wißt doch alle, daß ich zu ge ringfügig bin, um selbst zu handeln, daß ich nur durch das Vertrauen Tsai Kius berufen wurde, die Bande vom Pfirsichblütenberg zu leiten. Ist nicht un ser aller Anführer Tsai Kiu?« »Gerade das wollte ich sagen«, meinte Li Kweh. »Muß ich dann nicht die bestrafen, die als Feinde 167
Tsai Kius tätig sind?« Li Kweh merkte, worauf er hinausging. Er wehrte sich innerlich gegen die glatten Fragen, auf die es nur Bejahungen gab, er wehrte sich zugleich gegen die Anschuldigung, die in der nächsten Sekunde gegen den weißen Taifun erhoben werden würde. Deshalb brach er noch einmal gewaltsam aus. »Natürlich, aber erzähle mir nicht etwa, daß der weiße Taifun gegen Tsai Kiu gearbeitet hat. Ich weiß, daß die beiden Freunde sind, und glaube nicht, daß sie es nicht mehr sind. Bilde dir ja nicht ein, daß du mich belügen kannst.« Yang Hsiung blickte sehr bieder. »Wie könnte ich dich belügen, wo du fähig bist, die Wahrheit zu erkennen? Ich beschuldige den wei ßen Taifun noch nicht, denn wenn ich das müßte, dann würde er nicht mehr leben, weil ich ein Diener Tsai Kius bin. Aber es sind Zeugen gegen ihn aufge standen, die ihn beschuldigen. Doch höre: Der weiße Taifun sprach heute nacht am südlichen Ausgang mit einem Fremden, der nicht zu uns gehört. Das Ge spräch wurde belauscht und mir berichtet. Danach steht der weiße Taifun im Dienst von Fremden, die gegen Tsai Kiu arbeiten, ferner im Dienst der Regie rung, die einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt hat. Der weiße Taifun gab dem Fremden, mit dem er sprach, einen Brief an die Regierung mit. Der Frem de flog dann in einem Flugzeug, das am Fuße des 168
Berges wartete, davon.« »Das sind erbärmliche Lügen!« »Ich hoffte es auch«, fuhr Yang Hsiung ruhig fort. »Ich sprach mit dem weißen Taifun darüber, der sehr erschrak, so daß ich nicht mehr wußte, ob man mir die Wahrheit berichtet hatte. Natürlich stritt er alles ab. Hältst du den Bericht nun für richtig und den weißen Taifun für schuldig?« Li Kweh stand mit verkrampften Fäusten. »Dann – dann allerdings!« »Nun gut, so sollst du mit deinen Freunden heute nacht selbst bereit sein, um das Flugzeug und seine Insassen zu fangen, wenn es wirklich kommt.« »Ja – ich…« »Dann geh und berichte deinen Freunden!« Li Kweh hob die Arme und ließ sie in hilfloser Geste zusammenfallen. Dann ging er hinaus. Nicht viel später wurde ein Bote des Präfekten vor Yang Hsiung geführt. Der Mann hatte es gewagt, mit einer weißen Binde am Arm über den Grenzfluß zu setzen. Natürlich war er bald gefangengenommen und zu seinem Ziel geführt worden. Er brachte ein Schreiben des Präfekten, in dem Yang Hsiung ganz unter der Hand und vor Beginn aller amtlichen Schritte innig gebeten wurde, die Ge fangenen wieder auszuliefern. Yang las mit Vergnü gen, was alles geschehen könnte, wenn er dem Wunsch nicht nachkäme, dann trug er dem Boten 169
einen Gruß an den Präfekten auf und ließ ihm bestel len, er möge sich an Tsai Kiu wenden. Der Überfall sei nicht von der Bande vom Gelbschlamm-Moor, sondern von den Leuten Tsai Kius verübt worden. Gegen Abend traf schließlich noch ein Bote ein, der von Tsai Kiu kam, und ein Schreiben Yang Hsius übergab. Er wurde auch durch dieses Schreiben auf gefordert, die Gefangenen freizulassen. Tsai Kiu drohte, die ganze Bande Yangs einzuschließen und zu vernichten, wenn Yang sich weigern würde. Yang Hsiung unterzog sich in diesem Fall nicht erst der Mühe einer Antwort. Wenn Smirnows Be richt stimmte, war Tsai Kiu inzwischen in den Besitz von Carlins Schreiben gekommen und würde ohne hin seine Entschlüsse fassen. Die Antwort konnte warten, bis es gelungen war, die Insassen des Flug zeuges zu fangen. Gegen elf Uhr senkte sich das Flugzeug langsam auf den Pfirsichblütenberg. Bill Morlan erhielt von Hal Mervin die letzten Anweisungen. »Also sagen Sie Zipp, er soll diesen Garcia oder Tu Hsing, wie er sich nennt, auf jeden Fall nächste Nacht angeschleppt bringen. Es hat keinen Zweck, wenn wir uns noch länger hier herumtreiben, nach dem Tsai Kiu eingreifen will. Es wird einige Tage dauern, bis die Truppe hier angelangt und in die Bande aufgenommen worden sind. Andererseits ist auch dann nichts mehr zu befürchten, weil Mister 170
Carlin dann zuverlässige Leute genug bei der Hand hat, um hier aufzuräumen und die Gefangenen zu befreien. Was sollen wir uns also länger aufhalten?« »Natürlich«, sagte Morlan. »Ich werde schon alles ausrichten und mithelfen, daß Sie den Garcia ins Flugzeug bekommen. Alles andere entwickelt sich dann von allein. Die Hauptsache ist, daß Yang Hsi ung nicht vorzeitig Verdacht schöpft, wenn in so kurzer Zeit so viel Zuzug kommt.« »Er wird sich freuen, daß der Name des weißen Taifun soviel Zugkraft besitzt. Also leben Sie wohl, wir sind gleich… Was war das?« Etwas Hartes patschte gegen die Außenwand des Flugzeugs, ein Knall kam hinterher. »Das war ein Schuß.« Eben setzte das Flugzeug am Rande des Gehölzes auf. Fast gleichzeitig sahen der Pilot, Hal Mervin und Bill Morlan die dunklen Gestalten, die aus den Bü schen hervorbrachen und sich auf das Flugzeug stürzten. »Überfall!« schrie Hal. »Hoch, Dennhardt!« Der Pilot warf schon den Hebel herum, die Flug zeugschaufeln wirbelten schneller und schneller, das Flugzeug ruckte hoch… Aber inzwischen hatten sich schon zwei Männer auf das eine der ausgeschwenkten Räder geworfen. Die einseitige Belastung, der Ruck und die geringe 171
Kraft des ersten Auftriebs brachten das Flugzeug ins Taumeln, die Bäume standen nur wenige Meter ent fernt, schon krachte der Metallkörper in das Holz hinein und verschlang sich mit Ästen und Bäumen. Als sich die drei Insassen von ihrer Betäubung er holt hatten, waren sie gefangen und gefesselt. Sie waren bei dem harten Aufschlag gegen die Wände zwar unverletzt geblieben, aber die Freiheit hatten sie eingebüßt. Yang Hsiung durfte sich freuen. * Der lange Zipp, der sich bescheiden Ho Tao, der Himmelragende, nannte, kehrte mißvergnügt zum Kloster zurück, nachdem er seinen Warnschuß mit so schlechtem Erfolg abgefeuert hatte. Er beobachtete mit den anderen den Einzug der Gefangenen und ge sellte sich später zu den Soldaten, die bedrückt und enttäuscht um ihr Feuer herumhockten. »Tja, Li Kweh«, brummte einer, »das wird dem weißen Taifun das Leben kosten. Ein Verräter…« »Er ist kein Verräter«, unterbrach Li Kweh zornig. »Du mußt aber zugeben, daß Yang recht hatte. Wenn der weiße Taifun sich mit Yang streiten wür de, wären wir auf seiner Seite, aber wenn er gegen Tsai Kiu arbeitet, hat er den Tod verdient.« »Ich werde morgen mit ihm selbst sprechen«, sag 172
te Li Kweh düster. »Yang Hsiung ist falsch und steht vielleicht selbst gegen Tsai Kiu!« »Was ändert das?« meinte der andere verdrossen. »Der Beweis ist da, daß der weiße Taifun für die Re gierung, also gegen Tsai Kiu arbeitet. Er ist ein Ver räter!« »Jawohl, das ist er!« lief es durch die Runde. Li Kweh schwieg, aber der Himmelragende sprach jetzt. »Wie klug ihr seid, meine Freunde. Doch ich bitte euch, mir zu sagen, wodurch bewiesen wurde, daß der weiße Taifun gegen seinen Freund Tsai Kiu steht?« Einer lachte auf. »Ha, der hat bis jetzt geschlafen. Warst du nicht dabei, als wir die drei Fremden herbrachten? Es wa ren Weiße, das sagt doch alles!« Ho Tao verneigte sich. »Für den, der so erleuchtet ist wie du, sicher. Ich hörte jedoch, daß sich viele Koreaner der Weißen bedienen, ohne deshalb Verräter zu sein. Wenn mich meine armseligen Augen nicht täuschen, ist die wei ße Teufelsfratze ein Weißer wie der andere, mit dem Yang Hsiung heute so wichtige Bündnisse ab schloß.« Die Köpfe wandten sich ihm aufmerksam zu. »Du meinst den Russen? Was hat Yang Hsiung mit ihm verhandelt?« forschte Li Kweh. 173
Ho Tao legte bekümmert den Kopf zur Seite. »Was verstehe ich armer Priester von der hohen Politik? Ich hörte nur, daß Yang Hsiung viel Geld bekommen sollte, wenn er gegen Tsai Kiu ein Heer aufstellen würde.« »Was?« Einige der Männer sprangen auf. Li Kweh winkte um Ruhe. »Sei still, man braucht unser Geschrei nicht zu hö ren. Ist das wahr, was du da sagst, Ho Tao?« Der Himmelragende tat noch wehleidiger. »Hätte ich geschwiegen, wäre ich ein Weiser ge blieben«, seufzte er. »Meine Worte scheinen euch zu erschrecken, meine Freunde. Ich weiß nicht, ob ich richtig hörte, aber ihr habt doch selbst gesehen, daß jener Fremde sehr vertraut neben Yang Hsiung stand?« »Das ist wahr«, bemerkte einer. »Sollte er nicht eigentlich ein Gefangener sein?« überlegte Ho Tao. »Es ist unklug von Yang Hsiung, so freundschaftlich mit einem Mann umzugehen, der als Agent der Russen gilt.« Wieder kam starke Erregung auf. »Du sagst Dinge, die für uns neu und unerhört sind. Weißt du denn, daß dieser Smirnow Agent der Russen ist?« fragte Li Kweh. Ho Tao zog die Brauen hoch. »Wußtet ihr das nicht? Das ist doch allgemein be 174
kannt. Schon während des letzten Krieges sah ich einen Steckbrief mit seinem Bild. Doch was küm mert es euch, was Yang Hsiung mit dem Russen ver handelt?« »Eine ganze Menge«, erwiderte Li Kweh. »Wenn es wahr ist, was du sprichst, ist Yang Hsiung ein Verräter an unserer und Tsai Kius Sache!« »Dann will ich mir lieber die Zunge abbeißen, als noch ein einziges Wörtchen zu sagen«, versprach Ho Tao düster. »Wie kann der ehrenwerte Yang Hsiung ein Verräter sein, wo er doch selbst den weißen Tai fun als Verräter an Tsai Kiu bezeichnet?« Man schwieg betroffen, bis einer herausplatzte: »Da werde ein anderer daraus klug. Entweder hast du uns jetzt belogen, oder Yang ist ein Heuchler!« Ho Tao schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wie kann Yang Hsiung, der ein Muster von Ehr lichkeit und Offenheit ist, ein Heuchler sein? Ist nicht eher der weiße Taifun ein Heuchler, der seine Freundschaft mit Tsai Kiu verleugnet, obwohl doch alle Welt weiß, daß die beiden Brüder sind?« »Sie sind es auch jetzt noch«, begehrte Li Kweh auf. »Der weiße Taifun ist kein Heuchler!« Ho Tao hob die Hand zur feierlichen Geste. »Du bist wie der Wind, der schnell die Richtung wechselt. Wolltest du nicht gerade den weißen Tai fun als Verräter an Tsai Kiu strafen, und jetzt sagst du, daß die beiden Brüder sind? Verrät ein Bruder 175
den anderen? Sollte man dem nicht mißtrauen, der solches behauptet? Doch der weiße Taifun tat es selbst, darum ist er ein Heuchler. Hat er nicht Yang Hsiung gegenüber gesagt, daß er nicht mehr der Freund Tsai Kius ist?« »Das hat er gesagt«, kam es von mehreren Seiten. Ho Tao seufzte. »Welch törichter Mann ist doch dieser weiße Tai fun. Er ist ein Gefangener und muß damit rechnen, daß man ihn tötet. Er weiß, daß man ihn freilassen wird, wenn er sich auf Tsai Kiu beruft, denn er be findet sich ja unter Freunden Tsai Kius. Er tut es aber nicht, sondern sagt, er sei nicht mehr der Freund Tsai Kius. Wahrhaftig, solche Torheit ist unfaßbar.« Die Koreaner blickten sich gegenseitig an, schüt telten die Köpfe und nickten. »Wahrhaftig«, murmelte einer, »es ist unfaßbar. Es war sehr töricht von ihm. Aber Yang Hsiung hat ihn doch trotzdem mit Freuden aufgenommen?« Ho Tao breitete die Handflächen aus. »Deine Weisheit ist wie der Schein des Vollmon des. Yang Hsiung nahm ihn auf. Sollte er es getan haben, weil der weiße Taifun angeblich kein Freund Tsai Kius mehr war? Wartet, meine Freunde. Wie könnte ich es wagen, gegen den sehr ehrenwerten Yang Hsiung auch nur ein Wörtchen zu sagen? Doch man rühmt den weißen Taifun nach, daß er klug sei. Sollte er seinen Bruder Tsai Kiu verleugnet haben, 176
weil er wußte, daß Yang Hsiung ihn nur dann auf nehmen würde?« »Du sagst Unerhörtes«, sagte Li Kweh, »aber du sprichst vortrefflich. Deine Worte sind wie Lichter, die in ein dunkles Zimmer fallen.« Ho Tao seufzte abermals. »Der gewisse Ho Tao scheut sich, auch nur noch ein einziges Wort zu sagen, da du solch ehrende Meinung von dir gibst. Was könnte ich sprechen, was euch nicht schon lange bekannt und von euch klug durchdacht worden ist? Frage ich euch nicht nur um Rat, um meine Unwissenheit zu verringern? Man weiß doch überall, daß der weiße Taifun der Bruder Tsai Kius ist. Wenn er es verleugnet, so muß ihn doch wohl ein wichtiger Auftrag dazu veranlassen? Oh, die Menschen sind böse. Vielleicht flüsterte man dem mächtigen und tapferen Tsai Kiu zu, sein Unter führer Yang Hsiung treibe Verrat und sei im Begriff, mit den Russen Bündnisse abzuschließen und ein eigenes Heer aufzustellen? Vielleicht hat dieser ab scheuliche Verdacht Tsai Kiu bewogen, seinen Bru der, den weißen Taifun, in das Gelbschlamm-Moor zu senden, um zu erkennen, was Wahrheit ist? Mußte dann nicht der weiße Taifun seine Freundschaft mit Tsai Kiu verleugnen, wie er es getan hat? Doch wer von uns vermag in die großen Geheimnisse einzu dringen? Der weiße Taifun ist gefangen und wird getötet werden, aber keiner von uns wird sagen kön 177
nen, ob in ihm der Feind oder der Beauftragte Tsai Kius getötet wird.« Li Kweh riß den Karabiner, der neben ihm lag, hoch und stieß mit dem Kolben gewaltsam auf die Erde. »Er wird überhaupt nicht getötet werden, solange wir nicht genau Bescheid wissen!« Ho Tao wiegte den Kopf hin und her. »Die kleinen Leute können nicht über die Dächer sehen«, sinnierte er. »Wo ist die Wahrheit? Hat Yang Hsiung nicht bewiesen, daß der weiße Taifun ein Verräter ist? Ist das Flugzeug nicht gelandet, das mit dem Diener und dem Brief des weißen Taifun in der letzten Nacht davonflog? Wer von uns will sagen, zu wem der weiße Taifun den Brief schickte? Ist es nicht möglich, daß er seinem Freund Tsai Kiu auf diese Weise Bericht über das erstattete, was hier ge schah?« Die Soldaten saßen wie versteinert. Sie brauchten lange Zeit, bevor sie verdaut hatten, was Ho Tao mit der letzten Frage angedeutet hatte. Als sich der Bann dann löste, redeten sie wild durcheinander, bis Li Kweh zornig Ruhe befahl. »Seid still! Wollt ihr den ganzen Berg lebendig machen?« Seine Freunde schwiegen, so daß Li Kweh ruhiger fortfahren konnte: »Der Himmelragende hat uns ge zeigt, wie töricht wir waren. Wir wollen ihn nur noch 178
bitten, uns einen Rat zu geben, wie wir die Wahrheit finden können oder was wir sonst tun können.« Ho Tao lehnte bestimmt ab. »Wie könnte ich euch einen Rat geben? Ihr wißt selbst, wie gut es wäre, wenn einige von euch beim Verhör der Gefangenen anwesend wären, das der eh renwerte Yang Hsiung am Morgen vornehmen will. Und sicher habt ihr bereits den Beschluß gefaßt, ei nen vertrauenswürdigen Boten zu Tsai Kiu zu senden und ihn selbst zu fragen. Vielleicht scheuen sich die Gefangenen, vor Hsiung zu bekennen, daß sie bei Tsai Kiu waren. Ist nicht schon mancher schnell ge storben, der die Wahrheit bekennen wollte?« »Ha, du glaubst, daß Yang Hsiung die Gefangenen töten wird, bevor sie vor uns allen aussagen kön nen?« Der Himmelragende schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie könnte ich etwas glauben, das so beleidigend für den sehr ehrenwerten Yang Hsiung ist? Habt ihr nicht den Rothaarteufel zu eurem Führer gemacht? Er wird euch schon sagen, daß die Gefangenen ge standen haben, mit dem weißen Taifun zusammen gegen Tsai Kiu verräterisch zu handeln, denn der Rothaarteufel ist ja so ehrlich und so zuverlässig.« »Na«, knurrte Li Kweh, »darüber sind wir ver schiedener Meinung. Was denkt ihr, meine Freunde? Wollen wir nicht Yang Hsiung auffordern, das Ver hör der Gefangenen öffentlich vorzunehmen? Wollen 179
wir nicht einen oder zwei von uns durch die Sümpfe zu Tsai Kiu schicken? Und wird es nicht gut sein, wenn immer einige von uns die Gefangenen mit be wachen?« Allgemeine Zustimmung klang auf. Ho Tao erhob sich. »Erlaubt, daß ich mich verabschiede, Freunde«, sagte er. »Es steht mir nicht zu, im Rat der Krieger zu sitzen.« Li Kweh versicherte eifrig das Gegenteil und bat ihn zu bleiben, aber Ho Tao lehnte ab. »Ihr müßt bereit sein, denn es wird Streit geben. Ich aber habe Hunger und will ruhen, bevor die Son ne im Osten aufgeht.« Er verneigte sich feierlich und schritt davon. * Yang Hsiung war sehr zufrieden. »Der weiße Taifun ist ein guter Soldat«, sagte er zu Tu Hsing, nachdem er umständlich Platz genom men hatte, »aber wenn er doch noch der Freund Tsai Kius ist, wird er eine noch bessere Geisel sein. Tsai Kiu wird sich hüten, etwas gegen mich zu unterneh men, solange Carlin in meiner Gewalt ist. Doch wir werden hören.« Er klatschte in die Hände und befahl, die drei Ge fangenen der Nacht vorzuführen. 180
»Wenn aber die Gefangenen ableugnen?« forschte Tu Hsing. »Ich werde sie foltern lassen, wenn sie leugnen, bei Tsai Kiu gewesen zu sein.« »Hm, wenn es Li Kweh und seine Freunde erfah ren, werden sie Sie zwingen, Carlin freizulassen.« »Sie werden es nicht hören. Niemand außer uns beiden wird wissen, was die Gefangenen aussagen. Doch da kommen sie schon. Was soll der Lärm auf dem Hof?« Durch die Tür der kleinen Halle traten die drei Ge fangenen nacheinander gefesselt ein. Ein paar Räu ber stießen sie vor sich her, bis sie vor Yang Hsiung und Tu Hsing standen. Tu Hsing war erschrocken zusammengefahren und starrte nun weit vorgebeugt auf Hal Mervin. Das fand Yang Hsiung so bemerkenswert, daß er darüber eine andere wichtige Angelegenheit zunächst außer acht ließ und erstaunt fragte: »Was ist? Kennen Sie diese Leute?« Tu Hsing achtete gar nicht auf ihn, sondern starrte unentwegt auf Hal Mervin, bis der dicht vor ihm stand und fragte: »Na, Sie Oberschuft, mein Anblick fällt Ihnen wohl auf die Nerven?« Tu Hsing fand endlich die Sprache wieder. »Tatsächlich«, murmelte er, »Hal Mervin. Wie kommen Sie hierher?« »Die Sehnsucht hat mich hergetrieben. Ich kenne 181
da einen famosen Ort in Mexiko, den ich Ihnen als Kurort verschreiben möchte. Haben Sie sich etwa eingebildet, daß wir Sie ungeschoren lassen, nach dem Sie sich solche Gemeinheiten erlaubt haben? Sie kommen nicht eher zur Ruhe, bis Sie gebüßt haben.« »Ach, nein«, sagte Garcia, »da hätten Sie sich aber ein bißchen geschickter anstellen müssen. Jetzt habe ich Sie in der Hand, und damit wird sich der Fall wohl erledigen.« »Glauben Sie wirklich?« höhnte Hal. »Mich haben Sie, aber die anderen wissen alle genau Bescheid, wo Sie mich haben.« »Verdammt!« »Aha, das geht Ihnen wohl an die Nieren? Na, warten Sie nur ab!« Tu Hsing grinste jetzt. »Das werde ich tun. Der kleine Hal wird ein kost bares Pfand sein, wenn es darauf ankommt.« »Täuschen Sie sich nur nicht!« Yang Hsiung war dem Gespräch mit großer An teilnahme gefolgt, doch jetzt mußte er unterbrechen, denn inzwischen waren schon rund zwei Dutzend Soldaten in die kleine Halle eingedrungen. »Was soll das?« fragte er zornig. »Hinaus mit euch, ich habe euch nicht gerufen!« Da rief Li Kweh mit haßerfüllter Stimme aus der Mitte seiner Freunde: »Gerufen hast du uns nicht, Yang Hsiung, aber wir nehmen an, daß du das Ver 182
hör nicht ohne uns stattfinden lassen wirst.« Yang Hsiung wurde rot vor Wut. »Wer spricht da? Wer wagt es, gegen meine aus drückliche Anweisung zu handeln?« Li Kweh trat vor. »Ich. Du hast uns gestern den Beweis versprochen, daß der weiße Taifun gegen Tsai Kiu arbeitet.« »Unverschämtheit!« rief Yang Hsiung. »Ich habe doch den Beweis bereits geliefert? Ist das Flugzeug gelandet oder nicht?« Li Kweh lachte auf. »Es ist gelandet, aber es ist auch möglich, daß es von Tsai Kiu kam.« Yang Hsiung erstarrte. Der Schlag hatte gesessen. Sein Gehilfe Tu Hsing dachte ein gutes Stück schneller und handelte. »Ha«, rief er, während er aufsprang, »du wagst es, deinen Anführer zu beschimpfen?« Li Kweh blickte plötzlich in eine Pistolenmündung und wollte ausweichen, aber schon krachte der Schuß und warf ihn um. »Hände hoch!« befahl Tu Hsing. »Wer Yang Hsi ung treu ist, nimmt den Rebellen die Waffen ab.« Jetzt kam auch Yang Hsiung so weit zur Besin nung, daß er seine beiden Pistolen herausreißen und schreien konnte: »Empörung! Verrat! Hinaus mit euch!« Li Kwehs Freunde waren von dem plötzlichen 183
Angriff überrascht worden. Sie sahen sich ohne Füh rer, zauderten, ließen sich von denen, die Yang erge ben waren, drängen und teilweise auch die Waffen abnehmen. Zwei von ihnen brachten es fertig, Li Kweh mit hinauszuzerren. Der Raum war frei, doch draußen schwoll nun der Lärm immer stärker an. »Sie müssen hinaus«, flüsterte Tu Hsing seinem Nachbar zu. »Sagen Sie ihnen, daß Sie keinen Unge horsam dulden, daß Sie aber sofort Boten zu Tsai Kiu schicken wollen, und daß weder dem weißen Taifun noch den Gefangenen etwas bis zu deren Rückkehr geschehen soll.« Yangs Gehirn lief nun wieder glatt. Draußen konn te schon in den nächsten Minuten über sein Schicksal entschieden werden. Er nickte und eilte hinaus. Sein Erscheinen ließ den Lärm abebben, so daß er Gelegenheit hatte, nachzuweisen, daß Li Kweh recht geschehen sei und daß man sich unnötig erregt habe, da es ohnehin seine Absicht sei, nichts ohne Tsai Ki us Willen zu unternehmen. Es gelang seinen glatten Worten tatsächlich, den drohenden Sturm zu beruhi gen. Die Menge zerstreute sich, und Yang Hsiung konnte leichteren Gemüts seinen Platz wieder ein nehmen. Er wollte nun das Verhör endlich beginnen, aber nun hatten die drei Gefangenen aus dem Auftritt zu viel entnommen, um noch Bereitschaft zu zeigen. 184
»Bemühe dich nicht, uns auszuhorchen«, erklärte Bill Morlan. »Was du befürchtest, stimmt genau. Ich war bei Tsai Kiu und habe ihm einen Brief des wei ßen Taifun überbracht. Tsai Kiu fordert dich auf, un verzüglich die Gefangenen freizulassen und die Füh rung dieser Schar an den weißen Taifun abzugeben. Solltest du seiner Anordnung nicht nachkommen, wird er dich vierteilen. So, nun weißt du alles, was du wissen mußt. Mehr wirst du nicht erfahren.« Yang Hsiung erfuhr auch nicht mehr, obwohl er den Versuch machte. Gewaltsam wagte er nicht vor zugehen, denn das würde bekannt werden, und er fürchtete einen neuen Aufruhr. Also durften die Ge fangenen bald in ihre Zellen zurückkehren. Wenn Yang Hsiung nach diesen Vorfällen schon schlechter Laune war, dann Juan Garcia oder Tu Hsing noch viel mehr. Er besaß ein ziemlich sicheres Gefühl da für, wann seine Stunde geschlagen hatte und wann es Zeit war zu verschwinden. Dieses Gefühl riet ihm jetzt, schleunigst den Schauplatz zu wechseln. Die Luft war nicht gut auf dem Pfirsichblütenberg. Er hatte sich hier so ungemein sicher gefühlt, jetzt aber drohte gleich von zwei Seiten her eine Katastro phe. Für ihn stand fest, daß Carlin in Tsai Kius Auf trag gekommen war und daß es höchstens noch Tage dauern konnte, bis Tsai Kiu selbst Ordnung schaffte. Dann würde es ihm schlecht bekommen, daß er Yang Hsiungs Ratgeber gewesen war. Andererseits zwei 185
felte er daran, daß Hal Mervin hinter ihm hergeflo gen war, ohne seinen jeweiligen Aufenthalt an zugeben. Dann konnte es auch nur höchstens Tage dauern, bis Sun Koh mit genügend Leuten selbst er schien. Juan Garcia hatte aber eine erhebliche Ab neigung dagegen, mit Sun Koh zusammenzutreffen. Noch vor Mittag stand sein Entschluß fest. Er wollte verschwinden, den Pfirsichblütenberg verlas sen. Aber man konnte ja das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Wozu brauchte schon Yang Hsiung den großen Beuteanteil an Geld und Schmucksachen? Und vielleicht konnte er auch die junge Frau veranlassen, in seiner Begleitung auf und davon zu gehen? Im Verlauf dieser Erwägung suchte er die Zelle auf, in der sich Anne Carroll und ihre Mutter aufhiel ten. Er traf die beiden in ziemlich gedrückter Stim mung an und konnte auch nicht den Eindruck gewin nen, daß sie durch sein Erscheinen aufgeheitert wur den. Juan Garcia trat sehr höflich und verbindlich auf, ganz als wohlerzogener Europäer. »Ich bin untröstlich«, versicherte er, »daß ich Ih nen noch nicht die Mitteilung von Ihrer Freilassung bringen kann. Ja, ich bin sogar gezwungen, Ihnen unangenehme Eröffnung zu machen, falls Sie bisher nicht hörten, daß Mister Carlin…« 186
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Mister Carlin ist jetzt ebenfalls ein Gefangener.« »Ich beglückwünsche Sie dazu, Miß…« »Was?« »Gewiß, ich beglückwünsche Sie«, nickte Garcia bieder. »Wenn es Carlin gelungen wäre, mich und Yang Hsiung zu ermorden und die Führung dieser Bande an sich zu reißen, wäre Ihnen jede Hoffnung auf Befreiung genommen. Sie mißtrauen mir leider, aber es ist Tatsache, daß Carlin diesen ganzen Über fall veranlaßte und nicht zuletzt um Ihretwillen dar auf bestand, daß ein Teil der Fahrgäste verschleppt wurde.« »Das sind Lügen«, widersprach die junge Frau heftig. »Sie mißtrauen mir eben«, stellte Garcia schmerz bewegt fest. »Welche Veranlassung hätte ich, dem Unterhäupt ling einer Räuberbande zu vertrauen?« »Oh, Sie verkennen meine Stellung. Carlin war Unterhäuptling. Ich bin nichts als ein Gefangener, der vor Wochen von der Bande überfallen wurde und sich seitdem um eine Gelegenheit bemühte, wieder frei zu werden. Ich habe mich mit diesem Räuberan führer nur angefreundet, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Und als Sie dann hier ankamen, setzte ich meinen geringen Einfluß ein, um Sie vor dem Schrecklichsten zu schützen.« 187
Anne Carroll schüttelte den Kopf. Sie glaubte ihm kein Wort. »Es ist alles schon schrecklich genug«, seufzte ih re Mutter. »Warum läßt man uns nicht frei?« Garcia verbeugte sich vor ihr. »Das ist die Hauptfrage. Seien Sie versichert, daß ich Tag und Nacht an Ihrer Befreiung arbeite. Bisher war es unmöglich, da Carlin zuviel Einfluß besaß, doch jetzt, nachdem Yang Hsiung seinen wahren Charakter erkannt hat, bietet sich eine Möglichkeit. Noch heute können Sie frei werden, wenn Sie Ver trauen zu mir haben.« »Sie wollen uns befreien?« fragte Anne Carroll zweifelnd. »Gewiß, heute nacht können Sie frei werden, doch Ihre Angehörigen müßten allerdings noch zwei Tage warten.« »An!« Garcia war sehr bekümmert. »Bitte, zweifeln Sie nicht schon wieder an meinen ehrlichen Absichten. Ich habe endlich einige Leute auf meine Seite gebracht, die mir zur Flucht aus dem Sumpf verhelfen wollen. Die Flucht ist für heute nacht geplant. Ich werde unverzüglich die Provinzi alregierung aufsuchen und die Truppen, die das Räu bernest ausheben sollen, durch den Sumpf wieder hierher führen, so daß man alle Gefangenen befreien kann. Die Truppen stehen, sicheren Nachrichten 188
nach, schon bereit, aber sie können nichts unterneh men, solange sie nicht von einem Eingeweihten ge führt werden.« »Und der Eingeweihte wollen Sie sein?« meinte Anne Carroll nicht ohne Spott. »Wirklich nett von Ihnen. Warum legen Sie dann aber Wert darauf, daß ich selbst schon heute mit Ihnen komme? Meinen Sie nicht, daß ich auch noch zwei Tage warten kann wie meine Eltern?« »Gewiß«, sagte er ernsthaft, »nur setzen Sie sich damit Umständen aus, vor denen ich Sie gern bewah ren möchte. Es ist sehr peinlich für mich, darüber zu sprechen, aber der Druck der Verhältnisse mag mich entschuldigen. Yang Hsiung hat leider allzuviel Ge fallen an Ihnen gefunden und ist der Meinung, daß er auf Carlin nach dessen Verrat keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht. Sie befinden sich infolgedessen in Gefahr. Ich glaube nicht, daß sich Yang Hsiung noch zwei Tage in seinen Neigungen zügeln wird. Deshalb hielt ich es in Ihrem Interesse für wichtig, wenn Sie gleich heute nacht mit mir flüchteten.« Die Darstellung verfehlte ihre Wirkung nicht ganz. »Vielleicht meinen Sie es so, wie Sie sagen?« überlegte Anne Carroll leise. » Wie haben Sie sich die Flucht gedacht?« In Garcias Augen blitzte es flüchtig auf. »Sie wird nicht schwierig sein. Sie dürfen doch das Haus verlassen? Gehen Sie einfach nach Ein 189
bruch der Dunkelheit ins Freie, alles andere lassen Sie dann meine Sorge sein.« »Ich werde von zwei Wärtern begleitet.« »Die Leute werden verschwinden, wenn ihr Un terhäuptling Tu Hsing selbst den Schutz übernimmt.« »Ach so. Ist es dann nicht einfacher, wenn Sie mich von hier abholen?« »Es bestehen da gewisse Schwierigkeiten, man könnte aufmerksam werden und anderes.« »So.« »Sie sind also mit meinem Vorschlag einverstan den?« »Nein«, sagte sie zögernd, »oder – ich will es mir überlegen. Kommen Sie gegen Abend noch einmal, dann will ich Ihnen Bescheid geben.« »Sie mißtrauen mir noch immer«, seufzte Garcia. »Aber es soll mich nicht hindern, um alles zu tun, damit Sie vor Yang Hsiung bewahrt bleiben. Ich werde mir also Ihren Bescheid holen.« Juan Garcia grinste in sich hinein, während er das Gebäude verließ. Aber Zipp war noch schlauer. Er hatte seinen Spaß gehabt, während er vom Dach des Holzschuppens aus das Gespräch belauscht hatte. Junge, Junge! Diesem Garcia wollte er die Flucht vermasseln. Und die junge Frau mußte gewarnt werden. Eine halbe Stunde später wandelte er feierlich, wie 190
ehemals die Klosterbrüder, durch den langen Gang. Die Wachen hatten ihn aufhalten wollen, ihn jedoch dann passieren lassen, als er sich erkundigt hatte, ob sie glaubten, daß er zu seinem Vergnügen und ohne Be fehl des ehrenwerten Tu Hsing hier spazieren gehe. Er führte mit Anne Carroll ein sehr langes und aufschlußreiches Gespräch, wobei er ihr unter ande rem empfahl, die Teilnahme an der Flucht zuzusa gen, sich aber nicht aus der Zelle zu rühren. Die Nacht kam. Als es dunkel wurde, saß Juan Garcia mit Yang Hsiung in dessen Klause und trank ihm so eifrig mit dem roten schweren Wein zu, daß Yang bald schwer fällig und geschwätzig wurde. Als Garcia seine Zeit für gekommen hielt, stieß er dem Ahnungslosen ohne Warnung das Messer ins Herz, holte sich die Säck chen mit dem Geld und den Schmucksachen aus der Holztruhe und ging davon. Er wartete sehr lange auf das Erscheinen der jun gen Frau. Als Anne Carroll nicht erschien, witterte der schlaue Fuchs Verrat, verzichtete auf seine Beute und verschwand am Hang des Berges. Owen Carlin wartete bis eine Stunde vor Mitter nacht, dann quetschte er sich durch die enge Fenster öffnung seiner Zelle, hing eine Weile sichernd an der Wand und ließ sich fallen. Er landete recht geschickt, nur geriet sein Gesicht dabei in den Nesselbusch, den 191
er schon bei Tag argwöhnisch betrachtet hatte. Kein Wunder, daß sein Gesicht an zwanzig, dreißig Stel len zugleich heftig zu jucken begann. Dabei durfte er noch nicht einmal fluchen. Eine gewisse Beruhigung war ihm die Dunkelheit. Man läßt sich nun einmal nicht gern mit einem verquollenen Gesicht vor der Frau sehen, die einem nicht gleichgültig ist. Carlin schlich sich an der Mauer entlang, bis er den alten Schuppen erreicht hatte. Es war nicht schwer hinaufzukommen, aber es war unmöglich, ohne ein Geräusch auf das Dach zu gelangen. Den noch kam er auf das Dach, ohne daß jemand in der Umgebung aufmerksam geworden wäre. Ja, man hat te ihn noch nicht einmal in der Zelle der beiden Frauen gehört, denn aus ihr kamen nur die ruhigen Atemzüge von Schlafenden. Owen Carlin zog sich an den vorspringenden Stei nen hoch, bis er den Rand der Fensteröffnung mit den Händen greifen konnte. Dann hauchte er in den dunklen Raum hinein: »Miß Carroll!« Hoffentlich schrie sie nicht gleich auf. »Miß Carroll!« wiederholte er etwas lauter. Die Atemzüge stockten, es bewegte sich etwas, dann fragte Mrs. Carroll schlaftrunken: »Wer…« Sie vollendete nicht, dafür flüsterte die junge Frau: »Still, es ist jemand am Fenster.« Carlin sah jetzt, wie sie sich erhob und an das Fen ster trat. 192
»Ich bin es«, flüsterte er. »Owen Carlin. Seien Sie leise.« »Carlin?« fragte sie. »Wie kommen Sie hierher? Ich dachte, Sie seien ebenfalls gefangen?« »Ich bin entflohen. Die Verhältnisse haben leider eine ungünstige Wendung genommen. Ich kann Ih nen wie den anderen keinen wirksamen Schutz mehr bieten. Eine Befreiung der Gefangenen kann nur er folgen, wenn der eigentliche Beherrscher dieser Sumpfgebiete, Tsai Kiu, eingreift. Er ist mein Freund, und ich habe mich entschlossen, mich zu ihm durchzuschlagen und ihn um Hilfe zu bitten. Ich hatte zwar schon Boten zu ihm geschickt, aber die sind von Yang abgefangen worden, wie ich hörte.« »Es sind doch aber neue Boten unterwegs?« flü sterte sie. »Was?« »Doch, Li Kweh, der Ihretwegen von dem Häupt ling verwundet wurde, hat sie ausgeschickt.« »Tapferer Kerl. Woher wissen Sie es?« »Mister Zipp war hier und hat es erzählt.« »Wer ist das?« »Er ist mit im Zug gefahren und sucht eigentlich diesen Garcia.« »Ach so. Sie sprechen von Ho Tao? Aber es war ein guter Einfall von Li Kweh, Boten zu schicken. Es wird trotzdem gut sein, wenn ich von hier ver schwinde, Yang Hsiung könnte mich sonst als Geisel 193
gegen Tsai Kiu verwenden.« »Dann ist es aber sehr leichtsinnig von Ihnen, erst hier herumzuklettern. Wie leicht kann man Sie be merken.« »Die Wand ist dunkel. Ich bin gekommen, weil ich Sie mitnehmen wollte.« »Mich?« »Ja. Ich weiß nicht, ob sich Tu Hsing schon be merkbar gemacht hat, aber ich fürchte Unannehm lichkeiten für Sie.« »Tu Hsing ist fort, er hat die Bande verlassen.« »Was?« stieß er verblüfft heraus. »Tu Hsing ist fort?« »Ja, er war heute bei mir und sagte, er wolle Hilfe heranholen. Er bat mich, ich solle mich ihm anschlie ßen, weil mir sonst Yang Hsiung nachstellen würde.« Carlin schluckte. »Das ist – das stimmt auffallend mit dem überein, was ich Ihnen eben gesagt habe. Verdammt, ich glaube, ich würde an Ihrer Stelle auch verdreht wer den. Warum sind Sie nicht mit ihm gegangen?« »Ich traute mich nicht, und außerdem riet mir Mi ster Zipp dringend ab.« Eine Weile herrschte Schweigen an der Fenster öffnung. »Miß Carroll«, setzte er zögernd wieder an, »ich werde nun gehen. Ich glaube nicht, daß Sie von Yang etwas zu befürchten haben. Er ist zu sehr Asiate. Es 194
erübrigt sich also, daß Sie mitkommen und die Mühe einer Sumpfwanderung auf sich nehmen. Ich hoffe, Sie in einigen Tagen mit Hilfe Tsai Kius befreien zu können.« »Wollen Sie nicht lieber warten?« »Ich wage es nicht. Yang wird nun wissen, wieviel ich Tsai Kiu wert bin. Ihre Freilassung könnte sich erheblich verzögern, wenn er mich als Geisel in der Hand hat. Ich werde fliehen. Hoffentlich halten Sie mich deshalb nicht für einen Feigling.« »Nein!« »Noch eins, Miß Carroll. Ich war beleidigt, weil Sie mir schlechte Absichten zutrauten. Ich glaube, ich habe Ihnen unrecht getan. Sie mußten die Dinge anders sehen als ich. Leben Sie wohl!« »Warten Sie noch«, sagte sie hastig, »ich habe – was ist Ihnen?« Carlin klammerte sich fest an, schlug aber mit dem Kopf nieder. »Verdammt, mir ist so…« Sein Griff lockerte sich, er rutschte, schlug auf das Dach auf, kollerte und fiel dann auf die Erde hinun ter, wo er liegen blieb. Auch Carroll sah es nicht mehr. Sie lag ebenfalls schon bewußtlos auf dem Boden ihrer Zelle. Und mit ihr zugleich sank alles, was auf dem Pfir sichblütenberg atmete, in einen Dornröschenschlaf hinein. 195
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Am Himmel kreisten zwei Flugzeuge über dem Pfir sichblütenberg. Es war Nacht und zwei Männer sa ßen vor den Apparaten und unterhielten sich. »Noch fünf Minuten«, sagte der eine halblaut. »Das Gas wird wohl jetzt gewirkt haben. Wir müssen aber warten, bis es sich niedergeschlagen hat.« »Besser ist, wir behalten die Gasmasken auf«, knurrte der andere. »Das wird zu anstrengend. Wir müssen die ganze Gesellschaft verladen. Hoffentlich hat nicht der Bordwind zuviel Gas abgetrieben?« »Wird schon reichen. Eigentlich war es ja Sache der Regierung, so vorzugehen wie wir.« »Sag ihr das«, sagte sein Nachbar lachend. »Die Leute haben zwar Tränengas und anderes Teufels zeug, aber kein harmloses Betäubungsgas, mit dem man ohne Schaden auch seine guten Freunde für ei nige Stunden mattsetzen kann. Hier hapert’s. Ich glaube, du kannst allmählich tiefer gehen.« »Noch zwei Minuten.« »Ich werde drüben anfragen. Hallo, wie stehst’s? Na, schön, fangen wir an. Bis wir landen, ist die Zeit herum.« Wenige Minuten später setzten die beiden Flug zeuge in geringer Entfernung voneinander auf dem 196
Klosterhof auf. Nur einige Schritte weiter brannte das Feuer der Wache. Die Räuber, die hier gehockt hatten, waren zur Seite umgefallen und schliefen. Der ganze Berg schlief. Niemand hinderte die vier Männer, die aus den Flugzeugen kletterten, hinter dem Schein ihrer Lampen her durch die Gebäude zu wandern. Sie hatten die Zellen, in denen die Gefangenen la gen, bald gefunden. Ohne erst weiter die Umgebung zu sichern, machten sie sich an die Arbeit. Je zwei packten einen der bewußtlosen Gefangenen und tru gen ihn in die Flugzeuge hinein. Es machte den Ge fangenen bestimmt nichts aus, daß sie einfach auf den Boden gelegt wurden. Durch geschickte Schich tung konnten so in jeder Maschine zehn Personen untergebracht werden. Zwei der nächtlichen Arbeiter kletterten in die Flugzeuge hinein, als die Ladung übernommen war, die beiden anderen blieben unten stehen. »Guten Flug!« Die beiden Maschinen stiegen auf. Die Zurück bleibenden holten inzwischen die anderen zusam men. * Wieder rollte der Nachtexpreß Fu-san-Soeul seine lange Strecke an den Sümpfen vorbei. Zwanzig Ki 197
lometer südlich vom Schauplatz des damaligen Über falles glühte an einer kleinen Blockstation rotes Licht. Schimpfend brachte der Lokführer den Zug zum Stehen. Es dauerte lange, bevor Lokführer, Zugführer und der Leutnant der Begleitwache erfaßt hatten, was ih nen der aufgeregte Blockwärter vorstammelte. Ein Mann sei zu ihm gekommen und hätte ihm befohlen, den Zug anzuhalten. Nicht weit von der Strecke lä gen vierunddreißig Menschen, die bei dem letzten Überfall entführt worden seien. Sie müßten in den Zug verladen werden. Der Fremde habe ihn gezwun gen mitzugehen, und die Vermißten lägen tatsächlich da. Es erhob sich beträchtliches Geschrei am Zug, aber schließlich folgte man doch dem Wärter, fand die vierunddreißig Menschen und schaffte sie wohl oder übel in den Zug. Allerdings, als die Betäubten in den nächsten Stunden allmählich aufwachten, wurde die Sensation groß. Man suchte nach Erklärungen und fand keine. Die amtliche Stellungnahme beschränkte sich spä ter auf die nüchterne Mitteilung, daß dank des erfolg reichen Einwirkens der behördlichen Stelle die Ge fangenen freigelassen worden seien. *
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Hal Mervin saß gegen Mittag in Fu-san einem sehr jungen, aber recht energisch dreinblickenden Herrn gegenüber. »Nun erzählen Sie schon«, sagte Hal verdrossen, wobei er die deutsche Sprache gebrauchte. »Tun Sie nicht so geheimnisvoll, Herr Zauberkünstler. Wie Sie die Sache angelegt haben, kann ich mir ja denken. Aber woher wußten Sie, daß ich in der Klemme steckte?« »Auch das können Sie sich sicher denken«, erwi derte sein Gegenüber. »Wir wurden gestern von der Zentrale aus angerufen und erhielten den Auftrag, uns nach Ihnen, beziehungsweise nach dem Flugzeug um zusehen. Jener Berg wurde uns als vermutlicher Auf enthalt angegeben. Es war nicht schwer festzustellen, daß die Maschine am Fuß des Berges lag. Diese Mel dung ging zurück, worauf wir neue Anweisungen be kamen, unter allen Umständen den Berg heute nacht zu vergasen, Sie herauszuholen und zugleich die Ge fangenen zu befreien. Das ist dann auch geschehen.« Hal kratzte sich am Hinterkopf. »Hm, allerdings, und nun?« »Und nun haben wir Anweisung, Sie mit oder oh ne Gewalt in eine Maschine zu setzen und Sie zur Zentrale zu bringen.« Hal nickte düster vor sich hin. »Das dachte ich mir schon. Wo steckt aber denn Zipp?« 199
»Der lange Priester?« »Ja.« »Er ist schon unterwegs, will aber zum Mittages sen hier sein.« »Wann fliegen wir?« »Heute.« »Ausgeschlossen, ich muß erst mit den anderen sprechen.« »Das sagte dieser Zipp auch schon. Also morgen.« »Fliegen wir morgen«, seufzte Hal. »Die Blama ge! Ich werde mir einen Zwirn kaufen und mich dar an aufhängen.« Einen Tag später schlenderten Hal Mervin und Zipp, der jetzt wieder europäische Kleidung trug, gemeinsam in die Halle des Hotels hinein, in dem die Geretteten nach ihrer Ankunft in Fu-san Unterkunft gefunden hatten. In einer Ecke der Halle fanden sie Owen Carlin zusammen mit der Familie Carroll. »Wir möchten dieses reizende Land nicht verlas sen, ohne von Ihnen Abschied genommen zu haben«, erklärte Zipp. »Wie geht es, Mister Carlin? Der Frau Gemahlin ist nichts mehr von überstandenen Schrek ken anzusehen.« »Lassen Sie den Unfug«, brummte Carlin. »Die Geschichte der Eheschließung hat sich erledigt.« Zipp nahm auf einen Wink hin bereitwillig Platz. »Schade, sehr schade«, bedauerte er. »Sie wären ein schönes Paar gewesen. Nur, so recht anerkennen 200
kann man die Trauung kaum, da Sie ja bedauerli cherweise falsche Angaben über Ihre Person gemacht haben.« »Was? Wieso?« fragten die Carrolls sofort. »Sie sind ein Spaßvogel«, sagte Carlin und lachte verlegen. »Wie sind Sie eigentlich nach Fu-san ge kommen?« Zipp schüttelte den Kopf. »Ich habe den Eindruck, daß Sie selbst vor Ihrer Gattin Geheimnisse haben. Ich finde es durchaus nicht richtig, Lohengrin zu spielen. Es paßt nicht ganz nach Fu-san, verehrter Herr. Aber es verdirbt eben den Charakter, wenn man Kapitän des amerika nischen Geheimdienstes ist.« »Verflixt«, fuhr Carlin auf, »wie haben Sie das er fahren?« »Man hat so seine Beziehungen, Liebwerter«, sagte Zipp und wandte sich dann an Anne Carroll. »Sehen Sie, Mrs. Carlin – ahem, Miß Carroll, die Männer können nun einmal ein bißchen Räuberromantik nicht lassen. Ihr Gatte möchte Ihnen zu gern weismachen, daß er ein wilder Mann ist, aber in Wirklichkeit bringt er brav jeden Monat sein Gehalt nach Hause.« »Ist das richtig?« fragte Anne Carroll verwirrt. »Natürlich ist es richtig«, sagte Hal schnell. »Sie müssen doch Ihr Wirtschaftsgeld bekommen.« »Ich meine, ob Sie Kapitän beim Geheimdienst sind, Mister Carlin?« 201
Carlin nickte. Die junge Frau wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Aber wir sind doch gar nicht verheiratet?« »Vielleicht doch?« erwog Zipp. »Die Ehe ist rechtsgültig geschlossen. Solange Sie in Korea sind…« Carlin beugte sich vor. »Mann, wenn Sie jetzt nicht aufhören, muß ich Sie höchst eigenhändig hinausbefördern. Sie bringen Miß Carroll ja von einer Verlegenheit in die andere.« »Wieso denn?« fragte Hal unschuldig. »Wir mei nen es doch nur gut, sonst reist Miß Carroll morgen ab, und Sie sitzen da mit Ihrem Weltschmerz. Es ist doch alles in Ordnung. Miß Carroll hat ihrer Mutter gestanden und Zipp hat von der Zellentür aus ge lauscht, daß sie einen gewissen Carlin liebt, obwohl er Räuberhauptmann ist. Und Sie haben Bill gegen über geäußert – heute morgen erst – daß Sie sich eher die Zunge abbeißen würden, als Miß Carroll Ihre Liebe zu gestehen.« Owen Carlin und Anne Carroll blickten sich an, wurden rot und wieder bleich, würgten etwas, blick ten sich immer noch an und schoben schließlich ihre Hände langsam gegeneinander… Vater Carroll begann sich lautstark zu räuspern. Hal erhob sich schleunigst und zerrte Zipp mit hoch. »Komm, Langer, bevor das Donnerwetter nieder 202
geht. Jetzt sind sie alle noch leidlich sprachlos. Über lassen wir die beiden ihrem Schicksal.« »Ganz meine…« Da sprang Carlin auf, der eben ein Nicken der jun gen Frau richtig gedeutet hatte. »Halt, jetzt wird hiergeblieben! Mister Carroll ich bitte um die Hand Ihrer Tochter. Wir haben uns so eben verlobt!« Zipp ließ sich seufzend wieder nieder. »Ein merkwürdiges Land, dieses Korea. Hier hei ratet man zuerst, und dann verlobt man sich. Meine vielseitigen Glückwünsche. Möge euch niemals der Atem fehlen!« »Er ist der Dolmetscher der Gefühle meines Her zens«, schloß Hal sich an. ENDE
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Als SUN KOH Taschenbuch Band 24 erscheint:
Freder van Holk
Die Diamantenklippe
Wo der Iguassu, der König aller Wasserfälle, stündlich hundertvierzig Millionen Tonnen Was ser in die Tiefe stürzt, wo der Arbol misanthrope, der Menschenfeindbaum, einsam auf der Höhe steht, befindet sich die Pforte jenes wilden, ur weltlichen Gebiets, in dem die Männer Pistole und Messer im Gürtel tragen und sich selbst die Gesetze über Leben und Tod setzen. Dort gur gelt und strudelt der Tibagy mit reißender Hast von Fall zu Fall, ein Diamantenfluß, in dessen Grundkies die unscheinbaren, kostbaren Steine eingebettet liegen. Mit Ralle und Bateia, mit Messer und Pistole kämpfen die Abenteurer um diese Diamanten und um den sagenhaften gro ßen Fund, mitten unter ihnen Sun Koh und Hal Mervin im Kampf gegen eine räuberische Bande. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.