C.H.GUENTER
Die Rote Festung
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Für eine Amerikanerin war Moskau nicht die St...
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C.H.GUENTER
Die Rote Festung
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Für eine Amerikanerin war Moskau nicht die Stadt ihrer Träume. Am wenigsten abends. Niemand blieb hier gerne zu Hause. Auch Candy Philips nicht. Um diese Zeit war sie entweder beruflich unterwegs, oder sie saß auf einer Presseparty herum. Doch an diesem Abend im Mai gab es weder das eine noch das andere. Moskau war zum Sterben öde. Die Reporterin öffnete eine Flasche Wodka und schaltete das Fernsehgerät ein. Wremija lief. Die Tagesschau. Zu der Melodie von ‚Mutterland ich preise deinen Ruhm’ herrschte Langeweile von Leningrad bis Kamtschatka. Der Ministerpräsident ließ die Turbinen eines neuen Kraftwerks anlaufen, der Politbürovorsitzende dekorierte die Sieger de r letzten Ernteschlacht, der Außenminister empfing Staatsgäste aus Afghanistan. Candy Philips schaltete gähnend ab. Noch ein Gläschen Wodka für Darling, dann holte sie ihren SonyWeltempfänger aus dem Schrank. Die einzige Unterhaltung an solch tristen Abenden waren die westlichen Sender. BBC, Deutsche Welle, Radio Free Europe. Sie brachte die Stimme Amerikas herein, gestört und mit Rauschen zwar, aber einigermaßen deutlich. Swingmusik, kurze Nachrichten dazwischen, über die Vorbereitungen eines weltweiten Abrüstungsabkommens, dann wieder Cole Porter. Candy kleidete sich aus. Sie liebte es, nackt durch die winzige Wohnung zu laufen. Der Inbegriff von Freiheit war das für sie. Sie steckte sich eine Import-Camel an, rahm noch ein Gläschen vom eiskalten Wodka und war dabei, den einsamen Abend auf ihre Weise zu genießen, als plötzlich etwas schepperte. Nicht das Telefon. Es war diese Mißgeburt von Klingel und Summer draußen an der Tür. 3
Candy Philips warf einen Blick auf die Digital-Uhr. Jedesmal schwor sie sich, diesen Schund, den man nie vernünftig ablesen konnte, endlich ihrer Putzfrau zu schenken, falls diese es nicht als Beleidigung auffaßte. – 22 Uhr 15. Wer kam um diese Zeit noch vorbei? – Rasch warf sie den grünen Hausmantel über und ging zur Tür. Sie hatte ihn nicht nur wegen ihres feuerroten Haars gekauft, sondern weil er auch elegant war. Ehe sie die Sicherheitskette löste, fragte sie, wer da sei. Das war sie von New York so gewöhnt. „Ich“, flüsterte jemand. „Mach schnell.“ Sie kannte die Stimme. Eilig sperrte sie auf und ließ den Mann herein. Trotz seiner Maßkleidung wirkte er heruntergekommen, beinah verdreckt und abgerissen. Zudem war er unrasiert und offenbar erschöpft. „Du Ignatius?“ fragte die Amerikanerin. Sie sagte immer Ignatius, obwohl er Ignatij hieß. „Warum rufst du nicht vorher an?“ Der Mann im Trenchcoat taumelte ins Zimmer, hielt sich am Türrahmen fest und kam mit schleppenden Schritten gerade noch bis zur Couch. „Anrufen? Wie denn?“ „Du hast Telefon zu Hause und in der Universität, Ignatius.“ Das klang vorwurfsvoll. Bitter lachte der Mann auf. In seinen Augen standen Erschöpfung und Angst. „War seit drei Tagen nicht mehr dort.“ „Bist du krank oder hast du vollgetankt?“ Er starrte vor sich hin, schüttelte den Kopf. Endlich kam die Antwort. „Sie sind hinter mir her“, sagte Professor Ignatij Antipow. „Kannst du mich verstecken?“ „Wenn es was nützt“, erwiderte die Amerikanerin bestürzt. 4
Es nützte wenig. Die Staatspolizei kam nach Mitternacht. Sie läutete Sturm und hämmerte an die Tür. Weil Candy Philips nur um Kettenlänge öffnete, drohten sie die Tür einzuschlagen. „Dann rufe ich meinen Konsul an“, erklärte die Amerikanerin, „und der macht einen Skandal bis zum Kreml. Ich bin Bürgerin der Vereinigten Staaten. Sie haben kein Recht, um diese Zeit bei mir einzudringen. Wo ist Ihr Durchsuchungsbefehl?“ „Bei Ihnen versteckt sich einer“, behaupteten die Beamten. „Ich kann bei mir haben wen ich will. Außerdem bin ich allein“, log sie. „Gute Nacht, Genossen Gentlemen.“ Einer der Männer im schwarzen Ledermantel zwängte den Fuß in die Tür. „Seien Sie vernünftig“, rief er. „Wir wissen, daß Professor Antipow bei Ihnen ist. Sie bekommen nur Ärger, Miß.“ „Vielleicht“, entgegnete sie scharf, „aber erst morgen früh nach sechs Uhr mit einem richterlichen Papier.“ Mit dem Absatz ihres Pantoffels trat sie dem Russen auf die Zehen. Fluchend zog er den Schuh zurück. Candy Philips haute die Tür ins Schloß und sperrte zweimal. Schwer atmend lauschte sie, ob die Polizisten abzogen. Nachdem sie die Treppe hinuntergepoltert waren, wandte sie sich an den Professor. „Verdammt“, zischte sie, „was hast du mir da eingebrockt, Ignatius? Was ist los? Woher nimmst du das Recht, mich so reinzureiten? Nur weil wir mal miteinander geschlafen haben?“ „Ich dachte, du magst mich.“ „Aber in erster Linie mag ich mich selbst“, erklärte sie in einem Versuch der Selbstverteidigung. Mit Gefühlen kam man jetzt nicht weiter. Der Wissenschaftler stand im Durchgang zu der drei Quadratmeter kleinen Küche. Er hatte sich gewaschen, wirkte blaß und um Jahre gealtert. „Ich bin unschuldig.“ 5
Candy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dann wärst du der erste. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Unschuldigen.“ Antipow versuchte seine Lage zu schildern. „Ich befasse mich seit Jahren nur mit Molekularphysik, habe nie ein Wort mehr veröffentlicht, als ich durfte, kam von allen Auslandsvorträgen immer brav zurück, habe nie auch nur ein paar Nylons geschmuggelt und nie ein lautes Wort gegen das Regime geäußert. Ich las nicht einmal Solschenizyn.“ Seine Stimme wurde weinerlich. „Schön, ich bin mit dir befreundet, mit einer Amerikanerin, aber trotzdem ein guter Bürger der UdSSR. Was wollen die also von mir?“ „Frag sie doch mal.“ „Kollege Tomkin von der Frunse-Universität hat gefragt und sogar protestiert. Seitdem ist er verschwunden. Spurlos.“ Die Amerikanerin steuerte den Wodka an, nahm einen Schluck, der sie aber kaum beruhigte, und reichte die Flasche an ihren Gast weiter. Doch der stellte sie zurück. „Was“, fragte sie, „kann ich noch für dich tun?“ Er wußte es nicht. „Hast du deinen Paß, hast du Geld, Ignatius?“ „Beides. Sogar ein gültiges Ausreisevisum.“ „Dann hau ab, Menschenskind.“ „Warum?“ Sie stand echt ratlos vor ihm. „Zum Teufel“, fluchte sie, „du willst das eine nicht und nicht das andere. Soll ich dich in die Röhre stecken und braten oder in den Kühlschrank und schockgefrieren? Sag endlich was du tun willst!“ Er setzte sich, stützte das Kinn in die Hände und starrte das Großfoto eines nackten Negers an, das an der Wand hing. „Ich wollte den Innenminister sprechen, aber ich komme nicht an ihn heran.“ 6
„Dann versuch’s morgen. Hier ist mein Telefon.“ Er hob den Kopf. „Du hast recht. Mit mir schlitterst du nur in Kalamitäten. Nein, ich gehe.“ „Dann marschier wenigstens hinten raus über den Balkon.“ „Irgendwo werde ich schon ein Taxi bekommen.“ Sie warf ihm den Schlüssel zu. „Nimm meinen VW. Laß ihn stehen, aber sag mir Bescheid, wo er parkt.“ Antipow fing den Schlüssel auf. Minuten später war er fort. Er war über den Balkon des Appartements geklettert. Es lag im ersten Stock eines Wohnblocks im Ausländerviertel. Der Boden unter dem Balkon war weich. Ein Blumenbeet. Wenn man sich ans Gitter hängte, fiel man nur zwei Meter tief. * Sie kamen aus dem Gebüsch, als er den Motor angelassen und den Gang eingelegt hatte. Antipow versuchte mit Vollgas zu entkommen. Dabei fuhr er fast einen Beamten über den Haufen. Das verschlimmerte seine Lage nur noch und half ihm wenig. An der Ausfahrt zur Maiakovskistraße hatten sie einen Lada quergestellt. Antipow bremste scharf. Da er Widerstand leistete, zerrten sie ihn brutal aus dem sandfarbenen Käfer und schlugen ihn nieder. Sie fragten nicht erst, wer er sei. Sie leuchteten ihm ins Gesicht und wußten sofort, daß sie den Richtigen hatten. „Professor Antipow“, rief einer, „Sie sind festgenommen.“ „Weswegen? Was wirft man mir vor?“ schrie der Wissenschaftler empört. Statt einer Antwort sagte der Mann, der das GRUKommando anführte: 7
„Und Ihrer Freundin, dieser Amerikanerin, wird das unfreundliche Verhalten sehr schaden, fürchte ich.“ Antipow bekam Handschellen. Da sie fürchteten, er könnte trotzdem noch Gegenwehr leisten, führten sie ihn mit einer Schließkette zum Dienstwagen. Eskortiert von zwei anderen Ladas ging es durch die Stadt, ein Stück am Moskwa-Ufer entlang, dann rechts über den Roten Platz. Vor den Ostankino Palais nahm der Lada eine Toreinfahrt. Wenn sich Antipow recht erinnerte, war das die Dzerzhinsky-Straße, und das Anwesen gehörte zum Geheimdienst KGB. Der Lada des Staatssicherheitsdienstes hielt unmittelbar neben einem armeegrünen Bus. Der Festgenommene mußte bei einem Beamten alles abgeben was er bei sich hatte. Sogar Kamm und Taschentuch. Seine Sachen kamen in einen Leinenbeutel. Nachdem sein Name auf einer Liste abgehakt war, schubsten sie ihn in den Bus. In dem Sechzigsitzer brannte nur eine einzige 10-WattDeckenlampe. Trotzdem sah Antipow genug. Etwa dreißig Männer saßen schon da. Lauter bekannte Gesichter. Alle blaß, ratlos und stumm. Sie gehörten ausnahmslos Wissenschaftlern der Moskauer Staatsuniversitäten. Es waren Chemiker, Physiker, Mediziner, Biologen. Der Lehrstuhlinhaber für Kybernetik war darunter, ein führender Elektroniker und der beste Mathematiker der Sowjetunion, wenn nicht der ganzen Welt. In einem Anflug von Galgenhumor rief Antipow: „Grüß euch Genossen. Haben sie euch ebenfalls eingeladen…“ „Sie kriegen jeden.“ „Zu einer Fahrt ins Blaue.“ „Wohl eher ins Weiße. Nach Sibirien.“ „Worauf warten wir dann noch?“ „Auf Oldenow“, flüsterte einer. 8
Antipow sah, daß es Tomkin war. Hatten sie den also auch noch erwischt. „Wir warten auf Oldenow.“ Oldenow galt als einer der hervorragendsten Denker überhaupt, als ein Mann von messerscharfer Logik, als umfassender Geist, fast als wissenschaftlicher Prophet. Er sei engster Berater der Regierungsspitze, hieß es. Was also war geschehen, wenn sie sogar diesen Mann… Wieder fuhr ein Wagen in den Hof des alten Palais. Eine hohe Gestalt mußte dieselbe beschämende Abtastprozedur über sich ergehen lassen. Wenig später stieg Oldenow in den Bus, setzte sich, schloß die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. An der Stirn blutete er. Keiner fragte ihn, keiner wandte sich mit einem Wort an ihn. Wenig später fuhr der Bus los. Es ging Richtung Flugplatz. „Nach Sibirien“, wandte sich Antipow an seinen Nachbarn, einen Biophysiker, „ist das dein Ernst?“ „Zur Erholung auf die Krim bringen sie uns gewiß nicht. Oder denkst du, sie schieben uns in den Westen ab?“ „Kaum, wenn ich uns reihum so ansehe.“ „Rußland würde sich ja selbst das Hirn wegamputieren, wenn sie uns ein Haar krümmten.“ „Vielleicht“, meinte ein anderer, „nehmen sie unsere Hirne heraus und setzten sie wieder zusammen und gewi nnen damit einen menschlichen Computer von Superkapazität.“ „Sie meinen, weil wir in der Elektronik reichlich hinterherhinken, Genosse.“ „Komisch“, bemerkte einer von hinten, „die Wanzen haben etwas ausgeheckt, und die Ameisen müssen parieren, obwohl sie hundertmal intelligenter sind.“ „Aber sie sind in der Minderzahl.“ Die Wissenschaftler jedoch waren deutlich in der Überzahl. Im Bus fuhren nur vier Bewaffnete mit und in den Begleitfahrzeugen bestenfalls sechs Männer mit Maschinen9
pistolen. Wenn man aber davon ausging, daß ein Mann mit Maschinenpistole soviel wert war wie zehn Unbewaffnete, stand das Verhältnis drei zu eins. Der Versuch zu entkommen, hätte wenig genutzt. Am Militärflugplatz rollte der Bus vor eine riesige Tupolew. Es war die Langstreckenversion der TU-154 mit einer Reichweite von 5000 Kilometern. Die Wissenschaftler blickten sich noch einmal um, während sie über die Gangway nach oben stiegen. Im Süden unter den rosa schimmernden Nachtwolken, lag Moskau. Ihre Stadt Sie hatten dort gelebt und gearbeitet. Viele von ihnen hatten Familie. Man hatte sie von ihren Instituten weggeholt, aus ihren Labors, aus ihren Wohnungen, aus ihrer Umwelt gerissen. „Ich fühle es“, sagte Oldenow, der Nobelpreisträger, „es wird ein Abschied für immer.“ Wenig später sprangen die Triebwerke der Tupolew an. Bald fegte der Jet startend über die Betonpiste und nahm Kurs Ost. Dorthin, wo Rußland unendlich weit war. 2. Mit Ausnahme der Regierungsviertel swingte und vibrierte Washington bis in den Morgen. Ganz besonders in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend. Aber Tim Muriel hatte andere Sorgen, als sich zu amüsieren. Es stand wieder einmal Spitz auf Knopf. Kaum war er auf der Party des liberianischen Botschafters warm geworden, piepte sein Trouble-Empfänger in der Smoking jacke. Tim Muriel nahm ein Glas Champagner, das Funksignal hingegen nicht zur Kenntnis. Wenig später, als er mit dieser bildhübschen Schauspielerin aus der „Wildcat“-TV-Serie tanzte, sie an sich zog, um ihren Wildkatzenkörper zu spüren und sich einen Trick überlegte, wie er sie in sein Jagdhaus oder wenigstens in seinen Oldsmobil bekam, da piepte das verdammte Funk-Ding schon wieder. 10
„Ihr Herzschrittmacher“, sagte die TV-Mieze, „gibt Alarm, Sir.“ Er lachte gequält. „Sie haben keine Ahnung, Darling“, antwortete Tim Muriel, „wie wenig meine Körperfunktionen auf Schrittmacher angewiesen sind. Aber ich zeig’s Ihnen gerne.“ „Danke, ich spüre es bereits“, erklärte die Dame vom TV und ging aus der Tuchfühlung. „Aber was piept dann auf Ihrem Herzen? Ist es die Ehefrau, die Sie zur Ordnung ruft?“ „Bin Junggeselle, Darling.“ „Dann muß es etwas anderes sein. Vielleicht ein Moralwächter für Staatsbeamte.“ „Ich jobbe bei der CIA, Gnädigste.“ „Sie meinen also, Moral gelte nicht für den Geheimdienst.“ „Nicht die bürgerliche, Darling.“ Der Notrufempfänger hörte nicht auf. Jetzt merkten es schon die anderen. Mit einem Seufzer ließ Tim Muriel von der Wildkatze ab. „Muß mal telefonieren“, entschuldigte er sich. „Da drüben steht ein Apparat.“ „Danke, ich nehme lieber meinen eigenen.“ „Haben Sie den im Hut?“ „Nein, im Wagen. Komme gleich wieder. Nicht weglaufen. Warten sie auf mich. Okay?“ „Klar, Darling“, versprach die schöne, rehschlanke Schauspielerin in dem Glitzerfummel. Doch als Tim Muriel durch die Flügeltür ging und die Treppe zum Park nahm, sah er sie schon im Arm des Chefdirigenten des Philadelphia-Symphonieorchesters. Vermutlich konnte der besser auf dieser Klaviatur spielen. Tim Muriel quetschte sich bis zu seinem Oldsmobil durch, der unter den teuren Luxuskarossen recht schäbig wirkte. Die Autos waren so eng geparkt, daß er durch das Fenster einsteigen mußte. Drinnen nahm er den Telefonhörer ab. Die Antenne surrte hinten aus dem Kofferdeckel. Er taste11
te die Langley-Nummer des Hauptquartiers ein, wählte gleich zu seinem Büro durch. „Verdammt, was ist schon wieder los“, herrschte er seinen Vertreter an. „Ein Fernaufklärer hat neue Radarfotos aus der Beringstraße mitgebracht, Sir.“ „Und weiter?“ „Die ganze Tschuktschen Halbinsel ist diesmal drauf. Besser als bei jedem Satellitenbild, Sir.“ „Die hatten wir doch erst vor zehn Tagen.“ „Aber jetzt ist Ostsibirien endlich schneefrei, Sir.“ Muriel entsann sich der letzten Fotos. Sie hatten auswertungsmäßig wirklich nicht viel gebracht. Das ganze Land, Küste, Häfen, Berge, Wälder, Moore, alles war noch von einer dichten Schneeschicht überzogen gewesen. Zwar wurde die Schneeschicht im Juni dünner, aber durch das ständige Tauen und Überfrieren auch dichter. Nur wenige Sommerwochen war das Gebiet bis zum Anadyrgebirge wirklich grün. „Okay. Gibt es was Neues, Snider?“ „Sie sollten sich das ansehen, Sir.“ „Hat das nicht bis morgen Zeit?“ Unnötig diese Frage zu stellen. Muriel wußte selbst, daß es nicht bis morgen Zeit hatte. Die Entdeckung neuer Entwicklungen auf dem riesigen Territorium der Sowjetunion bedurfte stets sofortiger Analysen und Maßnahmen. Denn da droben währte der Sommer nur kurz, der Winter aber zehn Monate. Und in den Polarnächten des Winters gruben, wühlten, bauten sie auf Teufel komm raus, um den Westen mit immer neuen Radarstationen, Raketenbasen oder Stützpunkten zu entnerven. „Ich komme“, entschied Tim Muriel. Genaugenommen stand es zwischen den USA und den Russen immer Spitz auf Knopf. Der kalte Krieg hatte nie aufgehört. Nicht eine Minute. Für Tim Muriel gab es jetzt nur ein Problem. Wie war sein 12
Oldsmobil aus dem Park zu rangieren, ohne daß er das Tulpenbeet zuschanden fuhr. * „Die weiße Stelle da“, erklärte John Snider. „Sie meinen die gelbe.“ „Die helle im Dunklen, Sir.“ „Wenn das Dunkle Wälder sind, dann ist es grün und das Helle ist gelb und vermutlich eine Rodung.“ „Die Auswertung meint nein, Sir.“ Vielleicht lag es an der späten Stunde, daß sie aneinander vorbeiredeten. Jeder von ihnen hatte einen Arbeitstag von zehn Stunden hinter sich und Snider, Muriels Assistent, lag noch das späte Abendessen im Magen. „Die Auswertung meint was?“ fragte der elegante Abteilungsdirektor, nahm die Goldrandbrille ab und zog die Stirn hoch. Sein scharfes Gesicht kam dadurch noch besser zur Geltung. „Also die Auswertung meint“, sagte Snider und schob sich auf die Kante des tischgroßen Filmbetrachtungsgerätes, „daß es sich nicht um eine Rodung handelt, sondern um Bäume im Stadium des Absterbens.“ „Absterben“, entgegnete Muriel, „ist kein Stadium, sondern ein Prozeß. Sollten Sie eigentlich wissen. Wer von uns beiden hat denn in Harvard studiert? Also schön, die Bäume sterben ab. Warum sterben sie ab?“ „Ob das die Russen überhaupt schon mitgekriegt haben?“ „Die bestimmt. Was wachsen dort für Bäume? Tannen, Fichten, Urwaldriesen oder nur so Erlengelumpe, Birken, Buschzeug, Knüppelgehölz?“ „Nicht erkennbar, Sir.“ „Wie groß ist die Stelle?“ „Etwa zwei Quadratmeilen, Sir.“ Muriels nächste Frage hatte höhnischen Klang. 13
„Was kann man auf zwei Quadratmeilen unterbringen, Mister Snider?“ „So gut wie alles, Sir“, meinte der blasse immer etwas kränklich aussehende Snider. „So gut wie alles, was stinkt.“ „Und Ärger macht.“ Plötzlich fluchte Muriel. „Diese verdammten Hundesöhne bauen rasch noch neue Raketenbasen dicht vor unsere Alaskanase, um sie bei den Abrüstungsverträgen mit hochzurechnen.“ „Raketenbasen sehen anders aus, meint die Auswertung, Sir.“ Tim Muriel spitzte die Lippen. Er sah jetzt wi rklich einem Mutterschaf zum Verwechseln ähnlich. „Die wissen immer nur, was anders aussieht“, schimpfte er, „aber, zum Teufel, was bitte sieht eindeutig so aus wie das aussieht, was ich hier vor mir sehe. Das will ich wissen, und nichts anderes. Das muß geklärt werden, oder ich schmeiße in Zukunft meinen Trouble-Signalgeber in hohem Bogen ins WC. Bitte um Neuvorlage in… sagen wir bis morgen früh.“ Der Assistent räumte die Unterlagen vom Tisch. An der Tür holte ihn noch eine Anordnung des Abteilungsleiters ein. „Und lassen Sie die Datei abfragen, ob in diesem unserem großen Lande nicht ein Mann sitzt, der diesen Teil Sibiriens vielleicht aus eigner Anschauung kennt. Aber hopplahopp, wenn ich bitten darf, Mister Snider.“ Allein im Büro steckte sich Muriel eine John-Players an, dachte an die Wildkatze und war sauer, daß er sich wegen dieser Geschichte eine Raubtierdressur hatte entgehen lassen. * Sie fuhren auf dem Highway nach Baltimore, weil der Computer dort eine Adresse ausgeworfen hatte. „Ich hasse Baltimore“, sagte Tim Muriel, „es ist nicht weit 14
genug entfernt, um das Flugzeug zu nehmen. Für den Hubschrauber wiederum ist es nicht nah genug. Was tut man, man hockt sich in den Schlitten und rollt auf Rädern wie weiland Henry Ford im Benzinkutschenzeitalter.“ „Ich mag Hafenstädte“, gestand Snider. „Außerdem stinkt Baltimore.“ „Aber nur bei Westwind, Sir.“ Tim Muriel hatte keine Lust zu erklären, warum er Baltimore haßte. Er war dort bei einem Mädchen abgeblitzt. Schon lange her. „Wie war doch der Name?“ fragte er. „Carpenter, Vorname Mike Harold.“ „Stimmt. Harold M. Carpenter, Wood-Corporation“, murmelte der CIA-Subdirektor. „Warum Corporation?“ „Er ist einer der größten Holzverarbeiter der USA. Hat Fabriken in allen Staaten.“ „Wo es Wälder gibt.“ „Neuerdings macht er auch etwas ganz Verrücktes. Aus Papierabfällen gewinnt er wieder Holz.“ „Warum nicht. Bald macht man aus Plastiktüten wieder Erdöl.“ „Carpenter hat von den Woodcutters, von den Baumfällern in Kanada, bis zum Endprodukt Toilettenpapier alles in der Hand. Dazwischen liegt natürlich Möbelfabrikation, Zuschnitt von Bauholz jeder Art und so fort.“ „Wie kam die Datei auf ihn?“ „Er ist auch der größte Holzimporteur der Ostküste. Er importiert Hölzer aus Afrika, vom Amazonas und aus…“ „Sibirien“, fiel Muriel seinem Assistenten ins Wort. Er hatte es gewußt, wollte es aber noch einmal bestätigt bekommen. „Carpenter kennt Sibirien also aus eigener Sicht. Er war selbst da.“ „Die Hölzer, noch quasi am wachsenden Baum zu kaufen, ist ein privates Hobby von ihm. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als er anfing.“ „Wo fing er an?“ 15
„In Alaska, als Woodcutter.“ „Wann war er zuletzt in Sibirien?“ „Er beantragte letztes Jahr noch mal das Visum. Laut unseren Akten.“ Der dunkelblaue CIA-Dienstwagen, ein 77er Pontiac Cataline, rollte etwas schneller als erlaubt über die schnurgerade Betonpiste nach Norden. „Wie oft war er in Rußland?“ wollte Muriel wissen. „Man kann sagen seit Kriegsende alle zwei Jahre, Sir.“ „Ist er zuverlässig?“ „Unbedingt.“ „Ich frage, weil bei Leuten, die Geschäfte mit dem Ostblock machen, der schnelle Dollar oft wichtiger ist als die Treue zum Vaterland. So ein Mann bietet sich als Spion doch geradezu an.“ Snider nickte. „Er spionierte auch, Sir, aber für uns.“ „Und nicht etwa auch für den KGB?“ „Auch für die Russen“, berichtete Snider. „Damals, als sie ihn anwarben, meldete er das sofort. Die Agency versorgt ihn seitdem mit Spielmaterial.“ „Auf den bin ich neugierig“, sagte Muriel, „echt“ „Wir sollten uns nicht wundern, meinte Jack Hickman. Hickman kennt ihn recht gut. In Carpenters Büro hängen hinter seinem Schreibtisch zwei Wandteppiche. Einer zeigt Stalin, der andere Lenin.“ „Die amerikanische Flagge gefiele mir besser“, sagte Tim Muriel. „Well, er soll ein komischer Typ sein, dieser Carpenter“, bemerkte Snider, „aber eine ehrliche Haut bis auf die Knochen, Sir.“ Nach einer Stunde Fahrt hatte der Wagen die 70 Meilen Washington-Baltimore hinter sich gebracht und bog vom Highway ab Richtung Chesapeake-Bay. 16
In Baltimore machte Carpenter nur Edelfurniere aus Importstämmen. Aber die Fabrik dehnte sich über zehn Hektar aus. In der Mitte stand ein Bürogebäude. Im vierzehnten Stockwerk, ganz oben also, empfing Carpenter die Besucher. Genau zwischen den Wandteppichen stehend. Aber Stalin war nicht mehr dabei. Der linke Teppich zeigte Mao Tse-tung. Carpenter, ein bulliger Stierkopf im karierten Maßhemd, erläuterte seinen erstaunten Besuchern den Bilderwechsel. „Ich beziehe neuerdings viel Holz aus China“, sagte er, „Stalin rutschte ’ne Etage tiefer.“ Es gab harte Woodcutter-Drinks mit viel Gin und wenig Wermut und dicke Zigarren, echte Havannas. „Ich liefere auch nach Kuba“, erklärte Carpenter. „Sie zahlen unter anderem mit diesen zauberhaften Stinkbolzen da.“ Er biß einen ab. „Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?“ Tim Muriel bevorzugte gern abgekürzte Verfahren. Er kam gleich zur Sache. „Wie rauschen die Wälder am Kantschalan, Sir?“ Carpenter grinste. „Wie im Ohio-Tal, nur etwas bassiger. Alte Bäume haben tiefere Tonlagen.“ „Sie müssen es wissen. Sie waren oft im Anadrygebirge.“ Der Holzfachmann massierte seine buschigen Brauen. Daß diese Gentlemen von der Agency unterrichtet waren, daß sie so gut wie alles über ihn wußten, setzte er voraus. Er informierte sich auch über Geschäftspartner, ehe er Verträge aushandelte. „Richtig. Insgesamt elfmal seit Kriegsende fuhr ich nach Sibirien. Ich kann behaupten, einer der besten Sibirienexperten außerhalb der UdSSR zu sein. Und ich kenne das Land nicht nur aus Büchern oder Kulturfilmen.“ Nun legte ihm Snider eine Landkarte vor. Sofort wußte der ehemalige Woodcutter um welches Gebiet es sich handelte. „Diesen District habe ich oft mit dem Hundeschlitten bereist“, sagte er. „Später mit dem Motor17
schlitten und von anno siebzig ab mit dem Hubschrauber. Der Iwan ist sehr freundlich zu Kapitalisten, mit denen er Geschäfte macht. Ich bin dort wie zu Hause.“ Es handelte sich um jenes Gebiet Ostsibiriens, wo der Kontinent seinem Ende zuging und mit der TschuktschenHalbinsel ins Beringmeer hineinragte. „Wie kamen Sie hinüber?“ fragte Muriel. „Mit einem Privatflugzeug von Nome/Alaska aus. Meine Freunde in Moskau erteilten nicht nur bereitwillig die Einfluggenehmigung, sie schickten mir sogar Begleitschutz in Form von MiG-Jägern.“ „Dann können Sie uns ja deren Absprungbasen nennen“, meinte Snider. Der Holzhändler zögerte erst, nahm dann einen Fettstift und malte ein paar Kreise auf die Karte. Um Tadleo, um Ust Belaya und um Tschukots an der Metschigmen-Bay. Dabei fiel sein Blick auf ein schraffiertes gelbes Viereck, das sich bereits auf der Karte befand. Es lag am Polarkreis nahe den Ausläufern des Gebirges, etwa 250 Meilen Luftlinie vom Ostsibirischen Eismeer entfernt. „Keine freundliche Gegend“, sagte Carpenter. „Neun Monate liegt alles unter Eis und Schnee. Da werden sogar die härtesten Baumfällertrupps nach der zweiten Saison Klapsmühlenreif. – Aber was soll diese gelbe Markierung bedeuten, Gentlemen?“ Nun schob ihm Snider ein Radarfoto hin. „Deshalb sind wir hier, Sir.“ Mit seinen 58 Jahren hatte Carpenter immer noch Falkenaugen. Er brauchte keine Brille und keine Lupe. Nachdenklich betrachtete er das Foto. „Sieht aus wie eine räudige Stelle im Fell des Fuchses. Hier natürlich im Wald.“ „Was halten Sie davon“, faßte Muriel nach. „Eine Rodung?“ „Kaum. Da oben roden sie noch nicht. Es gibt keine geeigneten Transportwege für Langholzfahrzeuge.“ 18
„Eine Seuche vielleicht, oder Schädlingsbefall?“ Carpenter biß auf seiner Havanna herum. „In Sibirien sind Luft und Grundwasser noch naturrein. Und Schädlinge kennt man kaum. So gesundes Holz wie in Ostsibirien können Sie sonst nirgends auf der Welt mehr kaufen.“ „Was ist es dann, Ihrer Meinung nach?“ Der Holzhändler grinste amüsiert. „Es beunruhigt Sie, he?“ „Weil es so merkwürdig quadratisch ist. Unsere Experten dachten schon an einen Meteoriteneinschlag wie damals 1908, als der Tunguska Meteorit auf Sibirien herunterging und zweitausend Quadratkilometer Wald zerfetzte. Aber die geometrisch korrekte Form schließt das wohl aus.“ „Ob die Russen neu aufgeforstet haben?“ wandte Snider ein. „Wozu?“ fragte Carpenter. „Dieser Wald besorgt das von alleine durch seine Urkräfte. Es handelt sich eher um eine Untergrabung.“ „Was verstehen Sie darunter?“ erkundigte sich Muriel. „Ich bin kein Tiefbauingenieur“, betonte Carpenter. „Aber wenn man beispielsweise einen bewaldeten Hügel untertunnelt, dann kann es bei den darauf wachsenden Bäumen zu Absterbungen kommen. Die Wurzeln werden gekappt, der Zugang zum Grundwasser abgeschnitten. Und so passiert es dann.“ „Um ein künstlich angelegtes Dach handelt es sich also nicht.“ „Dach?“ Der Holzhändler schüttelte den Kopf. „Wozu ein Dach im Urwald?“ „Die Russen haben es neuerdings mit Dächern“, erwähnte Tim Muriel. „Alles, was unsere Satelliten nicht aufnehmen sollen, überdachen sie. An der Ostsee haben sie ein riesiges Werftgelände, mehrere Quadratmeilen groß, auch mit einem Dach versehen.“ 19
„Werften kann man nicht unter die Erde verlegen. – Aber hier hat man offenbar etwas Ähnliches versucht.“ „Und die Erde mit Stollen, Tunnels, Gängen und Hallen untergraben.“ „Ich kann das Verkümmern des Waldes nicht anders deuten“, gestand Carpenter, „obwohl ich mir andererseits nicht erklären kann, warum sie so etwas gerade in Ostsibirien gemacht haben sollen.“ „Eine geheime Einrichtung unter der Erde also.“ „Etwas Militärisches sicher.“ „Oder e ine Forschungsstätte.“ „Vielleicht ein atomsicherer Bunker.“ „Eine Art Festung.“ Der Holzhändler schaute noch einmal das Foto an. „Der Wald“, meinte er schließlich, „wird sich erholen. In drei Jahren ist alles zugewuchert und wie früher.“ „Haben wir ja Glück gehabt.“ „Oder Pech“, ergänzte Carpenter. „Dann nämlich, wenn Sie nie herausfinden werden, um was es sich handelt und Ihre Unkenntnis Sie plagt.“ Die Gentlemen von der Agency packten ihr Material in die Aktenkoffer. „Wir möchten“, verabschiedete sich Ti m Muriel, „Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Sir. Nur eines noch. Würden Sie uns…“ Carpenter kniff ein Auge schmal. „Ja bitte?“ „Würden Sie uns“, fuhr Muriel zögernd fort, „bei Bedarf, sagen wir im äußersten Notfall, zur Verfügung stehen?“ „Mit Rat immer.“ „Und mit Tat?“ fragte der CIA-Subdirektor. „Wie darf ich das verstehen?“ „Nun“, Muriel hatte Hemmungen, diesem Mann, einem vielfachen Millionär, seine ungewöhnliche Idee, die fast einer Zumutung gleichkam zu unterbreiten „nun, Sir, wären 20
Sie notfalls auch bereit, für uns als Kundschafter, Trapper, Scout oder Ähnliches tätig zu sein?“ So etwas wie Trauer trat in Carpenters Züge als er antwortete: „Vorausgesetzt der Krebstest, Gentlemen, dem ich mich demnächst unterziehen muß, verläuft negativ. An der Tür fügte er noch hinzu: „Aber wir befürchten, daß er positiv verlauft. Dickdarmkarzinom. Sie verstehen.“ Auf der Rückfahrt nach Washington versuchte Tim Muriel sich klar zu werden, ob der Besuch in Baltimore ein totaler Reinfall oder nur vorläufig ohne Ergebnis verlaufen war. 3. Erstens war diese Frau nicht sein Typ, zweitens war sie ganz und gar nicht sein Fall. Aber sie hatte ihn schon mit guten Informationen versorgt, speziell, wenn es um Leute aus dem Jet-set ging. Deshalb konnte der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, nicht umhin, sein Versprechen einzulösen. Auf dem Oktoberfest vor zwei Jahren hatte er der Journalistin Candy Philips versprochen, daß er ihr Oberbayern zeigen würde. Kurz darauf war sie nach Moskau gegangen. Nun war sie aus Moskau zurückgekommen. Also zeigte er ihr Oberbayern. Und diesmal war der Starnberger See an der Reihe. Sie kreuzten in einem „Star“ von Possenhofen an der Roseninsel vorbei nach Süden. Die Alpenkette ragte klar und scharf ins Blaue. „Was für ein Wetter“, rief die Amerikanerin und räkelte sich im Bikini an Deck. „Es wird schlecht“, prophezeite Urban. „Berge klar und nah, bald ist Regen da.“ „Für alles habt ihr Sprichwörter“, sagte Candy, faßte nach hinten, löste das Bikinioberteil und begann mit dem Busen zu wackeln. 21
„Apropos Regen. Sich regen bringt Segen. Wie wär’s damit Bob?“ Sie machte Urban einfach nicht an. Wußte der Teufel, warum. Candy war eines der hübschesten Girls, die er kannte. Leider löste sie bei ihm nicht die Minifrequenz eines sinnlichen Gedankens aus. Er konnte sich denken, was sie meinte mit: Sich regen bringt Segen, aber das war im Besuchsprogramm nicht enthalten. Nicht mit ihm. Er holte den Champagner aus dem Kühlkoffer, ließ den Korken knallen und füllte zwei Gläser. „Erzähl mir lieber einen Schwank aus Philadelphia, Baby“, schlug er vor. Sie wälzte sich auf den Bauch und zog auch noch das Höschen aus. Ihr Po war prall und sonnenbraun. „Wie wär’s mit einem Schwank aus Moskau?“ „Lieber nicht, die sind zu nervenzerfetzend, die Moskauer Nächte. Seit der Oktoberrevolution haben die noch früher Sperrstunde als die Schweizer.“ „Ich hatte kürzlich ein Erlebnis, allerdings weit nach der Polizeistunde.“ Candy trank und rauchte und erzählte zwischendurch. Erst bruchstückhaft in Episoden, dann zusammenhängend, aber alles in dem Stil, in dem sie auch schrieb und Reportagen machte. Kurz und bündig, fast zu sachlich für eine Frau. Das ist es, dachte Urban, sie ist zu sachlich. Eine ganz knochentrockene Überschlaue ist das. Supersophisticated nannten es die Amerikaner. So etwas ging zwangsläufig zu Lasten der erotischen Ausstrahlung. „Du kennst doch Ignatius Antipow?“ fragte Candy, als sie alles erzählt hatte. „Nicht persönlich“, antwortete Urban. „Hast aber schon von ihm gehört.“ „Natürlich. Soll ein erstklassiger Kernphysiker sein. – Seit dieser Nacht ist er verschwunden, sagst du?“ „Total. So gut wie futschikato.“ 22
„Und wer übernahm seinen Lehrstuhl, seine Forschungsarbeiten?“ „Niemand. Wer sollte auch so viele verwaiste Lehrstühle übernehmen.“ „Wer ist denn noch alles verschwunden?“ Candy zählte eine Menge prominenter Wissenschaftler auf. „Und woher weißt du das?“ „Weil man an vielen Universitätszweigen die Lehrtätigkeit und an den Instituten die Forschungsprogramme einstellte. Nur hier und da werden sie auf Sparflamme weitergeführt. Von den Assistenten.“ Das alles reizte Urbans Neugier nur wenig. „Und wie erklärt man das der Öffentlichkeit? Ich meine, wie kommentiert es die Prawda? Die kommentieren doch jede Blähung.“ „Angeblich wurden die Semesterferien vorverlegt.“ „Ich halte nicht viel davon“, gestand Urban. „Es gibt zu viele Gerüchte. Wenn man sie nachprüft, ist alles halb so schlimm.“ Candy richtete sich auf und schüttelte das rotblonde Haar nach hinten. „Ich bin Journalistin und gewohnt, präzise zu recherchieren.“ „In der Sowjetunion stößt du doch irgendwann immer gegen Mauern. Und was dahintersteckt, weiß keiner.“ „Mich haben sie rausgeekelt. Das steckt dahinter.“ Candy hatte angedeutet, daß es ihr in Moskau nicht mehr gefallen habe und daß sie deshalb ihren Vertrag als Auslandskorrespondentin vor Ablauf gekündigt hatte. Jetzt erst rückte sie mit der vollen Wahrheit heraus. „Sie haben dich also ausgewiesen“, stellte Urban fest. „Nicht im Sinne von abgeschoben“, sagte sie. „Aber sie haben mich kaltgestellt, gestoppt.“ „Auf welche Weise?“ „Nun, wenn du in Moskau als Reporter keine Einladungen 23
zu offiziellen Ereignissen erhältst, wenn sie dir Interviews sperren und du kein Permit mehr kriegst, um die Stadt zu verlassen, dann kommt das einem Arbeitsverbot gleich. Dann kannst du deine Koffer packen.“ „Was gaben sie als Begründung an?“ „Sie begründen ihre Maßnahmen Ausländern gegenüber niemals.“ „Und was war der echte Grund?“ „Daß ich diesen Henkern vom Staatssicherheitsdienst sagte, daß sie verduften sollen. Professor Antipow sei nicht bei mir. Zehn Minuten später schnappten sie ihn dann mit meinem Auto.“ „Und das nahmen sie übel“, bemerkte Urban. „Ich kenne sie, da sind sie komisch.“ „Du bist auch komisch“, erwiderte die hübsche Candy. „Du nimmst mich nicht für voll. Du nimmst meine Information nicht ernst, und als Frau siehst du mich überhaupt nicht.“ Urban wurde der Notwendigkeit enthoben ihr aus Höflichkeit etwas vorzuturnen. Von Tutzing her schoben sich Wo lken auf den See heraus, fette dunkle Gewitterwolken mit blaugrünen Rändern. Dazu wurde der Wind böig. Urban wendete, riß den Motor an und sah zu, daß sie heil zum Liegeplatz gelangten. Sie hatten Glück. Das Unwetter brach erst richtig los, als sie schon in Urbans BMW saßen. Jetzt gibt es noch eine Maß Bier und eine Brotzeit in Kloster Andechs, dachte Urban, dann ist Finito mit der Fremdenführerei. * Candy Philips flog nach New York. Bob Urban vergaß die Story, die sie ihm erzählt hatte. Zwar hatte er noch Überlegungen angestellt, ob sie genug 24
Substanz für eine Routinemeldung enthielt, aber wozu sollte er die ganze Ostabteilung beunruhigen. In der UdSSR ve rschwanden tagtäglich Leute und tauchten später gesund und munter wieder auf. Es gab immer wieder Säuberungsaktionen. Heute bei der Armee, morgen bei der Industrie. Gestern waren eben die Universitäten dran. Doch dann kam plötzlich alles zusammen. Bei der Abendkonferenz in der Operationsabteilung ließ es der Chef, Oberst i.G.a.D. Sebastian, heraus. „In Moskau wurden mehrere Universitäten geschlossen.“ „Semesterferien“, erwähnte Urban beiläufig. „Aber wie harmoniert das mit dem Umstand, daß weltweit russische Wissenschaftler nach Moskau zurückgerufen we rden? Jetzt, während der Semesterferien.“ „Semesterferien haben die Moskauer Unis gewöhnlich erst im Juli“, wandte ein Experte ein. „Ob da vielleicht Streiks dahinterstecken?“ „Dann kann es sich nur um einen Professorenstreik handeln.“ „Und man ruft Ersatzleute nach Moskau.“ Urban riß ein Zündholz an, führte es ans Ende seiner Montechristo und saugte die Flamme an. „In der Sowjetunion gibt es keinen Streik, Herrschaften. Erst recht nicht unter den Privilegierten. Wissenschaftler sind fast so bevorrechtigt wie Politiker und Künstler, mit Auto, Datscha und Einkauf im Luxus-Importladen.“ Ohne auf die Diskussion einzugehen las der Oberst Fernschreiben vor. „Aus Tripolis wurde der Chef der russischen Plasmaforschung per Sonderflugzeug in die Heimat geflogen.“ „Man sagt, er sei erkrankt.“ „Wahrscheinlich schob man das nur als Grund vor. Er hätte noch Vorträge in Bagdad und Addis Abeba halten sollen.“ „Ich messe dem keinen Wert bei“, beharrte der Rußlandexperte des BND. Bob Urban wurde nachdenklich und schwieg lieber. 25
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Sebastian klemmte das Monokel ein und fuhr fort: „Aus Südostasien holten sie Tschernizin und einen gewissen Oldenow zurück.“ Als dieser Name fiel, wurde der Experte plötzlich hellhörig. „Oldenow ist Nobelpreisträger. – Immerhin.“ „Aus Australien liegt eine unbestätigte Meldung vor, wonach ein russischer Forscher, ein Zellbiologe, sogar per UBoot abgeholt worden sein soll. Angeblich brachte man ihn zu einem in der Südsee operierenden Flugzeugträger, von wo ihn ein Jet nach Moskau flog.“ „Brüderchen, da läuft was“, murmelte einer der hinten an der Wand lehnte. Sebastian war noch nicht am Ende mit den Neuigkeiten. Die Blätter raschelten in seinen dicklichen Händen, als er sie unter- und übereinanderschob. „Scotland-Yard meldet über Interpol aus London, daß man eine Leiche aus der Themse fischte. Möglicherweise ist der Tote Sowjetbürger. Die Annahme, daß es sich um den Fachmann für Höhenraketen namens Prutenko handelt, ist noch nicht gesichert. Der Mann starb an Genickschuß. Möglich, daß er bei dem Versuch abzuspringen gewaltsam nach Hause befördert werden sollte.“ Jetzt zweifelte niemand mehr, daß im Osten etwas Geheimnisvolles vor sich ging. „Eine wirklich globale Rückrufaktion also“, bemerkte jemand, „wie bei einem defekten Automodell.“ Der Oberst kam zum Schluß: „Andere suchen sie noch. Ein sehr prominenter Mann, ein Italo-Russe, Sohn eines führenden römischen Kommunisten, der vor Mussolini floh und in die UdSSR emigrierte, soll in Italien untergetaucht sein. Große Fahndungsaktion nach ihm läuft.“ Das war der Moment, in dem Bob Urban sein Versäumnis, die Candy-Philips-Story ernst zu nehmen, sauer aufstieß. Er beschloß, es wiedergutzumachen, indem er sich mit der Treibjagd auf Moskauer Geistesgrößen näher befaßte. 26
Zwei Abende später ging Bob Urban mit einem Amerikaner essen, von dem Gott und die Welt wußten, daß er der CIAZentrale angehörte. Daß es kein Freundschaftsbesuch war, merkte Bob Urban spätestens beim Rehragout. „Candy Philips hat mir erzählt“, sagte Tim Muriel, „daß sie von dir wenig ästimiert wurde.“ „Wie oft sollte ich denn“, fragte Urban. „Einmal, dreimal, auf dem Zugspitzblatt, im Segelboot, auf dem Autorücksitz?“ „Ihr zu glauben, hätte genügt.“ Urban legte die Gabel weg. „Jesses, die alte Antipow-Geschichte.“ „Genau diese.“ „Wir befassen uns ja schon damit.“ „Wir schon lange“, gestand der Amerikaner. „Die komplette sowjetische Intelligenzia kam per Flugzeugschub nach Sibirien. Das steht fest.“ „Sibirien?“ Urban legte einen Ton vor, als sei das so ungenau, als wenn man sagte, irgendwo draußen in der Galaxis. „Ostsibirien“, faßte es Muriel präziser. „Dazu fällt mir nur Tschuktschenhalbinsel ein.“ „Gleich links davon.“ Urban gabelte wieder Ragout mit Pilzen. Doch er kam nicht auf den Geschmack. Das lag wohl an der penetranten Art dieses Gentlemen aus Washington. „Wo dort?“ „Ein Viereck im Walde, nicht gerodet, nicht verdorrt, nur ein bißchen abgestorbene Bäume, die sich aber bald erholen werden.“ „Warum erzählst du mir das?“ „Als inoffizielle Information.“ „Weil ihr keine ausreichenden Fakten habt, um Hilfe bei den NATO-Verbündeten anzufordern.“ 27
„Scharf kombiniert“, meinte Muriel, „du könntest glatt Harvard absolviert haben.“ „Das reicht bei uns nicht mal für den Numerus clausus in Medizin“, spottete Urban. Nach dem dritten Gang schob ihm Tim Muriel die Aufklärerfotos hinüber. Danach schmeckte Urban das Dessert nicht mehr. „Echt ein Grund zum Saufen“, sagte Tim. „Wie kein anderer“, ergänzte Urban. * Einen Wein wie diesen Kitzinger Hofrat 76er Silvaner aus Franken hatte Tim Muriel in seinem Leben noch nicht über die Zunge gebracht. Jedenfalls schmeckte er ihm vorzüglich. Weil er außerdem berufliche Sorgen hatte, kam es, daß er einen Boxbeutel zuviel trank. Als sie das Restaurant verließen, war er unsicher auf den Füßen. „Zickiger Hofnarr“, murmelte er immer wieder, „muß ich mir merken. Werde mir ein Faß schicken lassen. Per Fruchtlaft.“ „Meinst du vielleicht Luftfracht?“ „Zickiger Hofnarr.“ „Kitzinger Hofrat“, verbesserte Urban zum xten Mal und ging mit ihm hinaus. Sie schlenderten zum Parkplatz, wo neben Urbans BMWCoupe ein blausilberner Cadillac stand. Unsicher tastete Muriel nach den Schlüsseln. Endlich hatte er sie, sperrte auf und schob sich hinter das Lenkrad. „Du kannst so nicht fahren“, entschied Urban. „Zickiger Hofnarr“, lallte Muriel. „Was glaubst du, wie ich schon Jagdfugzeuge geflogen habe. Im Koreakrieg. Voll bis Oberkalte Unternippe.“ Er suchte das Zündschloß und fand es nicht. „Muß einer geklaut haben.“ 28
„Mehr links“, riet ihm Urban. „Ebensowenig findest du dein Hotel.“ „Nix Hotel’, sagte Muriel, „Botschaft. Der Schlitten gehört dem Schlotbafter, dem Botschlafter.“ Urban hatte noch eine Frage zur Sache. „Die Einzelheiten stammen von einem Holzhändler?“ „Guter dicker Mann. Alle dicken Kerle sind okay.“ „Und ihr werdet noch eine Spezialmaschine rüberschikken?“ „Von Alaska aus. Höhenjäger mit Seitensichtradar. Ganz neue Klick-Klack-Kamera. Stückpreis zwei Millionen Dollar. Macht Aufnahmen wie gebaut und gestochen. Ich rufe dich an, Bobby. Und du rufst mich an, wenn eure Leute drüben was rausfinden. Okay. Zickiger Hofnarr meldet sich jetzt ab.“ Endlich hatte er das Zündschloß gefunden und wo llte anlassen. Doch nun zog Urban den Schlüssel heraus und behielt ihn. Tim Muriel protestierte. Urban bestand jedoch darauf, daß er Muriel selbst in die Botschaft fuhr. Den Wagen könne er am nächsten Tag abholen lassen. „Morgen bin ich schon in Zickingen“, sagte der Amerikaner, „beim Hofnarr.“ „Dann holt ihn ein Fahrer.“ Tim wollte nicht, aber Urban ließ nicht locker. Mit sanfter Gewalt bugsierte er ihn in seinen BMW. „Mann, ist der eng, kneift ja unter den Armen. Der Zickinger Hofnarr ist mächtig kitzelig unter den Armen.“ Urban schnallte ihn fest und beförderte ihn durch die morgenleere Stadt zum Englischen Garten. Vor dem Konsulat in der Königinstraße hielt er an, stieg aus, läutete Sturm und lieferte Tim Muriel ab. „Wo ist der Cadillac?“ fragte der Angestellte gähnend. „Den konnte ich nicht auch noch in Schlepp nehmen. Steht in Schwabing.“ „Hat Direktor Muriel den Schlüssel?“ 29
„Nein, ich.“ Urban warf dem Angestellten den Schlüssel zu und wollte sich empfehlen. Da bat ihn der etwa dreißigjährige Mann, ob er ihn nicht ein Stück mitnehmen könne. Er brauche den Wagen, um am nächsten Morgen einen NATO-Offizier am Flughafen abzuholen. „Schön“, sagte Urban, „liegt auf meinem Weg.“ In der Akademiestraße setzte er den Konsulatsbeamten unmittelbar vor dem Cadillac ab. Der bedankte sich höflich. Urban rollte sofort wieder an. Er sah noch wie der Mann die große Limousine aufsperrte, dann nahmen ihm andere Autos die Sicht. Außerdem bog Urban in die Türkenstraße ab. Dort holte ihn der Blitz ein. Hinter ihm zuckte es hellweiß um die Ecke. Die Häuser, die Bäume warfen sekundenlang harte Schatten. Dann kam eine Detonation als säße man zwischen zwei Gewitterwo lken. Der Luftdruck schüttelte Urbans BMW. Fensterscheiben klirrten. Ziegel und Putzbrocken prasselten auf den Asphalt. Mein Gott, dachte Urban, der Cadillac. – Sofort machte er kehrt, konnte aber nicht mehr helfen. Im Benzinfeuer brannte der Cadillac zum Wrack aus. Die Autos links und rechts waren nur noch Schrott. Der Konsulatsbeamte lag auf dem Dach eines OpelCaravan. Die Explosion hatte ihn zehn Meter durch die Luft geschleudert. Ein Bein fehlte ihm. Er sah schlimm aus und war offenbar tot. Urban rannte zu seinem Wagen, rief per Autotelefon Polizei und Rettungsdienst herbei und fuhr dann weg. In den Cadillac war eine Bombe mit Kontakt zur Zündspule gebastelt worden. Sie hatte Tim Muriel gegolten. Wem sonst. Urban machte sich aus dem Staub, weil es besser war, wenn man einen Mann wie ihn nicht in Tatortnähe sah. Ein BND-Agent hatte als Augenzeuge keine gute Figur abgegeben. 30
4. Vor dem Kasernentor der ungarischen Grenzgarnison Esztergom stoppte eine gelbbraune Limousine. Kennzeichen und Automarke – es handelte sich um einen ZIL-117, gebaut vom Werk Zavid Imeni Staline nahe Moskau – wiesen ihn als Wagen der sowjetischen Militärkommission aus. Der Fahrer zeigte ein Papier und durfte sofort passieren. Hinter ihm schloß sich der Schlagbaum wieder. Der sechs Meter lange Straßenkreuzer hielt vor dem Haus des ungarischen Divisionskommandeurs. Ein Funktionär in Zivil stieg aus. Drinnen wurde er vom General erwartet. Nach einem kurzen Gespräch führte der General den Russen zur Gartenterrasse seiner Dienstvilla, von wo man einen weiten Blick über die Exerzierplätze und Trainingsstätten hatte. Der Russe bekam ein Glas. „Sehen Sie dort“, rief der General. Dabei deutete er auf eine schwere Hindernisstrecke, die von Soldaten in voller Kampfuniform mit Waffen und Tornister umrundet wurde. „Gleichmäßig wie Maschinen“, staunte der Russe. „Das machen sie jetzt schon seit drei Stunden.“ „Sieht man ihnen gar nicht an.“ „Es entspricht einem Spähtrupplauf von dreißig Kilometern durch schwerstes Gelände.“ „Eine echte Eliteeinheit.“ „Schätze Genosse“, sagte der Ungar, „deshalb sind Sie gekommen.“ Sie gingen ins Haus, tranken Kaffee, einen Mirabellenschnaps dazu und steckten sich Zigarren an. „Stimmt“, nahm der Moskauer Funktionär den Faden wi eder auf. „Deshalb bin ich gekommen. Aber nun werden Sie fragen, wozu wir ausgerechnet eine ungarische Kommandoeinheit auswählen, obwohl wir selbst genug eigene Spezialisten zur Verfügung haben.“ „Ich will nicht lügen“, gestand der grauhaarige Ungar, der 31
ein wenig wie ein Operettenhusar aussah, „es macht mich neugierig.“ „Nun, Ihre Leute“, fuhr der KGB-Funktionär fort, „sehen italienischer aus als Russen.“ „Das liegt daran, daß wir Magyaren und die Romanen sehr viel Gemeinsames haben. Angefangen beim Blut, das sich in zweitausend Jahren Geschichte oft mischte. Wir haben ähnliches Temperament, lieben den Wein, die Frauen und die Musik.“ Der Russe unterbrach den Redeschwall des Generals. „Sprechen Ihre Leute italienisch?“ „Die vier, die wir aussuchten, sogar perfekt.“ „Ohne Akzent?“ „So gut wie echte Römer.“ „Einer davon ist Pilot?“ „Mit über tausend Flugstunden“, versicherte der General. „Da die ungarische Luftwaffe über kein Reiseflugzeug westlicher Herkunft verfügt, werden wir eine fünfsitzige Rockwell Commander aus den Beständen der DDRLuftwaffe herbeordern. Ihr Pilot wird eingewiesen und kann dann die Maschine übernehmen.“ „Wann geht es los?“ fragte der General. Das konnte der Besucher nicht auf die Stunde genau beantworten. „Zwei Dinge müssen vorher noch besorgt werden. Der versteckte Einbau einer Mannröhre im Heck des Flugzeugs, vermutlich wählen wir dazu Kunststoff, ja, und dann noch der Inhalt der Röhre.“ Der General verstand. „Meine Spezialisten besteigen in Budapest das Flugzeug und bringen es nach Durchführung des Auftrags wieder bis Budapest.“ „Wo es meine Sondergruppe übernimmt.“ „Wir sind nur für die Abwicklung von und bis Budapest verantwortlich.“ „Das ist richtig. Wir trafen diese Maßnahme, weil Buda32
pest auf dem Wege liegt, weil es vom Einsatzort nur siebenhundertvierzig Kilometer entfernt ist und weil Ihre Leute das ganze Gebiet dazwischen, den Balkan, die Adria und den Apennin kennen wie ihre Hosentasche.“ Und weil wir Ungarn dran sind und nicht der KGB falls es schief geht, du alter Hundesohn, dachte der General. Doch er hütete sich, diesen Gedanken auch nur andeutungsweise durch sein Mienenspiel auszudrücken. „Sie können sich auf uns verlassen“, ve rsprach er. „Und weiterhin strikte Geheimhaltung“, bat sich der Russe aus. „Ferngespräche, Fernschreiben und Funkkontakte nur auf Divisionsebene und alle geKados.“ Der Besucher blieb nicht zum Abendessen. Er hätte im Casino Offiziere getroffen, die er kannte. Die hätten möglicherweise Fragen gestellt, die zu beantworten er nicht gewillt war. Also verabschiedete er sich und ließ sich wieder zu seinem Stützpunkt nach Prag bringen. * Der Bürobote der KGB-Zentrale schob seine gummibereifte Aktenkarre durch die Gänge der Zentrale Dzerzhinskystraße. Seine Aufgabe war es, angefordertes Archivmaterial zu den Abteilungen zu bringen und erledigte Akten wieder ins Archiv zu fahren. Sein Leben spielte sich zwischen Keller und fünftem Stock auf den Korridoren und in den Liften ab. Jeder kannte ihn, jeder brauchte ihn. Bei der neugebildeten Abteilung mit dem Decknamen ‚Maulwurf’ bremste er seinen Wagen, arretierte ihn, nahm ein verschnürtes Bündel und trug es hinein. „Die Akte Sarrasanew“, rief er. „Danke, Maxim“, sagte die Schreibkraft und beförderte die Akte sofort zum Sachbearbeiter. 33
Der schnürte sie auf, las sie durch und begann zu telefonieren. Wenige Minuten später füllte sich sein Büro. Dem Mann aus der Druckerei reichte er zwei Fotos. „Sofort vervielfältigen. Sagen wir, sechzig Stück.“ Der Drucker zog damit ab. Der Sachbearbeiter wandte sich nun an die anderen. „Name, Piotr Sarrasanew.“ „Als er herüberkam nannte er sich noch Piero Sarrasani.“ „Jetzt ist er Staatsbürger der Sowjetunion.“ „Seinem Verhalten nach aber nicht.“ Jemand machte eine abfällige Handbewegung. „Zirkusleute. Er stammt doch sicher von diesen Zirkusleuten ab.“ „Nein, die Artisten Sarrasani bilden eine andere Linie“, erklärte der Mann, der die Akten vor sich hatte. „Offensichtlich unterlag der Herr Professor einer Panikreaktion.“ „Klar ausgedrückt, er setzte sich ab. Er befolgte den Befehl, nach Moskau zurückzukehren, nicht, sondern tauchte unter.“ „Hauptsache“, meinte der Chef von Abteilung Maulwurf, „er bittet nicht um politisches Asyl. Dann wäre der Fall offiziell und wir könnten diesen wichtigen Kopf abschreiben. Vermutlich hat er aber nur Angst und will erst zusehn was läuft, um sich später bei einer unserer Botschaften zu melden.“ „Hoffen wir es.“ „Solange“, fuhr der Sachbearbeiter fort, „können wir aber nicht warten. Einmal, weil wir nicht genau wissen, wie ein Mann reagiert, der sich gejagt fühlt, und somit unter ständigem Druck lebt Und zweitens, weil wir Professor Sarrasanew dringend brauchen. Sonst ist das Team nicht komplett.“ „Wo hält er sich auf?“ „Dort, wo er sich auskennt.“ „An seinem Geburtsort.“ „Ja, in Rom, bei seinem Bruder, wie wir vermuten. Sein Bruder wird ihn versteckt halten. Doch der wird bereits 34
überwacht. Ich habe Grund zu der Hoffnung, daß wir den Aufenthaltsort von Professor Sarrasanew bald kennen.“ „Und dann?“ „Werden wir handeln. Das ist bereits in allen Details vorbereitet.“ „Sein Bruder wird mächtig Wirbel machen von wegen Kidnapping, Menschenraub und so.“ „Auch dagegen ergriffen wir Maßnahmen.“ „Welcher Art?“ „Davon später“, beschied sie der Sachbearbeiter, trat ans Fenster, drehte sich wieder um und kreuzte die Arme. „Noch Fragen, Genossen?“ „Nur zur Person.“ „Sarrasanew ist Mitte Vierzig, damit einer unserer jüngsten wissenschaftlichen Institutsleiter und einer der fähigsten.“ „Größe, Gewicht, Statur?“ Sie bekamen die Werte. „Einszwoundachtzig, siebzig Kilo, hager, schlaksig.“ „Mehr ein Bücherwurmtyp also.“ „Haar braun, Augen blau, Kopf länglich oval.“ „Keine Sportlergestalt, wie?“ „Man sagt, er lehne Sport in jeder Form als unnötige Kraftvergeudung ab. Sport führt seiner Meinung nach zur Entmenschlichung und Brutalisierung.“ „Das heißt, er saß samstags nie am Fußballplatz.“ „Eher hinter seinem Mikroskop.“ „Wie kleidet er sich?“ „Ausgesprochen nachlässig“, hieß es, „aber das spielt in diesem Fall keine Rolle.“ „Wenn wir“, wandte ein Experte ein, „einen Doppelgänger für ihn suchen sollen, ist das nicht unwichtig.“ „Eine besondere Art von Doppelgänger bitte.“ „Doppelgänger ist Doppelgänger. Er muß dem Original so ähnlich sein wie sein Doppel. Daher der Name.“ „Ich lasse“, entschied der Sachbearbeiter, „alle wichtigen 35
Daten über Sarrasanew herausziehen und Kopien davon herstellen. Sie gehen euch mit den Fotos zu. Und nun ans Werk, Genossen. Die Zeit drängt Eigentlich müßte der Fall schon abgeschlossen sein. Wie lange brauchen Sie?“ Keiner wollte präzise Zeitangaben machen. „Wenn wir Glück haben, eine Woche, wenn wir Pech haben mehrere Monate.“ „Der Marschall befiehlt, daß wir Glück haben.“ „Dann muß man dem Glück nachhelfen.“ „Man läßt uns völlig freie Hand. Unter zweihundert Millionen Russen wird sich doch verdammt einer finden, der Sarrasanew ähnlich ist und die erforderliche Hauptvoraussetzung mitbringt.“ Die Fachleute räumten die Stühle und machten sich an die Arbeit. * Fernschreiben liefen an alle Polizeidienststellen, Krankenhäuser und Bestattungsorganisationen der Groß- und Kleinstädte in den Teilrepubliken der Sowjetunion. Sie hatten den gleichen Wortlaut und begannen: Leiche gesucht. Merkmale: Männlich, Hautfarbe weiß, Größe 182, Haare möglichst braun, Augen blau, Gewicht lebend siebzig Kilo. – Über Bildfunk wurden Fotos hinterhergejagt. Doch der Erfolg blieb zunächst aus. Auch auf weitere Fernschreiben höchster Dringlichkeitsstufe gab es keine Reaktion. Nun machte der KGB über den Innenminister Druck. Das Ergebnis waren drei Meldungen, die sich gut anhörten, deren Nachprüfung jedoch ergab, daß sie manipuliert waren wie die Produktionszahlen einer Traktorenfabrik. Das Soll war erfüllt, nur hatten die Traktoren keine Kolben und keine Räder. In der KGB-Zentrale wurden die Fernschreiber ausgewe rtet. 36
„Die Leiche in Kasachstan ist brauchbar“, schlug der Sachbearbeiter vor. „Ein Jäger, dem eine Wildfalle das Bein abschlug“, kommentierte der Projektleiter. „So geht das nicht. Es soll aussehen wie ein Badeunfall und in Ostia gibt es keine Haie. Oder?“ Die zweite Meldung kam aus Kiew. Ein Bauarbeiter, der den geforderten Abmessungen entsprach, war vom Gerüst gefallen. „Nur Schädelbruch“, las der Sachbearbeiter vom Fernschreiber. Der Projektleiter winkte ab. „Aber ein Bauarbeiter. Wissen Sie, was Bauleute für Hände haben? Ich hatte die Ehre als Student beim Vortrieb des U-Bahntunnels mitzuwirken. Am Betonmischer. War eine vergleichsweise harmlose Arbeit. Hatte nur Zement zu portionieren, Sand, Kies und Wasser in die Trommel reinzulassen. Ging alles per Hebeldruck.“ Er hob beide Arme und zeigte die Handflächen. „Die Narben sieht man heute noch. An den Händen eines Mikrobiologen wie Sarrasanew findet man aber mit Sicherheit keine Spuren harter Arbeit. Und die Kripo im Westen ist ja nicht blöde. Sie würde sofort merken, daß man ihr eine Leiche unterzuschieben versucht.“ „Also wieder nichts.“ Gegen Abend tickerte der Fernschreiber eine Meldung aus Orenburg am Ural durch. Sie sah hervorragend aus. „Wir haben ihn“, frohlockte der Sachbearbeiter. An der offerierten Leiche war in der Tat nichts auszusetzen. Alles stimmte. Alter, Größe, Gewicht und Aussehen. Von Beruf war der Tote Technischer Zeichner gewesen, hatte also Kopfarbeiterhände. „Woran starb er?“ forschte der Projektleiter. „Er glitt beim Fischen aus, wurde von der Strömung erfaßt und ertrank in einem Strudel.“ 37
„Zu schön um wahr zu sein“, sagte der Projektleiter. „Fordern Sie Bildfunkfoto an.“ Es kam Stunden später. Der Tote in Orenburg am Ural wies nicht nur die Daten der gewünschten Leiche auf, sondern sah sogar aus wie Piotr Sarrasanew. Trotzdem machte ihn ein winziges Merkmal ungeeignet. „Ein Kirgise“, fluchte der Projektleiter, „mit Schlitzaugen. – Ich breche gleich zusammen.“ Die Zeit drängte jetzt. Man hatte ihnen eine Beschaffungsfrist gesetzt. Maximal 48 Stunden. Sie hatten die Einhaltung der Frist zugesichert. In der großen UdSSR starben pro Minute soundsoviele Menschen. Anhand der statistischen Werte war errechnet worden, daß unter den vielen tausend Toten einer sein müßte, der ihren Wunschvorstellungen weitgehend entsprach. Doch in der Statistik war es wie beim Wetter. Erst herrschte wochenlang ein Überangebot an Sonnenschein, dann wieder Dauerregen. Nur die Durchschnittswerte stimmten. „Bin sicher“, sagte der Sachbearbeiter im KGB, eine Kanne starken Tee aufbrühend, „im nächsten Monat haben wir ein Dutzend Doppelgänger herumliegen.“ „Wir brauchen ihn jetzt, heute, spätestens morgen.“ „Wozu eigentlich? Kann man diesen Burschen nicht einfach abkassieren?“ „Er ist zu prominent. Die Italiener betrachten ihn noch immer als einen der ihren. Bei Leuten, die im Leben Großes leisten, ist das nun mal so. Nennen Sie es meinetwegen Nationalstolzeffekt. Wenn so einer plötzlich verschwindet, schreit alle Welt von Menschenraub. Und das widerspricht wohl dem Wortlaut der Helsinki-Verträge über die Me nschenrechte.“ „Haben wir die ratifiziert?“ „Ich denke schon.“ „Aber die DDR hat sie nicht ratifiziert“, „Was hilft uns das. Sarrasanew ist Russe und kein Sachse. 38
Das Problem läßt sich dauerhaft und zufriedenstellend nur lösen, wenn er tot am Strand des Mittelmeeres aufgefunden wird. Möglichst ertrunken oder mit Herzschlag.“ Gegen Morgen begann der Projektleiter laut zu denken. „Wenn sich keine geeignete Leiche anbietet, müssen wir uns eine machen.“ „An welches Verfahren dachten Sie denn?“ „Durchsiebung der Gefängnisse und Lager nach potentiellen Todeskandidaten. Bei einem geeigneten Mann muß der Vollzug eben beschleunigt werden.“ „Die sind alle in der Hollerith-Kartei gespeichert“, ergänzte sein Mitarbeiter, „was den Zugriff vereinfacht.“ „Los, fangen wir an“, drängte der Projektleiter nun. Sie konnten die Frist nicht einhalten. Aber mit nur achtzehn Stunden Verspätung ging eine passende Leiche per Transportkühlbox nach Ungarn auf die Luftreise. 5. Die Münchner Abendzeitung wußte sofort, wer die Höllenmaschine an dem geparkten Auto in der Akademiestraße angebracht hatte. Terroristen natürlich. Die TZ war schon zurückhaltender. Da es sich um eine Limousine amerikanischer Herkunft handelte, vermutete man die Täter im Kreis jener Leute, die vorwiegend solche Dickschiffe fuhren: Zuhälter, Immobilienhändler, Teppichzigeuner. Messerscharf schloß man jedoch auf RauschgiftMafia. Die stets genau recherchierende Süddeutsche Zeitung tippte auf Agententätigkeit und begründete dies damit, daß es ein Dienstfahrzeug des US-Konsulats und der Getötete ein harmloser Chauffeur gewesen sei. Der Fahrer wurde nur zur Warnung erledigt. Gemeint habe man einen ganz anderen. Die Kleinen legte man um, die Großen ließen einander ungeschoren. 39
Der BND-Operationschef Oberst Sebastian beendete seine Zeitungslektüre und sagte: „Wenn das kein aufgelegter Blödsinn ist.“ „Solange man nichts weiß, hat jede Theorie ihre Berechtigung.“ „Durch die Bank idiotisches Geschwätz. Wenn jemand Tim Muriel töten wollte…“ „… oder mich“, flocht Urban ein. „… dann hätte er das still und leise und nicht so spektakulär erledigt.“ „Mister Muriel und ich“, sagte Urban, „befanden uns nur eine Schlüsseldrehung vor dem Jenseits.“ „Ich weiß, Sie hinderten ihn daran zu starten, weil er angeblich betrunken war.“ „Also war der Feuerzauber in erster Linie für Mister Muriel gedacht.“ „Falls sich die Bombe zu diesem Zeitpunkt schon im Motorraum befand“, wandte der Alte ein. Urban hätte es nur durch seinen Tod beweisen können. Auf seine penetrante Art bohrte der Alte weiter. „Und wer steckt hinter dieser Sauerei?“ Urban rief erneut im Polizeipräsidium an. Die Kripo hatte bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte. Danach telefonierte Urban mit dem Labor. Dort war die Analyse noch in Arbeit. „Was für eine Analyse?“ fragte sein Chef. „Ich war gestern noch einmal in der Akademiestraße“, erklärte Urban. „Das Wrack hatten sie weggeräumt, aber der Asphalt und der Gehsteig waren noch nicht gereinigt. Ich besorgte mir Spuren vom Sprengstoffschleim.“ „Wischten Sie mit dem Taschentuch das Pflaster ab?“ „Es genügte ein angeknicktes Ulmenblatt aufzuheben.“ „Was wollen Sie damit?“ „Die Herkunft des Sprengstoffes interessiert mich.“ „Mich auch“, sagte der Alte. „Aber Gott schütze uns davor, daß er aus einem Bundeswehrdepot gestohlen wurde.“ 40
In diesem Punkt hatten sie Glück, wie sich aus dem Rückruf des Chemischen Labors am Nachmittag ergab. „Plastiksprengstoff aus polnischer Produktion“, meldete Urban dem Chef. „Mit Sicherheit?“ „Es war Nitroglyzeringelatine mit einem Gerinnungsstoff, wie ihn nur das polnische Chemiekombinat Lodsch verwendet. Sie konnten es nachweisen.“ „Polen führt solche Aktionen niemals durch.“ „Es sei denn auf Befehl…“ „… Moskaus“, ergänzte der Oberst. „Aber das polnische Agentennetz im Westen ist nicht der Rede wert. Durchaus schlagkräftig hingegen ist das der UdSSR. Es war also eine KGB-Operation.“ „Mit großer Wahrscheinlichkeit.“ „Warum richtete sie sich gegen Tim Muriel?“ „Sein Büro betreibt die Aufklärung Ostsibiriens.“ ,,Er war doch inkognito hier. Nur einige wenige Leute wußten davon.“ „Und noch ein paar weniger wußten, daß er über die Geschichte in Ostsibirien so gut wie nichts weiß.“ „Immerhin wußten sie so viel, daß er den Fall Rote Festung bearbeitet und sich in München mit Ihnen traf, Nummer achtzehn. Jede Art von möglichem Ergebnis wollte man damit einen Riegel vorschieben.“ „Dann müßte es in Langley undichte Stellen geben.“ „Alle Geheimdienste sind so dicht wie ein fünfzig Jahre alter Wassertank aus Blech mit Rostlöchern.“ Urban steckte sich eine MC an. „Man wird sich darauf einstellen müssen, daß das dicke Ende erst noch kommt.“ „Und Vorsicht, wenn ich bitten darf, bei nächtlichen Exzessen.“ Urban rauchte auf Lunge, drückte dann rasch die Zigarette aus und verließ den Lageraum. Unter der Tür blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. 41
„Ihre besten Gedanken, Großmeister“, sagte er, „hatten Sie schon immer von mir.“ * Zwei Tage später rief ein Mann im BND-Hauptquartier München-Pullach an und verlangte Bob Urban zu sprechen. Man kenne keinen Angestellten dieses Namens, lautete die übliche Auskunft. Erst als der Anrufer seine Identität preisgab, verband man ihn mit der Operationsabteilung. Der Agent Nr. 18 s ei dienstlich unterwegs, hieß es dort. „Wie kann ich ihn erreichen?“ wollte der CIA-Subdirektor wissen. „Gar nicht, denn er befindet sich schon jenseits der Grenze.“ „Welcher?“ blieb Muriel hartnäckig. „Der südlichen, Sir“, lautete die Auskunft. „Benutzt er seinen Wagen?“ „Vermutlich, Sir.“ „Er hat Autotelefon. Wie lautet seine Nummer?“ „Funktelefonanruf ist im Ausland nicht möglich, Sir.“ „Ich befinde mich ebenfalls im Ausland“, sagte Tim Muriel, „im Mittelmeerraum. Aber Sie besitzen wohl kaum die rechte Vorstellung, über welche Möglichkeiten der Funktechnik ich verfüge.“ Tim Muriel verschwieg, daß er sich an Bord eines USFlugzeugträgers der 6. Flotte aufhielt, und daß dieser 60 000-Tonner mit Elektronik so vollgepumpt war, daß man den Flügelschlag eines Engels im Himmel einzufangen vermochte. Er bekam Urbans ÖbL-Nummer und bedankte sich höflich. Vierzig Minuten später hatte er Urban. Seine Stimme kam zwar nur schwach durch die Richtantennen des vor Korsika 42
operierenden Trägers, aber mächtige Verstärker, Rauschfilter und Schwundregler machten sie klar wie Stereo-Sound. „Hier Muriel“, sagte der CIA-Mann. „Wo steckst du?“ „Nicht in Zickingen, Mister Hofnarr.“ „Nach unserer Peilung müßtest du um Verona herum stehen.“ „Mit Hundertsechzig am Tacho.“ „Was ist dein Ziel?“ „Rom.“ „Was suchst du dort? Gibt es in München nichts mehr zu tun oder sind Sprenganschläge nicht dein Fach?“ „Der BND betreibt keine Inlandsaufklärung.“ „Deshalb freust du dich über jeden grenzübergreifenden Fall“, höhnte Tim Muriel und gab endlich die Erklärung ab, die er Urban schuldig war. „Ich erfuhr erst heute von der Schweinerei in München. Tut mir leid um den Burschen.“ „Das nützt ihm wenig.“ „Ich mußte zwei Stunden später weg. Telex von NATO-Süd.“ „Ich hörte davon.“ „Der Zickige Hofnarr hat uns das Leben gerettet.“ „Die Unfallquote“, meinte Urban, „in unserem Job ist eben etwas höher als beim Häkeln. Willst du dich nur mit mir unterhalten, oder ist dein Anruf konstruktiv?“ „Der Täter war Russe.“ „Zumindest verwendete er polnisches Feuerwerk.“ „Unser V-Mann in Genf meldete, daß ein Sprengstoffexperte des KGB in die BRD abgereist sei.“ „Zu spät.“ „Jetzt meldet ein Agent aus Budapest, daß irgendeine Operation mit Rom läuft.“ „Zu spät“, bemerkte Urban abermals. „Sie ist bereits abgeschlossen.“ „Laß hören!“ „Sie ziehen alle Wissenschaftler zusammen. Weltweit.“ „Bekannt.“ 43
„Aber den Grund kennen wir nicht. Vielleicht hat er etwas mit dem komischen Fleck in Sibirien zu tun, vielleicht auch nicht. Fest steht, daß mehrere ihrer Eierköpfe dem Ruf der Heimat nicht folgten. Einer davon ist Piotr Sarrasanew. „Der Mikrobiologe, der Stalin-Preisträger?“ „Mitglied des Club of Ro me und gebürtiger Italiener. Er sah, was auf ihn zukam, und tauchte in Rom unter. Aber sie bekamen ihn.“ „Auf welche Weise?“ „Als Leiche.“ „Tot ist er nicht viel wert.“ „Das eben läßt uns stutzen.“ Tim Muriel erfuhr in groben Zügen, was mit dem ItaloRussen geschehen war. „Bei einem Strandlauf, sehr früh am Morgen, südlich Ostia, muß er sich so erhitzt haben, daß er kurzentschlossen hinausschwamm. Herzinfarkt“ „Oder vergiftet durch diese Dreckbrühe vor der Küste.“ „Das schaue ich mir jetzt an.“ Wenn es sich einrichten ließ, war Tim Muriel gerne gutgläubig. Aber von berufswegen war, er eigentlich mißtrauisch. „Wegen einer Leiche allein fährst du nicht nach Rom.“ „Die Leiche kommt so verdammt auf Bestellung“, erklärte Urban. „Außerdem hörte ich, daß Sarrasanew am Tag seines Todes um politisches Asyl bitten wollte.“ „Das besagt wenig.“ „Oder alles.“ „Du bist so vermessen und glaubst, daß du aus dem Dunstkreis einer Leiche noch soviel Partikel herausfiltern könntest, daß sie zu einer Spur werden?“ „Mit Candy Philips fing’s an. Ich hörte nicht auf sie“, bedauerte Urban. „Mit einem verdorrten Viereck im Wald ging es weiter. Möglicherweise beunruhigt es uns völlig grundlos.“ 44
„Und der Plastiksprengsatz warnte dich, auch nur einen Schritt weiterzugehen.“ „Ich gehe ja nicht weiter“, sagte Tim. „Du gehst.“ „Mich hat ja keiner gewarnt“, erwiderte Urban. „Wenn nicht gemeinsame Interessen auf dem Spiel stünden“, sprach Tim Muriel ins Mikro, „würde ich sagen, daß derjenige, der den Problemen hinterherrennt, unvernünftig handelt.“ „Das ist es“, bestätigte Urban aus 600 Kilometer Entfernung. „Der rechte deutsche Mann handelt nicht aus Vernunft, sondern aus Überzeugung.“ „Wir sehen uns in Rom“, gab der Amerikaner noch durch, war aber nicht sicher, ob Urban ihn verstanden hatte. Trotz Superelektronik hatte möglicherweise ein Sommergewitter in der Po-Ebene die Verbindung zusammenbrechen lassen. * Der Besucher aus Deutschland sprach so perfekt ihre Sprache, daß die Leichenwärterin mißtrauisch wurde. „Ist er nicht im Tode noch ein schöner Mann?“ fragte sie ausweichend. „Wahrhaftig“, pflichtete ihr Bob Urban bei. Es hatte ihn große Mühe gekostet, bis hierher vo rzudringen, aber er hatte es geschafft, wenn er jetzt auch verdammt fertig war. Hinzu kam noch der Geruch nach Tod und Verwesung in dem gekalkten Kellerraum, und die Augen dieser Frau, die einen ständig zu mustern schienen, ob man eine stattliche Leiche abgab oder eine weniger attraktive. „Wie lange liegt er hier?“ erkundigte sich Urban. Er hatte der Frau im weißen Nylonkittel zehntausend Lire in die Hand gedrückt und rechnete mit brauchbaren Auskünften. „Drei Tage. Morgen muß er weg. Zur Bestattung. Das ist Gesetz.“ 45
„Wurden schon diesbezügliche Anordnungen getroffen?“ „Ich glaube, ein Angehöriger kümmert sich darum.“ „Sein Bruder“, erwähnte Urban. „Sicher haben Sie die Adresse.“ „Schon möglich.“ „Wird er in Italien beerdigt?“ „Warum nicht. Er soll ja Italiener sein.“ „Aber sowjetischer Staatsbürger ist er auch“, ergänzte Urban. „Vielleicht „überführt man die Leiche nach Moskau.“ „Dachte mir schon so was“, gestand die Leichenwärterin. „Seine Klamotten kamen mir wenig italienisch vor.“ „Inwiefern?“ wollte Urban wissen. „Allein schon das Schuhwerk“, sagte die dunkelhaarige, etwas zur Korpulenz neigende Signora. „Vorne rund wie ein Rosetta-Panino, wie eine Semmel, verstehen Sie. So was war hier vor fünf Jahren die Mode. Seine Brieftasche war aus Plastik, der Anzug bestimmt nicht aus Schurwolle, und das Hemd hatte Streifen. Ich bitte Sie, wer trägt heute noch Streifen.“ „Und was schließen Sie aus alledem?“ forschte Urban weiter. „Wer die Überführung der Leiche nach Moskau bezahlen wird. Das war doch ein armer Schlucker, war das. Na und sein Bruder erst, über den hat’s der Herr auch nicht mit beiden Händen geschüttet“ „Kann ich die Schuhe sehen?“ fragte Urban. „Da müssen Sie schon zur Polizia gehn.“ Damit hatte Urban in diesem Stadium des Falles nichts im Sinn. Notfalls hätte er den Umweg über den italienischen Geheimdienst gemacht. Aber um Sifa einzuschalten, sah er noch keinen Grund. Die Wärterin der Leichenhalle des Badeortes Lido di Ostia war der Annahme, daß der Besucher mit fragen fertig sei. Sie wollte die Leiche schon wieder abdecken. Aber Urban war erst am Anfang. „Entdecken Sie besondere Kennzeichen an ihm?“ 46
„Pronto. Ein Aal hat ihn wohl ein bißchen angeknabbert. Der Gerichtsmediziner meinte zwar, es könne sich auch um eine Verletzung handeln, herbeigeführt durch einen messerähnlichen Gegenstand, aber soviel wie der Dottore verstehe ich auch. Ich mache das Geschäft seit dreißig Jahren. Schon als Bambino ging ich meiner Mutter beim Leichenwaschen zur Hand. Und wie lange, frage ich Sie, betreibt der Dottore sein Geschäft?“ „Keine Ahnung. Wirklich“, gestand Urban. Sie hob eine Hand und hielt ihm vier Finger entgegen. „Vier Jahre“, rief sie. „Vor vier Jahren wärmte er mit seinem Hintern noch die Bänke der Universität Bologna. Und Pathologe wurde er, weil er im Examen zweimal durchrauschte. Glauben Sie mir, der Mann hat keine Ahnung. Die Stelle an der Schulter stammt nicht von ‘nem Messer. Was sollte schon ein Messer dort an der Schulter. Außerdem stirbt man nicht durch einen mickrigen Messerstich.“ „Woran starb er denn?“ Als sei die Gramophonplatte abgelaufen, gab die Frau keinen Ton mehr von sich. Urban zog mit einem zweiten Zehntausender das Gramophon wieder auf. „Na, ersoffen ist er.“ „Aber er war vollständig angekleidet. So geht doch keiner schwimmen“, wandte Urban ein. „Der konnte vielleicht gar nicht schwimmen.“ „Dann geht er erst recht nicht angekleidet ins Tiefe.“ „Und wenn er mit einer Barca, mit einem Kahn hinausfuhr?“ Das klang logisch. „Wo ist dann der Kahn?“ „Was weiß ich, Signore.“ „Wurde wohl abgetrieben.“ „Hier wird alles an den Strand gespült, Signore. Treibholz, die Teerrückstände der verdammten Tanker, tote Fische, tote Männer und auch Barcas, mein Herr.“ 47
„Die Zeitung schrieb, daß er dabei einen Herzschlag erlitt.“ „Pronto, kann sein. Aber warum schrieb die Zeitung davon? Zwischen Gregene und Ostia ertrinken immerzu Leute, ohne daß die Zeitungen jemals darüber schreiben.“ „Er ist ein Professor.“ Sie schüttelte verächtlich die Hand. „Professoren fahren bei uns schon den Müll ab.“ Urban wußte nicht, woran es lag, aber er kam nur schwer zurecht mit dieser Frau. Wahrscheinlich hatten ihn die tausend Kilometer von München bis Rom zu sehr erschöpft. Wer so müde war wie er, sollte schlafen und nicht weitermachen. „Letzte Frage“, sagte er. „Was, noch eine?“ zischte die Leichenfrau. „Signore, ich habe drüben zwei Unfalltote unter dem Schwamm. Die sollen in einer Stunde aussehen wie Romeo und Julia. Also beeilen Sie sich prego.“ „Bei Ihrer Erfahrung“, fing er neu an, „Ich meine, wie lange war er schon tot?“ „Nicht mehr warm, wenn Sie das meinen.“ „Also ausgekühlt.“ „Sogar sehr. Eigentlich müßte er länger im Wasser gelegen haben als er lag.“ „Was sind die Merkmale von Wasserleichen die schon sehr lange treiben?“ „An diesem Strand sind es die Verunreinigungen. Sie setzen sich auf der Haut fest, im Haar, in den Augen.“ „Molte grazie“, sagte Urban. „Geben Sie mir noch die Adresse seiner Angehörigen.“ * „Sie haben den Toten identifiziert“, begann Urban. „Woran erkannten Sie ihn?“ „Am Gesicht“, erklärte Vincenzo Sarrasani unfreundlich. 48
Er bewohnte ein altes Haus in einem südlichen Vorort Roms. Im Hof neben dem Haus stand ein rostiger Fiat. Signore Sarrasani ging es wohl nicht besonders gut. Diesmal spulte Urban den Fall nicht beim Ende auf, sondern beim Anfang. „Wie lange war Ihr Bruder schon nicht mehr in der Heimat?“ „Dreißig Jahre. Was soll die Fragerei, verdammt?“ „Und Sie sind sicher, daß die Leiche von Ostia Lido Ihr Bruder Piero ist?“ „Schließlich hing er ‘ne Woche lang bei mir nun. Das genügt doch, oder? Sie halten mich auf, Signore, ich muß weg.“ Damit schob er Urban beiseite, eilte über den Hof und lud Schamottsteine, einen Kübel mit Lehm und einen Papiersack hinten in den Kombi. „Sie sind Ofensetzer?“ fragte Urban. „Kaminbauer bitte“, verbesserte der unfreundliche Italiener und wischte die Hände an der Hose ab. „Ich frage Sie, wovon lebt ein Kaminbauer heutzutage, wo es nur noch Ölheizungen gibt. Und wovon lebt er erst im Sommer, wo es heiß ist. Dann kommt noch so ein ungebetener Fresser daher, dem die Spaghetti zu lang und der Wein zu sauer sind.“ „Ihr Bruder befand sich in Not, sonst hätte er Sie nicht belästigt.“ „Wäre er doch in Rußland geblieben.“ „Er war ein bekannter Wissenschaftler.“ „Si, drüben in Moskau. Über das, was einer in Moskau ist, kann man mir viel erzählen. Als er hier, in Frascati, aufkreuzte, hatte er nicht einen Knopf in der Tasche. Großer Mann in Moskau, daß ich nicht lache.“ Der Bruder Sarrasani schob sich auf das zerschlissene Polster seines alten 1500er und ließ an. Aber der Motor kam nicht. Dafür stank es nach Benzin. „Abgesoffen“, schimpfte er. Das bedeutete, daß er ein paar Minuten warten mußte. Er 49
wollte sich eine Nazionale anstecken, aber auch das Feuerzeug tat es nicht. Urban gab ihm Streichhölzer. „Hätten Sie zufällig ein paar Lire?“ fragte Sarrasani. „Ich muß gleich tanken.“ Urban zog einen größeren Schein aus der Rolle. „Der Tote ist also Ihr Bruder?“ „Wer sonst. Und jetzt habe ich nichts wie Ärger am Hals. Die Beerdigung, was das kostet. Und keine Antwort auf mein Telegramm nach Moskau. Dabei bin ich nur der Stiefbruder, der Sohn aus erster Ehe vom alten Erzkommunisten Sarrasani. Uns arme Würmer ließ er zurück, als er abhaute, damals unter Mussolini.“ Urban faltete den Schein und steckte Ihn zwischen zwei Finger. „Von hier nach Ostia“, rechnete Urban, „das sind knapp fünfzig Kilometer.“ „Eher ein paar weniger.“ „Wie kam Ihr Bruder dorthin?“ Der Kaminbauer grinste. „Er war schon dort“, sagte er. „Sind Sie aber neugierig. Polizia criminale?“ Statt einer Antwort reichte ihm Urban den Schein. Der Kaminbauer klemmte ihn hinters Ohr wie einen Bleistift. Urban fragte weiter: „Piero wohnte also nicht mehr bei Ihnen?“ „Ich schmiß ihn raus“, erzählte der andere Sarrasani. „Meine Frau ist erst dreißig und ganz gut bei Figur. Sie verstehen. Und wer weiß, auf welche Ideen Frauen kommen, wenn der Mann nicht im Haus ist. Sie hätte noch Lust darauf bekommen, den Bruder vom Bruder auszuprobieren.“ „Wo in Ostia wohnte Piero?“ erkundigte sich Urban. „Von wohnen kann keine Rede sein. Er versteckte sich. Sie waren ja hinter ihm her.“ „Wer?“ 50
„Irgendwelche Leute.“ „Wo versteckte er sich also?“ „In einer Hütte. Sie gehört meinem Schwager. Ich darf sie mitbenutzen. Zum Baden, Fischen, mal fürs Wochenende im Sommer, wenn es hier zu heiß wird.“ „Sie haben sicher einen Kahn dort.“ „Nur ein Schlauchboot. Ich sagte zu Piero noch, das Ding taugt nichts. Die mittlere Kammer verlor immer Luft.“ „Das Boot ist weg. Stimmt’s?“ „Und ein guter Schwimmer war er auch nicht.“ „Sie glauben also, daß er ertrunken ist.“ „Klar doch, was denn sonst. Dieser Vollidiot. Entweder man versteckt sich, oder man hängt sein Gesicht im Freien rum. Nachts raus mit dem Boot und am Morgen tot am Strand, das sieht ihm ähnlich. Im Hirn ein Genie und von der Praxis des Lebens keine Ahnung.“ Sarrasani ließ wieder an. Zögernd kam der Motor. Mit raschen Gasstößen hielt der Kaminbauer ihn am Leben und brachte ihn tatsächlich zu einer Art rundem Lauf. „Muß weg“, rief er. „Moment noch. Wo ist die Hütte?“ „Finden Sie ja doch nicht, Mann.“ „Ich will’s versuchen.“ „Spurenleser, he. Na, meinetwegen. Fahren Sie nach Lido di Ostia, den Strand entlang nach Süden, bis er aufhört und das Ufer steil wird. Über den Abwasserkanal weg, an der Mullkippe vorbei durch das hohe Gras. Das war mal Sumpfgebiet früher. Dann ist es die erste, zweite, die dritte Hütte. Die mit dem Funkenschutz auf dem Schornstein.“ Er tippte an die Schläfe, gab Gas, fuhr an und haute erst im Fahren die Tür zu. Zweimal, weil sie beim ersten Mal wi eder aufsprang. Urban hielt vor dem nächsten Albergo, nahm ein Zimmer und schlief Minuten später angezogen auf dem Bett ein. 51
Nachdem Robert Urban um Mitternacht das Abendessen eingenommen hatte, kalten Schweinebraten, abgesäbelt von einer gegrillten Sau, Frascatiwein, dazu Käse und Oliven und später einen Kaffee, war seine Welt wieder in Ordnung. Das Programm aber auf den Kopf gestellt. Um 02 Uhr morgens fuhr er nach Ostia. Kurz nach drei Uhr parkte er den BMW südlich von Lido, wo der Strand schmal wurde und man nicht mehr weiterkam. Im Coupé eine Zigarette rauchend wartete, er die Dämmerung ab. Laut Kalender war der Sonnenaufgang um vier Uhr fällig. Es dauerte hier wohl länger bis die gleißende Kugel herauskam, denn das Land im Osten war hügelig und stieg apenninwärts an. Urban genügte schon das erste Morgengrauen. Er fand den Kanal, aber keine Brücke. Auf einem bogenförmig gekrümmten Wasserrohr balancierend überquerte er ihn. Über der Müllkippe kreisten die ersten hungrigen Möven und stritten sich kreischend um Abfälle. Urban bahnte sich den Weg durch das ehemalige Sumpfgebiet. Was Sarrasani als Gras bezeichnet hatte, war Schilf mit messerscharfen harten Rändern. Über den braunen Blattspitzen tauchte ein Dach auf. Die erste Hütte. Ein klappriger Steg, Kistenbretter auf Stangen, die man wieder auf hölzerne Pfosten genagelt hatte, führte zur nächsten Hütte. Von dort gab es einen matschigen Pfad, der durch das Schilf zur dritten Hütte führte. Sie lag etwa zweihundert Meter entfernt und war wohl die letzte hier draußen. Ihr Schornstein wies einen Funkenschutz aus rostigem Blech auf. Die Hütte selbst war mehr ein Blockhaus und stand auf Pfählen. Der Abstand vom Hüttenboden zu den modrigen Salzwasserlachen betrug etwa einen Meter und fünfzig. Im Winter und bei Westwind stand das Meer wohl etwas höher herein. Dazu kamen noch die Gezeiten, die hier etwa vierzig Zentimeter ausmachten. 52
Im Moment jedenfalls herrschte Ebbe und kein Wind, und geregnet hatte es auch schon lange nicht mehr. Das Vorhängeschloß war eingehängt, aber nicht versperrt. Im Italien der Diebe war das neuerdings so üblich. Man sperrte auch Autos nicht mehr ab. Dadurch vermied man, daß die Scheiben eingeschlagen wurden. Allerdings ließ man nichts in den Autos zurück und die Lenkräder schloß man mit dicken Ketten an Bodenösen fest. Das Innere der Hütte war einladend wie ein Abfalleimer. Vom Schmutz und Unrat abgesehen, bestand die Einrichtung aus zwei pritschenartigen Bettgestellen mit fleckigen Matratzen, einem Tisch, zwei Bänken, einem zerschlissenen Liegestuhl und einem Grillofen. Beleuchtet wurde die Pracht mittels einer Petroleumlampe. Im Vorraum stand links ein ausgedienter Blechspind. Inhalt Angelzeug, Gummistiefel und eine Korbflasche voll Ro twein. Daneben war das Klo. Ein Brett mit Loch. Darunter ein Kanister, etwa halbvoll. Das Ganze sah nach Landstreicherbehausung aus. Die Asche im Grillofen knirschte, wenn man sie zwischen den Fingern rieb, war also kaum durchgefeuchtet und demnach ziemlich frisch. Vor wenigen Tagen war hier noch Feuer gemacht worden. Im Ascher, einer aufgeschnittenen Wurstdose, lagen Kippen von Selbstgedrehten. Unter dem Bett fand Urban ein paar Latschen, mit Loch in der linken Sohle. Als Versteck war die Hütte wirklich nur mittelprächtig. Und Spuren, die auf die Anwesenheit des Professors Piotr Sarrasanew hingedeutet hätten, entdeckte Urban beim besten Willen nicht Im deutschen Sprachgebrauch nannte man so einen Besuch: Für die Katz.
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Immer wenn Bob Urban den Wunsch hatte aufzugeben, fing er erst richtig an, als sei das Aufkommen des Wunsches ein inneres Signal dafür, daß man nur mit Verbissenheit ans Ziel kam. Doch nützte in diesem Fall Verbissenheit wenig. Lediglich die Ausgabe des Popolo di Roma vom Neunzehnten zog Urban unter der Matratze hervor. Die Zeitung war gut eine Woche alt. Er blätterte sie durch. Am letzten Freitag hatten die Redakteure des Blattes große Mühe gehabt, eine gute Zeitung zu drucken. Weder politisch noch wirtschaftlich noch im Sport oder bei der High-Society hatte sich viel ereignet. Nichts an der Zeitung deutete darauf hin, daß der Mann, der sich hier versteckt gehalten hatte, sie aus einem anderen Grund aufhob, als um Feuer damit zu machen. Auf der vorletzten Seite des Offertenteils wies das Blatt in der Mitte ein Loch auf. Vielleicht hatte jemand ein daumengliedgroßes Stück herausgefetzt. Gewiß war es nur Zufall. Das Stück fehlte an der Knickstelle. – Beim Zusammenschnüren der Zeitungsbündel kam es hier leicht zu Beschädigungen des Papiers. Es war die Seite, auf der Dienstleistungen verschiedener Art angeboten wurden. Urban konnte sich nicht mehr darum kümmern, denn plötzlich stank es verdächtig nach Benzin. Woher kam das? – Eine Raffinerie war nicht in der Nähe. Windstille herrschte auch und nirgendwo hatte er einen Kanister mit Motorbootsprit gesehen. Daß Super vom Himmel regnete, passierte höchst selten. Urban trat ans Fenster. Nichts zu sehen. Vorsichtig näherte er sich der Hüttentür. Langsam öffnete er sie. Sie ging nach innen auf und schliff ein wenig, weil sie sich verzogen hatte. Er riskierte es, den Kopf hinauszustecken. Ein Schuß fiel. Die Kugel pfiff schneller vorbei als der Abschuß zu hören war. 54
Urban hatte genug gesehn. Den Fußpfad vom Schilf herunter rann etwas. Es hatte sich schon über die Holzveranda ausgebreitet, hatte die Pfähle der Hütte benetzt, sie durchdrängt und stank penetrant wie Tankstelle. Ein Funke genügte, und eine Flammenwand zuckte empor. Urban schnippte die Zigarette weit hinaus in den Sumpf. Wie lächerlich diese Vorsicht war, erkannte er Sekunden später. Weit oben im Schilf zischte ein Streichholz. Blitzschnell raste ein Feuerband dem Benzinrinnsal folgend auf die Hütte zu, breitete sich aus wo immer Benzin war und waberte hoch. Die Hütte brannte sofort lichterloh und Urban stand mitten drin. Verdammt, er war nicht Siegfried, der Gehörnte, der unangefochten vom Feuer durch die Lohe ritt. Mit einem Hechtsprung in Richtung Schilf und Salzmorast versuchte er sich zu retten. Noch im Flug pfiffen die Kugeln einer Maschinenpistole um ihn herum. 6. In Paris trafen sich zwei Herren. In dem kleinen aber exklusiven Restaurant Aurore, nahe dem Boulevard Saint-Michel speisten sie zu Abend. Ihre Leibwächter hatten sie draußen vor der Tür gelassen. Sie legten Wert auf Inkognito. Deshalb redeten sie sich auch meist mit Vornamen an. „Sie haben sicher gehört, Gerald“, begann der Amerikaner, „daß in Wien dieser komische Vertrag unterzeichnet werden soll.“ „Sie meinen Salt II“, bemerkte der deutsche Geheimdienstbeamte. Byrd Roberts, einer der einflußreichsten Männer im amerikanischen Senat, nickte. 55
„Es wäre der erste Abrüstungsvertrag seit Bestehen der Menschheit, der funktionieren würde.“ „Ihr Präsident glaubt aber daran.“ „Er ist leider unfähig, die Lage zu beurteilen. Was mich aber wundert, ist die Tatsache, daß Ihr Kanzler auch daran glaubt.“ Der Deutsche lächelte. „Für ihn ist das reine Politik und nicht etwa Überzeugung!“ Nun begann der Amerikaner aufzuzählen, welche Verträge dieser Art schon gescheitert waren. „Die Griechen schworen den Persern Frieden, bauten heimlich eine Flotte und besiegten sie. Ähnlich verfuhren die Germanen mit den Römern, die Engländer mit den Spaniern. Zar Alexander schlug im Siebzehnten Jahrhundert Lord Castlereagh den Abbau der Streitkräfte vor und Zar Nikolaus lud gar die Großmächte zur ersten Haager Konferenz ein. Nie fand eine echte Abrüstung statt. Immer wurden im stillen Kämmerlein die langen Messer gewetzt.“ Der Kellner trug die Aperitifgläser ab und servierte Suppe. Sie war sehr heiß. „Der Wiener Vertrag soll eine Art Jahrhundertwerk werden“, erwiderte der Deutsche. „Die Paragraphen wurden auf mehr als dreihundert Sitzungen bis ins Kleinste ausgehandelt.“ Der Amerikaner löffelte genüßlich die Gratine. „Ja, man rang um jedes Komma. Alles nur zum Schein. Nichts als Bluff von Seiten der Russen.“ „Mag sein. Moskau müßte immerhin zwanzig Dutzend seiner Interkontinentalraketen verschrotten.“ „Die können sie sowieso wegwerfen, diese uralten ICBM’s. Aber noch bleiben ihnen achthundert neue Raketen mit Mehrfachköpfen und insgesamt 6000 Atombomben. Davon spricht niemand. Nach Berechnungen des Pentagon können die Russen den Erstschlag ohne Furcht vor Vergeltung führen.“ 56
„Noch treffen sie nicht sehr genau“, wandte der Geheimdienstdirektor ein. „Vor zwei Jahren“, erklärte der Senator, „schossen die Russen im Durchschnitt neun Kilometer daneben. Mitte der Achtziger treffen sie schon auf hundert Meter genau.“ „Und amerikanische Feuerleitsysteme, Senator, treffen auf fünfzehn Meter genau, behauptet man. Speziell die der neuen Marschflugkörper, die in 50 Meter Höhe unortbar über Land sausen.“ „Nur haben wir zu wenige davon.“ „Aber der technologische Vorsprung bleibt.“ „Er verkürzt sich laufend“, bedauerte der Senator. „Was immer wir anpacken, die Russen ziehen nach.“ „Mit Verspätung.“ Der Senator aß die Zwiebelsuppe nur halb. Sie war nicht mehr heiß genug und offenbar auch mit Verspätung serviert worden. Statt dessen formte er Weißbrotkügelchen und stellte sie in Gruppen auf. „Schauen Sie sich doch die Zahl der sowjetischen AtomU-Boote an, Gerald.“ Der Deutsche zeigte sich jedoch vorzüglich informiert. „Vor wenigen Tagen lief in Connecticut der gigantischste U-Kreuzer der Welt von Stapel Die Ohio. Fast 20 000 To nnen schwer. Der erste einer Zwölferserie. Er ist größer, schneller und kampfkräftiger als alles, was sich bisher unter Wasser bewegte. Macht 50 Meilen, kann monatelang getaucht operieren, und da sprechen Sie von russischer Übermacht zur See.“ Statt Weißwein kam jetzt roter. Dann der Fleischgang. „Und Ihre Neutronenbombe“, fuhr der Deutsche fort, „ist das etwa nichts?“ „Und der russische Back-Fire-Bomber, gegen den wir nichts haben? Und ihre neuen mobilen SS-18/19-Raketen?“ Das Kalbsfilet war butterzart, die Pilze frisch und aromatisch. Zwischen zwei Gabeln zitierte der deutsche Gesprächs57
partner des Senators einen Spruch des USPräsidenten. „Keine Macht auf Erden ist heute stärker als die Vereinigten Staaten. Keine Macht wird in Zukunft stärker sein als die Vereinigten Staaten. Etwas anderes wird für die Vereinigten Staaten niemals akzeptabel sein. – Zitat Ende.“ „Das ist, gelinde ausgedrückt, Augenwischerei.“ „Und deshalb sind Sie gegen den Vertrag.“ „Ich und viele meiner Senatskollegen und weitere 167 Organisationen, die die Mehrheit unserer Bevölkerung repräsentieren, bekämpfen ihn.“ Sie legten eine Pause ein und steckten sich vor dem nächsten Gang Zigaretten an. Dann senkte der Amerikaner auffallend die Stimme. „Und wie, zum Teufel, soll die Einhaltung des Vertrages überprüft werden? Wie ist er verifizierbar? – Alle unsere Horchposten im Iran sind ausgefallen. Wie sollen wir je wissen, ob sich die Sowjets wirklich an die Bestimmungen des Vertrages halten. Einfach trauen möchte ich diesen Burschen denn doch nicht.“ „Angenommen“, sagte der deutsche Geheimdienstmann, „die Russen entwickeln etwas Neues, dann müssen sie diese Waffe auch testen. Spätestens beim dritten Test merken wir was los ist. Wir schlafen doch nicht, oder? Wir verfügen immer noch über Agentennetze, Satelliten und einige Me ßgeräte rings um die UdSSR herum.“ Daraufhin schwieg der Senator. Er schwieg bis zum Dessert. Selbst beim Mokka hatte er noch kein Wort geäußert. * Später, als sie an die Bar gingen, um einen Magenbitter zu nehmen, faßte der Senator seinen deutschen Freund bei der Schulter. „Ich habe bisweilen eine Schreckensvision“, gestand er. „Daß der sowjetische Generalsekretär trotz Salt auf den 58
Knopf drückt und tausend Interkontinentalraketen sausen in Richtung Amerika?“ „Schlimmer.“ Der Deutsche versuchte durch einen Schuß Ironie das Gespräch aufzulockern. „Oder haben Sie Angst, die Russen könnten Ihre supergeheime Laserabwehrkanone gegen anfliegende Raketen nachbauen?“ „Noch schlimmer.“ „Ihren neuesten Killer-Satelliten abschießen?“ „Viel schlimmer, Gerald.“ „Was ist schlimmer als das?“ „Das Unbekannte“, flüsterte der Senator. „Neue, uns unbekannte Varianten im Rüstungswettlauf.“ Dem Geheimdienstmanager war bekannt, daß die Amerikaner am meisten von jenen Dingen beunruhigt wurden, die sie nicht durchschauten, die sie nicht zu analysieren vermochten, bei denen sie einen technischen Vorsprung anderer befürchteten. „Sie denken an diese Neuentdeckung in Sibirien.“ „Ich hörte Schlimmes aus dem Department.“ „Die Russen ziehen ihre besten Köpfe zusammen. Wer will es ihnen verbieten.“ „Verdammt, da läuft doch etwas“, fluchte der Senator. „In Wien unterschreiben sie Verträge, und in Sibirien baldowern sie eine noch nie dagewesene Waffe aus. Glauben Sie mir, Gerald, so läuft das. Deshalb darf in Wien nicht unterzeichnet und in Washington nicht ratifiziert werden.“ „Ehe wir darüber Bescheid wissen, was die Russen planen.“ Plötzlich, als wäre er sehr zornig, lief der Senator rot an. „Warum wissen wir es nicht?“ fragte er, jedes Wort einzeln betonend. „Die ersten Hinweise tauchten erst vor kurzem auf, Byrd.“ „Wozu bezahlen wir denn unsere teuren Geheimdienste?“ „So kostspielig sind sie gar nicht“, wandte der Deutsche 59
ein. „Der BND frißt hundert Millionen im Jahr und was kostet die Entwicklung eines Mehrfachsprengkopfes und eines Interzeptors. – Milliarden. – Wenn die Dienste besser ausgestattet würden, könnte man auf dem Rüstungssektor eine Masse Geld einsparen.“ Der Senator kippte seinen Fernet Branca. Das brutale Brennen im Schlund ließ ihn ein wenig sanfter reagieren. „Wie alt ist die Information aus Sibirien?“ wollte er wissen. „Die ersten Aufklärerhinweise kamen Mitte des vergangenen Monats.“ „Und was tun die Dienste?“ „Was die CIA unternimmt, ist in Pullach weitgehend unbekannt. Was uns betrifft, so haben wir eines unserer heißesten Tiere angesetzt. Den wirklich besten Mann.“ „Und was erreichte Ihr Bestman?“ „Immerhin nahm er in Rom eine Spur auf, die Spur eines Mikrobiologen der Moskauer Universität, der gewaltsam nach Hause geholt werden sollte, sich aber in Rom versteckte.“ „Fand man ihn?“ „Er ist leider tot.“ , „Was soll dann das Ganze?“ „Wir vermuten, daß sein Tod getürkt wurde, damit die Entführung nicht auffällt.“ Der Senator hatte nur Spott dafür übrig. „Schön, Sie haben einen falschen Toten. Und weiter?“ Der Geheimdienstbeamte schaute auf seine Cartier-Uhr. „Die nächste Meldung trifft erst in sechs Stunden ein. Unser Mann in Rom ist sehr effektiv. Ich denke, daß wir weiterkommen, wenn auch mit kleinen Schritten.“ „Geben Sie Druck“, riet der mächtige US-Senator seinem deutschen Freund. „Ich gebe auch Druck. Was die Russen vorhaben, womit sie uns diesmal aufs Kreuz legen wollen, das müssen wir herausfinden. Ich möchte endlich wieder 60
ruhig schlafen können. Ja, das möchte ich verdammt gerne, zum Teufel noch mal.“ Der Deutsche bezahlte bar, der Amerikaner mit Kreditkarte. Dann gingen sie. Kaum hatten sie das Lokal verlassen und waren dreißig Meter den nächtlichen Boulevard hinuntergeschlendert, tauchten hinter ihnen Gestalten auf. Limousinen setzten sich in Bewegung, um ihnen lautlos im Schrittempo zu folgen. Ihre Leibwache hatte sie wieder. 7. Bob Urban lag im Sumpf und hörte, wie sie ihn suchten. Während die Bootshütte langsam niederbrannte, streiften zwei Männer durch das Schilf. Mit langen Stöcken machten sie es an verfilzten Stellen nieder. Nistende Vögel schwirrten auf. Hin und wieder riefen sich die Männer etwas zu. Was sie sagten, konnte Urban nicht verstehen. Aber er orientierte sich danach und wechselte seine Position laufend. – Das war insofern schwierig, als sich das Schilf dabei nicht bewegen durfte. Zwangsläufig zog er sich dorthin zurück, wo es weniger dicht stand, und erreichte schließlich das Wasser. Wie ein Krebs robbte er ins Tiefe und schwamm Richtung Norden. Das Wasser war in hohem Grade verschmutzt, hatte aber noch so viel Reinigungskraft, daß es ihm den Schilfmoder herunterwusch. Als er bei seinem BMW ankam, stand ihm das Mittelmeer noch in den Schuhen. Im Koffer hatte er immer Ersatzhose und Ersatzhemd. Da die Luft rein war, kleidete er sich rasch um und fuhr weg. Bei der ersten Zigarette nach dem Feuerzauber wurde ihm klar, daß sein Verdacht in bezug auf den Toten nicht nur theoretisch war. Woher sollten die Brandstifter wissen, wohin er sich begab, wenn nicht vom Sarrasani-Bruder? Sie 61
waren ihm gefolgt, um seine Nachforschungen abzuwürgen. Also gab es etwas nachzuforschen. Vielleicht war der Wissenschaftler sogar noch in der Stadt. * Als Urban sein Hotelzimmer betrat, saß ein Mann auf dem schmalen Balkon und schlürfte aus einem Glas wasserhelle Flüssigkeit mit Eis. „Whisky“, rief er, „ist nicht überall gut. Der Wodka schon. Ein schlagender Beweis dafür, daß die Russen weltweit im Vormarsch sind.“ „Bourbon ist komplizierter herzustellen“, meinte Urban. „Daran liegt es.“ Tim Muriel rauchte eine Zigarette, deren Orientduft Urban bekannt vorkam. Der Amerikaner hatte sich aus seinem MCVorrat bedient. „Schon da?“ fragte Urban. „Ging ja schnell, Herr Hofrat.“ „Helikopter“, sagte der CIA-Funktionär, der es sich nicht nehmen ließ, den Finger am Puls des Geschehens zu halten. „Wie kommst du voran? Haben sie dich durch die Waschmaschine gedreht?“ „Leider vergaßen sie den Schleudergang“, antwo rtete Urban, hängte den nassen Sakko auf den Bügel und den Bügel in die Brise am Balkon. Tief unter ihm lag Rom im goldenen Licht der Morgensonne. Urban berichtete Tim, was er erlebt hatte. „Ergebnis null“, kommentierte der Amerikaner. „Besorg’ mir eine Zeitung“, bat ihn Urban, „die vom letzten Freitag. Nimm sie irgendwoher.“ „Wegen des Loches darin?“ „Und wenn er doch etwas rausfetzte?“ „Wer?“ „Der Typ in der Hütte.“ „Du sprichst besser Italienisch, besorg sie dir selbst.“ 62
„Aber ich bin hundemüde.“ Der Amerikaner machte sich auf die Socken. Nach zwei Stunden kam er fluchend wieder. „Die Nummer ist nirgends mehr zu kriegen. Vergiß nicht, wie lange das her ist.“ Urban grinste und zeigte ihm die Freitagausgabe des Popolo. Muriel stöhnte. „Du nervst mich, Mann. Woher hast du das Käseblatt?“ „Als du weg warst, ging ich runter, um eine Flasche Wein zu holen. Da lag sie herum. Entschuldige, daß ich Glück hatte.“ „Na schön. Und was steht drin?“ Urban deutete auf die Seite mit den Annoncen. Dort, wo sich seiner Meinung nach bei der anderen Zeitung das Loch befunden hatte, hatte er mit Kugelschreiber einen Kreis gezogen. Tim Muriel las die Anzeige. „Ist das die Annonce?“ „Bin sicher.“ „War er krank?“ fragte Tim grinsend. „Weiß nicht.“ „Wozu riß er sich dann die Adresse einer Masseuse aus?“ „Was verstehst du schon von Massieren.“ „Es ist ein medizinisches Heilverfahren. Hatte damit zu tun, als ich mir mal das Schlüsselbein brach.“ „Sarrasanew suchte wohl eine andere Art von Massage, als die auf Krankenschein. Und er fand gewiß die richtige.“ Der Amerikaner studierte die Anzeigen rundherum. Alle waren sie eindeutig. Fotomodelle boten Hausbesuche an, Kavaliere desgleichen. Andere nannten nur Hautfarbe, Alter und Körpermaße. Und natürlich ihre Telefonnummern. „Für einen Hausbesuch war die Hütte in Ostia wohl nicht das Richtige“, bemerkte Muriel. „Also fuhr er hin.“ 63
„Oder nahm es sich zumindest vor.“ Urban zog das Telefon näher, ließ sich von der Padrona eine Amtsleitung geben und wählte. Es dauerte lange bis jemand abhob. Die dunkle Stimme war auf verrucht getrimmt. „Hallo!“ „Hier Sarrasanew“, sagte Urban. „Ach Iwanino“, das Mädchen schaltete sofort, „du rufst an. Freut mich. Bin ich dir so unvergeßlich?“ „Ich träume Tag und Nacht von dir“, gestand Urban. „Warum schaust du nicht vorbei bei piccola Marina.“ „Wann hast du Zeit?“ Sie schien im Terminkalender zu blättern. „Zwischen elf und zwölf ging’s noch. Ich schiebe dich rein, Va bene?“ „Wie war doch noch die Adresse?“ „Iwanino“, tat sie erstaunt, „das hast du vergessen?“ „Nur die Nummer, cara mia.“ Urban bekam die Straße, die Haus- und die Appartementnummer. „Bis gleich“, murmelte er. „He, Iwanchen“, wurde die Nutte stutzig, „sprichst du aus ‘nem Saxophon oder woher? Deine Stimme klingt so anders.“ „Kater“, erklärte er, „der Frascati. War ein bißchen zuviel letzte Nacht. Bis dann, Piccola.“ Er legte auf, blickte Tim Muriel an und wiederholte: „Piccola Marina. Für ein kleines Mariechen ist sie mächtig klever.“ „Soll ich für dich hinmarschieren?“ fragte der Amerikaner. „Dachte du sprichst zu wenig Italienisch.“ „Für eine ostasiatische Massage reicht’s immer.“ „Geht’s denn um die? Denk an Sibirien, Hofrat.“ „O ihr verdammten Preußen“, fluchte Tim Muriel. Manchmal blickte er sogar böse wenn er lächelte.
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Das Appartementhaus lag auf dem Hügel oberhalb der Spanischen Treppe. Außen war es Barock, innen modern, Marmor, Velours und Glas. Piccola Marina, ein schwarzhaariges niedliches Ding mit lustigen Augen, öffnete. Sie hatte ein Neglige an, das in Nabelhöhe lediglich von einem Knopf zusammengehalten wurde, und sonst nichts. Ihre Augen weiteten sich. Sie erschrak offenbar. „Du bist nicht Iwanino.“ Gegen ihren Widerstand trat Urban ein und schloß die Tür. „Kaum“, sagte er. Ängstlich raffte sie den Morgenrock über dem wippenden Busen zusammen. „Sittenpolizei?“ Er lachte. „In diesem Land ist Prostitution verboten. Trotzdem gibt es schätzungsweise eine halbe Million Nutten. Und ausgerechnet um dich, kleiner Spatz, soll sich die Sitte kümmern? Nimm dich nicht so wichtig.“ „Schickt dich etwa Iwanino?“ „Der schickt keinen mehr.“ Ihr Mund öffnete sich. In einer theatralischen Geste nahm sie die Hand vor die Lippen, als gelte es einen Entsetzensschrei zu dämpfen. „Ist er…?“ Urban nickte. „Dann sind Sie von der Mordkommission, Signore?“ „Als ob es auf der Welt nur Polizisten gäbe.“ Urban zog sich einen Hocker vor den kalten Kamin. „Vor vier Tagen war er noch so putzmunter.“ Urban schaute sich um. An der Wand hingen Fotos, Lithographien und Gegenstände, bei deren Anblick man an bestimmten Körperregionen verteufelt wach werden konnte. Die schwarzhaarige Neapolitanerin – er schloß diese Herkunft aus ihrem Singsang-Dialekt – saß auf dem Sofa. Die Beine hoch übereinandergeschlagen, zeigte sie den Ansatz ihres runden Popos. 65
„So ist das Leben“, sagte Urban, „heute noch im Sportcoupé, morgen tut dir nichts mehr weh. Heute noch auf hohen Rossen, morgen durch die Brust geschossen.“ „Erschossen?“ fragte sie hellhörig. „War nur so eine Bemerkung. Nein, er ist ertrunken. In Ostia. Herzschlag. Das Wasser ist noch ein bißchen kalt heuer. Nun haben wir da ein Problem. Es geht um die Identifizierung. Wir sind nicht ganz sicher, ist er es, oder ist er es nicht. Sein Körper weist keine besonderen Kennzeichen auf.“ Sie hatte eine Träne in den Augen. „Ja, er war makellos wie der eines Babys. Weiß und glatt, keine Narbe, kein Muttermal, nicht eine Warze.“ Sie mußte es wissen. Offenbar hatte sie sich ihren Kunden genau angesehn. „Ich dachte, du könntest uns helfen“, fuhr Urban fort. „Woher habt ihr meine Adresse? Ich meine, woher weiß man, daß er bei mir war, wenn er doch tot ist?“ „Die Telefonnummer stand in seinem Notizbuch. Wir klappern sie alle nacheinander ab“, erklärte er. „Er hatte dunkles volles Haar, helle Augen, eine gerade schöne Nase.“ „Mit Sattelnase wär’s leichter“, bedauerte Urban. „Die Leiche wies an der Schulter eine Wunde auf. Aber die wurde ihm wohl irgendwie beigebracht. Sie hilft uns wenig.“ Das Call-Girl schien nachzudenken. „Kannst du uns gar nicht helfen, Maria?“ Es dauerte lang. Endlich gab sie sich einen Ruck und dann ein Betriebsgeheimnis preis. „Ich rede gewöhnlich nicht über die speziellen Wünsche meiner Freier, aber es war zu komisch.“ Urban reichte ihr eine Zigarette. Das Anstecken der MC, der erste Zug, machte sie lockerer. „Na“, fragte er, „was war denn so komisch?“ „Er…“, setzte sie an, „ich…“, fuhr sie fort, „ich mußte ihm ins Ohrläppchen beißen.“ 66
„Eine Liebesgeste.“ „Nein mehr so, daß es ein bißchen weh tut. Er bestand darauf. Das feuere ihn an, behauptete er. Und dann biß ich eben zu.“ Urban deutete auf ihren Mund. „Zeig deine Zähne.“ Sie hatte hübsche weiße Schneidezähne, nicht groß, mehr die von der scharfen Mäusesorte. „Damit hast du also zugebissen.“ „Zu sehr. Es blutete. Aber er fand es prima.“ So ein Ohrläppchen war keine Mundschleimhaut, wo Verletzungen binnen weniger Stunden heilten und gänzlich verschwanden. So ein Ohrläppchen war ein empfindliches Hautgebilde. Ein Biß, der es zum Bluten brachte, hinterließ mit Sicherheit eine Schwellung, eine Entzündung, zumindest eine rötlichblaue Verfärbung. Aber nichts davon war ihm und der Leichenfrau an dem Toten aufgefallen. Entweder war der Tote nicht Sarrasanew, oder der Mann mit dem Ohrläppchenbiß war ein anderer gewesen. Einkreisen ließ sich das nur mit einem Foto. Oder er nahm das Dämchen mit ins Schauhaus. „Genügt dir das?“ fragte sie lispelnd. „Fürchte, ich muß wiederkommen.“ „Privat?“ „Mal sehen“, sagte er und zog ein Kärtchen. Darauf stand eine mehrstellige Telefonnummer. Mit Kugelschreiber schrieb er noch Roberto Urbano dazu. Die Karte gab er ihr. „Für den Fall, daß dir noch etwas zu Iwanino einfällt.“ Sie las den Namen und die lange Nummer. „Das ist aber nicht in Rom.“ „Nicht mal in Italien.“ „Switzerlando.“ „Germania“, erklärte er, „Monaco, München. Ich bin ein Tedesco, Deutscher. Ruf dort an und verlange nach mir. Roberto Urbano. Aber Mund halten, Capito?“ 67
„Ist das teuer, so ein Gespräch?“ „Wir kommen für alle Kosten auf. Und eine Prämie gibt’s extra.“ „Prämie, wofür?“ „Falls wir mit Hilfe der Information unser Problem lösen können.“ Er ließ einen Schein zurück, dessen Höhe einem Halbstundenlohn für ihren Körper entsprach. * Bob Urban verließ die Stadt in westlicher Richtung auf der vierspurigen Schnellstraße nach Ostia. Um die Siestazeit kam er im Schauhaus an. Es war geschlossen. Von einem Mann, der nebenan sein Auto wusch, erfuhr er die Adresse der Leichenfrau. Sie wohnte an der Straße nach Castell Fusano. Urban klingelte sie heraus. Sie war unfreundlich wie immer, aber auf Geld sprang sie voll an. „Sie schon wieder“, rief sie und nahm den Schein. „Kann ich die Leiche noch einmal sehen? Sie wissen schon welche.“ „Geht nicht. Selbst wenn ich wollte. Wurde abgeholt.“ „Von wem?“ „Na von wem, von wem? Vom Leichenbestatter.“ „Name der Firma?“ „War keine hiesige.“ „Sie kennen doch sicher alle.“ „Verdammt, soll ich mich ihretwegen mit Totengräbern in Turin oder Bologna verbrüdern.“ „Er kam also aus Bologna.“ „Keine Ahnung. Er unterschrieb den Wisch und nahm die Leiche mit. Aus. Finito.“ Urban glaubte zuversichtlich, daß es möglich sein müsse, den Weg der Leiche zu verfolgen. Aber wie lange dauerte das, und was brachte es am Ende. 68
„Sie haben sich den Toten doch genau angesehen.“ „Das ist mein Beruf. Man bekommt ein Auge und den richtigen Griff dafür.“ „Hatte er außer der Schulterverletzung noch eine, eine kleine?“ „Wo denn?“ „Am Ohrläppchen.“ Mit großspuriger Geste winkte sie ab. „Er hatte die zartesten Ohrläppchen die man sich denken kann, Signore. Nicht mal Haare waren dran. Keine Spur von Beschädigung.“ „Sie sind sicher?“ „Bei Leichen bin ich wie ‘ne Hebamme. Hebammen erinnern sich an jede Geburt, und ich erinnere mich ans Gegenteil. Schließlich bin ich es, die sie hübsch macht für die Reise ins Jenseits.“ „Danke“, sagte Urban seufzend. „Habe ich Ihnen geholfen, Commendatore?“ „Nein“, sagte er. „Diavolo, warum stören Sie dann meinen Mittagsschlaf?“ Sie ging ins Haus und haute die Tür zu. Er hörte sie noch eine Weile schimpfen. * Tim Muriel fand sofort die dünnste Stelle. „Man sollte diesem Mädchen Marina ein Foto von ihm zeigen, um ihre Aussage abzusichern.“ „Ich habe keines von Sarrasanew.“ „Aber wir“, prahlte Muriel. „Warum rückst du nicht heraus damit?“ „Die Aufnahme erreichte erst gestern Langley. Sie geben sie über Bildfunk nach Rom. Die Botschaft erwartet das Foto jede Stunde.“ Urban duschte und kam naß aus der Brause. 69
„Du kümmerst dich um das Foto“, schlug er vor, „ich nehme mir noch einmal den Stiefbruder vor.“ „Diesen Ofensetzer.“ „Kaminbauer“, verbesserte Urban. „Der Bursche war nicht ganz offen zu mir. Vielleicht ist er es jetzt, weil ich noch lebe, obwohl er zwei Feuerteufel auf meine Spur hetzte. Damit setze ich ihn unter Druck.“ Urban verzichtete auf Wein, der einen bei der Hitze nur zum Schwitzen brachte, und legte sich für eine knappe Stunde hin. „Sollten wir uns nicht beeilen, solange die Suppe noch heiß ist?“ fragte Tim. „Vor 16 Uhr geht in diesem Lande nichts, Herr Hofrat“, sagte Urban. „Die Siestazeit ist ihnen heilig wie bei uns Ostern oder Weihnachten.“ „Jeden Tag Ostern“, murmelte der Amerikaner, „Italiener müßte man sein.“ „Und jeden Tag Spaghetti.“ „Das muß man in Kauf nehmen. Dafür haben sie ve rdammt elegante Weiber.“ Urban hörte Tims Kommentar über Italienerinnen schon nicht mehr. Er schlief ein und erwachte präzise fünfzig Minuten später, ohne im Schlaf auch nur seine Körperposition verändert zu haben. „Du pennst wie eine Marmorstatue“, bemerkte Tim Muriel. „Reine Körperbeherrschung“. Urban stand auf, kleidete sich an und ging weg. Zu dem Ofensetzer war es nicht weit. Der Mann übertrieb die Siesta ziemlich. Das Tor im Bretterzaun war noch zu. Urban versuchte es an der Haustür. Ebenfalls geschlossen. Also ging er um das Anwesen herum, fand hinten ein Loch und erreichte zwischen dem Schuppen und einem Haufen alter Kaminkacheln hindurch den Hof. Unter einem Vordach stand Sarrasanis rostiger Kombi. 70
Auch die Gartentür des Hauses war verriegelt. Es sah nicht aus, als sei Vincenzo Sarrasani nur kurz weggegangen. Urban horchte in der Nachbarschaft herum. Schließlich fand er einen alten Mann unter der Weinlaube vor einem Glas Rosso sitzen. Mit seinem letzten Zahn kaute er Käse und Brot dazu. „Signore Sarrasani wird nicht gleich wiederkommen“, meinte der Nonno. „Ist er verreist?“ „Kann man schon so sagen.“ „Für länger?“ „Er macht Urlaub. Mit Mamma und Bambina.“ „Jetzt, im Sommer, in der Hochsaison für Kaminbauer?“ Der alte Mann lachte lautlos. „Der und Kaminbauer. Dieser Windbeutel ist doch gar nichts. Hat mal als Essenfeger angefangen. Hielt es in keinem Beruf lange aus. Er taugt zu keiner geregelten Arbeit. Ja, die schnelle Lira machen, das würde ihm so passen, dem Tagedieb. Aber dazu ist er zu dumm. – Und plötzlich auf einmal…“ Der Alte beendete den Satz mit Kopfschütteln. „Auf einmal was?“ bohrte Urban, setzte sich und bekam wortlos ein Glas eingeschenkt. Der Alte prostete ihm zu. Urban trank, setzte ab, wartete. Der Alte kaute wieder Brot. Ungeheuer langsam. Urban wurde nervös. „Und plötzlich“, der Alte kicherte, „gewinnt dieses Schwein Vincenzo doch in der Lotteria.“ „Fußball?“ „Hundert Millionen Lire. Haben Sie da noch Töne?“ „Wann kam das heraus?“ „Heute morgen. Und was macht er, der Halunke? Er fährt in die Stadt, holt das Geld, packt den Koffer und braust ab.“ „Also doch Urlaub. Und wo?“ „Noch nie gehört den Ort“, murmelte der Alte. „Hawaio oder so ähnlich.“ 71
Er wird doch nicht Hawaii meinen, dachte Urban. Wenn es wirklich Hawaii war, mitten im Pazifischen Ozean, dann hätte sich Sarrasani keinen Ort aussuchen können, der weiter von Rom entfernt gelegen war. Natürlich hatte der Mann nicht in der Lotteria gewonnen. Mit etwas Geld war er dazu überredet worden, die Stadt zu verlassen. Und das schleunigst – Demnach waren sich die Feuerzauberer von Ostia Lido nicht sicher, ob sie ihn erwischt hatten. Aber für einen NATO-Agenten hielten sie ihn hundertprozentig. „Hawaii“, wiederholte Urban, „das ist aber nicht der nächste Weg.“ „Fährt da der Bus hin?“ wollte der Alte wissen. „Ja, der Bus, der zum Flugplatz fährt“, sagte Urban, trank den Wein aus, dankte und ging. Das Unternehmen Ewige Stadt wurde allmählich zu einem grandiosen Reinfall. * Tim Muriel hatte jetzt das Foto. „Schön bunt auch noch“, rief er strahlend. „Wie ist das möglich? Funkbilder kann man doch nur in Schwarzweiß übertragen. Hat es ein PanAm-Pilot mitgebracht?“ „Das wurde erwogen“, sagte Tim. „Aber es hätte zu lange gedauert. CIA-Headquarters griff auf eine neue Methode vor, die eigentlich noch in Erprobung ist. Man schmuggelte das Foto während einer Fernsehüberspielung von New York nach Europa über den Telsat-Satelliten. Die Sache funktioniert in der Praxis so, daß aus dem gesendeten Film ein einziges Bild herausgeschnitten und durch das Farbfoto, das man unbemerkt übertragen will, ergänzt wird. Bei einer Bildfolge von 24 pro Sekunde nimmt das menschliche Auge das Fremdbild kaum wahr, und wenn, dann nur scheme nhaft. Eine Spezialkamera, die durch Audiosignal rechtzeitig eingeschaltet wird und den Empfängerbildschirm in Zeitraf72
fertempo abfilmt, nimmt das Bild natürlich mit. Sie ist mit Polaroid-Sofortfilm bestückt. Well, und hier siehst du das vergrößerte Ergebnis.“ „Für soviel technischen Klapperatismus“, staunte Urban, „ist es beachtlich gut.“ Sie fuhren damit zu Piccola Marina. Unangemeldet. „Unsere letzte Chance“, sagte Tim, „um den endgültigen Beweis zu führen.“ „Und wenn wir den Beweis haben“, fragte Urban, „was dann, Herr Hofrat?“ Der Amerikaner stellte eine gar nicht so unlogische Kombination an. „Die Manager von diesem römischen Gladiatorenzirkus sind dabei, jede Art von Zeugen für uns, sagen wir einmal, unzugänglich zu machen. Siehe Vincence Sarrasani. Wenn wir nun dem Call-Girl das Foto zeigen und sie erkennt den Professor darauf, dann wandert sie doch bei den Kameraden aus dem Osten auf die Liste.“ „Vorausgesetzt, sie wissen, daß Marina mit Sarrasanew zu tun hatte und daß wir das herausgefunden haben.“ „Ich denke, wir stehn unter ihrer Beobachtung.“ „Kann sein.“ Urban hatte Derartiges zwar nicht bemerkt, schloß es aber trotzdem nicht völlig aus. „Dann“, fuhr Muriel fort, „werden sie sich die Kleine kaufen, wie sie sich den Ofensetzer kauften.“ „Er war nur Essenfeger“, sagte Urban. „Könnte aber sein, daß sie auch Marina einen Urlaub spendieren.“ „Dann müssen wir sie vorher schnappen. Wenn wir diese Burschen haben, geht es endlich weiter. Das spüre ich.“ „Wo?“ fragte Urban. „Ich an deiner Stelle würde schneller fahren“, riet ihm Muriel. „Wir sind schon da.“ Urban quetschte den BMW zwischen ein Cola-Auto und einen Alfa in den Schatten der Akazien. „Gehst du?“ fragte Tim. „Schreiten wir doch Schulter an Schulter.“ 73
Sie läuteten. Ein Mädchen mit Hund kam heraus und ließ sie ein. Sie nahmen den Lift. Oben war die Appartementtür noch zu. Sie läuteten Sturm und klopften und legten die Ohren an. „Funkstille. Gehn wir und warten wir unten“, schlug Tim vor. „Auf wen?“ fragte eine Stimme aus der Tür gegenüber. Die Tür schwang ganz auf. Der Schminke und dem ausgeschnittenen Fummel nach zu urteilen, übte die Blondine denselben Beruf aus wie Marina. „Auf Piccola.“ „Wenn’s den Herren pressiert, ich habe Zeit.“ „Wir auch.“ „Aber bestimmt nicht solange, Signori.“ „Heute morgen sagte Marina nichts davon, daß sie verreist.“ „Es kam recht plötzlich. Glaube ihre Schwester ist gestorben.“ Muriel blickte Urban an. Urban übersetzte das Wesentlichste. „Ein Todesfall“, fragte Urban, „wo?“ „New York.“ Muriel verstand und pfiff. „Hawaii, New York, alles hübsch weit weg.“ „Woher wissen Sie das?“ erkundigte sich Urban bei der Blondine. „Sie hat es mir selbst gesagt, als sie wegging.“ „Wann?“ „Muß gegen drei Uhr gewesen sein. Mit einem Koffer und einem Herrn.“ „Wie sah der aus?“ „Wie ein Zuhälter eigentlich nicht.“ „Wie ein Telegrammbote von der Post?“ „No, mehr wie Sie, Signori. Unauffällig, fast unscheinbar, so eine richtige graue Maus. Trug Krawatte, Hut, alles scheißkorrekt.“ 74
Sie gingen zum Lift. Tim fluchte leise in sich hinein. „Was sagst du dazu, graue Maus?“ „Das ist perfekte KGB-Arbeit. Alle Spuren verbrennen.“ „Gehn wir zur Polizia oder zum Servizio Information!?“ „Was willst du ihnen auftischen? Dein sibirisches Schauermärchen?“ „Oder deine Legende von der falschen Leiche.“ „Du bringst mir kein Glück“, sagte Urban. „Well, unsere Zusammenarbeit steht unter keinem guten Stern. Schon in München fing es an.“ „Am besten wir trennen uns“, schlug Urban vor. Tim Muriel war so rasch einverstanden, daß es aussah, als hätte er noch eine letzte Idee, wolle sie aber nicht preisgeben. Urban gab sich ebenfalls zuversichtlich und so, als würde er zu Hause in München mächtig Dampf machen. Dabei hatte er nicht die Spur einer Vorstellung, wie es weitergehen sollte. 8. Tim Muriel setzte seine Hoffnung auf den Holzhändler Carpenter. Vielleicht ließ sich der Mann noch einmal aktivieren wie eine verbrauchte Autobatterie. Selbst wenn es nur für einen einzigen Startvorgang reichte, wäre Muriel schon zufrieden gewesen. Noch am Tag seiner Rückkehr aus Rom fuhr er nach Baltimore. Nach einem Gespräch mit dem ehemaligen Woodcutter, in dem er eindringlich die prekäre Sicherheitslage der Nation darlegte und gleichzeitig an Carpenters Pflichten als Staatsbürger appellierte, stellte er die entscheidende Frage: „Sind Sie bereit, für uns eine Pfadfinderaufgabe zu übernehmen?“ 75
„Einen Spionageauftrag meinen Sie“, verbesserte ihn Carpenter und biß eine Havanna ab. Muriel versuchte der Sache einen anderen Blickwinkel zu geben. „Was ist dabei, wenn Sie in jene sibirischen Waldgebiete reisen, wo Sie jahrzehntelang Holz kauften und sich dort umsehen. Sie brauchen die Augen nur ein bißchen weiter zu öffnen als sonst.“ „Und zu fotografieren.“ „Ein objektiver Bericht nach Ihrer Rückkehr wäre uns Hilfe genug.“ Carpenter trat rauchend ans Fenster seines Hochhausbüros. „Das würde bedeuten, daß ich auch einkaufen muß.“ „Schön, dann kaufen Sie eben.“ „Es geht um erhebliche Mengen. Unter einem Auftragsvolumen von fünf Millionen Rubel reißt sich der Distriktkommissar von Anadyr meinetwegen kein Bein aus. Der Mann muß ja auch sein Soll erfüllen.“ „Dann kaufen Sie eben für fünf Millionen Rubel.“ „Tannen“, murmelte der Holzmillionär, „Polarfichten, Kiefern, Birken. Zum Teufel, was soll ich damit. Heute ist auf dem Möbelsektor Kalkeiche gefragt und Teak.“ „Sie verarbeiten Hölzer auch zu Fertighäusern, zu Preßplatten, zu Pappe und Papier.“ „Dafür nehmen wir billige kanadische Ware und Abfälle.“ „Im Dienst der USA müssen Sie eben ein Risiko eingehen.“ Nun winkte der Holzhändler seinen Besucher an das Panoramafenster, deutete über die riesigen Produktionshallen, über die Lagerplätze bis hinaus zu den fabrikeigenen Kais an der Bay und fragte: „Was sehen Sie da, Tim?“ „Nun, was man in einem Sägewerk so sieht. Baumstämme und Bretterstapel.“ „Haben Sie den Eindruck, daß meine Lager leer sind?“ 76
„Würde ich nicht behaupten. Im Gegenteil, Sie sind gut sortiert und bevorratet.“ Carpenter drehte sich um. Das Lächeln war ihm vergangen. „Ich will Ihnen mal etwas erzählen, Tim“, sagte er unerwartet leise. „Die Wirtschaft dieses Landes steckt seit Jahren in einer Rezession. Für den Holzmarkt bedeutet das eine lebensbedrohende Absatzkrise. Im letzten Jahr haben wir nur knapp den Umsatz gehalten. Wir sind froh, wenn wir heuer über die Runden kommen. Mein Lager ist voll von wertvollen Hölzern, und im Norden schlagen die Waldarbeiter auf Teufel komm raus Bäume, weil es auch ihnen an flüssigem Kapital mangelt. Das bedeutet, daß Holz billig ist wie nie, und wir Importeure sitzen auf der teuren hochklassigen Ware. Nun verlangen Sie von mir, daß ich nach Ostsibirien fliege, dort Holz einkaufe und mich damit finanziell ruiniere. Meine sowjetischen Partner kennen doch die Lage. Wie soll ich ihnen meine Käufe erklären? Die müssen glauben, er sei verrückt geworden, der alte Carpenter, und werden nicht daran denken, mir alles zu zeigen, was ich sehen will, weil man einem vertrottelten Ami auch billiges Zeug andrehen kann.“ Tim Muriel schien nach einem Weg zu suchen, um Carpenter dennoch für seine Ideen zu gewinnen. „Erzählen Sie ihnen, Ihre Lager seien leer.“ Carpenter lachte kopfschüttelnd. „Die brauchen doch nur einen Mann von der sowjetischen Botschaft oben an der Straße vorbeifahren lassen und schon wissen sie, daß ich sie belüge. Das wird sie stutzig machen. Die sind doch nicht von gestern.“ „Dann nennen Sie als Vorwand große Staatsaufträge für das kommende Jahr.“ Der Holzhändler hüllte sich in Rauchwolken. „Als Vorwand ist mir das zu wenig, Sir.“ Muriel verstand. In erster Linie war Carpenter Geschäftsmann. Geschäftsleute jammerten prinzipiell. 77
„Es müßte sich also um einen echten Staatsauftrag handeln.“ „So ist es“, erwiderte Carpenter. „Anders kann ich den Kauf sibirischer Ware nicht finanzieren. Sie kennen doch die Steuerbelastungen.“ „Und Ihre Steuerakte“, erwähnte Muriel, „kenne ich auch.“ Diese Bemerkung löste bei Carpenter ein nervöses Zucken aus. „Wollen Sie mir damit drohen?“ „Ich wollte Sie lediglich daran erinnern, mit wem Sie sprechen.“ „Natürlich, die CIA weiß alles. Und sie kann mich unter Druck setzen. Sie kann mir eine Steuerprüfung auf den Hals hetzen, die sich gewaschen hat. Kleiner Anruf beim Schatzamt genügt da schon.“ „Wir können aber auch Steuerpräferenzen vermitteln.“ Muriel wußte, wie man mit Männern von Carpenters Kaliber umging. Erst die Peitsche, dann Zuckerbrot. „Ein mit staatlichen Finanzgarantien abgesicherter Großauftrag wäre mir lieber“, gestand Carpenter. „Dann können wir das Holz gleich selbst einführen.“ „Am besten Sie fahren selbst hin und kaufen in Ostsibirien ein“, höhnte Carpenter. „Man wird Sie mit offenen Armen empfangen und in die nächste Schlucht werfen, Mister Muriel.“ Mit sanftem Drohen, mit der Zusage eines zinslosen Kredits in Höhe des Importwertes, mit dem Versprechen, daß die Isolierstoffwerke des Carpenterkonzerns im neuen Flottenbauprogramm unter Umgehung der Ausschreibung berücksichtigt würden, wurde man sich schließlich einig. „Wann können Sie fliegen?“ fragte Tim abschließend. „Ich beantrage sofort das Visum“, versprach der Holzhändler. „Und wie steht es mit Ihrer Gesundheit?“ „Beschissen. Fragen Sie meinen Arzt.“ „Fragen wir lieber den unseren“, schlug Tim Muriel vor. 78
Mike Carpenter wurde abgeholt und zu einer ihm unbekannten Privatklinik gefahren. Sie lag Richtung Wilmington, in einem einsamen Wiesental, nahe der Grenze nach Pennsylvania. „Schaffen Sie mich in ein geheimes Diagnosezentrum?“ fragte der ehemalige Holzschläger. „Bis auf Symptome von Darmkrebs bin ich kerngesund.“ „Für jeden Autofahrer“, sagte der CIA-Beamte John Snider, „ist es selbstverständlich, daß er seinen Wagen vor dem Urlaub zur Inspektion bringt.“ „Urlaub, daß ich nicht lache.“ „Sagen wir vor Antritt einer größeren Reise. In der Werkstatt werden kleine Mängel früh erkannt und abgestellt. Man fährt dann sicherer und braucht nicht zu befürchten, eines Nachts auf der Landstraße zu stehen, weil die Unterbrecherkontakte verschmort sind.“ „Erstens“, erwiderte Carpenter, „bin ich kein Auto. Zweitens fliege ich, vielmehr werde ich geflogen.“ Der CIA-Mann spulte unbeirrt herunter, was ihm sein Vorgesetzter an Munition gegen Carpenter mitgegeben hatte. „Ein Auto bringt man zum Kundendienst, wie aber sieht es mit unserem eigenen Motor aus?“ „Was geht mich Ihr Motor an“, konterte Carpenter. „In Ihrem Alter, Sir, und bei Ihrer Aufgabe ist eine Inspektion immer angebracht.“ „Klar, ich könnte schon Ihr Großvater sein.“ „Warum sind Sie so gleichgültig, Sir?“ fragte Snider besorgt. „Zeit ist Geld, mein Junge.“ „Die Untersuchung kostet Sie ja nichts.“ „Das fehlte noch“, knurrte Carpenter. „Oder haben Sie Angst vor der Untersuchung.“ „Hören Sie, mein Sohn“, sagte Carpenter zu dem erheblich jüngeren, um die Hälfte leichteren und schmächtig wirkenden Burschen aus Washington, „hören Sie. Wenn ich je vor 79
etwas Angst hatte, dann waren es die Ärzte.“ Er steckte eine Havanna an, nahm zwischendurch einen kräftigen Schluck Bourbon aus der Reiseflasche und ergab sich in Sein Schicksal. Der Test dauerte einen vollen Tag. Sie machten alles mit ihm, was seit Paracelsus an perversen Untersuchungsmethoden hinzugekommen war. Sie maßen ihn mit Licht und Lupe, mit Gummifingern und Sonden, mit Hammerschlägen und Elektronik, auf dem Trainingsfahrrad und mit Ballons, die er vollblasen mußte. Sie checkten ihn durch Abklopfen, indem sie ihm hier Blut und dort Urin abzapften und ihn schließlich von oben bis unten durchleuchteten. „Danke“, sagte Carpenter beim Gehen, „für die Dosis Röntgenstrahlen, die Sie mir gratis verpaßten.“ „Sie schadet nicht mehr, als eine einzige Havanna Ihrer Lunge und eine Galone Bourbon Ihrer Leber“, bemerkte der Arzt. „Im übrigen sind Sie okay.“ Carpenter glaubte ihm nicht. „Kein Krebs?“ „Bedaure. Oder hätten Sie lieber einen?“ „Fast“, sagte Carpenter. Während er nach Baltimore zurückchauffiert wurde, telefonierte der CIA-Vertrauensarzt mit Langley. „Wie sieht es aus mit ihm?“ erkundigte sich Tim Muriel. „Er hat alles versucht, um im Examen durchzurasseln.“ „Simulierte er?“ „Und nicht zu knapp. Er muß eine Kanne Mokka getrunken haben, damit sein Blutdruck auf zweihundert stieg. Außerdem kam er so betrunken an, daß er fast keine Reflexe hatte. Er tat, als könne er kaum hören und als sei er praktisch blind. Aber mir kann er nichts vormachen. Der Mann ist fit.“ Tim Muriel wirkte trotzdem besorgt. „Hat er schlecht simuliert?“ „Nun, ihm lag wenig daran, als gesund zu gelten und den Test zu bestehe n. Es sah eher aus, als wäre er glücklich 80
darüber, wenn wir ihn dabehielten und gleich ins Bett legten. Aber daß er keinen Krebs hat, das erleichterte ihn.“ „Ich will nur wissen, ob er sich mit Geschick krank stellte.“ „Das kann man wohl behaupten. Er machte es so gut, wie das einem medizinischen Laien nur möglich ist.“ „Dann bin ich beruhigt“, erklärte Tim Muriel. „Dann hat er von seiner alten Form nichts eingebüßt. Dann wird er es schaffen. Ich danke Ihnen, Doktor.“ * Die Agency unternahm alles, um die Abreise von Harold M. Carpenter zu beschleunigen. Dies um so mehr, als die Meldungen der Satellitenauswe rtung immer bedrohlicher klangen. Auch das Pentagon und das Weiße Haus baten dringend um Aufklärung der Vorgä nge in Ostsibirien, denn der Abschluß des Wiener Abrüstungsvertrages rückte unerbittlich näher. Die von den Himmelsspionen zur Erde gefunkten Bilder ließen am Rande des rätselhaften Waldvierecks deutlich eine Reihe von hellen Punkten erkennen. „Muß sich um schwere Transporthubschrauber handeln“, meinte einer der Experten. „Warum kommen sie so hell heraus?“ „Liegt wohl daran, daß sie noch den weißen Winteranstrich haben.“ „Und nach wie vor ist keine Straßentrasse, keine Bahnlinie, nicht einmal ein Feldbahngleis zu sehn.“ „Vielleicht haben sie die paar Kilometer bis zum Fluß untertunnelt.“ „Ist der Fluß denn befahrbar?“ „Für drei Monate mit Booten und neun Monate mit Luftkissenfahrzeugen. Etwa sieben Monate dürfte das Eis so fest sein, daß es Lastwagen trägt.“ 81
„Zum Teufel, was haben die Russen vor? Nach bestätigten Meldungen bringen sie ihre besten Köpfe dorthin.“ „Siehe die Transporthelikopter.“ „Aber warum ausgerechnet dorthin? Rußland ist doch unendlich groß.“ „Warum nicht nach Ostsibirien, Sir?“ „Wegen der Entfernung.“ „Vielleicht soll gerade die Entfernung zu Moskau jeden dummen Gedanken dieser Individualisten ausschließen.“ „Nun“, meinte Tim Muriel, „bald werden wir mehr darüber wissen. – Hoffe ich.“ Harold M. Carpenters Firmenjet wurde von CIAMechanikern gewartet und durchgecheckt. Carpenter mußte persönlich bei der sowjetischen Botschaft in Washington vorstellig werden, um seine Visagenehmigung zu beschleunigen. Er wich nicht von der Stelle, bis er den Stempel im Paß hatte. Dann tickerten Fernschreiben zur Sihorex der staatlichen sibirischen Holzexportexekutive nach Anadyr. Als man dort sein Eintreffen für den 26. bestätigte, packte Harold Carpenter die Koffer. Bis zum Abend vor seiner Abreise führte er sein neues Trainingsprogramm voll durch. Dann schlief er bis 6 Uhr. Seine Haushälterin weckte ihn. Um sieben Uhr Stand der Lincoln vor der Tür und brachte ihn zum Airport. Im Fond saß Tim Muriel. „Machen Sie sich Sorgen, daß ich im letzten Moment an die Riviera entwischen könnte?“ „Jetzt nicht mehr“, sagte der CIA-Direktor. „In Ihrem Jet sitzen CIA-Piloten.“ „Wollen Sie mich bis zu meiner Maschine bringen?“ „Das wäre zu unvorsichtig, Sir. Möglicherweise hat der Abwehroffizier der sowjetischen Botschaft einen Agenten als Beobachter hergeschickt.“ „Leicht möglich. Die Zeit für Holzeinkäufe ist längst vorbei. Die wundern sich doch einigermaßen.“ 82
„Gaben Sie Ihre Wünsche durch?“ „Ich deutete an, daß wir große Mengen brauchen. Speziell Kiefern, die am Anadyr wachsen. Ich werde den Hubschrauberpiloten schon dazu bringen, daß er mich über das Sperrgebiet fliegt.“ Tim Muriel überreichte dem Holzhändler ein schmales Etui. Carpenter grinste. „Uhr mit eingebautem Fotoapparat.“ „Krawattennadel mit eingebautem Fotoapparat“, korrigierte Mr. Muriel. „Der dunkle Saphir in der Mitte ist die Linse. Das Gerät ist sehr klein. Sie haben trotzdem einen Colorfilm mit 18 Aufnahmen zur Verfügung. Zum Knipsen müssen sie nur die Klemme hinten drücken. Sie betätigt den Verschluß und transportiert den Film weiter.“ „Öfter mal was Geheimes“, spottete Carpenter. „Kommen Sie gesund wieder.“ „Und erfolgreich vergaßen Sie zu sagen, Tim.“ „Und kaufen Sie nicht allzu viele Bäume.“ „Ist ja nicht mein Geld.“ Vor der Abzweigung des Zubringers zum Air Port hielt der Lincoln kurz an. Tim Muriel verließ ihn und stieg in einen wartenden Oldsmobil. Mit einem Kloß im Magen nahm Harold M. Carpenter wenig später die Klapptreppe zu seinem Mystere-Jet. Der Pilot erstattete Meldung. „Startklar, Sir. Zunächst für Kurs Fairbanks. Zwischentanken in Sakatoon, Kanada. Wie ist es mit der Einflugerlaubnis nach Sibirien?“ „Wurde mir per Funk zugesagt. Ab 16 Uhr Westküstenzeit.“ „Dann starten wir also.“ „Ja, es kann losgehen“, sagte Carpenter.
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Carpenter fühlte sich nicht wohl. Vielleicht hatte er doch zu scharf trainiert in den letzten Tagen. So eine alte Maschine kam nur mühsam in Schwung. Der zweistrahlige Jet startete mit der aufgehenden Sonne im Rücken. Er flog nach Nordwesten und erreichte Sakatoon in der kanadischen Provinz Saskatchewan drei Stunden später. Nach dem Auftanken wurden die Triebwerke zum nächsten Sprung bis Alaska angelassen. Aber dann mußten die Piloten die Triebwerke wieder abstellen. Der Steward kam nach vorn und meldete, daß es dem Chef schlecht gehe. Er sei ohnmächtig geworden und nicht bei Besinnung. Über Funk zum Tower wurde ein Arzt herbeigerufen. Der stellte Herzinfarkt fest. Tim Muriel, der in seinem Büro in Langley wenige Stunden später davon erfuhr, fluchte leise aber lang. „Entweder“, sagte er, „ist dieser Carpenter der beste Simulant aller Zeiten, oder der Arzt in Wilmington ist ein Vollidiot.“ Damit war sein Problem aber nicht gelöst. Carpenter lag auf der Intensivstation des Hospitals zu den Barmherzigen Brüdern in Saskatoon, und der Präsident der USA wartete auf eine Lageanalyse. So sah es aus. „Wir müssen Carpenter ersetzen“, forderte Tim Muriel. „Durch wen, Sir?“ fragte Snider. „Durch einen Profi.“ „Der was von Holz versteht und zugleich Russisch kann.“ „Ein echter Profi, ein Spitzenmann, kann alles.“ Muriel dachte an einen ganz bestimmten. „Aber“, wandte sein Assistent ein, „die Russen erwarten Carpenter. Wenn ein anderer kommt, werden sie mißtrauisch.“ „Carpenter ist unverhofft erkrankt. Das einzige was an dieser verdammten Story stimmt. Hat er nicht einen Sohn?“ 84
„Ja, ein Früchtchen, das in der Welt herumzieht und den Playboy spielt. Etwa dreißig Jahre alt.“ „Dreißig Jahre“, murmelte Muriel, „das kommt hin. Weil Carpenter selbst verhindert ist, schickt er seinen Sprößling. Und wer den spielt, das weiß ich jetzt. Sofort ein Blitzgespräch nach München, BND-Hauptquartier Pullach.“ „Wen soll ich verlangen, Sir?“ „Bob Urban“, sagte Muriel. „Und fügen Sie hinzu, der Zickinger Hofnarr sei in Schwulitäten.“ Tim Muriel konnte den BND-Agenten Nr. 18 nicht erreichen. Robert Urban, so hieß es, weile nicht im Haus. Er sei dringend nach Wien gerufen worden und im Moment nicht greifbar. Daraufhin gab Tim Muriel ein Wort von sich, das mit Fäkalien zu tun hatte. Er sagte es englisch, französisch und deutsch. Aber es erleichterte ihn nicht sonderlich. 9. „Der Schlag auf seinen Schädel“, sagte der ungarische Teamchef, „war eben doch eine Nummer zu stark.“ „Er wehrte sich, was sollte ich tun“, verteidigte sich sein Kamerad. „Weniger hart zuschlagen.“ „Er hatte ganz normale Wucht.“ „Das Gehirn eines Genies ist eben empfindlicher.“ „Er kommt schon wieder in Ordnung“, meinte der dritte Mann der Kommandogruppe, der sich ständig um Piotr Sarrasanew kümmerte. Außerdem gibt es in Budapest erstklassige Ärzte.“ „Der braucht schon einen Neurologen.“ „Unsinn. Ein wenig frische Luft, ein Spaziergang im Wald, und er ist wieder in Ordnung.“ „Er hat Fieber“, sagte das Mädchen aus der hintersten Ekke des Sankawagens. 85
Ihre Hand lag auf der Stirn des schlafenden Wissenschaftlers. Als sie die Hand wegnahm, war sie naß von Schweiß. „Was versteht eine Nutte von Medizin?“ „Könnte ja sein, daß ich mal in der Krankenpflege tätig war“, entgegnete Marina patzig. „Wohl mehr in der Gesundenpflege“, höhnte der Fahrer durch die halboffene Trennscheibe. Bis zum Militärflugplatz Gödöllo hatte er die RockwellCommander pilotiert, jetzt hatte er das Lenkrad des Sankawagens übernommen. „Daß wir ihn ins Hospital bringen“, entschied der ungarische Hauptmann, „kommt nicht in Frage. In Esztergom warten die Russen auf ihn.“ „Tot nützt er ihnen wenig.“ „Der stirbt schon nicht.“ „Puls kaum dreißig“, meldete die Italienerin, die man aus Sicherheitsgründen aus Rom hatte mitnehmen müssen. „Was bedeutet das?“ „Daß er uns gleich abkratzt, meine Herren.“ „Wie ist das möglich? Er saß doch drei Tage völlig ruhig in der Kiste.“ „Er klagte über starke Kopfschmerzen.“ „Der wollte gewiß nur ausbüchsen.“ „Drei Tage in einer engen Sardinenbüchse, na danke. Dabei hat es sich eben verschlimmert.“ Der Sanka fuhr durch flaches Land. Die Teerstraßen waren oftmals geflickt worden und entsprechend holperig, was dem Kranken nicht guttat. „Wie weit noch?“ fragte der Hauptmann. „Vierzehn Kilometer bis Budapest.“ Sie mußten durch die Stadt. Es war der kürzeste Weg. „Ob ihn der Garnisonsarzt in Esztergom hinkriegt?“ „Der hat doch nur Aspirin im Schrank.“ „Vielleicht sollten wir telefonieren.“ „Bloß keine Panik.“ „Du hast die Verantwortung.“ 86
Daraufhin faßte der Teamchef einen einsamen Entschluß. „Telefonieren, das können wir auch vom Hospital aus. Wir fahren am Zentralkrankenhaus von Pest vorbei. Ich trage die Verantwortung.“ Der Fahrer kannte den Weg. Er rollte am westlichen Donauufer stadteinwärts und bog an der Erzsebet-Brücke ab. * „War allerhöchste Zeit“, erklärte der Neurologe im Zentralkrankenhaus. Seine Diagnose lautete auf schwere Gehirnerschütterung, möglicherweise sogar Schädelbruch. Trotzdem zögerte er, etwas zu unternehmen. „Warum tun Sie nichts, Doktor?“ drängte der Kommandoführer. „Weil ich ihn eigentlich röntgen müßte mit Angiographie, aber nicht sicher bin, wie er das übersteht.“ Der Arzt wandte sich an die Oberschwester: „Intensivstation!“ entschied er. „Was bedeutet das?“ fragte der Hauptmann in Zivil. „Daß Sie von jetzt ab bitte alles mir überlassen. Wie ist der Name des Mannes?“ Der Hauptmann nahm den Arzt beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Das auch noch“, rief der Arzt erschrocken, „das gefällt mir aber ganz und gar nicht.“ Die Oberschwester stand mit ihrem Aufnahmeformular herum und wartete. „Schreiben Sie“, diktierte der Neurologe, „keine Angaben zur Person und Staatsangehörigkeit.“ Der bewußtlose Wissenschaftler wurde auf der Bahre zur Intensivstation gerollt. Der Neurologe steckte sich nervös, wie die meisten Ärzte, die mit Gehirn und Nerven zu tun haben, eine Zigarette an. „Wie kam es dazu?“ wollte er wissen. 87
„Unfall, Doktor.“ Die Antwort war so kurz und bündig, daß der Arzt weiterforschte. „Warum brachten Sie ihn nicht sofort zur Behandlung?“ „Die Symptome traten erst während des Fluges auf. Die wahnsinnigen Schmerzen, meine ich.“ „Im Flugzeug haben Sie diesen Schwerkranken transportiert? Das ist ja Mord, ist das. Wie hoch flogen Sie?“ „Etwa dreitausend Meter.“ „Na fabelhaft. Die von dem Schlag geschädigten Gefäße können durch den Unterdruck auf großer Höhe erneut zum Bluten gekommen sein. Wissen Sie überhaupt, was Gehirnblutungen auslösen?“ „Schlaganfälle nennt man es wohl im Volksmund.“ „Leider hat der Volksmund recht.“ Der Arzt warf die Zigarette in den Spucknapf wo die Glut verzischte. „Sehen Sie zu, daß dieser Mann schnell in eine Spezialklinik kommt. Am besten in eine seines Landes.“ „Ist er transportfähig?“ „Das wird sich in den nächsten 48 Stunden ergeben.“ Der Blick des Arztes fiel auf Marina. „Und wer ist diese Dame? Gehört sie zu Ihrem Team?“ Die Augen des grauhaarigen Mediziners ruhten nicht nur mit Wohlgefallen auf der Italienerin, sondern er schien geradezu fasziniert zu sein. „Ich gehöre nicht dazu“, antwortete Marina auf Englisch. Sie verstand ein wenig Ungarisch, sprach es aber kaum. „Doch, sie gehört dazu“, erklärte der Hauptmann. Nur was er sagte hatte für den Arzt Geltung. „Können Sie die Signorina unterbringen, Doktor?“ „Was meinen Sie mit unterbringen?“ „Für eine oder mehrere Nächte, bis der Patient übergeben wird.“ „Mal sehen, ob ein Schwesternzimmer frei ist. Ich bespr eche das mit der Oberin.“ 88
„Es sollte in einem höheren Stockwerk liegen und absperrbar sein.“ „Die Dame ist wohl Ihre Gefangene?“ „Kein Kommentar, Doktor“, zischte der Hauptmann in Zivil und erteilte weitere Anordnungen: „Einer kümmert sich um das Mädchen, einer bezieht Posten vor der Intensivstation. Niemand mit Ausnahme des Pflegepersonals kommt an Sarrasanew heran.“ Dann wandte er sich an den Arzt. „Wo kann ich hier telefonieren?“ „In meinem Büro“, sagte der Doktor. * Der Arzt sperrte auf, machte am links in Schulterhöhe angebrachten Schalter Licht und trat ein. Auf dem Bett lag die hübsche Italienerin. Sie war angezogen, hatte nicht geschlafen und schloß jetzt wegen der Helligkeit die Augen. „Sie haben ein Beruhigungsmittel verlangt“, sagte der Arzt, „hier ist Valium.“ „Ich bat um nichts Derartiges“, antwortete die Italienerin, richtete sich auf und knöpfte die Bluse zu. „Wenn Sie mit mir sprechen wollen, dann ist dazu kein Vorwand nötig, Doktor.“ Der Arzt zog den Hocker unter dem Tisch hervor und setzte sich. „Das ist mir auch lieber so.“ Die Italienerin schlug die Beine übereinander und zeigte sie dabei bis weit hinauf. Der Arzt wußte nicht, war es Ungeniertheit oder weil sie müde war und nicht darauf achtete. „Wie kommen Sie in dieses Kommandoteam?“ „Ein Verhör?“ fragte sie. „Man behandelt Sie wie eine Gefangene.“ „Ich bin ihre Gefangene“, betonte Marina, „und durch Zufall hineingeraten.“ 89
„In eine Geheimdienstaktion?“ zeigte sich der Arzt interessiert. Oder war es Neugierde. „Weiß nicht“, antwortete sie, „es ist wie bei einem Mord, wo der Täter nichts anderes tun kann, als einen zufälligen Augenzeugen einfach mitzunehmen.“ „Oder gleichfalls zu töten“, ergänzte der Arzt. „Verstehe.“ Er rauchte aus und blickte sie aus schmalen Augen an. „Sie sind offen zu mir“, sagte er. „Darf ich es auch sein?“ „Ich kann es Ihnen nicht verbieten.“ „Sie gefallen mir“, gestand der Arzt ohne Umschweife. „Ihr Frauen aus dem freien Westen, Ihr habt etwas ungeheuer Anziehendes an euch, etwas lasziv Erotisches. Ich weiß nicht, woran es liegt, daß man euch so sehr begehrt. Ist es das andere Parfüm, die andere Art, sich eleganter und teurer zu kleiden, die andere Unterwäsche die ihr tragt, was euch so aufregend macht.“ „Das bilden Sie sich nur ein“, entgegnete Marina. Wieder war der Doktor ganz offen. „Ich könnte Ihre Lage sehr erleichtern“, deutete er an. „Wenn ich mit Ihnen zu Bett gehe, meinen Sie.“ Der Arzt nickte. „So ist es.“ Marina holte eine Packung amerikanischer Camel aus ihrer Krokotasche und steckte sich eine Zigarette an. Der starke Tabakduft verbreitete sich in dem schmalen Schwesternzimmer. „Jetzt?“ fragte sie. „Sofort?“ Wieder nickte der Arzt. „Und wer kümmert sich um den Patienten?“ „Die Nachtschwester und die Elektronik. Sobald eine Körperfunktion die kritische Schwelle nach oben oder unten erreicht, gibt es Alarm.“ Marina rauchte und tat alles, um den Arzt anzuspitzen. Sie hob das Kinn und blickte ihn aus halbgeschlossenen Lidern an. Sie atmete tief ein, daß sich ihre Brust deutlich abzeichnete und kreuzte, die Schenkel weit öffnend, die Beine an90
dersherum. „Ich bin nicht in Form“, wich sie aus. „Sie hätten recht wenig davon, hier und jetzt.“ „Wann denn?“ „Morgen.“ „Ab morgen abend 17 Uhr habe ich für 24 Stunden frei. Mein Kollege übernimmt den Bereitschaftsdienst.“ „Wie schön“, flüsterte Marina. „Darf ich damit rechnen, daß…“ „Unter gewissen Umständen“, schränkte sie ein. Der Arzt verstand. „Ich bin nicht der Jüngste und vom Äußeren her kein Gott“, sagte er. „Wie darf ich Ihnen entgegenkommen, Gnädigste?“ Marina war jetzt so gerade heraus wie der Neurologe. „Bringen Sie mich von hier weg.“ Der Arzt wehrte entsetzt ab. „Das geht nicht. Ausgeschlossen.“ „O doch, das geht. Das Zimmer ist nicht vergittert. Ich könnte über den Balkon und die Dächer ausgerückt sein.“ Der Arzt lächelte über soviel Einfalt. „Schön, über die Dächer. Und dann? Ohne Papiere?“ „Ich habe einen Paß. Man hat ihn mir nicht abgenommen.“ „Aber im Paß ist kein ungarisches Visum eingestempelt. Verfügen Sie über Geld?“ „Nur über Lire.“ „Na sehen Sie.“ Jetzt stand Marina auf und trat dicht vor den Stationsarzt. „Bring mich nach Wien!“ forderte sie als Gegenleistung. „Das ist unmöglich“, äußerte der Arzt. „Absolut.“ „Hast du kein Auto?“ „Ein Auto ist kein Problem. Aber…“ „Versuch mich über die Grenze zu schmuggeln. Als Arzt gehörst du doch der privilegierten Schicht an. Bring mich nach Wien. Ich verspreche dir…“ „Was?“ „Mich“, versprach sie, „und fünftausend Dollar extra.“ 91
Dieses Angebot erweckte das Mißtrauen des Akademikers in hohem Maße. „Wer bist du?“ „Und verschaffe mir“, fügte Marina noch hinzu, „die Möglichkeit, sofort ein Telefongespräch nach Deutschland führen zu können.“ „Wer bist du?“ wiederholte der Arzt seine Frage. „Ich heiße Marina Rizzo, komme aus Rom und bin einigermaßen vermögend.“ „Mein Name ist Doktor Emele Varkasz.“ „Du bist morgen ab 17 Uhr frei“, wiederholte Marina. „Bis Wien sind es zweihundert Kilometer.“ „Das macht sogar ein uraltes ungarisches Automobil in drei Stunden.“ Dr. Varkasz war so fasziniert von ihr, daß er sich schließlich einverstanden erklärte. * Am Nachmittag um 16 Uhr bat Marina Rizzo die Oberschwester um eine Tablette. Sie habe Kopfschmerzen, sagte sie, aber wenn sie schlafen könne, würden sie bestimmt vergehen. Die Schwester brachte die Pille. „Heute kein Essen mehr“, sagte Marina, „morgen früh bin ich dann wieder in Ordnung. Danke.“ Von dem Kidnapperteam, das Professor Sarrasanew nach Budapest entführt hatte, hatte sie keinen mehr zu Gesicht bekommen. Aber nach wie vor hielt man ihre Tür verschlossen. Um 17 Uhr wurde es dunkel. Es begann zu regnen. Entschlossen öffnete Marina die Balkontür, stieg auf die Dachrinne, kletterte auf allen vieren über das Flachdach und hinten beim OP-Anbau über die Feuerleiter in den Krankenhausgarten. Mit den letzten Besuchern verließ sie das Gelände. Dann fuhr sie fünf Stationen mit der Straßenbahn bis zum Duna92
Hotel. Dort stieg sie in Dr. Varkasz’s Wagen, ein betagtes weißes Skoda-Cabrio, innen mit roten Kunststoffbezügen. Er war mächtig stolz auf das Automobil. Er ließ an und fuhr los. Das Verdeck klapperte, ebenso die Türen und die Motorhaube. Aber das Ding bewegte sich recht flott. „Dieses Auto hat so etwas wie Altertumswert“, erklärte er. „Hoffentlich hält es bis Wien durch.“ „Im Winter war ich damit noch in den Karpaten zum Skilaufen.“ „Haben Sie ein Alibi?“ fragte Marina. „Wozu? Ich bin ganz offiziell in Wien. Mein Ausreisevisum vom Ärztekongreß im Mai gilt noch.“ Sie drehte sich um, als fürchte sie verfolgt zu werden. „Lief alles nach Programm?“ erkundigte sich der Arzt. „Angeblich schlafe ich bis morgen früh durch.“ Er schaute auf die Uhr. „Wenn alles klappt, sitzen wir um 21 Uhr im Sacher beim Abendessen.“ „Wie machen wir es an der Grenze?“ „Sie sind klein“, sagte Varkasz, „und schlank. Sie legen sich in den Fußraum vor der Rücksitzbank. Ich stelle links meinen Koffer auf Sie und rechts den Ersatzreifen.“ „Und wenn man nachsieht?“ Er hob die Schultern. „Ich bin Arzt und führe das Arztzeichen auf der Windschutzscheibe. Wäre das erste Mal, daß man mich filzt.“ Diese Auskunft genügte ihr nicht. „Wenn aber doch?“ „Dann“, gestand Dr. Varkasz, „weiß ich beim besten Willen nicht, wie Sie in mein Auto gekommen sind.“ Marina steckte sich die letzte Camel an. „Wie geht es dem Patienten?“ „Sie meinen Professor Sarrasanew.“ Der Arzt reagierte ausweichend. „Schwer zu sagen. Ohne der Röntgendiagnose vorgreifen zu wollen, glaube ich nicht recht an einen Schädelbruch oder an eine Schädelzertrümmerung, was gefähr93
lich klingt, aber selbst ein Knochenriß fällt schon unter diese Kategorie. Wenn Sie mich fragen, dann bekam er lediglich einen harten Schlag auf den Kopf. Die Folge davon ist meistens eine Gehirnerschütterung. Im Moment schwebt er in der Krise. Der Zustand kann sich verschlechtern, wenn irgendwo Druck durch Flüssigkeitsansammlung entsteht. Der Zustand kann sich aber auch rasch bessern. Das hängt ganz vom Charakter der Verletzung ab.“ „Wohin geht die Tendenz?“ „Da möchte ich mich nicht festlegen.“ „Ich bin kein Ärztegremium, Doktor.“ Nach längerem Zögern sagte Varkasz: „Ich habe Sarrasanew noch einmal untersucht und mir alle Werte angesehen. Er wird es schaffen.“ Sie fuhren die langen schnurgeraden Straßen nach Nordwesten. Der Abendverkehr ebbte schon ab. Sie kamen durch Györ und Moson-Magyarovar. Es regnete nicht mehr, aber die Wolken hingen tief. So wurde es früher dunkel. Dr. Varkasz schaltete die Lichter ein. „Noch sieben Kilometer bis zur Grenze“, sagte der Doktor. Marina kletterte nach hinten und hatte entnervende zwanzig Minuten durchzumachen. Die Hälfte davon standen sie in einer Warteschlange. Es ging nur schrittweise bis zum Schlagbaum. Dort hatte der Zollbeamte die Idee, den Paß des Arztes zu überprüfen. Er verschwand in seiner Baracke, telefonierte und kam eine Ewigkeit nicht wieder. In der Zwischenzeit schaute sich der andere Posten den alten Skoda an. Dabei fiel ihm etwas auf. „Warum haben Sie den Ersatzreifen nicht im Kofferraum?“ fragte er neugierig. Marina, die alles hörte, wagte nicht zu atmen. „Im Kofferraum liegt der andere“, sagte Varkasz, „altes Auto, alte Reifen.“ „Steigen Sie mal aus, Doktor“, befahl der Beamte mit der Spürnase eines Bluthundes. 94
Zum Glück fing es wieder zu regnen an. Außerdem kam der andere mit dem Paß aus der Zollstube. „Er kann weiterfahren“, rief er. „Laß ihn passieren.“ Sie winkten den Skoda durch. Drüben bei den Österreichern gab es kein Problem mehr. Vor Nickelsdorf bat Marina den Doktor zu halten. „Ich muß Pipi machen“, sagte sie. „So was geht einem schon an die Nieren.“ „Wohin in Wien?“ fragte der Arzt später. „Hotel Ambassador.“ „So fein?“ „Von jetzt ab kommen andere für die Spesen auf.“ „Das Ferngespräch letzte Nacht hatte also Erfolg.“ „Wahrscheinlich“, erklärte Marina, „werde ich erwartet.“ „Und unsere Abmachung?“ „Keine Angst“, sagte sie, „ich bin eine kleine römische Nutte und mein Wort habe ich noch immer gehalten.“ Dr. Emele Varkasz verriß vor Schreck die Lenkung, aber der alte Skoda rollte brav wieder in die Spur zurück. * Der Mann, der eine Stunde nach ihrer Ankunft in Wien das Hotelzimmer betrat, trug dunkelblaue Gabardinehose, grauen Glenchecksakko, zartgetöntes Hemd und einfarbigen Binder aus gewirkter Seide. Einschließlich der Schuhe sah alles nach Maßarbeit aus. Die Rolex an seinem Handgelenk erhärtete diese Vermutung eher noch. Aber Österreicher war dieser Bursche nicht. Der Tonfall, mit dem er sprach, klang eher nach „Altreich“ wie die Wiener Deutschland nannten, mit leicht fränkischem Einschlag. „Hallo Piccola Marina“, rief er, und: „Guten Abend, Doktor Varkasz.“ Er war freundlich, aber auf gewisse Weise zurückhaltend. „Roberto“, sagte die Römerin, „ich habe dem Doktor ge95
genüber eine Verpflichtung zu erfüllen. Du wolltest das für mich auslegen.“ Der BND-Agent Nr. 18, Bob Urban, entnahm seinem Jakkett einen länglich blauen Umschlag. Er war zugeklebt und gewichtig. „Nicht daß ich noch extra Bedingungen stelle“, bemerkte er, den Umschlag zwischen Daumen und Zeigefinger bewegend, „was ich wissen will, hat mir Marina erzählt. Aber diese fünftausend Dollar, Doktor Varkasz, sind mühelos zu verdoppeln, wenn Sie uns noch ein wenig zur Hand gehn.“ „Mehr zu tun“, bedauerte der Neurologe, „bin ich nicht in der Lage, ohne mich selbst zu gefährden.“ Urban räumte ein, daß Gefahr durchaus Wunden reißen könne, daß aber Dollars für Wunden ein gutes Pflaster seien. Der Arzt schien nachzudenken. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Zunächst einmal, indem Sie gut zuhören“, schlug Urban vor, „und meine Fragen beantworten. Frage eins: Wie ist der Zustand von Professor Sarrasanew?“ „Labil.“ „Ist er transportfähig?“ „Heute nicht, es sei denn in einem Spezialfahrzeug oder Flugzeug.“ „Wann wird er transportfähig sein?“ „In zwei Wochen etwa.“ „Kann eine spontane Besserung eintreten?“ „Die Natur überrascht uns immer wieder.“ „Könnte auch“, Urban formulierte es genau, „eine spontane Verschlechterung eintreten?“ „Auch dies liegt im Bereich der Möglichkeiten.“ „Könnte man sie herbeiführen?“ Der Arzt hob beschwörend die Hände. „Nicht ohne Lebensgefahr für den Patienten.“ Urban formulierte die Frage anders: „Läßt sich eine scheinbare Verschlechterung ohne Gefährdung des Patienten herbeiführen?“ 96
„Das ist problematisch.“ „Aber nicht für einen Experten.“ „Problematisch insofern, als in einem Krankenhaus gewöhnlich noch eine Reihe anderer Ärzte tätig sind.“ „Aber Sie sind der Neurologe, der Gehirnspezialist.“ „Worauf“, der Ungar nahm einen Schluck Champagner, „worauf zielen Sie ab, Roberto?“ „Überlegen Sie sich die Sache“, schlug Urban vor, „in aller Ruhe. Ich spreche jetzt mit meiner Dienststelle in München. Falls wir zu einem Ergebnis kommen, garantiere ich Ihnen jetzt schon, Doktor, daß man Sie großzügig honorieren wird.“ Der Neurologe lächelte ein wenig traurig. „Was macht ein Mann wie ich mit so vielen hübschen Dollars in Budapest. Er kann sie gar nicht ausgeben, ohne daß es auffällt.“ „In Budapest nicht“, entgegnete Urban. „Aber wie wär’s mit einer Praxis in München oder in Düsseldorf.“ „Dazu braucht man eine spezielle Zulassung.“ „Die ist zu beschaffen.“ „So etwas, das dauert sehr lange und der Instanzenweg ist kompliziert.“ „Wir können ihn abkürzen“, deutete Bob Urban an und hob das Telefon ab. Er sprach deutsch während er telefonierte, was die Italienerin überhaupt nicht und der Arzt nur unzureichend verstand. * In der Nacht fuhr Dr. Varkasz nach Budapest zurück. Bob Urban folgte ihm mit 12 Stunden Abstand am nächsten Tag. Solange brauchte er, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Um 16 Uhr, kurz vor Varkasz Dienstantritt im Ze ntralkrankenhaus, traf sich Bob Urban mit dem Neurologen in einem Cafe auf der Fischerbastei. 97
„Ich habe grünes Licht bekommen“, berichtete Urban vor einem Glas Tokaier, „sowohl finanziell wie aktionsmäßig.“ „Und was ist Ihr Ziel?“ fragte der übernächtigt und grau wirkende Arzt. „Sie werden mich für verrückt halten“, sagte Urban, „Sie werden behaupten, das sei unmöglich. Aber ich muß es versuchen. Ich habe völlig freie Hand.“ „Bitte, machen Sie es kurz.“ Urban blickte zum Fenster hinaus über die Donau und die Stadt. „Ich werde Sarrasanew sein“, murmelte er. Offenbar hatte der Arzt derartiges befürchtet. „Man kann vieles machen. Aber das ist purer Irrsinn.“ „Strengen Sie Ihre Denkzellen an. Finden Sie einen Weg, Doktor.“ „Selbst wenn es für einige Stunden zu schaffen wäre, es ginge nicht gut.“ „Wir müssen es sogar mehrere Tage lang schaffen. Mein Traumziel ist mindestens eine Woche.“ Varkasz leerte sein Glas und schüttelte stumm den Kopf. „Das endet schlimm. Glauben Sie mir.“ „Wie es endet, ist gleichgültig. Hauptsache, ich habe, solange ich Sarrasanew bin, für eine Minute Erfolg.“ „Und wie stellen Sie sich das vor, mein Freund?“ wollte der Arzt wissen. Urban war selten krank gewesen. Einige im Dienst erlittene Blessuren hatten ihn jedoch schon zu Hospitalaufenthalten gezwungen. Er kannte den Betrieb also. Im Prinzip war er in allen modern geführten Krankenhäusern ähnlich. „Sarrasanew muß heute nacht geröntgt werden, stimmt das?“ „Sobald ich es verantworten kann“, bestätigte Varkasz. „Sie schmuggeln mich in den Röntgenraum“, sagte Urban, „und schicken unter irgendeinem Vorwand Ihre Assistentin raus. Wie Sie das hinkriegen, ist Ihre Sache. Jedenfalls ist 98
der Mann, der die Röntgenabteilung auf der Bahre verläßt, nicht Sarrasanew, sondern Robert Urban.“ „Und der Professor?“ „Den schaffen Sie in eine andere Abteilung oder in eine Privatklinik, was weiß ich. Sie haben doch gewiß Möglichkeiten. Erst recht jetzt, wo Geld keine Rolle spielt.“ Der Arzt hielt alles für Wahnsinn, trotzdem schien es ihn zu reizen. „Und wie geht es mit Ihnen weiter?“ „Nach ein oder zwei Tagen bin ich plötzlich transportfähig.“ „Wohin?“ „Genau das möchte ich ja erfahren.“ „Irgendwann wird man merken, daß man den Falschen hat.“ „Erst wenn man mich an Ort und Stelle gebracht hat, hoffe ich. Erst wenn ich weiß, wozu man Sarrasanew so dringend braucht, daß man ihn aus Rom entführen ließ.“ Die Hände des Neurologen vibrierten, als er das Streichholz an seine Zigarette hielt. „Sprechen Sie denn gut genug Russisch?“ „Nein“, gestand Urban, „vielleicht tausend Worte. Nicht mehr als die Umgangssprache des Volkes. So gewählt wie ein Universitätsdozent kann ich mich nicht ausdrücken. Aber ich spreche perfekt Italienisch. Das lasse ich ein wenig durchklingen. Für eine Weile wird man mir den geborenen Italiener schon abnehmen.“ Dr. Varkasz zögerte noch immer. „Von Ihrem Einsatz scheint eine Menge abzuhängen“, bemerkte er. „Auf lange Sicht“, erwiderte Urban, „vielleicht sogar alles.“ „Das wird“, sagte der Arzt und begann den Satz noch einmal: „Das wird ein Todeskommando, mein Freund.“ Urban hob das Glas. Der goldgelbe Tokaier fing das Licht der Abendsonne. 99
„Nun“, meinte er, „ein Urlaub am Plattensee wird es voraussichtlich nicht.“ 10. Der amerikanische Zerstörer USS Arthur W. Radford lief Nordkurs durch die nebelverhangene Beringstraße. Nachdem das Prinz-Wales-Cap, die östliche Spitze Alaskas, passiert war, befahl der Commander Kursänderung auf rechtweisend Nord. In regelmäßigen Abständen hallte die Durchsage des Radarbeobachters aus dem Brückenlautsprecher. „Eisberg in Steuerbord zwanzig. Treibeis voraus:“ Dennoch ließ der Kommandant den Zerstörer mit Höchstfahrt durch den Dunst laufen. Gegen 14 Uhr Ortszeit wandte er sich an den stummen Zivilisten neben ihm. Er trug ebenfalls Schaffellmantel und Stiefel mit Korksohle. Nur an der blauen Baseballmütze ohne Eichenlaubstickerei sah man, daß er kein Seeoffizier war. „Wir können“, sagte der Commander. „Ich bitte darum“, antwortete Tim Muriel mit einem Lächeln unter den Bartstoppeln. Der Commander gab Befehl an seinen Artillerieoffizier. „Marschflugkörper klarmachen zum Start.“ Unter Deck hängte sich der Captain ans Mikrofon und fragte die für den Start der Flugkörper verantwortlichen Abteilungen ab. Die Rechenzentrale, die Flugleitstelle, die Leute am Bahnverfolgungsradar, die Techniker an den Preßluftkatapulten. Alle Abteilungen zeigten klar. Der Einsatz der Flugkörper, einem Mittelding zwischen unbemanntem Kleinflugzeug und einer V-2, das sich überschallschnell in Haushöhe durch das Operationsgebiet bewegte, lief unter der Bezeichnung Alpha-Beta-Test. In diesem Fall ging es darum, daß die Marschflugkörper 100
nach ihrem Start je eine Kreisbahn von 900 Kilometer Durchmesser beschrieben, Körper Alpha flog den Kreis im Uhrzeigersinn, Körper Beta gegen den Uhrzeigersinn. Da beide mit Mach 1,2 flogen, begegneten sie sich zwangsläufig auf einem der Startposition gegenüberliegenden Punkt der Kreisbahn. Dieser Ort lag am Rande des AnadyrGebirges in Nordostsibirien. Die Marschflugkörper würden auf ihrem Kreisbogenkurs Küsten, Sümpfe, Tundra, Taiga und Urwälder überqueren. Sie würden ferner Städte, Dörfer, Straßen, Flüsse, Kasernen, Flugplätze und militärische Anlagen überfliegen, sie fotografieren und nach ihrer Rückkehr von dem 3000 Kilometer langen Einsatz nahe dem Zerstörer an Fallschirmen landen. „Elektronic auf Solltemperatur“, meldete das Startteam. „Kreisel an.“ „Kreiselplattform eingependelt.“ Befehle und Rückmeldungen jagten einander. „Kursrechner Lage laufend.“ „Kontaktzerstörungsgeräte ein.“ „Bodenradar läuft.“ „Konturensteuerung grün.“ „Telemetrie auf Automatik.“ „Peilsender Code Omega.“ „Triebwerke an!“ befahl der Startoffizier und zählte rückwärts: „Four… three… two… one… zero! Lets go the babies!“ Er drückte den Knopf. An Achterdeck des Zerstörers schwoll ein Zischen an. Ein kondensierender Abgasschweif breitete sich aus. An seiner Spitze ein länglicher Gegenstand, der sich rasch entfernte, bald nur ein Punkt war, leicht wedelte und sich dann eingesteuert hatte. Kurz darauf startete Flugkörper Beta. Die Antennen und Radarschirme folgten den dahinsausenden Aufklärungsgeräten. „Start 14.09“, bestätigte der Artillerieoffizier, „Rückkehr 17 Uhr 13 OZ.“ 101
„Unser Problem ist jetzt“, wandte sich der Commander an seinen Gast vom Geheimdienst, auf dessen Weisung hin dieser äußerste aller möglichen Aufklärungsversuche unternommen wurde, „daß wir in drei Stunden wieder genau diese Position einnehmen. Um das zu garantieren wurde eine Peilboje ausgesetzt.“ „Und Sie glauben, daß die Russen die Dinger nicht runterholen werden?“ „Wie denn?“ fragte der Commander. „Wie und womit wollen Sie einen Gegenstand treffen, der überschallschnell in Baumwipfelhöhe daherkommt. Dagegen gibt es noch keine Abwehrwaffe. Dagegen hilft nur Laser. Und soweit sind die Sowjets noch nicht. Ein Treffer mit Flak oder Boden-Luftraketen wäre rein zufällig. Die Chance steht eins zu zehntausend.“ „Hoffen wir’s“, erwiderte Tim Muriel. „Es ist unsere letzte Chance.“ Er blieb auf der geheizten Zerstörerbrücke und ging nervös auf und ab, Stunde um Stunde, während sich die Arthur W. Radford durch die eisigen Fluten kämpfte. Immer wieder wandte er sich an den Commander: „Wie verläuft der Flug?“ „Alles okay, Sir. Alle Systeme arbeiten zuverlässig. Keine sowjetische Abwehr.“ „Und wenn sie doch einen von den Apparaten kriegen?“ „Dann zerstört die Selbstsprenganlage ihn in tausend kleine Trümmer. Sie spricht schon auf eine Verzögerung von null Komma eins – G – an.“ „Und wenn diese Anlage ausfällt?“ „Sprengen wir notfalls per Funk, Sir.“ „Und wenn der auch ausfällt?“ „Ja dann, Sir“, meinte der Commander seufzend, „müssen wir behaupten, es sei ein Irrläufer gewesen, der uns ausgerissen ist. Dann werden sich die Russen insgeheim freuen, daß ihnen ein so wertvolles Gerät in die Hände fiel. Aber die Möglichkeit steht eins zu…“ 102
Muriel winkte ab. „Danke, ich kenne Ihre statistischen Zahlen. Für mich ist wichtig, daß die Flugkörper heil zurückkehren.“ „Sie kriegen schon Ihre Filme“, versicherte der Commander. „In fünfzig Minuten müßten sie auf dem Radar zu sehen sein.“ Der Alpha-Beta-Test verlief nicht zur Zufriedenheit. Offenbar hatte Marschflugkörper Beta auf dem Rückweg östlich von Kap Desnew Kontakt mit einem Seevogel bekommen, oder mit einer Hagelwolke. Jedenfalls verschwand er von einer Sekunde zur anderen vom Radarschirm. Die Telemetrie meldete totale Zerlegung. Er hatte sich selbst atomisiert. Aber Alpha war ja noch unterwegs und näherte sich aus Süden genau auf Kurs und Höhe. Als er den Zerstörer in achtzig Meter Abstand passierte, wurden die Antriebsmotore abgestellt und per Funksignal der Fallschirm ausgestoßen. In einer Viertelmeile Entfernung schwebte der Marschflugkörper zum Wasser herab. Die bereits wartende Pinasse fischte ihn auf und brachte ihn an Bord. Sofort wurde im Labor das Spionagematerial, ein halber Kilometer Film mit mehr als zehntausend Einzelbildern, ausgewertet. Leider war der Film völlig unbrauchbar. Er war so schwarz, als hätte die Kassette Licht bekommen. Sie fanden nur eine Erklärung dafür. Entweder handelte es sich um Materialfehler, oder die Russen verfügten über ein System von Luftsperrzäunen auf Röntgenstrahlenbasis. Materialfehler konnten so gut wie ausgeschlossen werden. * „Eines ist sicher“, erläuterte der Rußlandexperte des Bundesnachrichtendienstes seinem Vorgesetzten, „ein Lungensanatorium für TB-Kranke Sowjetbürger ist es nicht.“ 103
„Und eine Bienenzuchtstation für Tannenhonigvölker ebenfalls nicht.“ Oberst Sebastian schlug mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte. Heute war sein Dackelgesicht wie eine Bronzemaske. „Meine Herren, so kommen wir nicht weiter. Ich will nicht wissen, was es nicht ist. Ich will nicht wissen, ob es ein bißchen nach Pferdeapfel oder Mozartkugel schmeckt. Ich will es genau haben. Was verbirgt sich unter diesem Viereck im Walde?“ „Wenn Sie mich so fragen“, meinte der Rußlandexperte, „dann behaupte ich ganz schlicht und ergreifend, auf Grund der uns vorliegenden Fakten, daß es sich um eine Isolierstation für sowjetische Wissenschaftler handelt.“ „Warum isoliert man sie?“ „Als die Römer frech geworden“, summte einer, „hat man sie aufs Maul gedroschen…“ „Nicht alle Forscher von Rang können plötzlich ein subversives Verhalten an den Tag legen“, zweifelte der Oberst. „Es gibt sehr linientreue Leute darunter. Ich möchte sagen, die Mehrheit ist absolut loyal der UdSSR gegenüber. Und selbst, wenn es anders wäre, würde man sie nicht an einem Ort zusammentreiben. Sie könnten zu rasch jene Konzentration erreichen, die man bei spaltbarem Uran die kritische Menge nennt.“ Der Rußlandfachmann seufzte. „Dann habe ich nur noch eine Erklärung, daß es sich um eine Denkfabrik handelt. Aber diese, Erklärung hatten wir schon mal, glaube ich.“ Sebastian lehnte sich zurück und kaute auf seiner kalten Virginia. „Schön, gehen wir von der Denkfabrik aus. Was wird dort erdacht?“ „Eine neue Politik.“ „Eine neue Ideologie, neue Strategien…“ „Neue Waffen“, äußerte ein dritter. 104
„Möglich, denn die Vertrage von Wien beziehen sich nur auf die alten und bekannten Systeme.“ „Eine neue Waffe also.“ Der Oberst steuerte das Gespräch mit geschickter Hand. „Was ist da im Kommen?“ „Alles Mögliche. Die Antimaterie-Bombe, die Antischwerkraft-Maschine. Nur durchführbar sind diese Projekt nicht. – Vorerst.“ Die Konferenz dauerte Stunden. Unmengen von Kaffee wurden konsumiert. Aber das Ergebnis war deprimierend. Immer wieder wurde das Hearing von Telefongesprächen unterbrochen. Meldungen kamen herein. Eine war von so niederschmetternder Art, daß Oberst Sebastian sie seinem Team mitteilen mußte. „Der Versuch der CIA“, faßte er es kurz, „Aufklärung mit Marschflugkörpern, ist gescheitert.“ Nach langer Stille sagte einer. „Bleibt uns nur noch Nummer achtzehn. Was macht er?“ „Sorgen“, antwortete Sebastian lapidar. „Seit 48 Stunden Funkstille.“ „Vor zwei Tagen sah es doch noch hoffnungsvoll aus.“ „Es ging auch ordentlich weiter“, berichtete der Alte, „der Trick gelang. Urban nahm Sarrasanews Rolle ein und Dr. Varkasz brachte den Professor in die Privatklinik eines befreundeten Neurochirurgen.“ „Von wem stammt die Information, daß es klappte?“ „Von Dr. Emele Varkasz. Er kassierte und brachte sich mit einer Krankmeldung aus der Schußlinie. Für den Fall, daß etwas schief läuft.“ „Haben sie Urban schon ausgeflogen?“ „Varkasz wollte es dieser Italienerin in Wien mitteilen. Leider meldet sie sich nicht.“ „Sie wohnt im Ambassador. Dort gibt es vielleicht sogar Telefon.“ Sebastian hob die Brauen. Sein Blick drückte aus, daß der Frager absolut beruhigt sein möge, da er schon das Nötige 105
veranlaßt habe. Vielleicht hatte er auch Gründe, das Team in diesem Stadium nicht in jede Phase einzuweihen. „Wir sehen uns wieder morgen um die gleiche Zeit“, sagte er. „Ich danke Ihnen, meine Herren.“ * An diesem Tag fühlte sich Sebastian reif werden für einen Herzinfarkt. Erst rief der V-Mann aus Wien an. „Die Rizzo ist verschwunden“, meldete er, „sie hat das Hotel seit 20 Stunden nicht mehr betreten.“ „Wer behauptet das?“ „Das Zimmermädchen fand das Bett unberührt.“ „Das kann bei einer Prostituierten vorkommen. Das ist nichts Besonderes.“ „Gewöhnlich üben die Damen ihren Beruf auf Reisen nicht aus. Erst recht nicht dann, wenn sie genügend Geld haben. Kennen Sie einen Musiker, der in den Ferien Trompete bläst? Ich nicht.“ „Hat die Rizzo das Zimmer gekündigt?“ „Es ist noch bis Freitag bezahlt.“ „Koffer, Kleider et cetera, wie steht es damit?“ „Alles vorhanden, Herr Oberst.“ „Weiter beobachten!“ befahl Sebastian und setzte sich mit Rom in Verbindung. Die BND-Residentur in Trastevere schickte sofort einen Mann los. Die Ermittlungen würden mehrere Stunden beanspruchen, hieß es. Solange wollte der Oberst nicht untätig warten und begab sich in die Funkzentrale. „Ich brauche einen Kontakt nach Prag“, sagte er. „Sobald er steht, gebt folgenden Auftrag durch: V-Mann soll von Prag aus Budapest anrufen, und zwar die neurologische Abteilung im Zentralkrankenhaus. Unter dem Vorwand, aus Moskau zu sprechen, soll er den Chefarzt verlangen und 106
folgende Frage stellen: Wie geht es Professor Sarrasanew…“ Das komplizierte Verfahren über Agentenfunk, Verschlüsselung, Durchführung und Entschlüsselung der Rückmeldung ging schneller als die Ermittlungen in Rom. Spät in der Nacht wurde der Oberst informiert. „Unser Mann in Prag hat Budapest erreicht. Das Zentralkrankenhaus meldet, daß der Patient die Reise angetreten habe. Man wunderte sich, daß er noch nicht am Zielort eingetroffen sein soll.“ „Gute Arbeit“, lobte der Oberst. Erst am Morgen meldete sich Rom. Marina Rizzo war spätabends mit einem Taxi bei ihrer Wohnung angekommen, hatte sich dort nicht länger als drei Minuten aufgehalten und war sofort wieder zum Flugplatz gefahren, um die Nachtmaschine nach Madrid zu nehmen. „Sieht wie Urlaub in Spanien aus“, meinte der Mann in Rom, „oder wie Flucht vor ihrem Zuhälter.“ „Oder wie Flucht vor etwas anderem“, kommentierte Oberst Sebastian. Mit grimmigem Gesicht saß er da. Das Kinn auf dem Binderknoten, starrte er die zwei Telefone an. Weder von dem grauen noch von dem schwarzen kam eine Antwort auf seine Fragen. Sie blieben stumm. Dafür war die Antwort aus seinem Inneren desto beunruhigender. Der Oberst wurde das Gefühl nicht los, daß sie diesmal nicht mit den Russen, sondern die Russen mit ihnen spielten. Und daß Bob Urban in die offene Falle rannte. 11. Sarrasanews Gesundung machte in einer Weise Fortschritte, daß sogar die Transportbegleiter staunten. Nur mit dem Sprechen haperte es. Es fiel ihm schwer. Offenbar hatte er seine Zunge nicht völlig unter Kontrolle. So etwas trat bei Gehirnerschütterungen bisweilen auf und würde sich bald 107
geben. Von der neurologischen Station des Budapester Ze ntralkrankenhauses bis zum Hubschrauber hatten sie ihn noch auf der Tragbahre befördert. Nach mehrstündigem Flug konnte er sich bereits auf eigenen Füßen vom Helikopter zum wartenden Jet begeben. Der Arzt des neuen Begleitteams, ein Tscheche, sprach nur wenig Russisch, was Bob Urban sehr entgegenkam. Sie unterhielten sich französisch. Das Flugzeug war ausschließlich mit Soldaten und Offizieren besetzt. Urban nahm an, daß es sich um eine militärische Transportmaschine handelte. „Wie“, fragte er, „war der Name dieses Flugplatzes soeben?“ „Bardejov, Professor“, sagte der Arzt. „An der Ondava?“ „Sie kennen die Karpaten?“ „Meine Stiefmutter stammt aus Galizien“, blieb Urban in seiner Rolle. „Meine kommt aus der Hohen Tatra“, sagte der Arzt. „Wie geht es Ihnen, Professor?“ Er fühlte Urbans Puls und zählte mit Blick auf seine Uhr die Schläge ab. „So gut wie seit Tagen nicht mehr.“ „Puls normal.“ „Wir nähern uns der Heimat. Daran liegt es wohl“, bemerkte Urban mit schiefem Blick auf seine Begleitmannschaft. „Wenn Sie Moskau meinen“, erklärte der tschechische Arzt, „muß ich Sie enttäuschen. Diese Maschine fliegt über Kiew nach Wolgograd.“ Längst hatte Urban aus dem Stand der Sonne geschlossen, daß es nach Osten ging. Bei Kurs Moskau hätte die Sonne querab zu den Steuerbord-Kabinenfenstern stehen müssen. Sie flogen ihr aber entgegen. Das erleichterte ihn einigermaßen. In Moskau hätte man binnen kurzem festgestellt, daß man ihnen ein Kuckucksei 108
anstelle von Sarrasanew untergeschoben hatte. Er hatte also noch eine Gnadenfrist. Die Zahl der Leute, die Sarrasanew kannten, verringerte sich mit dem Abstand zur Hauptstadt erheblich. „Möchten Sie ein Glas Saft?“ fragte der Arzt. „Und eine Schlaftablette“, bat Urban. Den Saft trank er, die Tablette schmuggelte er in die Hemdtasche. „Wenn Sie wünschen“, schlug der Arzt vor, „kippen wir den Sitz ab und Sie können die Beine hochlegen.“ Das fehlte noch, dachte Urban. Wenn du einschläfst, ziehn sie dir die Schuhe aus und merken, daß sie schwerer sind als sie eigentlich sein dürften und daß der linke noch etwas gewichtiger ist als der rechte, speziell beim Absatz. „Danke, Doktor. Ich fühle mich prächtig.“ Nach 50 Minuten Flug, als sie hoch über die endlosen Getreidefelder der ukrainischen SSR flogen, machte der Arzt ein Nickerchen. Daraufhin schlief auch Urban ein wenig. * An der Wolga wurde die Jakowlew aufgetankt. Dann ging es in einem Rutsch bis Omsk, einem Knotenpunkt der sibirischen Eisenbahnlinie. „Hier verlasse ich Sie“, bedauerte der Tscheche. „Ich absolviere in Tara einen Kurs für Organtransplantation. Darf ich Ihnen meine russische Kollegin, Dr. Nicalaya Kirowa, vorstellen.“ „Freut mich“, sagte Urban mühsam lächelnd. Da in Omsk das Flugzeug gewechselt wurde, begab sich Urban, gestützt auf die weizenblonde Ärztin, gefolgt von zwei stummen Leibwächtern, zu einer Steinbaracke. „Die Tupolew“, unterrichtete ihn Dr. Kirowa, „die uns nach Magadan bringt, ist noch nicht da.“ Jetzt, wo Sibirien in seiner ganzen Weite vor ihnen lag, waren Mittelstreckenflugzeuge unrentabel. Für die großen Sprünge bis zum Pazifik setzten sie Langstreckenjets ein. 109
„Wohin“, fragte Urban um bestes Russisch bemüht, „begeben wir uns denn?“ „Magadan“, wiederholte die stämmig dralle Ärztin. Urban legte den Arm um ihre Schulter, während er sich offenbar mühsam über den Beton schleppte. „Magadan am Aralsee etwa?“ „Gibt es dort ein Magadan?“ „O ja, ich habe schon meine Ferien in der Gegend verbracht“ „Ich meine Magadan am Ochotskischen Meer.“ „Das ist weit“, murmelte Urban erschrocken, „sehr weit. Dann ist es also wahr.“ „Was?“ „Es geht in den Anadyr-Distrikt.“ Die Ärztin nickte. „Man wartet schon auf Sie, Professor.“ Jetzt erst schien Urban zu merken, daß sie nicht russisch sprach. „Warum“, fragte er erstaunt, „antworten Sie mir immerzu in Italienisch?“ „Als Italo-Russe verstehen Sie es doch.“ „Es war meine Muttersprache“, betonte er. „Ich habe es als Austauschstudentin in Libyen gelernt, das ja einige Zeit von den Italienern besetzt war. In Tripolis sprechen noch viele Menschen Italienisch. Ich finde, Italienisch ist eine schöne Sprache.“ „Nun, es ist die Sprache Dantes und D’Annunzios.“ „Wobei wir letzteren ruhig vergessen können“, bemerkte Nicalaya spöttisch. „Ich pflege mein Italienisch sehr. Wenn unsere Freunde von der Communista Italiana zu Besuch weilen, bin ich sogar als Dolmetscherin tätig.“ „Va bene“, sagte Urban. „Sprechen wir ein bißchen von Rom!“ „Nein“, entschied die Ärztin, „Sie bekommen jetzt eine Spritze und werden schlafen. Meine Aufgabe ist, Sie in bestmöglichem Zustand ans Ziel zu bringen.“ 110
Was sollte er dagegen tun. Den Inhalt einer Schlafspritze konnte man nicht heimlich in die Tasche stecken oder ausspucken. * Als Urban erwachte, schielte er zuerst nach seinen Schuhen. Er hatte sie noch an. Er war davon erwacht, daß sein Sessel schwankte, als bewege sich das Flugzeug durch starke Turbulenzen. Aber er befand sich nicht an Bord eines Flugzeugs, sondern auf einem Motorboot, das mit hoher Geschwindigkeit flußaufwärts durch die milchige Polarnacht fuhr. Die junge Ärztin saß im Sessel gegenüber. „Wie lange“, fragte Urban gähnend, „habe ich geschl afen?“ „Sechstausend Kilometer weit“, erklärte Dr. Kirowa bereitwillig. „Also glatt zehn Stunden.“ „Vierzehn“, verbesserte sie. „Denn wir brachten Sie noch vom Flugplatz Anadyr zum Hafen.“ Das Boot war innen und außen blaugrau und gehörte demnach zur Marine. Es lief mindestens 20 Knoten. Zwei Diesel lärmten hinter dem Querschott des Aufenthaltsraumes. Soweit Urban durch das Bulley sehen konnte, war der Himmel klar bis hinauf zu den Sternen. Sie fuhren etwa in Nordrichtung. Das Ufer lag wie ein schwarzer Strich zwischen dem Wasser und dem Himmel. Da drüben begann der sibirische Urwald. „Der Anadyr?“ fragte Urban. Der Anadyr konnte es kaum sein. Er uferte in seinem Mündungsgebiet zu weiten Seen und buchtenreichen Sunden aus, ehe er sich in den Golf und in die Bering-See ergoß. Auch war der Anadyr sehr breit, während dieser Fluß starke Strömung aufwies. „Der Kantschalan“, sagte die Ärztin. 111
„Nie gehört.“ Natürlich hatte er vom Kantschalan gehört. Noch vor wenigen Tagen, in München, hatte er das Gebiet um das mysteriöse Waldviereck so genau studiert, wie es die vorhandenen Karten zuließen. Der Kantschalan mündete in den Anadyr. Weiter oben, nachdem er einen See durchfloß, teilte er sich auf. Sein östlicher Arm berührte das geheimnisvolle Viereck im Urwald. Was sie vermutet hatten, traf also zu. Es gab keine Straße dorthin, weil man keine Straße brauchte. Einmal im Jahr war der Fluß für wenige Wochen eisfrei und schiffbar. In dieser Zeit schaffte man Ausrüstung und Vorräte für zehn Monate hinauf. Der Rest ließ sich mit Hubschraubern erledigen. „Dann ist es also wahr“, murmelte Urban bestürzt. „Man bringt uns ans Ende der Welt, als Teil einer gigantischen menschlichen Denkmaschine. Man glaubt eine Massierung von Gehirnen hoher Qualität müsse auch zu außergewöhnlichen Erfolgen führen.“ „Ich weiß nicht, warum man Sie hierherbringt“, erwiderte die Ärztin glaubhaft, „aber wäre die von Ihnen geäußerte Erklärung denn so unlogisch?“ „Durchaus nicht“, sagte Urban. „Doch vergißt man offenbar, daß sich menschliche Gehirne nicht ohne weiteres anzapfen lassen. Voraussetzung für Kreativität ist das physische und psychische Wohlbefinden der Hüllen, in denen sich die Hirne befinden, der Menschen also.“ Die Ärztin schälte eine Orange und reichte sie ihm. „Dafür wird gesorgt sein, Professor Sarrasanew.“ „Da oben im Urwald, bei Nässe und Kälte, in klammer Feuchtigkeit, gequält von Mückenschwärmen und Insekten. Wo will man uns unterbringen? In Zelten etwa?“ „In der Wärme der Erde“, deutete Dr. Kirowa an. „Wie Maulwürfe.“ „Die Maulwurfsarbeit“, sagte die Ärztin, „leisteten schon andere Leute. Vor dreißig Jahren.“ 112
„Vor so langer Zeit wurde das Unternehmen schon geplant? Das glauben Sie doch selbst nicht, meine Liebe.“ „Damals grub man unter dem Hügel nach Blei“, erzählte die Ärztin. „Als die Erde nichts mehr hergab, war sie von Gängen, Stollen und Tunnels durchzogen wie ein Ameisenhaufen. Bei seinem Anblick muß jemand auf die Idee gekommen sein, daß sich dieser Hügel mit seiner nahezu pyramidenhaften Basis hervorragend zur Lagerung von Atombomben eignet. Davon sah man jedoch aus strategischen Gründen ab und baute den Hügel zur zentralen Befehlsstelle und Radarzentrale für Nordostsibirien aus. Dies wurde mit der Präzision und Akkuratesse, für die die kostenlosen Erbauer bekannt waren, durchgeführt“ „Wieso kostenlos?“ fragte Urban Schlimmes ahnend. „Rabota, rabota, wer arbeitet schon umsonst?“ „Nun, die Arbeitskräfte begnügten sich mit etwas Brot und Fisch pro Tag. Sie lebten und schufteten wie Sklaven für die vage Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein und in die Heimat entlassen zu werden. – Was man dann auch tat. Die letzten schickte man I960 nach Hause.“ „Aus Kriegsgefangenschaft.“ Urban verbarg mühsam seine Erschütterung. „Nach Deutschland“, ergänzte die Ärztin. „Soweit sie es überlebten.“ Ein Schauer überlief ihn bei dem Gedanken, hier 15 Jahre gefangen zu sein und Tag für Tag unter der Erde im Blei wühlen zu müssen. „Sie machten wirklich eine feine Festung daraus“, fuhr die Ärztin fort, „wenn das Bauwerk auch niemals dem geplanten Zweck zugeführt wurde. Ich war vor zwei Jahren für mehrere Wochen dort, um an einem Forschungsprojekt für die Heilung von Erfrierungen mitzuwirken. Es läßt sich schon leben in Sibirien.“ „Wenn man es freiwillig tut“, schr änkte Urban ein. „Die deutschen Gefangenen bauten nach und nach ihr ganzes Barackenlager in das Bergwerk ein und verbanden die 113
Baracken miteinander. So entstanden Straßen und Plätze. Eine kleine Stadt unter der Erde. Hübsch warm und ungezieferfrei.“ „Mit künstlichem Licht Tag und Nacht und viel Mief“, fügte Urban hinzu. „Für Frischluft sorgt die Ventilation.“ „Und für Blumen und Bäume und frisches Obst und Gemüse.“ Urban erwähnte die Dinge nicht aus Ironie, sondern um der Ärztin soviel Einzelheiten wie möglich über die Anlage zu entlocken. „Zugegeben, man lebt fast nur von Konserven und Tiefkühlkost. Auch Waldspaziergänge fallen weitgehend aus. Es gibt nur ein Tor zu dem unterirdischen System, das Tunnelende unten am Fluß. Und die Bäume über dem Bleihügel sterben langsam ab. Weiß der Teufel warum.“ „Ihre Wurzeln finden keine Nahrung mehr.“ „Als das Blei noch im Berg war, fanden sie auch keine bessere.“ „Der Mensch gewöhnt sich an alles“, spottete Urban, „aber die Bäume noch lange nicht.“ „Nun“, meinte die Ärztin, „man wird genügsamere Sorten anpflanzen.“ „Bis dahin hoffe ich, wieder in Moskau zu sein.“ Nicalaya lächelte. „Wenn Sie fleißig sind, Professor, vielleicht.“ „Ich muß mal raus“, sagte Urban nach einer Weile. * Das WC auf diesem schlingernden. Schnellboot war zwei Quadratmeter groß, mit blaugrauen Holzwänden, einer Blechpißrinne und einer total verschmutzten Kloschüssel. Aber es hatte ein Bulley. Am Glas schäumte Spritzwasser vorbei. Trotzdem öffnete Urban die Verschraubung, zog den verrosteten Eisenring auf und atmete erst einmal in tiefen 114
Zügen die Nachtluft ein. Dann streifte er seinen linken Slipper ab. Nachdem er den Federdruck überwunden hatte, ließ sich der Absatzgummi erst drehen, dann verschieben. Ein griffiger Bananenstecker bildete das Ende der Drahtwicklung auf einer Spule. Urban zog die Antenne viermal armlang aus, warf sie aus dem Bulley und betätigte mit dem Fingernagel den winzigen Batterieschalter. Der Sender war „on“. Von da ab suchte die Mikroelektronik automatisch eine für ihre Frequenz aufnahmebereite Station. Sie setzte ihre verschlüsselten Rufzeichen solange ab, bis irgendwo eine Bandmaschine ansprang, ein Alarmsignal blinkte, oder ein Funker den Empfang bestätigte. Das konnte schnell gehen, konnte aber a In diesem Fall dauerte es solange, bis Urban an der Tür ein Klopfen ve rnahm. „Ist Ihnen nicht gut, Professor?“ In diesem Moment leuchtete eine grüne Minidiode auf. Urban betätigte die kleine Gummiwölbung unter der sich der Quetschtaster befand. „Keine Sorge“, rief er, „ich lebe noch.“ Er formulierte seine Mitteilung so knapp, daß die Durchgabe weniger als eine Minute beanspruchte und bat um Weiterleitung gemäß Code ,Rote Festung’. Als Bestätigung zuckte die grüne Leuchtdiode zweimal auf. Irgendwo in der Bering-See, im Eismeer oder an den Küsten Alaskas hatte sein Ruf eine zuständige Antenne erreicht. Der Geheimcode ,Rote Festung’ würde sie zwi ngen, die Nachricht sofort nach Washington weiterzugeben. Und wenn Tim Muriel sie hatte, dann hatte sie der BND wenig später. Urban zog die Antenne ein, verstaute den superdünnen Draht im Absatz, verschloß ihn, zog den Schuh an und betätigte die Spülung. Verdammt, dachte er, warum kam keiner auf die Idee mit 115
den Kriegsgefangenen. Tausende von Männern, die bei Kriegsende nach Sibirien deportiert worden waren, lebten noch. Warum hatte niemand daran gedacht, sie zu befragen? Es wäre so einfach gewesen. Das Rote Kreuz hatte jeden Namen und jedes Lager peinlich genau registriert. Wieder wurde an die Tür gehämmert. „Professor Sarrasanew, wir sind gleich da.“ „Komme ja schon“, rief er, öffnete die Tür und schloß ostentativ den Hosengürtel. * Im Morgengrauen legte das Flußschnellboot an. Der schwimmende Landungssteg bestand aus dicken Baumstämmen, die auf alten Ölfässern festgezurrt waren. Auf diese Weise richtete er sich selbsttätig nach dem Flußwasserstand. Dreifache Autoreifen dämpften das Scheuern des Bootsrumpfes. Inmitten seiner Begleitmannschaft wurde Urban an Land gebracht. Vom Ufer ab ging es etwa fünfzig Meter sanft bergauf bis zu einer Böschung. Oberhalb von ihr gähnte ein scheunentorgroßes mit Brettern verschaltes Loch. Aus dem Loch heraus führten zwei Feldbahngeleise. Auf dem rechten stand eine Lore. Vorn an dem Rollwagen hing ein Seil. Das Drahtseil führte in den Berg hinein. Die Ärztin, Urban und die Leibwächter nahmen auf den Klappbänken Platz. Ein Mann kurbelte an einem Feldtelefon, sprach etwas hinein. Wenig später spannte sich das Seil und zog die Lore samt Ladung in die Tunnelröhre. Die Schienen führten mit etwa fünf Prozent Steigung bergauf. Ab und zu beleuchtete eine Lampe die roh behauene Tunneldecke. Nach dreiminütiger Reise im Radfahrtempo kam ihnen auf dem anderen Schienenstrang eine Lore entgegen. Sie hing ebenfalls an einem Drahtseil und war voll beladen. 116
Urban durchschaute das technische Prinzip dieser Bahn mühelos. Die schwere Lore zog über eine Umlenkrolle am Tunnelkopf die leichtere bergwärts. Da die Begegnung unter einer Lampe stattfand, sah Urban, daß die von oben kommende Lore mit Abfällen voll war. Zweifellos erzeugte die Besatzung einigen Müll. Zusätzlich hatte aber jeder Rollwagen unten noch einen Ballasttank, der wohl mit Abwasser und Fäkalien gefüllt wurde, und so für die nötige Ziehkraft sorgte. „Immerhin“, staunte Urban, „gibt es elektrische Energie hier.“ „Warum nicht, Genosse.“ „Selbstversorgung über Stromaggregat.“ „Sogar dreifach. Wir haben ein kleines Flußkraftwerk, eine Überlandleitung und einen Notdiesel.“ Die Wagen hatten sich genau in der Mitte des Tunnels getroffen. Die Fahrt bis zu der Kopfstation dauerte noch einmal drei Minuten. Mit hartem Ruck hielt der Wagen am Prellbock. Sie stiegen aus, marschierten durch den ebenen Stollen in ein Wachbüro. Die Begleitmannschaft übergab Urban und die Transportpapiere gegen Quittung. Ein Offizier im Hauptmannsrang musterte Urban durch die Brille. „Professor Sarrasanew?“ „Zur Stelle“, antwortete Urban absolut unfreundlich. „Wir haben lange auf Sie gewartet.“ „Dann hat sich Ihr Warten ja gelohnt.“ „Wie geht es Ihnen?“ „Beschissen“, sagte Urban, weil ihm zufällig das passende Wort dafür einfiel. Urban schaute sich so unauffällig um wie schon auf dem Schnellboot und bei der Anlegestelle. Seine geschulten Augen nahmen alles auf, jede Kleinigkeit. „Überstellen Sie den Genossen ins Hospital“, wünschte die Ärztin. 117
„Aber… man braucht ihn dringend.“ „Was hat man davon, wenn er zusammenklappt. Ich bin für ihn verantwortlich.“ „Meinetwegen“, entschied der Offizier. „Er kann ja schon im Hospital Vorgespräche führen.“ Der Hauptmann wandte sich wieder an Urban. „Sie wissen warum Sie hier sind, Professor?“ „Warum ja, wozu, leider nein.“ „Viele Ihrer Kollegen der Moskauer Universitäten sind ebenfalls… hm… zu Gast. Man wird Sie in Ihre Aufgabe einweihen. Welchen von den Genossen bevorzugen Sie denn als ersten Gesprächspartner?“ Urban wurde weich in den Knien. „Am besten“, schlug die Ärztin vor, „einen Kollegen, den Professor Sarrasanew gut kennt“ „Ja, das wird am besten sein“, pflichtete ihr Urban bei. Der Offizier und die Ärztin warteten geduldig; „Wen also möchten Sie zuerst sehen, Professor?“ „Wer ist denn alles da?“ Der Offizier lächelte. „Nun, Tomkin, Oldenow, Peruschkin, Palowski.“ In Urban drehte sich der Gedankenkreisel. Jeder von diesen Männern würde in Sekunden feststellen, daß er nicht Sarrasanew war. Urban sah nur noch eine Chance. „Wie war’s mit Antipow?“ fragte er. „Ignatij Antipow, Lehrstuhl für Physik, Frunse-Universität.“ „Na schön, sprechen Sie mit Antipow. Warum nicht.“ „Aber erst muß ich eine Stunde schlafen.“ Der Hauptmann gestattete es, wenn auch ungern. Daraus schloß Urban, daß die Wissenschaftler hier alles andere als freie Menschen waren. Sie waren Gefangene, die Ideen zu produzieren hatten, wie Hühner ihre Eier in der Legebatterie.
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12. Professor Antipow war nicht wenig erstaunt, zu dem Kollegen Sarrasanew gerufen zu werden. Seit Jahren empfand er für den Mikrobiologen eine tiefe Abneigung, hervorgerufen durch wissenschaftliche Auseinandersetzungen und Kollegenstreit. Und ausgerechnet ihn wünschte der große Sarrasanew zu sprechen. In dem Augenblick, als Antipow das Krankenzimmer auf der Revierstation betrat und den Mann im Korbstuhl sitzen sah, war er überzeugt, daß man ihm eine Falle stellte. Und zwar wegen seines Verhaltens in Moskau in der Nacht vor dem Abtransport. Der Mann im Sessel stand langsam auf, ging ihm entgegen, ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Freut mich, Sie hier zu sehen, Antipow“, sagte er weit unter Zimmerlautstärke. Der Physiker tastete nach seiner Brille, holte sie aus der Tasche der Strickweste, setzte sie auf und bekam übergroße Augen. „Sarrasanew“, antwortete er ebenso leise, „Sie sind nicht Piotr Sarrasanew.“ In diesem Punkt ließ sich Bob Urban gar nicht erst auf eine Diskussion ein. „Ich soll Sie von Candy grüßen, Ignatius.“ „Candy, wer ist Candy?“ „Candy Philips“, fuhr Urban fort. „Man erschwerte ihre Arbeitsbedingungen in Moskau derart, daß sie die Hauptstadt verlassen mußte. Sie wissen wohl auch warum. Candy ist in New York und wartet dort auf Sie.“ „Auf mich?“ tat der Physiker erstaunt. „Ich soll Ihnen ausrichten, daß sie sich sehr freuen würde, wenn es Ihnen gelänge… Offenbar liebt Candy Sie.“ Der flüchtige Glanz in Antipows Gesicht verlor sich sofort wieder. 119
„Ich kenne diese Frau nicht“, zischte er. „Und Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben. Man will mir bloß eine Falle stellen. Ich weiß auch wer. Der Geheimdienst, der KGB. Sind Sie extra deswegen aus Moskau gekommen, um mich… oder was zum Teufel wollen Sie sonst von mir?“ Urban hatte sich wieder in den Sessel fallen lassen. Vielleicht war er einst von einem oberfränkischen Korbflechter hergestellt worden. „Das ist doch alles verdammt unlogisch, Antipow“, erwiderte er. „Wenn ich KGB-Agent wäre, würde ich dann als Professor Sarrasanew auftreten?“ Einen Moment lang schien es bei Antipow auszuhaken. Doch sofort triumphierte die Angst wieder über die Logik. „Euch traue ich alles zu.“ „Offenheit gegen Offenheit“, schlug Urban vor. „Ich bin kein KGB-Agent. Ich komme aus dem Westen.“ Das glaubte ihm der Physiker noch weniger. „Soso, ein Westagent sitzt hier, an einem Ort, der schwerer zu erreichen ist, als die ewige Seligkeit.“ „Es gelang, indem ich Sarrasanew spielte. Man mußte ihn entführen. Aus Rom. Ersparen Sie mir Einzelheiten. Jede nfalls nahm ich seine Stelle ein. Aber ich bin sicher, daß meine Frist nur kurz ist.“ „Das klingt zu phantastisch, um wahr zu sein“, entgegnete Antipow. „Kein Mensch der Welt, auch nicht ein westlicher Spitzenagent, wählt freiwillig den Tod. Denn daß Sie als Westagent ein toter Mann wären, ist so gut wie unterschrieben. Ein lebender Toter wären Sie. Ihr Geständnis zwingt mich, Sie dem Polit-Offizier zu melden.“ Er wollte gehn. Urban eilte ihm nach und hielt ihn zurück. „Ich weiß, daß Sie es noch immer für eine Falle des KGB halten. Errichtet, um Ihre Loyalität gegen den Staat zu prüfen.“ „So ist es“, gestand der Physiker. „Denn wie könnte ein Mensch es wagen, ohne Zwang hierherzukommen. Und dies 120
noch unter Anwendung aller nur möglichen Tricks. Sie müssen doch wissen, daß kein Mensch ohne Befehl aus Moskau diesen Ort jemals wieder verläßt. Im Westen breitet sich zehntausend Kilometer weit Sibirien aus, im Norden und Osten ist das eisige Meer. Der Fluß kann nur mit Tragflügelbooten befahren werden. Weder Fallschirmjäger noch Hubschrauber könnten hier landen, um einen Agenten herauszuholen. Sie würden im Feuer der Abwehrraketen und der Flak vom Himmel geputzt. Das, was Sie mir glaubhaft machen wollen, könnte nur ein Wahnsinniger unternehmen. Und deshalb tut es mir leid, Mister, Sir, Signore, Monsieur oder Herr, aber mit Verrückten kooperiere ich nicht.“ Er hatte es aus sich herausgeschleudert, hatte sich erleichtert. Jetzt lehnte er erschöpft an der Barackenwand. „Vielleicht“, äußerte Bob Urban ganz ruhig, „gibt es doch eine Chance.“ „Nur für einen Mann, der sich unsichtbar machen kann, der durch die Wände zu gehen oder mittels transmaterieller Fähigkeiten in Sekundenschnelle zwischen den Erdpolen zu wandern vermag.“ Urban versuchte zu lächeln. Er versuchte wie ein Mensch zu erscheinen und nicht wie ein überirdisches Wesen. „Das alles kann ich natürlich nicht“, bedauerte er, „und da ich Ihrer Meinung nach absolut erledigt bin…“ „Es ist nur eine Frage von Stunden, bis man Sie entlarvt hat.“ „Da ich also nur noch kurze Zeit existiere, können Sie mir vielleicht verraten, lieber Professor, was der tiefere Sinn dieser sibirischen Waldfestung ist“ „Ein Freizeitheim für Wissenschaftler“, spottete Antipow. „Zum Zwecke des Spintisierens.“ „Oder zur Entwicklung unkonventioneller Denkprozesse, Auslotung der Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch gegenseitige Anregung und Befruchtung.“ „In Konkurrenz wie beim Marathonlauf.“ 121
„Nein“, versicherte Antipow kopfschüttelnd, „sportlich ist es ganz und gar nicht.“ „Sondern todernst. Der Wettlauf in der Rüstung, die Suche nach neuen Waffen, nach neuen Vernichtungssystemen, ist in der Tat wenig spaßig.“ „Woher wissen Sie“, setzte Antipow an, „das ist doch alles…“ „… die Steigerung von supergeheim“, ergänzte Urban. „Aber da ich sowieso ein toter Mann bin, erzählen Sie mir doch ein bißchen was. Nur um meine Neugier zu befriedigen.“ Antipow fühlte sich diesem Burschen gegenüber, der sein Schicksal hinnahm wie ein Fatalist, auf merkwürdige Weise gehemmt. „Oder glauben Sie etwa“, gab Urban zu bedenken, „ich könnte die Ergebnisse nach Washington funken, nach Paris, nach München? Womit denn bitte. Dazu müßte ich über ein Funkgerät verfügen. Sehen Sie hier etwas Derartiges?“ Urban schwenkte die Füße hoch auf den Tisch, überkreuzte sie und ließ die Arme entspannend baumeln. Über die Spitzen seiner schwarzen Slipper visierte er den Physiker an. „Oder fürchten Sie, man hätte mir ein Funkgerät inplantiert. In die Brusthöhle vielleicht.“ „Das war alles schon da.“ „Dann schon eher in den Schuhabsatz“, sagte Urban lächelnd und nahm die Beine wieder vom Tisch. „Was haben Sie jetzt vor, Antipow?“ „Ich weiß es noch nicht.“ „Sie müssen sich erst klar werden, ob man Sie nicht doch in einen Hinterhalt lockt.“ „So ist es.“ „Fällt Ihnen mein miserables Russisch nicht auf?“ „Man kann sich verstellen.“ „Aber die Möglichkeit, daß ich kein KGB-Agent bin, die räumen Sie mir doch wenigstens ein.“ 122
„Eine sehr geringe.“ „Was kann ich tun“, fragte Bob Urban gradeheraus, „daß Sie mir glauben, daß Sie mir helfen? Es würde mein Leben retten, das Ihre und vielleicht zukünftige Kriege verhindern.“ Der Physiker starrte ihn an, hob die Hände und ließ sie fallen. „Ich weiß nicht“, sagte er verzweifelt, „ich weiß wirklich nicht.“ Damit ging er. * Dr. Kirowa schaute zu Urban herein. Sie maß seine Temperatur, seinen Blutdruck, die Pulsfrequenz. Danach gab sie ihm einen Klaps auf die Schulter. „Sie sind so gut wie neu, Professor.“ Urban zog sein Hemd wieder an. „Dann kann es ja losgehen.“ „Wenn Sie mögen, sofort“, entschied die Ärztin. „Grade findet im kleinen Vortragssaal ein Referat von Tomkin statt. Ein Grundsatzreferat wie ich hörte. Sie sollten es sich nicht entgehen lassen.“ Urban überlegte fieberhaft. Wenn Tomkin von der StaatsUniversität ein Grundsatzreferat hielt und er nur die Hälfte davon verstand, dann kannte er unter Umständen schon die Generalrichtung der sowjetischen Bemühungen. Dann hatte er sogar noch eine Möglichkeit lebend wegzukommen. Allerdings mußte er die einzige Chance, die ihm blieb, sofort aktivieren. War sie jedoch aktiviert und das Referat brachte nichts, dann hatte er seinen Absetzversuch zu früh eingeleitet, und alles war umsonst. „Was haben Sie, Professor?“ fragte Nicalaya, „ist Ihnen nicht gut?“ Urban starrte auf das Stromkabel, das am Türrahmen hoch 123
zum Lichtschalter und weiter zur Lampe lief. Er war unschlüssig. Sollte er seinen Sender betätigen, oder war es noch zu früh? „Ich komme gleich“, sagte er. „Sie würden den Weg nicht finden“, beharrte die Ärztin. „Hier unten ist es schlimmer als in einer Wühlmausburg. Ich bringe Sie lieber hin.“ „Ich kann ja fragen. Oder?“ „Wen?“ entgegnete die Ärztin lächelnd, „Ihre Kollegen sind alle beim Vortrag, und von den Wachmannschaften hat hier keiner etwas zu suchen. Sie würden sich vorkommen wie ein Blinder auf einem Hochgebirgspfad.“ „Na schön“, gab er nach und folgte der Ärztin. Das Labyrinth des Minos auf Kreta war eine übersichtliche Anlage gegen diese Festung unter der Erde. Zwar hatte man Hinweisschilder an den lehmgelben geglätteten Erdwänden befestigt, aber sie wiesen nur Symbole auf. Ziffern oder Gruppen von kyrillischen Buchstaben. Die Beleuchtung war ausgesprochen spärlich. Ab und zu hing eine unverkleidete 50er Birne an der Decke. Es gab zahllose Treppen und Quergänge, alle glitschig vor Nässe. Viele Geschosse waren durch schiefe Ebenen miteinander verbunden. Endlich tauchte wieder die Wand einer hölzernen Baracke auf, die man in Teilen in das Bergwerk transportiert und dort zusammengenagelt hatte. Die Fenster der Baracke wirkten wie die aufgerissenen Augen von Höhlengeistern. Überall stank es in einer verwi rrenden Mischung aus Dieselkraftstoff, Abfällen und dem Desinfektionsmittel Karbol. „So etwas“, sagte Dr. Kirowa, „haben Sie noch nicht gesehen, wie?“ „Wahrhaftig nicht!“ gestand Urban.
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Der kleine Vortragsraum, den sie am Ende eines Baracke nganges betraten, war abgedunkelt. Auf der Leinwand stand ein Bild mit Zahlen, Kurven und Diagrammen. Das Bild wechselte. Urban nahm in der hintersten Stuhlreihe Platz. Vor sich konnte er etwa zwanzig Köpfe zählen, vielleicht auch fünfundzwanzig. Drei Meter neben ihm stand der Diaprojektor auf einem Stativ. Sobald der Vortragende seinen Zeigestock am Boden aufstieß, schob der Mann am Projektor das neue Dia vor die Linse. Diesmal eines mit Molekularstrukturen, vermutlich durch ein Elektronenmikroskop aufgenommen. Danach gab es für eine Weile kein Bild mehr. Der Vortragende war von der Leinwand zu seinem Pult zurückgekehrt. Die kleine Leselampe über dem Manuskript stellte die einzige Beleuchtung des Raumes dar. Offenbar verzichtete man aus Konzentrationsgründen auf Licht. Professor Tomkin von der Staatsuniversität fuhr fort: „Gegen diese massive Macht des Gegners“, sagte er mit mikrofonverstärkter Stimme, „kann man natürlich mit noch mehr Raketen, mit noch mehr Nuklear-Sprengstoff, mit noch mehr Bombern, Tanks und U-Booten antworten. Aber eines Tages würde unsere ganze sozialistische Volkswirtschaft zum großen Teil nur für die Rüstung arbeiten und nicht für die Bedürfnisse der Zivilisation. Deshalb müssen wir den Weg der leisen, der subversiven Destruktion beschreiten, meine Freunde. Dies um so mehr, als die dazu erforderlichen Kräfte ganz gratis und umsonst für uns arbeiten, wenn wir sie erst einmal aktiviert haben.“ Es hörte sich ungeheuer nach Wissenschaftler-Chinesischan, aber bald sagte der Experte deutlicher was er meinte. „Was in dieser, unserer Welt ist nun in der Lage, unbemerkt, fast lautlos und doch unaufhaltsam die tödlichen Erfindungen des menschlichen Geistes zu vernichten, die 125
Waffen aus Stahl, aus Titanium, aus angeblich unzerstörbaren Kunststoffen? – Nun, meine Freunde, die Killer stehen schon bereit. – Es sind Winzlinge, von einem Tausendstel Millimeter Größe. Bakterien. Natürlich nicht allgemein bekannte, sondern solche Bakterien, die von unseren Molekularbiologen und Genetikern in ihren Labors vorher umgebaut und programmiert wurden.“ Kurzer Applaus unterbrach den Vortragenden. „Genetic Engineering“, machte Tomkin weiter, „nennen es die Amerikaner. Wir aber sind ihnen in diesem Punkt weit voraus. Die phantastischsten Zukunftsvorstellungen wurden bei uns bereits realisiert.“ Der Vortragende holte nun weit aus. Über den Inder Har Gobind Khorana, der die Erbanlagen entschlüsselte, kam er zu jenen Mikroben, die in der Lage waren, aus Müll Treibstoffe zu produzieren, indem sie sie verdauten und umsetzten. Weiter gings zu den Bakterien, die Insulin für Diabetiker erzeugen konnten, zu solchen, die ungedüngte Pflanzen zu größtem Wachstum trieben, und zu anderen, die Plastiktüten wieder zu Öl verwandelten. Tomkin erwähnte auch jene Bakterien, die wiederum Öl fraßen und es in Eiweiß umsetzten. Endlich stieß er zum Kern seines Referates vor. „Bei den Prokaryonten“, sagte er, „den primitivsten Formen des Lebens, entdeckten wir die Fähigkeit zum Austausch von Erbinformationen und einen Stoff, der gefährlicher sein kann als alle Atomkraftwerke der Erde zusammen. Einen Stoff, der, um es einfach auszudrücken, sogar Edelmetalle rosten läßt. Und das blitzschnell. Er zersetzt Silber, Gold und Platin. Wenn man ein Ärosol davon auf jede Art von Materie bringt, verliert sie alle in der Technik geschätzten Eigenschaften. Was dies be deutet, meine Freunde, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Nur soviel vielleicht noch: In jeder Waffe befindet sich heutzutage Elektronik. Was ist eine Elektronik mit zerfressenen Mikroprozessoren, Halbleitern, Dioden? Sie ist Schrott. Und was ist eine Waffe ohne Elektronik? Ebenfalls Schrott. Meine Freunde, die 126
Verfahren, wie man diese Mikroorganismen an Orte bringt, wo sie das Kriegspotential des Gegners nachhaltig lahmen, ist Sache der Geheimdienste, der Militärs, der Fünften Kolonne. Es ist denkbar, daß man aus Raketen Wolken absprüht, oder die Organismen aus geimpften Wolken gezielt abregnen läßt. Es gibt unendlich viele Verfahren. Aber nun zu dem Mann, dem wir die Erkenntnisse dieser Dinge verdanken. Sie kennen ihn alle. Es ist Kollege Piotr Sarrasanew.“ Der Professor stand auf und tat ein paar Schritte in Richtung zur vorderen Stuhlreihe. „Ich freue mich, Piotr Sarrasanew begrüßen zu dürfen“, rief er. „Er hat endlich zu uns hergefunden.“ Urbans Herzschlag stockte. Noch war es dunkel im Saal. Er stand auf und versuchte zur hinteren Tür zu schleichen. Doch dort stand ein bewaffneter Soldat, die Maschinenpistole umgehängt. Und zehn Stuhlreihen weiter vorn lief das Programm unaufhaltsam weiter. Der Diaprojektor wurde eingeschaltet. Sein weißes Licht schwenkte von der Leinwand weg zum Haupteingang. Dort war die Flügeltür jetzt aufgegangen und ein Mann stand da. Das Licht blendete ihn, aber er lächelte. Zum Gruß hob er die Hand und trat ein. „Applaus für den Kollegen Piotr Sarrasanew“, rief Tomkin ins Mikrofon. Während noch alle Versammelten den Neuankömmling umringten, ihm stürmisch die Hände schüttelten und Bruderküsse austauschten, ging der Showdown für einen anderen wohlinszeniert zu Ende. Der scheinwerferartige Projektorstrahl schwenkte unvermittelt von der Wissenschaftlergruppe weg, so daß sich diese plötzlich im Dunkel befand, und wanderte zu einer anderen Bühne im hinteren Teil des Vortragsraumes. Mit seinem runden Kegel erfaßte er Bob Urban. Der hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, daß es so schnell zu Ende ging. Es gab dafür nur eine Erklärung. – In 127
Budapest war etwas schief gelaufen. Daß der Rollentausch ans Licht kommen würde, war zu erwarten gewesen, aber nicht, daß es so verdammt rasch ging. Entweder hatte dieser Dr. Varkasz nicht dichtgehalten, oder Piccola Marina hatte geredet. Oder eine andere Panne war passiert. Der echte Sarrasanew war früher als erwartet wieder auf die Beine gekommen, hatte seine Identität beweisen können, und man hatte ihn hinter Urban herkatapultiert. Mit nur einem Tag Verzögerung. Und die Kirowa, das Biest, hatte es auch längst gewußt. Nun stand er da. Geblendet vom grellen Projektorstrahl erwartete er seinen endgültigen Untergang. Er lächelte, was sollte er anderes tun als lachen. Dreimal schlug er mit der Hand auf die Stuhllehne wie ein Ringer zum Zeichen der Aufgabe. Die Männer um ihn herum waren nur als vage Schatten wahrnehmbar. „Und wer ist dieser Mann?“ fragte einer. „Ein Westagent.“ „Und der kam in den Anadyr-Distrikt. Alle Achtung. Hat man ihn mit dem Fallschirm abgesetzt?“ „Nein. Wir selbst brachten ihn mit Sonderflugzeugen hierher.“ „Er sieht sogar ein bißchen wie Sarrasanew aus.“ „Das war sein Trick.“ „Zweifellos besitzt dieser Mann Mut, wie mir scheint, um nicht zu sagen, Tollkühnheit. Und ein gewisses Können.“ „Er ist Profi.“ „Ach, man weiß wer er ist?“ „Sie nennen ihn Mister Dynamit. Spezialagent im westdeutschen Geheimdienst BND.“ „Muß schon von ihm gehört haben“, bemerkte jemand, „in anderem Zusammenhang.“ Urban suchte nach Antipow, aber alle Gesichter waren nur unförmige helle Flächen. 128
Er beschattete seine Augen mit der Hand. Der Lichtstrahl erreichte auf die Dauer die Schmerzgrenze. Plötzlich war es still geworden im Raum. „Schön“, ließ sich Tomkin vernehmen, „wir haben ihn betrachtet wie ein exotisches Tier. Man sollte es in seinen Käfig sperren. Lassen Sie uns wieder an die Arbeit gehn, Genossen.“ Die Wissenschaftler nahmen ihre alten Plätze ein. Urban nützte den Augenblick des Stühlerückens, in dem sich das allgemeine Interesse von ihm abwandte. Mit einem langen Satz hechtete er aus dem Lichtkegel, ehe dieser ihm folgen konnte. Er prallte mit dem Soldaten zusammen, schlug ihn nieder, setzte ihn mit einem Handkantenschlag matt, entriß ihm die Mpi und feuerte eine wilde Garbe zur Decke. Während Holz splitterte und ein paar Verängstigte schrien, wand er sich aus der Tür und rannte den Gang hinunter. Doch dort stürmte ihm die alarmierte Wache entgegen. Urban machte kehrt, hetzte in die andere Richtung. Aus der Flügeltür quollen die Wissenschaftler, drängten, stießen, stürzten übereinander in Panik. Urban setzte über das Menschenknäuel hinweg. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er das Gesicht Antipows. Der Physiker zeigte einen Ausdruck von Verblüffung, als könne er nicht fassen, daß dies die Wahrheit sei. Ihre Augen trafen sich kurz. Es war, als fänden ihre Gedanken für Sekundenbruchteile Übereinstimmung. Schon setzte Urban seine Flucht fort. Einem Offizier, der ihn mit vorgehaltenem Revolver zu stoppen versuchte, schleuderte er die Kalaschnikow entgegen. Der Major duckte weg. Urban hatte den Weg frei. Durch ein Fenster konnte er die Baracke verlassen und kam draußen vielleicht achtzig Meter weit. Vor einer Mauer von Soldaten mit angeschlagenen Maschinenkarabinern hatte seine Flucht ein Ende. Sie ergriffen ihn, schlugen ihn nieder, fesselten ihn und 129
sperrten ihn in die Gefängniszelle. – Als Urban zu sich kam waren seine Schuhe weg. Er hatte sie auf der Flucht verloren. – Recht ungewöhnlich war das. Und zum erstenmal, daß ihm so was passierte. Aber es beunruhigte ihn nicht. Diese Maßschuhe saßen wie angegossen. Man verlor sie nicht unbeabsichtigt bei einem kleinen Sprint. Bob Urban wußte, daß er Ungewöhnliches verlangte, hoffte aber, daß er verstanden worden sei. 13. Am dritten Tag seiner Gefangenschaft in dem engen unterirdischen Loch glaubte Bob Urban Brandgeruch wahrzunehmen. Bald definierte er ihn einwandfrei als den Gestank von schwelendem Holz. Daß unter der Erde, wo alles feucht war, ein Feuer ausgebrochen sein sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Andererseits wurde der Gestank immer stärker. Als Oberschüler, vor zwanzig Jahren, hatten sie ganz tief in einer fränkischen Höhle Feuer gelegt. Als der Rauch herausquoll, hatten sie Wetten abgeschlossen, wer ohne zu atmen gegen den beißenden Qualm am weitesten in die Höhle hineinkam. Sie hatten das Spiel solange getrieben, bis ein ganz Ehrgeiziger mit Rauchvergiftung in der Höhle liegenblieb. Nur mit großer Mühe war es ihnen gelungen, den Kameraden ins Freie zu ziehen. Wenn er die Augen schloß, erinnerte sich Urban deutlich an den beißenden Gestank von schwelendem Holz und feuchtem Laub. Dies hier war genau der gleiche. Mit einem Mal war es auch verdächtig still. Kein Geräusch drang mehr zu ihm herein. Weder das von Soldaten, noch das der Kommandolautsprecher. Auch die Ventilatoren liefen nicht mehr. Urban richtete sich darauf ein, in dem Gefängnis auf irgend eine Weise zu überleben. Zunächst mußte er mit dem Luftvorrat sparsam umgehen, dann die Fugen unter der 130
eisenbeschlagenen Kerkertür abdichten. Am besten mit wassergetränkten Stoffstreifen aus dem Strohsack der Pritsche. Er bereitete alles vor, zog auch den Wassereimer heran, für den Fall, daß das Licht ausging. – Wenige Minuten später flackerte es tatsächlich. Es verlosch nicht mit einem Schlag, nicht wie abgeschaltet, sondern es verglomm, als würde der Generator langsam an Drehzahlen verlieren und damit die Spannung absinken. Noch einmal leuchtete die Birne kurz auf. Dann war es völlig dunkel. Urban hockte da und überdachte seine Lage. Schöne Bescherung, dachte er. Schlimmer kann es nicht kommen. Jetzt endest du nicht durch eine Kugel, jetzt hast du alle Chancen zu ersticken oder in der Hitze dieses Holzkohlenmailers, in dessen Innern du sitzt, zu verdorren. Der Rauch wurde so stark, daß er Hustenreiz auslöste. Er riß einen Stoffetzen ab, tauchte ihn ins Wasser und preßte ihn als Filter vor Mund und Nase. Urban wußte nicht, wie lange er so saß. Mit einem Mal hörte er draußen ein Fluchen, unterbrochen von Husten und Poltern. Ein Mensch stolperte vorbei, kam zurück und hämmerte gegen die Tür. „Sind Sie da drin, Dynamit?“ „Ja, hier!“ An der Tür wurde manipuliert. Es hörte sich an, als würde ein Stemmeisen sie aus den Angeln wuchten. Es war Schwerarbeit, begleitet von Stöhnen und Flüchen. Endlich bewegte sie sich, sackte immer wieder zurück, kippte dann nach draußen in den Korridor. Dort stand ein Mann im Schein einer Batterielampe, umgeben von kriechendem gelben Rauch. Nach einem neuen Hustenanfall nahm er die Lampe. Licht fiel in sein Gesicht. – Es war Professor Antipow. Er wirkte um Jahre gealtert. Fahles Gesicht, tiefe Falten, wirres verschwitztes Haar. „Kommen Sie“, keuchte er, „sie sind alle weg. Totale Panik.“ 131
Mit dem Stemmeisen hebelte er die Öse. an der Urbans Fußkette befestigt war. aus dem Wandbalken. Urban nahm die Kette auf und folgte ihm. Sie hasteten nach links eine Treppe hinauf, durch Gänge und immer wieder durch Gänge. Plötzlich blieb Antipow stehen. „So kommen wir nicht heraus.“ Auf den dreihundert Metern, die sie inzwischen zurückgelegt hatten, waren sie keinem Menschen begegnet. Es schien, als habe jeder Lebende diesen Fuchsbau längst verlassen. „Sie sind alle beim Löschen“, sagte Antipow. „Der Wald brennt. Der Wald brennt ringsumher. Können Sie sich das erklären?“ Urban nickte. „Vielleicht.“ „Gestern, mitten in der Nacht gab es Alarm. Der Wald brennt, hieß es, als sei ein glühender Meteor niedergegangen.“ „Es war kein Meteor“, erklärte Urban und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. „Wir haben uns verirrt“, fluchte Antipow. „Es sind mehr als zehn Kilometer Gänge.“ Urban nahm ihm die Lampe ab und hielt sie hoch in den Rauch. Der Rauch wallte an ihnen vorbei. Er folgte offenbar einer Luftzirkulation, einem natürlichen Durchzug. „Der Rauch nimmt immer den kürzesten Weg“, sagte Urban, „und bewegt sich immer von der Brandstelle weg. Los, kommen Sie!“ Er packte Antipow und zog ihn mit sich. * Sie folgten dem abziehenden Qualm über das Gangsystem des alten Bleibergwerks. Aber bald stieg der Rauch durch einen senkrechten Schacht nach oben. 132
Doch Urban hatte eine Leiter gesehen. Die holte er und legte sie an. So kamen sie gleich zwei Stockwerke höher und in die große unterirdische Exerzierhalle. Jetzt kannte sich Antipow wieder aus. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Kopfstation der Versorgungsbahn. Oben im landseitigen Tunnelende hing ein leerer Feldbahnwagen an der Seilrolle. Der Rauch zog durch den Tunnel mit hoher Geschwindigkeit flußwärts ab. Antipow schöpfte Hoffnung. „Die paar Kilometer schaffen wir noch.“ Doch Urban hatte eine bessere Idee. Nachdem er mit Meißel und Hammer seine Fesseln abgetrennt hatte, koppelte er den leeren Wagen einfach von der Seilöse los. Antipow kletterte hinauf. Urban schob an. Der Wagen begann das Gefalle hinabzurollen. Es war gespenstisch wie er sich inmitten fließenden Rauches immer schneller durch den Tunnel bewegte. Sie hielten sich an dem ungefederten Wagen fest. „Abspringen, wenn ich es sage“, rief Urban. Er starrte nach vorn, um ein mögliches Hindernis rechtzeitig auszumachen. „Alles Wahnsinn“, schrie Antipow. „Hier kommen wir doch niemals raus. Aus dem Tunnel ja, aber nicht über den Fluß.“ „Wir nutzen jede Chance.“ Kopfschüttelnd blickte Antipow Urban an. „Der Meteorit schlug nicht durch Zufall ein?“ „So genau und so auf die Sekunde schickt Gott keinen Feuerball, um einen Sünder wie mich zu retten.“ „Ich fand ihre Schuhe“, berichtete Antipow. „Ich habe das Zeichen verstanden.“ „Ich weiß.“ „Das Feuer war also bestellt.“ „Wünschen Sie eine genaue Erklärung?“ „Der Absatz war federnd gelagert. Im Absatz war eine Drahtspule, ein Schalter, eine Leuchtdiode, ein pneumatischer Taster.“ 133
„Ein Glück, daß Sie Physiker sind, Antipow“, sagte Urban, „und nicht Botaniker.“ „Das Drahtende klemmte ich in die Stromleitung, voraussetzend, daß das Gerät durch Kondensatoren so abgeblockt ist, daß man das Stromleitungssystem als Antenne benutzen kann.“ „Der Schalterdruck setzte den Notruf in Gang.“ „Und der Notruf“, brüllte Antipow an Urbans Ohr, „löste den Meteoritenhagel aus.“ „Nur eine Mittelstreckenrakete mit Napalm-Kopf.“ „Für mich ist und bleibt es ein Meteorit“, beharrte der Russe. Mit Hilfe einer Napalm-Rakete, abgefeuert von einem USZerstörer, den Urwald in Brand zu setzen, war die einzig mögliche Rettungsmaßnahme gewesen. Nur im äußersten Notfall sollte sie zur Anwendung kommen, um Panik und Verwirrung zu stiften. Dies war offensichtlich gelungen. Aber noch lag der halbe Tunnel, hundert Meilen Fluß und der Anadyr-Golf vor ihnen. Der Feldbahnwagen hatte jetzt gut fünfzig Kilometer Geschwindigkeit drauf. Am Ende des Tunnels bremste ihn ein Prellbock. Urban starrte voraus, um ihn rechtzeitig zu erkennen, denn vorher mußten sie springen. „Das schaffen wir nie“, jammerte Antipow. „Ich bin ein völlig unsportlicher Mensch.“ „Wir werden es zumindest versuchen“, sagte Urban. Etwa 70 Sekunden später wurde das Licht der Lampe plötzlich nicht mehr von Tunnelröhre und Rauch reflektiert. Sie waren draußen. Über ihnen der Himmel, um sie herum die milchig helle Polarnacht. „Jetzt springen!“ schrie Urban und hechtete nach links. Sekunden später rammte der schwere Wagen den Erdwall und katapultierte sich weit über ihn hinaus. Urban hörte, wie er herunterkommend den Bootssteg zerschlug und in den Fluß klatschte. 134
Hinter ihnen tobte ein Inferno, lodernder Wald mit einer Rauchwand, die die Sterne bis hinauf zum .Mond verdunkelte. Urban riß Antipow hoch. Der humpelte, rutschte die Böschung aus krümeligem Schutt hinab, ohne Halt zu finden. Urban preßte die Lampe an sich, während er sich überschlug. So landete er im eiskalten schmelzwasserschäumenden Fluß. Seine Hand erfaßte eine Leine. Er folgte ihr und hatte Glück. An ihrem Ende hing ein Schlauchboot. Ein kräftiges Exemplar, wie es Infanterie beim Übersetzen von Gewässern benutzte. Er zog Antipow hinauf, löste den klammen Knoten vom Dalben. Sofort packte die Strömung das Boot. Sie war stark wie ein Gebirgsbach, der durch einen Canyon toste. Strudel ergriffen das Boot und drehten es, reichten es wirbelnd zum nächsten weiter. Urban fand am Boden zwei Ruder, zog sie durch die Gummidollen und versuchte das Gefährt ein wenig zu stabilisieren. – In der Flußmitte gelang es ihm endlich. „Wir machen gut zehn Kilometer“, rechnete Antipow, „wenn nicht mehr.“ Urban wischte den Dreck vom Zifferblatt seiner Rolex. „Gleich vier Uhr.“ „Hier wird es nicht sehr viel heller.“ „Wir legen uns flach hin“, riet Urban. „Schätze, wegen des Feuers ziehen sie alle verfügbaren Kräfte zusammen. Sie haben keine Zeit, den Fluß zu überwachen. Und warum auch. Meinetwegen. Für die bin ich längst krepiert.“ Als die Dämmerung einsetzte, legten sie sich flach hin und ließen sich treiben. Stunde um Stunde. Nur wenn das Boot in einer Flußbiegung zu nahe ans Ufer gelangte, steuerte es Urban wieder in die Strommitte. So trieben sie bis zum Abend. Der Fluß wurde weiter. Die Strömung wurde bedächtig. Der Kantschalan mündete in den Anadyr. Die Ufer wichen zurück. Langsam schaukel135
te das Boot in die Seen, die hier von der Anadyrmündung gebildet wurden. Urban schätzte, daß ihre Geschwindigkeit nur noch zwei Kilometer betrug und weiter abnahm. „Noch gut vierzig Meilen bis zum offenen Meer“, rechnete Antipow frierend und weiß wie Gletschereis. „Bei Anadyr wird der Sund verdammt schmal.“ „Kopf weg!“ zischte Urban. Er hatte etwas brummen gehört. Ein Fahrzeug der Marine brauste mit einer Achtelmeile Abstand an ihnen vorbei nordwärts. Vermutlich brachte es Verstärkung für die Brandbekämpfer. Zum Glück hatten die jetzt andere Sorgen, als sich um ein Schlauchboot zu kümmern. Aber im Golf würde das anders werden. Dort patrouillierten die Küstenwachen sowohl auf dem Wasser als auch in der Luft. Und die kümmerten sich um jede treibende Apfelsinenkiste. Urban erwähnte Antipow gegenüber nichts davon. Er sagte nur: „Wir müssen uns auf irgendeine Weise motorisieren.“ „Woran dachten Sie, Gospodin Dynamit?“ „An ein Fahrzeug, das uns während der Nacht aus den Hoheitsgewässern bringt.“ „Wie wär’s mit einer flotten weißen Segelyacht?“ fragte Antipow. * Es reichte nur zu einem alten Fischkutter. – Lautlos legten sie an. Urban schlich, barfuß wie er war, zum Steuerhaus, trat die Tür ein und blendete den bärtigen Mann in der Koje mit dem Lampenstrahl. „Komm hoch, Muschik!“ befahl er. „Werf den Diesel an, wenn dir dein Leben was wert ist.“ Der Alte stieg mürrisch in die Filzstiefel, in den braungrünen Isländer. Dann faßte er nach der Mütze, packte aber 136
blitzschnell einen Fischhaken und warf ihn gegen Urban. Der tänzelte zur Seite und verpaßte dem Fischer eine Lektion. Er zog ihn am Pullover hoch bis er kerzengerade vor ihm stand. Dann schoß er seine Faust ab. Rechtwinkelig bohrte er sie dem Fischer in den Nabel. ,,Du Idiot“, sagte er, „gar nichts passiert dir. Sollst nur den Diesel sparten.“ Diese Sprache verstand der Alte. Er öffnete eine Luke mitten im Logisboden. Ein rostiger Einzylinder, Lizenz Fahrman, stand da, umgeben von Bilgenwasser. Die umständliche Prozedur, so einen Diesel anzuwerfen, begann. Jeder Motor hatte es gern anders. Diese alten Diesel besaßen ein so starkes Eigenleben, daß ein Fremder sie nur schwer zum Laufen brachte. Das wußte Urban. Der Fischer öffnete den Dieselzufluß vom Tank her, träufelte Benzin in den Zischhahn, schloß ihn, kurbelte am Schwungrad. Der Diesel machte zweimal puff und stand wieder. „Los, beeil dich“, drängte Urban. Der Fischer warf Urban einen verzweifelten Blick zu. Nach vielen Versuc hen lief der Motor endlich. Klappe zu, etwas Gas, ein Tritt auf den Hebel des Wendegetriebes. Der Kutter nahm Fahrt auf und löste sich vom Pier. Der Fischer schaltete die Positionslampen an. Urban schaltete sie wieder aus. „Bist du verrückt!“ „Wohin, Genosse?“ fragte der Fischer schicksalsergeben. „Raus auf See. Position Kap Tschukotsji.“ „Dort ist die Grenze. Da patrouillieren sie scharf.“ „Du weißt genau, wo sie patrouillieren“, betonte Urban. „Wenn wir ihnen in die Arme fahren, ist es dein Ende.“ „Das wäre unser aller verdammtes Ende“, fluchte der Fischer. „Da machen die kurzen Prozeß.“ Bis 08 Uhr morgens hatten sie Glück. Wie der Rauch aus den Schloten einer Industriestadt lag der Nebel über dem 137
Meer. Sie hielten Kurs Ost. Ab und zu begegneten sie anderen Kuttern. Die Männer riefen durch den Dunst etwas herüber: Vermutlich waren es Warnungen. Aber Urban stand hinter dem Fischer und ließ nicht zu, daß die Kompaßnadel um ein Grad abwich. Es wurde heller. Die Wärme sog den Nebel auf. Noch sechs Meilen bis zum Kap. „Was wollen Sie da drüben?“ fragte Antipow niedergeschlagen. „Kaffee trinken“, sagte Urban. Um elf Uhr ging es auch noch gut. Es schien überhaupt gutzugehen. Das Kap tauchte auf. Irgendwo, nicht weit weg, verlief die Hoheitsgrenze. Doch plötzlich war dieses schnelllaufende Fahrzeug da. Es kam von Süden her, mit Brassfahrt, und blinkte sie böse mit dem Scheinwerfer an. Und über ihnen stieß ein Flugzeug aus den Wolken. – Alles auf einmal. „Alles auf einmal“, stöhnte Antipow. Urban ließ stur Kurs halten. Auch als das Patrouillenboot zu feuern begann. Vor dem Bug schlugen schon Granaten ein. „Die ballern uns in die Tiefe“, sagte Antipow, ruhig jetzt, als habe er mit dem Leben abgeschlossen. „Alles auf einmal“, wiederholte Urban, aber gar nicht verzweifelt wie es schien. Er deutete voraus. Etwa eine halbe Meile vor ihnen trat Schaum aus dem Wasser. Mittendrin schien sich das Meer zu wölben, zu buckeln, als tauche ein Walfisch auf, um zu blasen. Aber der Fisch blies nicht. Auch war der graublaue Punkt viel zu mächtig für einen Walfischleib. Es gab keinen Walfisch von dreitausend Tonnen. Auf dem Buckel wurde ein Turm sichtbar mit Stabilisierungsflosse und einer Nummer. Der Kutter hielt auf den stählernen Fisch zu. Der Küstenschützer feuerte noch einmal mit der Maschinenkanone, dann drehte er bei. Auch das Flugzeug bezog eine Beobachtungsposition mit Sicherheitsabstand. 138
„Haben die Schiß oder was?“ fragte Antipow. „Was täten Sie an deren Stelle“, fragte Urban, „so dicht bei einem amerikanischen U-Boot.“ Der Kutter verringerte seine Fahrt. Urban übernahm das Ruder. Mit sanftem Bums legte er an der haushoch gewölbten Bordwand an. Die Matrosen warfen ihnen Leinen zu, an deren Ende Rettungsringe hingen. Mit ihrer Hilfe kletterten sie die glitschige Stahlschräge hinauf. Als sie durch das Schott in den Turm des U-Bootes stiegen, brodelte und zischte schon die Luft der Tauchtanks ins Freie und ließ das Meer schäumen. Das Boot nahm Fahrt auf und tauchte ab. * Im Innern des Atom-U-Bootes stank es ein wenig nach elektrisch erzeugter Wärme, aber der amerikanische Marinekaffee war heiß, stark, süß und sahnig. Als es Antipow besser ging, sagte er: „Was haben Sie nun erreicht, Gospodin Dynamit?“ „Wir wissen, daß die UdSSR schon jetzt, wo die Wiener Verträge noch gar nicht unterschrieben sind, eine Lücke sucht, um ihre Überlegenheit zu wahren.“ „Tut Amerika das nicht auch?“ „Gewiß doch“, räumte Urban ein. „Schön, wozu dann der ganze Job, wenn im Prinzip alles gleich bleibt, wenn sich im Prinzip gar nichts ändert.“ Urban überlegte. „Man muß immer Herr der Lage sein, der Herr der Wälder. Man muß wissen wo die Wölfe ziehen.“ „Und das wissen Sie jetzt?“ „Nein“, gestand Urban. „Aber mit Ihrer Hilfe werden wir es vielleicht erfahren.“ „Und dafür haben Sie alles riskiert?“ „Ist so meine Art.“ Nachdenklich meinte der Physiker: 139
,,Daß man passiv reagiert, wenn man mit dem, was der Staat mit einem treibt, nicht einverstanden ist, das verstehe ich noch, aber daß man freiwillig sein Leben aufs Spiel setzt…“ Urban starrte in die Kaffeetasse und sagte: „Der Elefant ist so intelligent, daß er sogar Beethoven blasen könnte, wenn Sie ihm eine Trompete in den Rüssel stekken. Aber er ist auch intelligent genug, es zu unterlassen. Wer in Afrika kennt schon Beethoven.“ „Verstehe ich nicht“, gestand Professor Antipow. „Ich glaube, das werden Sie auch nie begreifen“, sagte Bob Urban. ENDE
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