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Buch: Acht Tage war Gerhard Fiebig verschwunden. Als er gerade noch rechtzeitig vor der Facharbeiterprüfung auftaucht, erzählt er die Geschichte seiner Reise um die Erde. Doch seine Abenteuer in Moskau, Tokio, Hawaii, bei der Goldenen Herde von Emerici und in den White Mountains erinnern an Münchhausen und Jules Verne. Im bewußten Spiel mit literarischen Vorbildern, in der Verquickung von Realem und Fiktivem liegt der Reiz dieser Erzählung von Erich Köhler.
Erich Köhler
Reise um die Erde in acht Tagen Phantastische Erzählung
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Burckhard Labowski
© Verlag Neues Leben, Berlin 1979 3. Auflage, 1985 Lizenz Nr. 303 (305/184/85) LSV7004 Schutzumschlag und Einband: Burckhard Labowski Typografie: Achim Kollwitz Schrift: 10 p Garamond Lichtsatz: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig – III/18/97 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung: Offizin Andersen Nexö, Graphischer Großbetrieb, Leipzig – III/18/38 Bestell-Nr.6427675 00740
Erster Teil
Der Himmel war blau. Die Luft stank nach Benzin. Alfred Langhammer, Sekretär der FDJ-Grundorganisation, Träger des Sportleistungsabzeichens und des Abzeichens „Für gutes Wissen“, beide in Silber, ging nachdenklich über den Marktplatz von Groß Lütten. Seit acht Tagen war der Lehrling Gerhard Fiebig verschwunden. Die hohen, schmalen Giebel der Bürgerhäuser bildeten wie eh und je einen schachtartigen, scharfgezackten Übergang vom Marktplatz in das bodenlose All. Langhammer warf einen Blick auf die Uhr am Rathausturm. Automatisch verglich er mit seiner Armbanduhr und erschrak. Die Turmuhr ging drei Minuten nach. Seit Jahren kursierte unter den Schülern und Lehrlingen der Stadt, von allen Lehrern ebenso fleißig wie heimlich weitergegeben, die Legende von einem Schulaufsatz. Gerhard Fiebig, damals elfjährig, Vollwaise, im Heim groß geworden, hatte ihn geschrieben: Was weiß ich von unserer Stadt? „In die Südschräge des Turmdaches ist eine Sammellinse eingelassen. Staub bedeckt sie, Regen wäscht sie blank. An klaren Tagen sammelt sie die Sonnenstrahlen in einem Brennpunkt. Der Turmwächter hält stets einen Faden unter der Turmhaube straff über einer Visiereinrichtung gespannt. Wenn die Sonne mittags am höchsten über der Dachebene steht, liegt der Brennpunkt ihrer Strahlen genau auf dem Faden. Dieser brennt augenblicklich durch. Dadurch fällt eine Stahlkugel, die den Faden gestrafft hatte, herab, fällt durch eine Öffnung in der Decke des Turmwächtergemaches, aus einer Höhe von gut fünf Metern, in eine tönende Bronzeschale. Der Klang weckt den Turmwächter, und somit hat dieser wenigstens an klaren Tagen einen astronomisch genauen Zeitpunkt, nach dem er die Turmuhr stellen kann. Daraus erklärt sich, warum die Turmuhr unserer Stadt an Sonnentagen immer am richtigsten geht, nämlich um genau so viele Minuten nach, wie ein alter Mann
braucht, um von seiner Kammer in das Turmgestühl zu gelangen, wo er das Uhrwerk reguliert.“ Dieser Aufsatz hatte unter den Mathematik-Assen der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule eine Turmuhr-BeobachtungsBewegung ausgelöst. Sorgfältige Diagramme zur grafischen Darstellung der Zeitabweichungen wurden angefertigt. Fiebigs Lehrer, ein ehrenwerter Mann namens Kern, beobachtete das verschnörkelte Zifferblatt der Turmuhr mit seiner Taschenuhr in der Hand. Aus dem Giebelfenster der Schule wurden scharfe Teleskope auf die armselige Dachluke gerichtet. Pionierkorrespondenten veröffentlichten in der Kreiszeitung einen Artikel: „Spare mit jeder Minute!“ Darin wurde nachgewiesen, wie notwendig es war, das Turmuhrwerk zu reparieren oder den Turmwächter wenigstens zur exakteren Ausführung seines verantwortungsvollen Dienstes anzuhalten. Der Rat der Stadt wies in einer scharfen Stellungnahme jede Anspielung darauf, in seinem Etat gäbe es die Planstelle eines Turmwächters, entschieden zurück. Daraufhin stürmte ein Pionierleiter mit seiner Mannschaft den Rathausturm. Das Ergebnis des Lokaltermins war erschütternd. Die „Sammellinse“ im Dach entpuppte sich als gewöhnliches Fensterglas. Von der legendären alten Turmuhr existierte nur das Zifferblatt. Anstelle des historischen Uhrwerks war ein elektrisch betriebenes eingebaut worden. Die moderne Apparatur funktionierte natürlich nur bei Stromzufuhr. Da jedoch dieser Stoff damals nicht immer vorhanden war, blieb das Aggregat des öfteren stehen. Dann schickte der Bürgermeister, sofern ihn jemand darauf aufmerksam machte, den Ratsboten ins Dachgebälk, und jener regulierte die Stadtzeit anhand seiner für siebeneinhalb Mark im Konsum erstandenen Taschenuhr. Die Mitglieder der Turmexpedition kamen bleich und staubbedeckt wieder herunter. Man stellte den Jungen zur Rede. Wie? fragte der ganz erstaunt, es gibt gar keine Dachkammer, keinen Turmwächter, keine Spannschnur, keine Sammellinse, keine Kugel und kein bronzenes Becken? Er kratzte sich gedankenvoll den Kopf, murmelte: Wie schade. Aber es hätte doch so sein können, nicht wahr?
Der alte Mann ist immer noch oben, murmelte Langhammer. Stromausfälle haben wir doch schon lange nicht mehr zu verzeichnen. Er steuerte, soweit ihn parkende Autos nicht daran hinderten, quer über den Platz auf ein kleines Lokal zu. Er brauchte einen Kaffee. In Gedanken arbeitete er bereits an einer Charakterdarstellung des verschwundenen Lehrlings. Was bewog so einen jungen Menschen, diese Stadt, seine Freunde, vielleicht sogar die Republik ohne Abschied zu verlassen? Der Jugendsekretär erinnerte sich, schon bei Fiebigs Berufswahl war es nicht geheuer zugegangen. Er hatte sich eine Liste aller möglichen Berufe vorlegen lassen, hatte die Augen geschlossen, auf das Blatt getippt, die Lider gehoben und gleichmütig gelesen: Schuhmacher. Die Freunde hatten erwartet, daß er den Versuch wiederholte. Aller guten Dinge sind drei. Aber der Junge war bei seiner Wahl geblieben. Er ging zu einem Schuhmacher in die Lehre. Alfred Langhammer betrat das kleine Café. Er suchte einen freien Platz, möglichst in der heimeligen Nische am hintersten Fenster. Da erschrak er zum zweitenmal. Soeben schlug die Turmuhr mit bronzenem Gong die Mittagsstunde. In ebenjener stillen Ecke saß ein schmalbrüstiger, blasser Junge in schlechter Haltung, mit vorfallenden Schultern, den Kopf aufgestützt. Seine Augen blitzten dunkel. Er trug einen für die Sommerhitze viel zu warmen Rollkragenpullover, offenbar, ohne zu schwitzen. Zwei Schrecksekunden innerhalb von drei Minuten waren zuviel für Langhammer. Er baute sich vor dem schmalen Jüngling auf. Er ließ seine Abzeichen blitzen. Er atmete tief durch. Dann sagte er so ruhig, als es gehen mochte: Mensch, Fiebig. Zur Serviererin sagte er: Nein, keinen Kaffee. Jetzt brauche ich einen Pfefferminz, einen doppelten. Dann nickte er ungefähr zwanzigmal schwerwiegend mit dem Kopf. Endlich setzte er sich und klagte: Das Lehrlingsheim ist aufgewühlt! Die Heimleiterin weiß nicht, wo ihr der Kopf steht, deinetwegen. Ich selbst, verstehst du, mache mir einen Kopf. Und du hockst hier herum, schlabberst Schokoladeneis. Gerhard Fiebig griente. Wie ist die Stimmung im Heim? Na, wie schon. Du mußt dich verantworten. Morgen beginnen die Facharbeiterprüfungen. Wenn du durchfällst, mußt du das ganze Jahr
wiederholen. Und die Charakteristik, die mir vorschwebt, ändert sich graduell in keiner Weise. Langhammer nippte an seinem Pfeffi, schob ihn angewidert von sich, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alle Gäste die Köpfe zu ihnen wandten, und fragte: Wo warst du? In die duftende Kaffeestube hatte sich ein Käferchen verirrt. Auf einem Sonnenstrahl, der durch das Laub der Linde vor dem Fenster hereinfiel, war es herabgeritten und auf dem Tisch gelandet. Hier krabbelte es, ein goldenes Stäubchen, über das Tischtuch. Fiebig beugte sich vor und betrachtete das winzige Insekt. Auf seinem Gesicht lag ein nachsichtiges Lächeln. Der Kerf betastete mit kurzen Fühlerchen das grobe Leinengewebe. Die ganze Welt ist so ein verketteltes Gewebe, mochte der Junge denken. Es schien, als habe er den Jugendfreund Langhammer vergessen. Das wurmte diesen. Ich habe doch etwas gefragt, belferte er. Fiebig erschrak. Ach so, sagte er. Das winzige Käferchen, als sei es gleichfalls aufgestört, breitete die Flügeldeckel aus. Es blitzte metallisch auf; dann schwirrte es empor, wanderte, ein fliegendes Pünktchen, unter dem Oberlicht hin und her, bis ein Luftzug das Stäubchen Leben durch die Gardinenmaschen ins Freie riß. Fiebig senkte seinen Blick und sagte: Das ist eine lange Geschichte. Sag es kurz und bündig! Ich will nicht. Ich will mich nicht wiederholen. Ich habe mir vorgenommen, nur vor der ganzen versammelten Mannschaft zu erzählen. Durchs Lehrlingsheim ging's wie ein Lauffeuer: Fiebig ist wieder da. Doch nur wenige hatten ihn gesehen. Er war auf sein Zimmer gegangen, hatte sich ins Bett gelegt und den Stubengefährten angeknurrt: Würdest du mich gefälligst erst ein bißchen schlummern lassen, Dicker? Als er fest eingeschlafen war, weckte ihn die Heimleiterin. Findest du dein Verhalten selber nicht auch reichlich sonderbar, fragte sie. Ärgerlich blinzelte Gerhard in ihre grauen Augen. Gewiß, antwortete er und gab im übrigen durch sein Benehmen zu verstehen, daß er jetzt nicht gestört zu werden wünschte.
Willst du uns nicht verraten, wo du warst? Wie oft, fragte der Junge zurück und beschloß, liegen zu bleiben, bis ihn die Heimleiterin rügte. Von seinem Liegeplatz in der oberen Bettetage aus konnte er ihren Scheitel sehen. Dieser bewegte sich weich und unschlüssig. Das dunkle Haar war von einzelnen grauen Fäden durchwirkt. Nun hob sie den Blick forschend empor. Gut, entschied sie, wir werden dir Gelegenheit geben. Hoffentlich gelingt dir eine Rechtfertigung. Damit verließ sie das Zimmer. Fiebig, der sich zum Schluß wenigstens auf die Ellenbogen gestützt hatte, ließ sich zurückfallen. Klar, murmelte er, die läßt mich schlafen. Die Jugendversammlung war selten so gut besucht. Der Tagungsraum füllte sich bis auf den letzten Platz. Man hatte Gerhards Lehrmeister verständigt. Der saß zusammen mit den Stepperinnen der Schuhmacherei, den Gesellen und natürlich auch den beiden jüngeren Stiften in der vordersten Reihe. Die ganze PGH war versammelt. Der Meister hatte schon mehrmals Auskunft über den Lehrling Fiebig geben müssen: Ein schlechter Lehrling? Gewiß nicht. Geistesabwesend, das ja. Und wenn der Bengel seine Gedanken nicht zusammennimmt, dann landet er in der Schuhfabrik. Die Gesellen feixten. In der Schuhfabrik als Bandarbeiter zu landen war nach Ansicht des alten Schuhmachers das Schlimmste, was einem zustoßen konnte. Meister Pinne empfand das wie die Produktion von Ausschuß. Als Gerhard auftrat, ging ein Raunen durch den Saal. Der junge Mann war ausgeschlafen und guter Dinge. Er grüßte freundlich nach allen Seiten. Als er an seinem alten Lehrer Kern vorüberkam, war jenem, als blitzte ein Schalk aus den Augenwinkeln seines ehemaligen Schülers. Alfred Langhammer leitete die Versammlung. Freunde, sagte er, einer von uns hat vor acht Tagen das Heim verlassen und sich an bisher unbekanntem Ort aufgehalten. Ich denke, es ist unser Recht, Näheres über seinen Verbleib zu erfahren. Er hat sich also, während wir in Sorge um ihn waren, irgendwo herumgetrieben. Dafür müssen wir ihm, gleich, was für eine Erklärung er hat, unsere Mißbilligung aussprechen.
Ich habe mich nicht herumgetrieben, fiel ihm Gerhard ins Wort. Es war meine feste Absicht, zum Beginn der Facharbeiterprüfung wieder zurück zu sein. Der Jugendsekretär suchte ihn zu beschwichtigen. Es wird sich alles aufklären. Wo also warst du? In den GSE. Aha. Woo? Nun, in den Gesegneten Staaten von Emerici. Wunderbar, rief der Sekretär. Und nun bist du wieder da. Du brauchst nur noch zu schwören, daß du die Prüfungen mit der Note „sehr gut“ bestehen willst, und wir ziehen uns beschämt zurück. – Woo willst du gewesen sein? Auf einer Reise um die Erde. Langhammer tupfte sich jäh ausbrechenden Schweiß von der Stirn. Um die Erde, fragte er. In acht Tagen? Im Saal reckte man die Hälse. Eine Sensation lag in der Luft. Lehrer Kern nahm ruckartig seine Brille ab. Zwei Mädchen kicherten. Die Heimleiterin bat: Gerhard, zieh die Sache nicht ins Lächerliche. Der Jugendsekretär vollführte mit seinen langen Armen eine Geste, als schließe er ein imaginäres mehrgliedriges mathematisches Problem in eine Klammer. Du meinst Amerika, verbesserte er. Ich meine Emerici, wiederholte Gerhard. Wo liegt dieses Land? Diese Frage stellte sein alter Lehrer Gottfried Kern. Seine Stimme klang dabei, als locke er Tauben. Einer seiner Kollegen, Fachdozent für Universalgeographie, durchschaute Kerns Absicht leider nicht und platzte dazwischen: Das gibt es überhaupt nicht. Gerhard Fiebig faßte den Kauz ins Auge. Er warf ihm, wie strafend, einige Koordinaten an den Kopf. Jener triumphierte: Haargenau dort liegt Nordamerika und kein Emerici. Er mußte es wissen. Dennoch hatte der Geograph das ungute Gefühl, aufs Glatteis gelockt worden zu sein. Schon fragte Gerhard: Kennen Sie zum Beispiel die Sandwichinseln.
Gewiß, gab der Geograph Auskunft, ich meine diese Inselgruppe im Stillen Ozean nach Ursprung, Oberfläche, Klima, Wirtschaft, Bevölkerung und politischer Abhängigkeit ziemlich sicher definieren zu können. Aber waren Sie jemals dort? wollte Gerhard wissen. Der Universalgeograph sprang auf. Das ist ja unerhört, rief er. Das läuft ja auf die Negation jeglicher Kommunikation hinaus, auf der die Wissenschaft zum großen Teil beruht. Eben nicht, erwiderte Gerhard trocken. Was für das eine gilt, das muß auch für das andere gelten. Der Umstand, daß außer mir kein anderer hier das Land Emerici gesehen hat, ist kein Beweis für die Nichtexistenz des gemeinten Objektes. Der Jugendsekretär sah sich genötigt, seine Autorität als Versammlungsleiter wiederherzustellen. Das vielfältige Stimmengemurmel verebbte. An Gerhard gewandt, fragte er mit gerunzelter Stirn und tiefer, in langjähriger Kenntnis des Kandidaten begründeter Besorgnis: Zum allerletztenmal, wo warst du. In Emerici. Ich bin noch keine vierundzwanzig Stunden wieder im Lande. Die langen Arme des Jugendfreundes fielen schlaff herab. Er hob die Schultern, als könne er das Problem mit herkömmlichen Mitteln nicht lösen, machte ganz den Eindruck, als verfüge er bei weitem nicht über andere Mittel, und stotterte: Ja, dann, ja, dann – komm her, Mensch, und erzähle. Der Schusterjunge nahm auf der Kante des Vorstandstisches Platz, angelte sich mit den Beinen einen Stuhl und brachte seine Füße bequem auf der Stuhlleiste unter. Die Mitglieder des Präsidiums rückten teils demonstrativ, teils unauffällig, wie sie meinten, um einiges von der Ecke ab, auf der Gerhard nun saß. Den Burschen störte ihr Verhalten nicht. Er starrte vor sich hin wie ein Magier, der sich vor einem schwierigen Versuch konzentriert. Vor seinem inneren Auge erschien die große schattige Linde vor dem Stadtcafé. Er sah ein winziges goldflirrendes Käferchen, nicht größer als das Iridiumkügelchen an Lehrer Kerns Füllfeder, mit welcher jener die Zensuren
einzutragen pflegte. Die Welt ist bunt und vielgestaltig, dachte er. Dann warf er den Kopf auf und fragte: In welcher Zeit leben wir eigentlich? Na, im Sommer, ulkte jemand. Richtig. Und politisch? Fiebig starrte den Jugendsekretär an. Tauwetter, murmelte der, das heißt, ich meine, es gibt weltweite Entspannungstendenzen. Das Wettrüsten muß eingestellt werden. Die Völker verlangen den Abbau aller Kernwaffenvorräte unter internationaler Kontrolle. Uns steht eine lange Periode des friedlichen Wettstreites aller Staaten und Nationen bevor. Die Kraft der Erdbevölkerung blüht auf. Wissenschaft, Ökonomie und Technik werden nicht mehr für sinnlose und weltgefährliche Kriegsvorbereitungen vergeudet. Langhammer beherrschte dieses Thema. Er leitete nicht umsonst das FDJ-Studienjahr. Die Anwesenden überprüften das Gesagte schnell auf seine Richtigkeit. In die Stille hinein fiel trocken und lakonisch ein Wörtchen von Fiebig: Denkste. Er richtete sich auf und dozierte in leichtflüssiger Rede: Theoretisch hat alles seine Ordnung, und wenn es die Weltfriedenskräfte nur mit den Amerikanern zu tun hätten, wäre die sogenannte atomare Abrüstung kein Problem. Leider gibt es noch die Emericiner, gering an der Zahl, doch mit großer Macht ausgestattet. Wahrlich, ich habe auf meiner Reise keine Gruppe der Gattung Mensch kennengelernt, die sich schlechter mit den Tatsachen abgefunden hätte als gerade diese. Die Füße auf der Querlatte seines Stuhles, nahm Gerhard beim Sprechen immer mehr eine Haltung an, die er sich im häufigen Umgang mit Spannriemen und Leisten angewöhnt haben mochte. Dazu lächelte er schwach, wie jemand, der sich, nachdem er ein Unternehmen in Gang gebracht hat, nachträglich der ganzen Tragweite desselben bewußt wird. Ich weiß, fuhr er fort, daß ihr mir kein Wort glaubt, und das ist recht so. Der Zweifel ist der Vater aller Wahrheit. Als Professor Otto Hahn die Spaltung des Urankerns entdeckt hatte, zweifelte er zunächst an seinem Verstand. Der Jüngling brachte aus den Taschen seines Jacketts ein paar Briefumschläge zum Vorschein und bekannte: Leider kann ich bessere Beweise nicht beibringen. Diese Umschläge sind mir erhalten geblieben, weil ich sie zu Hause ließ. Der Inhalt ging unterwegs verloren. Er reichte die Kuverts herum. Es waren Briefe amerikanischer Herkunft, mit Postwertzeichen auf Vorder- und Rückseite so beklebt, daß ihnen die Bemü-
hungen des Absenders, gewisse philatelistische Bedürfnisse ihres Empfängers zu befriedigen, auf dreißig Schritt Entfernung anzusehen waren. Ihr Absender hieß: Dr. P. Peng, White Mountain Village, Maine, USA. Während diese Dinge von Hand zu Hand gingen und, ihrer Stempel und Marken wegen, einige Wirkung nicht verfehlten, kramte Fiebig weiter in seinen Taschen. Schließlich brachte er eine ganz gewöhnliche Stahlkugel hervor, wie sie in jedem mittleren Kugellager zu finden sind. Er warf die blinkende Kugel einige Male in die Luft, um sie geschickt wieder aufzufangen. Während er dieses primitive Kunststück vollführte, beobachtete der junge Mann befriedigt die Wirkung. Wie ein gewiefter Hypnotiseur nahm er zur Kenntnis, daß alle Blicke nunmehr ausnahmslos auf den kleinen blitzenden Gegenstand gerichtet waren, und er verspürte Lust, das gleiche Experiment mit einem Schlüssel oder einem Hosenknopf zu wiederholen. In leicht wehmütigem Tonfall erklärte er: Diese Kugel ist das einzige Erinnerungsstück, das mir verblieben ist. Fiebig ließ das Andenken verschwinden, seufzte und verkündete: In diesem Zusammenhang sei endlich verraten, daß ich seit langem korrespondierendes Mitglied des Weltklubs kosmisch interessierter Jugendlicher bin. Dieser Klub wird von Dr. Pyrrhus Peng geleitet, dessen Schriftzug ihr auf den Briefen unschwer erkennen könnt. – Wurde, muß ich hier leider verbessern, denn der ehrwürdige Gelehrte weilt nicht mehr unter den Erdbewohnern. Professor Peng war einer der markantesten emericinischen Raketenexperten, allerdings hüllte er sich seit geraumer Zeit in Schweigen. Ha, rief hier der vorgenannte Dozent für Universalgeographie, muß es unbedingt Amerika sein? Geht's nicht eine Nummer kleiner? Gibt es nicht genügend sozialistische Forschungsgemeinschaften, an denen du dich hättest beteiligen können? Fiebig hüstelte dezent. Dann sagte er scharf: Ich betonte Weltklub. Das sollte genügen. Zugegeben, es ging mir vor allem um die Korrespondenz. Woher sollte ich sonst meine amerikanische Briefmarkenserie beziehen? Der Geograph verschluckte sich. Lehrer Kern murmelte etwas in seinen Bart, das klang wie: Treib's nicht zu arg, mein Junge.
Fiebig erzählte ungerührt weiter: Kürzlich nun erhielt ich von ihm, dem Professor, eine dringende Einladung. Dem Schreiben waren Pässe und Visa für alle in den emericinischen Einflußbereich fallenden Staaten beigelegt. Dazu bekam ich noch ein dickes Heft mit Blankoschecks. Alle Papiere waren vom Sekretariat des Professors vorsorglich bearbeitet und mit den nötigen amtlichen Signaturen versehen. Hier blickte der Erzähler mit einem Ausdruck zwischen Besorgnis und liebenswürdiger Frechheit ins Publikum, rückte auf seinen Knien einen imaginären Leisten zurecht und fuhr fort: Ihr könnt euch denken, daß mir diese kurzfristige Einladung angesichts der bevorstehenden Facharbeiterprüfung recht ungelegen kam. Nun, ich setzte meine Hoffnung in die moderne Verkehrstechnik und nahm mir vor, bis zu den Prüfungen auf alle Fälle wieder zurück zu sein. Wenn man bedenkt, daß ich nur acht Tage Zeit hatte, und berücksichtigt, daß von unserer Kleinstadt aus selbst Weltreisen mit der Bummelbahn beginnen, dann wird man verstehen, warum ich keine Zeit zum Abfassen von Erklärungen hatte, sondern Hals über Kopf zum Bahnhof rannte. Ich gebe zu, daß ich mir bezüglich meines Abschneidens bei der Prüfung keinerlei Gedanken machte. Im übrigen wäre ich dumm gewesen, hätte ich die Einladung nur deshalb ausgeschlagen. Bitte bedenkt! Der Professor bot mir nichts Geringeres an, als dem Probestart einer neuentwickelten Rakete beizuwohnen. Fiebig grinste. Er machte eine Bewegung, als werfe er einen unbrauchbaren Holznagel zur Seite, und fuhr fort: Ihr werdet lachen. Es war sogar mein gutes Recht, an dem Start der neuen Rakete teilzunehmen. Schon lange und in einer umfangreichen Korrespondenz, der ich nicht zuletzt meine fast vollständige nordamerikanische Briefmarkenserie verdanke, hatte ich mit dem Professor das Problem der Erhöhung von Gasaustrittsgeschwindigkeiten aus Lavaldüsen erörtert. Wie jedes Kind weiß, muß sich die Raketentechnik leider mit sehr kurz bemessenen Düsenkonstruktionen abfinden. Um nun doch noch eine möglichst lange Kontrolle über die Gasexpansion zu bekommen, ohne den Nachteil einer überlangen Düse hinnehmen zu müssen, hatte ich vorgeschlagen, eine gekrümmte Lavaldüse zu entwickeln. Diese sollte, unter strengster Beibehaltung des erprobten Öffnungshalbwinkels von elf Grad, schneckenartig gewunden sein und etwa das Aussehen einer riesigen Baßtuba erhalten. Somit entstand ein Strömtrichter, der bei
gerader Streckung die sechs- bis siebenfache Länge der gebräuchlichen Ausströmdüsen hatte. Der Professor hatte meine Anregung aufgegriffen und war dabei zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Hervorgerufen durch die schneckenartige Windung der Ausströmdüse, stellte sich nämlich ein Effekt ein, auf den der Gelehrte wegen seiner Einfachheit am allerwenigsten von selbst gekommen wäre. Jeder weiß, welche ungeheure Verstärkung die fast tonlosen Schwingungen der Lippen durch den Schalltrichter einer Trompete erhalten. Es wäre lächerlich, diesen ganze Regimenter im Gefechtslärm beherrschenden Ton mit bloßem Mund hervorrufen zu wollen. Erzeugt durch die gigantische Kraft der ausströmenden Feuergase und den übergroßen Schallkörper der „Düsentuba“, entstand ein so großer Lärm, daß das massive Backsteingemäuer der Versuchshalle zerbröckelte. Die Dachkonstruktion stürzte auf den Versuchsstand herab. Stahlträger wurden vom Schubstrahl erfaßt und mehrere Kilometer weit fortgeblasen. Leider ließ sich das Unheil nicht sofort abstellen. Minutenlang mußte der Professor warten, bis der gesamte Treibstoff verbrannt war. In dem etwa eine Wegstunde entfernten Village brach eine Panik aus. Die frommen, um nicht zu sagen, bigotten Einwohner des Städtchens glaubten die Posaunen von Jericho zu vernehmen, und zwar, wie sie hinterher zugaben, in einem unbußfertigen Augenblick. Dr. Pyrrhus Peng und seiner Mannschaft war, dank den sicheren Beobachtungsständen, zum Glück nicht mehr als ein totaler Trommelfellschaden widerfahren. Ich sage, zum Glück!, denn ihre vollständige Ertaubung war den wackeren Leuten noch der allerbeste Schutz gegen jene Superschallstärken, die der Professor bei seinen weiteren Versuchen erzielte. Damit ist schon angedeutet, daß Peng den einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiterging. Er brachte am Brennkammerhals eine Membrane an. Sie bestand aus hochwarmfestem Material und wurde von den Rückstoßgasen zur Vibration gebracht. Damit erzeugte das Aggregat Töne, dagegen die Schallawine des ersten Versuchs dem Wispern einer Wiesenquelle gleichkam. Der Betonsockel, in den das Triebwerk eingelassen war, bekam Risse. Diese konnten nur von gewaltig verstärkten Schubkräften herrühren, denn der Block hatte hundert gewöhnlichen
Brennschubversuchen widerstanden. Es ist kein Wunder, wenn sich die emericinische Staatenlenkung für das Projekt wärmstens interessierte. Bis dahin hatte mein Professor keine Einzelheiten bekanntgegeben. Nunmehr teilte er mir mit, daß er für das neuentwickelte Schallantriebssystem der Fachwelt die Bezeichnung „Fiebigscher Trompeteneffekt“ vorschlagen wolle. Als der eigentliche Entdecker, so schrieb mir der bescheidene Gelehrte, müsse ich mich nur entschließen können, dem Vorschlag meine Zustimmung zu geben. Gerhard Fiebig reckte sich. Er atmete auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als sei es ihm zum erstenmal gelungen, einen Vorschuh ordentlich über den Leisten zu zwingen. Dann hub er von neuem an. Da der Professor maßgebliche Stellen auf meine Existenz aufmerksam gemacht hatte, ist es kein Wunder, daß mich die emericinischen Behörden mit allen notwendigen Papieren versahen, die mir zumindestens drüben – Fiebig machte eine entsprechende Kopfbewegung – alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen konnten. All diese Dokumente waren mir durch jenen erwähnten dicken, eingeschriebenen Brief zugegangen. Wer will mir noch verübeln, daß ich mich ohne Zögern auf den Weg machte? Ein rascher Entschluß bot ja noch die beste Gewähr für die rechtzeitige Rückkehr zur Facharbeiterprüfung. Ich nahm also den erstbesten Zug nach Berlin. Selbstverständlich war meine Flugkarte für die kürzeste Luftlinie nach Boston, USA, via Frankfurt (Main), Paris oder wahlweise Dublin, ausgeschrieben. Doch bereits auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld erlitt mein Vertrauen in die Perfektion des Weltverkehrs einen Stoß. Seit Tagen nämlich streikte das gesamte Flughafenpersonal Westeuropas um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Dieser Umstand war mir im Schoße unseres Heimatstädtchens begreiflicherweise entgangen. Der Streik wurde mit großer Konsequenz geführt. Nicht eine einzige Maschine auf Westkurs wurde zur Zwischenlandung angenommen. Da sich inzwischen auch das Flugsicherungspersonal dem Ausstand angeschlossen hatte, war ein Überfliegen der bestreikten Staaten schlechterdings unmöglich. Da halfen selbst meine emericinischen Papiere nichts. Und es konnte noch lange dauern, ehe die Arbeitgeberseite dort nachgab.
Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß ich in dieser Lage eine besonders gute Figur machte. Da stand ich nun und wußte nicht aus noch ein. Bald beschlich mich ein banges Gefühl der Verlassenheit. Der Strom des Verkehrs umspülte mich wie Ebbe und Flut, und ich stand mittendrin, und das noch auf vertrautem heimatlichem Boden. Alle, die hier aus und ein gingen, waren besser informiert als ich. Wegen meiner hilflosen Fragerei nahm man mich bald nicht mehr für voll. Schon wähnte ich mich, eher als gedacht, am Ende der Reise. Resigniert setzte ich mich ins Restaurant, um zu überlegen. Wer will mir verübeln, wenn mir das Reiseziel, wo in Kürze meine Erfindung ihren Triumph feiern sollte, wie eine ferne, unerreichbare Sonne schien. Und nun schob sich auch noch die graue Hagelwolke des Klassenkampfes davor. Der Arbeitskampf meiner Klassenbrüder in allen Ehren, aber mußten die Kerle ausgerechnet jetzt streiken? Vergeblich suchte ich auf dem weiten Flughafengelände eine neue deutsche oder wenigstens englischsprachige Zeitung zu erlangen. Aber wie immer in solchen Fällen waren alle Blätter vergriffen. – Schon faßte ich den schweren Entschluß, wieder nach Hause zu fahren, als sich mir vom Nebentisch her ein Individuum näherte. Hallo, boy, excuse me, rief es, habe zufällig im Reisebüro mit angehört, wo dich der Schuh drückt. Dumme Geschichte, das. Der Typ sprach im waschechten amerikanischen Tonfall und schob sich dazu noch einen Kaugummi zwischen die Zähne. Im Begriff, die Packung wegzustecken, zögerte er einen Augenblick, wie um zu überlegen, ob sich die Anlage lohnte, dann bot er mir seinen pfefferminzhaltigen Priem an. Greifen Sie zu, riet er, „Baxters Kaugummi“ beruhigt. Als ich mir ein Plättchen aus der Packung langte, deklamierte er im Tone eines Werbeagenten: In der Tat, Sie werden jeder Situation gerecht durch „Baxters Kaugummi“! Er griente über sein ganzes robustes Gesicht, als er sich vorstellte: Man nennt mich Maine Bill. Bin Vertreter der Firma „Baxter and Brothers“, kurz BB. Komme soeben von dort, per Bahn, versteht sich. Er wies mit dem Daumen unbestimmt über seine Schulter. Diese Bloodys versauen einem das Geschäft. Der Streik kommt den Bossen ungelegen. Gerade jetzt, wo sie 'nen gewaltigen Abrüstungsschnupfen haben. Er zog eine große Zeitung aus der Tasche und fuchtelte mir damit vor der Nase herum. Ich strengte mich an, um wenigstens eine Schlagzeile zu erspähen,
doch er schlug gekonnt die großen Seiten um und zeigte mir ein halbseitiges Inserat: Über jedes Formtief hinweg hilft „Baxter“ mit dem roten X! Ich guckte ihn verständnislos an. Mein bisher bester Slogan, maulte er, aber bei der gegenwärtigen Lage brachte er mir die Verfassungsschützer auf den Hals. Der Abrüstungsrummel hat die Leute total verrückt gemacht. Entweder das rote X kommt raus oder ich. Der Amerikaner knödelte in schwerverständlichem Deutsch weiter: Ich habe meine Konsequenzen gezogen. Was wollen Sie von mir, fragte ich. Ich will dir einen Tip geben, Junge, den Tip eines erfahrenen Globetrotters: Die Welt ist rund, verstanden? Zum Glück gibt es den Weg über Ost. Ich fahre nach Rußland. Das ist meine Konsequenz. Ehe ich all den Kaugummi der Gebrüder Baxter selber fresse, will ich, verdammt, der erste Geschäftsmann sein, der mit der Entspannung auch Chewing Gum nach Moskau trägt. Es heißt, man kaut dort Sonnenblumenkerne. Der Kerl stutzte und fuhr dann mit gehobener Stimme fort: Towarrischi, nehmt „Baxters“ mit den neuen Sonnenblumenfermenten! Damned, ist das Raspeln von Sonnenblumenkernen barbarisch oder nicht? Wir leisten einen Beitrag zur kulturellen Entwicklung Osteuropas. Das gibt einen glänzenden Artikel in unserer „Times“. Er machte sich Notizen auf dem Rand eines Reiseprospekts. Mein Tip, bemerkte er zwischendurch, die Maschine nach Moskau startet pünktlich. Garantiere für Platz. Ab Moskau findet sich 'ne Arche nach Fernost. Unvermittelt bot er mir seine Hilfe bei der Erledigung der Formalitäten an. Ich hatte fast keine andere Wahl. Zwei Stunden später jagte ich in einer Düsenmaschine nach Osten, um mein Ziel von der anderen Seite her zu erreichen. Eine sonderbar gehobene Stimmung erfüllte mich. Die ganze Welt lag mir zu Füßen. Neben mir im Kabinensitz rekelte sich der Amerikaner. Nach einiger Zeit erhob er sich. Im Mittelgang streckte er ungeniert seine Glieder. Dann suchte er in den Taschen seines Jacketts und brachte schließlich jene blanke Stahlkugel hervor, die ihr vorhin gesehen habt. Mit diesem unscheinbaren Gegenstand vollführte er ein verblüffendes Experiment.
Er hob die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger hoch über sich und ließ sie fallen. Zugleich blickte er auf das Zifferblatt einer Art Stoppuhr und machte sich Notizen in ein schmales Büchlein. Erst danach kümmerte er sich um den Fallkörper. Ungeschickt kroch er zwischen den Sitzreihen herum, wobei er den Passagieren seinen straff gespannten Hosenboden zeigte. Als ihm ein höflicher Mitreisender das runde Ding aushändigte, bot Maine Bill ihm dafür einen Kaugummi an. Diese Versuche wiederholte der Yankee noch öfter. Jedesmal zog er seine sonderbare Stoppuhr zu Rate. Eine andere Notiz von seiner Umgebung nahm er nicht. Die Eintragungen, die er stets sehr sorgfältig vornahm, konnte ich nicht erkennen. Diesmal hatte ein kleines Mädchen die rollende Kugel eingefangen, und immer wieder verteilte Bill seinen Kaugummi. Für mich gab es zu seinem Gebaren nur zwei Erklärungen: Entweder war der Mann ein gewiefter Agent, der unter dem Deckmantel einer Genußmittelfirma, sofern man das Wälzen überdimensionaler Gummirollen zwischen den Kiefern als Genuß bezeichnen kann, hier in aller Öffentlichkeit Spionage betrieb, oder er war tatsächlich ein Handelsreisender. Dann mußte man ihm einräumen, daß er sich zur Anpreisung seines Artikels einen raffinierten Bluff ausgedacht hatte. Wer wird nicht gern für die Rückgabe einer gewöhnlichen Stahlkugel, die man angesichts ihres Besitzers ohnehin nicht einfach behalten konnte, einen Kaugummi entgegennehmen? Vielleicht vermerkte er in seinem Büchlein wirklich nur: 23. Juli, 11.24 Uhr, Baxters Präp. älterem, gutsituiertem Herrn offeriert. Die Stoppuhr, die sinnlose Eintragung selbst, alles Mache, Geschäftspraktik, dazu bestimmt, um jeden Preis Aufmerksamkeit auf Baxters Kaugummi zu erregen. Wer weiß? Dennoch hätte ich mich nicht gewundert, wenn ihn nach der Landung in der Hauptstadt jenes Staates, der weiß Gott oft genug bespitzelt worden war, zwei kräftige Burschen in Empfang genommen hätten. Nichts dergleichen geschah. Der Agent klemmte seine Reisetasche unter den Arm, warf von der Gangway des Flugzeuges einen kurzen Blick über das Panorama des Weltflughafens Scheremetjewo und brummte: Well, beinahe wie bei uns. Sein Gepäck wurde ebensowenig kontrolliert wie das meinige. Übrigens kümmerte sich Maine Bill auch hier wieder in dankenswerter Weise um mich. Er nahm mir meine Papiere ab und begab sich damit zum Transitbüro. Ich brauchte nur Sorge zu tragen, daß
er mir damit nicht entwischte. Mit geheimer Mißgunst beobachtete ich, wie man ihm, der sich zungenrollend als Yankee zu erkennen gab, mit offener Freundlichkeit, wenn nicht gar Freundschaft, begegnete, während ich, als Angehöriger eines wirklich befreundeten Staates, wie etwas Alltägliches behandelt wurde. Wodurch, so begann ich mich zu fragen, haben diese Schurken, denen die Welt nur im zähen Kampf die Atomkeule aus den Klauen winden konnte, solch ein Entgegenkommen verdient? War dieser Mensch, dem ich dank meiner himmelschreienden Unerfahrenheit ausgeliefert war, nicht schon wieder im Begriff, mit allerhand Tricks Unfug zu stiften? Stellte er das Experiment mit Kugel und Stoppuhr nicht sogar mitten in der Vorhalle an? Bei der unvermeidlichen Eintragung knurrte er sogar: These damned bloody fools. Kein Mensch kam auf die naheliegende Idee, ihm das Handwerk zu legen. Es war ihm übrigens gelungen, Plätze in einer Maschine nach Peking zu belegen, die kurz nach Mitternacht abziehen sollte. Während ich beschloß, im Flugzeug zu schlafen, legte sich Bill, im Hotel angekommen, sofort ins Bett. Entgegen vorhergehender Verlautbarungen schien er plötzlich die Hauptstadt des Sowjetlandes nicht als geeigneten Handelsplatz für die Produkte seiner Firma anzusehen. Desto ausgiebiger versorgte er mich aus seiner Reisetasche mit Kaugummi. Ich ließ ihn allein und fuhr mit einem Bus in die Stadt. Die kyrillische Schrift, die schmiedeeisernen Rosetten, mit denen die Wurzelscheiben der Alleebäume seit Jahrhunderten bedeckt zu sein scheinen, die Zwiebeldächer der Kremlkirchen, sogar die Bauten der ersten Fünfjahrpläne erweckten in mir das Empfinden solider Nostalgie. Ich konnte mir nicht helfen – trotz des brausenden Verkehrs, trotz endloser Neubaustraßen, trotz der anbrandenden, vielsprachigen Touristenlawinen, trotz fensterblitzender Hochhäuser, trotz des Krangestrüpps an der Peripherie wurde ich die Erwartung nicht los, gleich um die nächste Ecke meiner Großmutter zu begegnen. Ich fühlte mich geborgen und wurde zugleich kühn. Ich fuhr zu den prunkvollen Hallen der Metro hinab, warf mich in den erstbesten U-Bahn-Zug und ließ mich treiben. Nach mehrmaligem Umsteigen im wechselnden Lichterschimmer der Stationen überfiel mich die Erinnerung an meinen sonderbaren Begleiter. Der Kerl konnte sich ja auch bloß schlafend gestellt haben! Hatte ich nicht gerade diesem Land gegenüber die Pflicht, auf ihn aufzupassen?
Ich hatte unter Tage die Orientierung verloren. Deshalb fuhr ich über lange Rolltreppen hinauf. Warmes Sonnenlicht und der Eindruck des Gemütlichen, der im Prunk der unterirdischen Paläste zurückgetreten war, erfüllten mich wieder. Ein Taxi brachte mich ins Hotel zurück. Die Korridore waren um diese Zeit menschenleer. Behutsam drückte ich die Tür zu unserem Zimmer auf. Bill schlief noch immer. Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, daß es eine Frechheit von ihm war, sich bei mir einzuquartieren. Er schnarchte. Seine Zahnprothese hatte er mittels Baxters Kaugummi ans Oberteil der Bettstelle geklebt. In der weichen Masse sah ich deutlich den Abdruck seines breiten Daumens. Seine Züge waren im Schlaf erschlafft. Das vorstehende Kinn klaffte herab. Der Mund stand halb offen. Scharf stach die gebogene Nase aus dem knochigen Gesicht. Die Augen waren eingesunken. Von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln führten tiefe Falten. Er schien frühzeitig gealtert zu sein. Sein Haar war bereits gelichtet. Ein paar Schneidezähne im Oberkiefer hatte er offensichtlich nicht auf natürliche Weise verloren. Nie fühle ich mich hilfloser als einem Schlafenden gegenüber. Deshalb schlug ich auch jetzt wieder alle Bedenken in den Wind und begab mich zurück auf die Straße. Ich besorgte mir zu Lasten des emericinischen Zahlungswesens einen Packen Rubel und betrat ein Speisehaus. Ein Mann an meinem Tisch bestellte zu seiner Soljanka Mineralwasser. Kaum hatte ihm die Kellnerin den Rücken gekehrt, vertauschte er blitzschnell die Mineralwasserflasche gegen eine gleiche aus seiner Rocktasche. Während dieses Gebarens entgingen ihm meine Stielaugen nicht. Im Handumdrehen war ich sein Gast bei einem Gelage, das der Gaststättenleitung unter allen Umständen verborgen bleiben sollte. Es gibt im Leben Augenblicke, wo die Wirklichkeit und unsere Vorstellungen einen Akkord bilden, einen Zusammenklang, der keiner Korrektur bedarf. Das sind so abgehobene Momente. Man meint zu träumen und ist sich seines Wachseins doch bewußt. In Moskau ging es mir zweimal so, zum ersten auf dem Roten Platz, wo ich nicht wußte, ob ich existierte oder bloß Bestandteil einer der vielen zuvor gesehenen Ansichtskarten, Zeitungsbilder oder hundertmal gesehenen Film- beziehungsweise Fernsehpanoramen dieses Ortes war, und zum zweiten beim Gluckern des in mein Glas träufelnden Wässerchens. So, genau so hatte
ich mir den ersten Kontakt mit einem Sowjetmenschen immer vorgestellt. Erst als ein Hieb von jenem sechsundneunzigprozentigen, durch einige Tropfen Soda zusammengehaltenen Zeug in meinen Kaidaunen brannte, zerfiel die Halluzination. Minutenlang blieb mir die Luft weg. Für den zweiten Schluck gab ich mir alle Mühe, um zu beweisen, daß ein Junge aus Groß Lütten, meiner lieben Heimatstadt, vor nichts zurückschreckt. Später, als uns die Kellnerin dringend empfahl, das Haus zu verlassen, hatten wir voreinander keine Geheimnisse mehr. Er hieß Petja, arbeitete im Depot einer Nudelfabrik und schwärmte für Berlin, wo er als Soldat gedient hatte. Ich machte ihm klar, daß ich mich auf einer Reise in acht Tagen um die Erde befand, über wahnsinnig viel Geld verfügte und daß mir ein gefährlicher Bursche auf den Fersen sei, der sich höchstwahrscheinlich für mein Scheckheft interessierte. Petja stützte mich, gestikulierte und versicherte, er werde niemals zulassen, daß mir auf sowjetischem Territorium etwas weggenommen wurde. Nach einem längeren Monolog über die russische Seele lud er mich zu einem Wodka ein. Sein „Sprit“ war inzwischen alle geworden. Wir betraten ein anderes Restaurant. Dort saßen wir bis in die Nacht hinein, tranken und politisierten. Als er wiederum in die Betrachtung der russischen Seele verfallen wollte, entdeckte ich mich ihm als Erfinder des Fiebigschen Trompeteneffekts. Dabei dämmerte mir ein neuer Gedanke. Petja, rief ich, wenn ich diesen Emericinern meine Erfindung in den Hals stopfe, ist das Gleichgewicht zwischen den Kräften gestört. Diese Halunken bekommen einen Vorsprung in der Raketentechnik, und dann ade, du lieber Weltfrieden. Komm, laß uns in den Kreml fahren! Ich muß der Sowjetregierung mein Patent auf den Tisch legen. Petja wollte sich herauswinden. Er brummte etwas von ungelegener Stunde. Es war tatsächlich spät, jedoch in Anbetracht der Wichtigkeit meines Anliegens konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen. Ich warf einen Geldschein auf den Tisch, dann schleifte ich Petja, der übrigens sehr viel älter war als ich, aus dem Lokal. Ich rief ein Taxi, verfrachtete uns beide und nannte das Ziel. Reiß dich zusammen, Petja, sagte ich, und mach dem Posten klar, daß er uns durchzulassen hat. Ich komme in einer Mission von höchster weltpolitischer Tragweite.
Petja diskutierte tatsächlich heftig mit dem Posten vorm Haupteingang des Kremls. Ich verstand nur so viel, daß ich eigens aus Berlin gekommen sei, um den Palast von innen zu sehen. Der wachhabende Offizier kam herzu. Die Diskussion zog sich in die Länge. Die Uhr schlug inzwischen Mitternacht. Jeder kennt ja die Klänge der berühmten Kremlglocken. Wie verzückt lauschten wir sämtlich dem feierlichen Glockenspiel. Als der Hymnus verklungen war, harrten wir noch eine Minute lang in andächtigem Schweigen. Danach zeigte sich der Wachhabende wie umgewandelt. Er nahm Haltung an, grüßte militärisch und gab uns den Weg frei. In einem der hohen Fenster brannte noch Licht. Fiebig holte rasselnd Luft, ehe er fortfuhr: Wir betraten ein saalartiges, helles, schlicht eingerichtetes Zimmer. An der Wand hing überlebensgroß das Porträt des russischen Feldherrn Kutusow. Neben einem wuchtigen dunklen Schreibtisch stand ein mittelgroßer, breitschultriger Mann in einem schlichten Uniformrock. Er hatte eine hohe, unbeugsam anmutende Stirn, dichtes, kurzgeschorenes, graumeliertes Haar, buschige Brauen, eine scharfgeschnittene Nase, einen energisch-väterlichen Schnurrbart und einen festen, unbestechlichen Blick. Jeder hier in diesem Raum wird es mir unbesehen glauben, wenn ich versichere, daß ich augenblicklich stocknüchtern war. Der Mann stand neben seinem Schreibtisch und schaute uns halb skeptisch, halb erwartungsvoll entgegen. Ich verbeugte mich formvoll. Die Erinnerung an meine Mission machte mich kühn. Während Petja stocksteif an der Tür stehenblieb, trat ich mit festen Schritten auf den Mann zu, doch ehe ich den Mund zu einer ausholenden Erklärung öffnen konnte, sagte mein Gegenüber: Fassen Sie sich kurz! Des Russischen ohnehin nicht allzu mächtig, trat ich vollends an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und warf mit knappen Strichen das Prinzip des Trompeteneffekts auf den Plan. Der Mann nahm ein Päckchen Tabak vom Tisch, riß es auf und stopfte eine kurze, krumme Pfeife vom Typ „Große Bent“. Er brannte sich paffend die Pfeife an, und es war, das darf ich wohl versichern, nicht das edelste Räucherwerk, das er mir um die Ohren blies. Danach beugte er sich über meine Skizze und studierte sie eingehend. Es war totenstill. Mein Herz pochte im Halse. Mir war, als wäre eine ganze Stunde verstrichen, ehe sich der Mann wieder aufrichtete. Er
nickte kurz und, wie mir schien, etwas müde. Seine Pfeife war erkaltet. Gut, sagte er schließlich, wir werden das prüfen. Sie können gehen. Mit wem hatte ich die Ehre, fragte ich nun doch etwas schüchtern. Draußen schlug die Kremluhr vernehmlich die erste Stunde. Ich bin… Fiebig, schaltete sich Alfred Langhammer ein und drohte mit dem Finger, du hast hier die Wahrheit zu berichten. Wir schätzen dich als Schuhmacherlehrling. Als solchen haben wir dich ausgebildet, zu nichts sonst. Bleibe du bei deinem Leisten, sonst können wir für deine Zukunft nicht garantieren. Laß ihn doch weiterreden, begehrten die Jugendfreunde auf. Wer war es denn nun? Ich bin, fuhr Fiebig unbeirrt fort, der Nachtschließer und mache hier allnächtlich um diese Zeit meine Runde. Wie seid ihr überhaupt hier hereingekommen? Das gibt Ärger. Er betrachtete noch einmal meine Zeichnung. Kleiner Scherz, wie? konstatierte er. Ich hatte keine Gelegenheit, mein Anliegen noch einmal vorzutragen. Er faßte mich, seine Hand war warm, mit festem Griff ums Handgelenk und brummelte: Am besten, ich bringe euch zum Hinterausgang. Wenn man euch hier schnappt, kann es Tage dauern, bis alle Umstände aufgeklärt sind. Hier fand Petja zum erstenmal seine Sprache wieder. Gerhard, sagte er, was wird dann aus deiner Gesellenprüfung? Da ließ ich mich willig abführen. Durch eine versteckte Pforte, die offenbar nur dem Schließer bekannt war, gelangten wir aus der Burg. Meine Skizze war auf dem bewußten Tisch liegengeblieben, und das verschaffte mir einige Hoffnung, es möge das neue Rückstoßprinzip doch noch in die richtigen Hände kommen. In einem Taxi schaffte mich Petja direkt zum Flughafen. Auf der Fahrt dorthin erzwang sich meine erschöpfte Natur zum erstenmal ihr Recht. Ich schlief wie ein Sack verhärteter Zement. Ich erwachte, als mich jemand derb an der Schulter rüttelte. Petja, rief ich verschlafen, hast du es dir überlegt? Fahren wir in den Kreml? Da
erkannte ich Maine Bills robuste Visage. Ich stieß ihn von mir und brummte: Geh zum Teufel. Aufwachen, knödelte Bill. We are in Peking. Mit dem Sarkasmus der Ernüchterung erfaßte ich die Lage und fragte: Was willst du hier, Kaugummi verkaufen? Bill überhörte es. Kontrollbeamte verlangten noch in der Flugmaschine unsere Papiere. Umständlich durchwühlte ich meine Taschen. Die Chinesen wurden vor Ungeduld immer höflicher. Da knöpfte mir Bill, ohne zu fragen, die Jacke auf und förderte meine Papiere zutage. Als wir die Maschine schon verlassen hatten, fiel mir auf, wie leer meine Taschen waren. Ich hatte doch Rubel, rief ich aus. Sehr richtig, pflichtete mir Bill bei. Aber die befinden sich jetzt in einer Brechtüte, die in einem gewissen Behälter der Maschine liegt. Ich schätze, daß du sonst schwerlich mit demselben Flugzeug in Irkutsk hättest starten dürfen. Du wolltest aber doch so schnell wie möglich um die Erde, wenn ich recht verstanden habe! Ich fühlte mich gegängelt, geschoben, übern Zaun gehoben und entgegnete mißmutig: Darf man eigentlich wissen, was dich davon abhält, deinen Geschäften nachzugehen, du alter Geier? Ja, fuhr mich der Kaugummiagent an, deine verdammte Dämlichkeit. Ich denke, du willst in die Staaten. Du bornierter ostdeutscher Kleinstadtidiot wärst doch schon auf dem Berliner Flughafen liegengeblieben wie ein Schellfisch auf dem Trockenen. Danach, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres, ließ er wieder seine Kugel fallen. Erst als er seine Eintragungen gemacht hatte, fuhr er fort: Du mit deinen Rubeln. Hättest uns vielleicht 'ne schöne Suppe eingebrockt. Mindestens einen Tag Zeitverlust! Wo's um Valuta geht, hört auch bei den Russen die Freundschaft auf. Er orakelte: Ein Tag kann für die Menschheit viel bedeuten. Diese Bemerkung hätte mich aufhorchen lassen müssen. Aber ich war soeben im Begriff, mich endgültig auf eine Erklärung seiner Existenz festzulegen. Nein, mit einem Handlungsreisenden hatte Bill so wenig gemein wie ich mit einer Schildkröte. Viel eher war er eine Art Freibeu-
ter, der unter dem Deckmantel eines Firmenvertreters auf Fischfang ging. Scharfäugig hatte er sich im Berliner Flughafengelände herumgetrieben, bis er im Reisebüro endlich auf mich aufmerksam wurde. Ein Mensch von meinem provinzlerischen Format, der es sich aber leisten konnte, um die Welt zu fahren, war vielleicht die größte Chance in seinem gewiß nicht sehr erfolgreichen Leben. Genügend unerfahren, genügend leichtsinnig, genügend schwatzhaft und von einem reichen Mann in den Staaten ungeduldig erwartet, war ich der ideale Fang für einen Kidnapper. Solange wir uns auf sozialistischem Boden befanden, konnte er mir freilich nichts anhaben. Deshalb war dieser Mensch so sehr um meine Weiterreise besorgt. Seit der Kontrolle im Flugzeug hatte mir Bill weder meine Papiere noch das Scheckheft zurückgegeben. Ich brauchte den Chinesen nur einen entsprechenden Wink zu geben. Den Gauner wäre ich dann los. Was aber dann? Die Untersuchung meiner Anzeige würde bestimmt viel Zeit kosten. Womöglich wurde INTERPOL eingeschaltet. Womöglich schwatzte der Kerl etwas von meiner Erfindung, um sich an mir zu rächen. Der leiseste Verdacht, ich könnte etwas mit Raketen zu tun haben, und sei es nur als Anstreicher, würde die Chinesen hellhörig machen. Der zweite Reisetag näherte sich bereits seinem Höhepunkt, und noch trennten mich viele tausend Kilometer von meinem Ziel. Mit jedem Tag rückte außerdem die Gesellenprüfung näher. Die wollte ich um keinen Preis versäumen. So schien es mir zur Zeit noch das beste zu sein, wenn ich gute Miene zu dem bösen Spiel des Maine Bill machte. Jeder in seiner Gesellschaft zurückgelegte Schritt war zunächst ein Schritt auf mein Ziel zu. Ich mußte meinem Begleiter einräumen, daß er sich in allen Belangen des Transitwesens gut auskannte. Da eine direkte Flugverbindung nach Japan wegen der immer noch andauernden bilateralen Spannungen zwischen diesen beiden Staaten nicht bestand, hatte Bill Plätze auf einer Inlandfluglinie nach Kanton gebucht. Über Kanton mußten wir gewissermaßen durch das Kellerfenster ins Gebäude der „Freien Welt“ einsteigen. Die chinesischen Behörden, anscheinend froh, uns durch dieses Schlupfloch wieder loszuwerden, machten keine Schwierigkeiten. Das Flugzeug, das uns über die weiten, gelbgrünen Schwemmlandebenen des Hwangho trug, landete auf jedem größeren Platz der Route. Zum
Glück vollzog sich die Abfertigung überall reibungslos, so daß wir noch in der Nacht vom zweiten auf den dritten Reisetag in Kanton eintrafen. Maine Bill unterließ seine verrückte Kugelspielerei auch in der Volksrepublik China nicht. Hatte man jedoch in der Sowjetunion über sein Gehabe nachsichtig gelächelt, so fiel er den Chinesen sichtlich auf die Nerven. Als wir in Kanton von Bord gingen, ritt ihn der Teufel, er bot einer Schar junger Leute Baxters Kaugummi an. Es waren aber just Kulturrevoltler, die von einem Einsatz in einer fernen Stadt zurückgekehrt waren. Sie umringten uns, tasteten uns nach Waffen ab, stülpten Maine Bills Reisetasche um, streuten all den vielen schönen, bunten Kaugummi in die Luft, zertrampelten ihn auf der Erde und übergaben uns als Propagandisten einer dekadenten westlichen Unkultur der Miliz. Ich kombinierte schlagartig. Es konnte den chinesischen Behörden nicht verborgen bleiben, daß ich mit dem Kaugummiagenten nichts zu tun hatte. Somit wurde ich ihn auf ganz bequeme Weise los und ersparte mir überdies eine spätere, womöglich sehr harte Auseinandersetzung mit dem zähen Burschen. Um ein übriges zu tun, verriet ich der Miliz, daß Bill sich in den Besitz meiner sämtlichen Reisedokumente gebracht hatte. Dann harrte ich der Dinge, die da kommen sollten. Wir wurden, voneinander getrennt, in dunkle Bretterverschläge gesperrt. Die dünnen Schwarten waren auf chinesische Art mit Reispapier beklebt. Ein kräftiger Mann konnte die leichten Trennwände ohne weiteres durchbrechen. Aber draußen standen Posten. Ich wartete. Nach einer Stunde oder dreien wurden mir meine Papiere gebracht. Von Bill vernahm ich nicht die Spur. In Begleitung eines Milizionärs, es war schon früher Morgen, zuckelte ich im Bummelzug weiter nach Süden. Nach nicht allzu langer Fahrt in den anbrechenden Tag hinein, durch Schluchten überhängender Bananenstauden, erreichte der Zug die Endstation. Grenzwachen übernahmen mich und beförderten mich im Jeep weiter. Am Schlagbaum angekommen, deutete der Wachhabende in südliche Richtung, wo ich unter einer Dunstglocke den menschlichen Ameisenhaufen Hongkong vermutete. Der Posten sagte etwas auf chinesisch, was sich anhörte wie: Scher dich weg! Er hob nicht einmal den Schlagbaum. Auf allen vieren mußte
ich hinaus in die kapitalistisch orientierte Welt kriechen. Hier setzte ich einen Fuß vor den anderen und gelangte auf diese für Weltreisende seltene Art der Fortbewegung an die Küste des Südchinesischen Meeres, wo eine lange Brücke die Hongkonginsel mit dem Festland verband. Im Vollbesitz meiner Kaufkraft, ausgestattet mit allen erdenklichen Legitimationen, doch allein, fand ich mich am späten Nachmittag in der Inselstadt ein. Zuerst wechselte ich meinen europäischen Anzug gegen eine leichte Tropenkleidung aus. Um keine Zeit zu verlieren, mietete ich eine Rikscha und dirigierte den Kuli zum Flugplatz. Als ich in dem leichten Gefährt bereits zwei Stunden durchs Gewühl der Stadt bugsiert worden war, ohne eine Landepiste auch nur von fern zu ahnen, begriff ich endlich, daß mich der Mann für ein Greenhorn hielt und Kilometergeld herausschinden wollte. Ich schimpfte, was zur Folge hatte, daß mein Transporteur langsamer ging, obschon er endlich die gewünschte Richtung einschlug. Als ich zum Flughafen kam, neigte sich die Sonne bereits zum Horizont. Der Kuli fuhr vor das Portal des Abfertigungsgebäudes. Ich schwang mich von der Transportkarre. Auf der kleinen Vortreppe am Haupteingang saß – Maine Bill. Er versuchte zu lächeln. Sein Hemd war zerfetzt, die Knie waren aufgeschlagen, das Haar klebte wirr und blutverkrustet um seinen Schädel. Schweiß und Schmutz bildeten Rinnsale in seinem Gesicht. Um den linken Arm, den er vorsichtig im Hemdschlitz trug, hatte er einen grauen, durchbluteten Lappen gewickelt. Bill schaute mir hoffnungsvoll entgegen. Mühsam quälte er sich hoch. Ich überlegte kühl: War es dem Burschen gelungen, zu entfliehen, so konnte er weder Geld noch Personalpapiere besitzen. Was und wer auch immer er zu sein vorgab, kein Mensch würde es ihm glauben. Maine Bill war erledigt, ein Wrack, ein Stromer, einer jener heruntergekommenen Weißen, einer jener armen Lumpen, die ihr Lebenswerk als Söldner mit großen Hoffnungen begonnen hatten und nach der Demobilisierung im Sumpf des Konkurrenzkampfes jedes gegen jeden, der hier besonders stickig war, zugrunde gingen. Und an mir, dem Greenhorn, dem „ostdeutschen Provinzler“, der größten Chance seines. erbärmlichen Lebens, war er vollends gescheitert.
Ich fragte kühl: Wie kommst du hierher? Das hoffnungsvolle Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. Ich blickte mich nach dem Rikschamann um. Der hielt sich witternd in der Nähe. Ich wollte nicht ewig bei den Rotchinesen bleiben, antwortete Bill. So, sagte ich kalt, dann wirst du eben hier bleiben müssen. Und mit einem einzigen Faustschlag streckte ich ihn nieder. Der Rikschafahrer war sogleich zur Stelle. Wir luden Bills willenlosen Körper auf die Karre und zerrten das Sonnendach drüber. Bill hockte kraftlos, mit blöden Augen in der Einmannkutsche. Greisenhaft wackelte sein Kopf. Der ist fertig, stellte ich fest und wies mit weitausholendem Arm in die Ferne. Der Fahrer, Pferd und Kutscher in einem, nickte gleichmütig. Hier setzten sich zwei Weiße auf ihre Art miteinander ins reine. Ich schrieb dem Mann einen Scheck aus, dazu machte ich ihn deutlich auf die sehr hohe Summe aufmerksam. Erst jetzt trat ein Polizist auf mich zu und fragte: Was geht hier eigentlich vor. Ich schnippte ein Stäubchen von meinem Anzug und erklärte: Dieser Stromer hat mich belästigt – eh, wo kann man sich hier die Hände waschen? Der Polizist warf einen Blick auf Bill, sah, daß er nicht tot war, grüßte und entfernte sich. Der Kuli, eingedenk der hohen Belohnung, die erst noch zu sichern war, machte sich mit seiner Fuhre aus dem Staube. An dieser Stelle unterbrach Fiebig seinen Bericht. Er biß sich auf die Lippen und starrte in die Ferne. Vielleicht verkroch sich gerade in diesem Augenblick das winzige Goldkäferchen auf der großen Linde vor dem Café am Markt in einer Borkenritze, um dort geschützt die Nacht zu verbringen. Im Zuhörerkreis tickte irgendwo ungehörig laut das Werk einer Taschenuhr. Da ich nicht annehmen kann, so nahm Gerhard seinen Faden wieder auf, daß jemand hier im Saal mit den Örtlichkeiten der Handlung aus eigener Anschauung bekannt ist, wäre es unfair von mir, mit der Beschreibung von Einzelheiten zu prahlen. Wer macht sich schon anheischig, aus dem Stegreif jedes Detail einer Weltumfahrung gegenwärtig zu haben. Es gibt Wichtigeres zu berichten. Natürlich lag es jetzt nahe, eine direkte Linie nach den USA über die Hawaii-Inseln zu besteigen. Doch ich weiß nicht, wie es anderen an mei-
ner Stelle ergangen wäre. Mir schien es unmöglich, auf Ostkurs an Japan vorbeizufahren. Dai Nippon, das Land der aufgehenden Sonne! Als Sonnensucher, wie ich mich auf dieser Reise zu meiner Rakete zuweilen nannte, pfiff ich auf alle Regeln der Vernunft. Ich wollte mir einen kleinen Rest kindlicher Unvernunft bewahren. Meine Großmutter hatte mir nämlich erzählt, daß vor der japanischen Küste jeden Morgen die Sonne aus dem Meer steige, das dort so tief sei, daß sie bequem drin schlafen könne. Endlich sollte ich die Sonne sehen, wie sie heraufstieg aus den Fluten, triefend, für den neuen Tag gestärkt. O ja, vielleicht gelang es mir dabei, und wäre es nur für wenige Minuten, die Stimme meiner Großmutter heraufzurufen, die ich so liebte, früh entbehren mußte und nur noch im Traum so selten wiederhörte. In Japan aber lag Hiroshima. Wenn ich nicht an einem Sonnenaufgang aus dem Pazifik vorbeikommen konnte, um wieviel weniger ging es an, die Inseln zu betreten, ohne dort gewesen zu sein. Seit den Tagen des Herrn Phileas Fogg hatte sich auf unserem Erdball manches zugetragen, von dem sich der biedere Engländer nichts hatte träumen lassen. Darunter befand sich einiges, was einem aufrechten Menschen nicht erlaubte, wegen einer Wette oder einer Gesellenprüfung einen ganzen Erdentag zu kassieren und achtlos an der Stätte des atomaren Massenmordes vorüberzuhasten. Über dem nächtlichen Tokio braute eine Waschküche. Die Befeuerung der Anflugpiste war kaum zu erkennen. Dem japanischen Piloten wurde das Kunststück einer fast völligen Blindlandung zugemutet. Er absolvierte es. Feiner Regen näßte den Asphalt. Kaum hatte ich den Fuß von der Gangway, stürzte ein Mann auf mich zu und fragte: Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein. Er war eine Art Dienstmann, trug einen Regenmantel, Gummischuhe und einen großen Regenschirm. Sein Gesicht war grau, übernächtig und zerknittert. Bringen Sie mich zum Bahnhof, befahl ich. Der Galoschenmann winkte mit seinem Regenschirm einem Taxi. Wir stiegen ein. Der Japaner verbreitete einen Geruch nach synthetischem Kautschuk. Haben Sie schon entschieden, wo Sie nächtigen wollen, fragte er mich.
Im Zug nach Hiroshima. Mein Lotse, oder was immer er war, bedauerte. Der nächste Zug dorthin führe erst am künftigen Vormittag. Er empfahl mir ein kleines, nettes, billiges Hotel. Erst zum Bahnhof, herrschte ich ihn an. Er schwieg sofort. Den Ton, der Leute wie ihn zum Schweigen bringt, hatte ich mir inzwischen angeeignet. Ich hatte einen Menschen niedergeschlagen. Bei Gott, das war gar nicht so schwierig gewesen. Seitdem fühlte ich mich als Herr. Ich begriff das Selbstbewußtsein von Leuten, die jederzeit irgendwen niederstrecken konnten, sei es durch einen Federstrich, einen Schlag ins Gesicht oder einfach nur durch die eigene anspruchsvolle Existenz. Die Fahrpläne waren natürlich in japanischer Schrift ausgeschrieben. Ratlos stand ich in der Bahnhofshalle. Mein Gummimann tippte mit seinem Nikotinfinger auf eine Stelle und las vor: Expreßzug Tokio – Nagoya – Kyoto – Osaka – Kobe – Hiroshima zehn Uhr zweiundzwanzig. Mein Herr, es lohnt sich wirklich nicht, die Nacht auf dem Bahnsteig zu verbringen. Ich weiß ein sauberes Asyl mit Bad, feinster Küche, Massageabteilung, diskreter Damenunterhaltung. Sie finden dort die letzten Geishas alter Schule. Die Preise sind angemessen. Ich schwankte. Was schwatzte der Kerl von irgendwelchen Preisen? Ich konnte mir alles leisten. Schön, brummte ich, will mir wenigstens die Fahrkarte lösen. Er zerrte mich am Ärmel. Oh, warum diese Mühe? Das besorgt der Hauswirt. Wo ich nun schon direkt vor dem Schalter stehe, rief ich aufgebracht, und stieß ihn mit dem Ellenbogen beiseite. Da vernahm ich die Stimme der Kartenverkäuferin: Mein Herr, nach Hiroshima bitte beeilen. Fährt in drei Minuten! Ich streifte meinen Helfer mit einem vernichtenden Blick und wandte mich zur Sperre. Ihr Wechselgeld, rief die Dame am Schalter. Ich lief mit einer wegwerfenden Handbewegung weiter. Auf schlappenden Galoschen rannte mir mein Herbegleiter nach. An der Sperre holte er mich ein. Dieser Zug ist nicht zu empfehlen, schrie
er. Es gibt weder Liege- noch Speisewagen. Der Zug ist ständig überfüllt, kriecht wie eine Schnecke, hält in jedem mittleren Kaff, Sie müssen dreimal umsteigen, es ist ein ganz abscheulicher Bummelzug, mein Herr. Er stellte sich mir in den Weg. Ich trat ihm gegen das Schienbein. Er wankte nicht. Machen Sie die japanische Staatsbahn nicht madig, schrie ich. Er klammerte sich an mich und zeterte: Sie werden es bereuen! Um uns herum hatte sich inzwischen ein Menschenauflauf gebildet. Mein Zug mußte jeden Augenblick abfahren. Die Klette aber begann immer lauter zu schreien. Sie schulden mir noch meinen Dienstlohn, Herr! In diesem Augenblick stellte sich in meinem rechten Arm und in der Faust, mit der ich Bill niedergeschlagen hatte, ein gefährliches Zucken ein. Den Bums, der einen Mann zu Boden wirft, hatte ich ein für allemal drin. Ich nahm genau Maß, um, ohne auszuholen, einen Haken anzusetzen. Da schrie jemand in der Menge: Yankee go home. Sie mochten mein schlechtes Englisch mißdeutet haben. Nennen Sie das Dienst, fragte ich mit dem letzten Rest von Selbstbeherrschung. Und da ich nun gehalten war, das Volk nicht weiter gegen mich aufzubringen, öffnete ich meine Faust, machte mir in einem Schwall von Schusterflüchen Luft, wozu ich alle Möglichkeiten meiner Muttersprache ausschöpfte. Die Wirkung war verblüffend. Zuerst trat eine andächtige Stille ein. Dann röhrte es im Lautsprecher: Zug nach Hiroshima über Nagoya, Kyoto und so weiter, bitte einsteigen, Türen schließen und Vorsicht an der Bahnsteigkante. Ich verstand zwar nicht die Sprache, aber das konnte nur meinem Zug gelten. Als der Lautsprecher schwieg, wiederholte jemand aus der Menge: Sauhaufen? Lotterbande? Schweinerei? Sein Gesicht hellte sich auf. Deutzu? Sie Deutscher? Na klar, rief ich wütend, was denn sonst. Der Mann, der zumindest einige der wichtigsten deutschen Vokabeln kannte, wandte sich erklärend an die Umstehenden, deren Zahl sich noch vermehrt hatte. Dabei guckte er sich öfter nach meinem Begleiter um als nach mir. Aus seiner Rede vernahm ich häufig das Wort „Deutzu“. DDR, fügte ich ordnungshalber hinzu. Die Gesichter entspannten sich. Viele dieser Nachtvögel sahen mir nicht gerade so aus, als hätten sie
um diese Zeit noch etwas auf dem Bahnhof zu suchen. Keinem stand der Überdruß an einer warmen und trockenen Schlafstelle ins Gesicht geschrieben. Einer schrie jetzt: Heil Hitler! Mir stieg das Blut zu Kopfe. War man auf dieser Welt denn nirgendwo vor der Beschwörung extremer Geister sicher? Ich schrie dagegen: Scheiße! und wiederholte: DDR! Dort, wo der Faschist stand, entwickelte sich ein Getümmel. Der Kerl wurde in den Regen hinausbefördert. Ein Polizist erschien. Er wandte sich an meinen Begleiter. Doch dieser gab jetzt anscheinend Erklärungen ab, die alle Bedenken des Ordnungshüters zerstreuten. – Kein Wunder, denn mein Zug war weg. Die Klette hängte sich auch prompt wieder an mich und fragte: Nun, kommen Sie mit ins Hotel. Ich ging wortlos hinaus. Der Galoschke folgte mir. Er machte nicht mehr den Versuch einer Annäherung, doch blieb er auf meiner Fährte wie ein verprügelter Hund. Ziellos trabte ich durch den Regen. Mich beherrschte nur noch ein Gedanke: Schlafen. Das Straßenbild war verödet. Der Asphalt schimmerte wie Eis. Die Leuchtreklame wurde vom Sprühregen zersetzt. Verspätete Gestalten klapperten auf Holzsohlen vorüber. Ich beneidete sie um ihre Regenschirme. Mein leichter Tropenanzug war völlig durchnäßt. Plötzlich öffnete sich der Boden. Ich stand vor einem U-Bahn-Schacht. Warmer Brodem huschte mir entgegen, oben kondensierte er und dampfte zu beiden Seiten des Schachtes hervor. Auf dem ersten Treppenabsatz suchte ich mir ein Plätzchen. Es waren schon Schlafgäste da. Einer rückte mürrisch zur Seite. Dann zog er ein Zeitungsblatt unter sich hervor und reichte es mir. Ich barg den Kopf in meiner Jacke, kauerte mich zusammen und begann zu druseln. Als es kühler wurde, rückte ich meinem Nachbarn immer dichter an die Seite. Wir wärmten einander. Bald hatte ich meinen Schatten vergessen. Ich erwachte durch eine, Bewegung meines Schlafgefährten. Er lächelte, als wolle er sich entschuldigen, überließ mir den Rest seiner Zeitung und stieg tattrig die Stufen empor. Es dämmerte bereits. Der Verkehr nahm zu. Die Untergrundbahn spuckte in rascher Folge Menschentrubel aus.
Arbeiter, Angestellte, was weiß ich, die zur Arbeit fahren mußten, stiegen hastig die Treppen hinab. Ich folgte ihnen mit den Blicken. Die Treppe herauf kam – Maine Bill. Ich schloß und öffnete die Augen. Das Phantom wich nicht. Jetzt stand er vor mir. Ich sprang entsetzt auf. Hinter Bill tauchte mein Schatten auf. Wie kommst du hierher, stieß ich aus. Zu Fuß, über den Jordan, höhnte Bill. Der Japaner schien Mitleid mit mir zu haben. Er zog den Hut, übrigens der einzige Gegenstand an ihm, der nicht aus Gummi war, und verbeugte sich höflich. Mein Name ist Mikumaku, stellte er sich endlich vor. Bitte vergeben Sie mir die unangenehme Szene am Bahnhof, aber mir blieb nichts anderes übrig. Dieser Herr, der Japaner wies auf Bill, hatte die Güte, per Telegramm aus Hongkong unsere Privatdetektei in Anspruch zu nehmen. Es war für mich nicht einfach, Sie bis zu seinem Eintreffen hier zurückzuhalten. Er lächelte. Gewiß, kein sehr erfreulicher Job für mich, aber was soll ich tun? Ich habe Familie. Auf Bills Gesicht lagen Spuren übermenschlicher Anstrengung. Er steckte in einem ordentlichen, wenn auch billigen Anzug. Der Yankee faßte mich am Kragen. Seine Faust zitterte, allerdings, wie ich wohl merkte, nicht mehr vor Schwäche. Er knurrte wie ein Hund. Dazwischen stieß er menschenähnliche Laute aus. Hör mal, du Idiot, knurrte er, jetzt könnte ich dir den Hongkong-Schlag zurückzahlen. Mit Zinsen. Aber das hat noch Zeit. Ich habe weder Geld noch Papiere. Du wirst deshalb diesem Herrn sein Honorar geben. Ferner wirst du ihn mit allen Mitteln versehen, die er braucht, um für uns beide eine Arche nach den Staaten zu chartern. Der Detektiv trat von einem Fuß auf den anderen. Seine Galoschen quietschten. Es ist mir unangenehm, druckste er, aber ich stelle nur die Forderungen meiner Firma. Ihre Firma hat von mir gar nichts zu verlangen, fuhr ich ihn an. Ich habe Ihre Dienste nicht bemüht. Wenden Sie sich an diesen Herrn. Ich zeigte auf Bill.
Der nützt uns nichts, antwortete der Japaner. Der ist ja vollkommen blank. Ich witterte noch eine Chance. Dann behalten Sie ihn doch da! Der Kerl hat nicht in meinem Auftrag gehandelt. Im Gegenteil, ich protestiere gegen die mir widerfahrene Bespitzelung. Der Galoschenmann grinste. Wir müssen zu unserem Geld kommen, sagte er freundlich. Wenn Sie das nicht einsehen, müssen wir anders vorgehen. Ich war heute nacht Zeuge einer politischen Demonstration Ihrerseits. Sicher werden Sie Ihr Verhalten begründen, aber eine längere Untersuchung wird nicht zu umgehen sein. Na, siehst du, sagte Bill. Ich denke, du willst so schnell wie möglich weiter. Ich zückte mein Scheckheft und murmelte: Du bist der größte Halunke, Bill, der mir auf dieser Welt begegnet ist. Und du, konterte Bill, bist das dümmste Greenhorn, das diesen Planeten je geziert hat. Daraufhin führte er dem verdutzten Japaner sein Fallexperiment vor. Die verdammte Kugel hatte er also nicht verloren. Dann fügte er hinzu: Und wenn wir durch deinen Starrsinn nicht rechtzeitig hinüberkommen, dann wird der Herrgott am Jüngsten Tag nicht wissen, was er mit dir erbärmlichstem aller Sünder anfangen soll. Ich mußte ihm lassen, daß er Sinn für dunkle Anspielungen hatte. Möchte bloß wissen, wer du in Wahrheit bist, murrte ich. Wer ich bin? Ein Assistent des Professors. In Bills mißhandeltem Gesicht erschienen hektische Flecken. Soll ich dir vielleicht in Anwesenheit eines japanischen Detektivs noch mehr erklären, zischte er. Aber warum hast du das nicht früher gesagt? Da warn wir bei den Roten. Daß ich zu Dr. Peng wollte, hatte ich ihm nebst einigen Einzelheiten ja bereits in Schönefeld auf die Nase gebunden. Was lag nun näher, als sich für einen Assistenten des Gelehrten auszugeben? Nein, Maine Bill war ein Strolch! In Hongkong war ich ihm zum erstenmal überlegen gewesen. Jetzt, umspült vom Großstadtverkehr, vor der Nase eines Kriminalisten, konnte er mir schlecht ans Leder. Er setzte nunmehr all seine Hoffnung, mein Scheckheft und mich zu kapern, auf die Landung in
seiner Heimat. Dort kannte er sich aus. Dort mochte er sich noch am wohlsten und sichersten fühlen. Aber wie sollte er hinüberkommen, wenn er sich nicht jetzt schon meiner bediente? Die Frechheit, mit der er mich zum Beispiel bewog, eine Sondermaschine für uns beide zu chartern, nahm mich, ich gestehe es offen, bis zu einem gewissen Grad für ihn ein. Ich schickte den Detektiv mit unserem Auftrag los. Es war ja auch für mich das beste, wieder ein paar tausend Kilometer weiterzukommen. Mikumaku setzte sich auf schlappenden Gummischuhen in Bewegung. Nach angemessener Zeit berichtete er uns, daß eine viermotorige Strahltriebmaschine zum Nonstopflug nach San Angeles für uns bereitgemacht werde. Bitte, fragt mich nicht nach dem Kostenpunkt; er könnte unsere Groß Lüttener Vorstellungskraft leicht übersteigen und deshalb für unglaubwürdig gehalten werden. Erwähnenswert ist höchstens, wie schnell ich mich an dieses für unsere Begriffe ungewöhnliche Milieu gewöhnt hatte. Ich leistete mir mit der größten Selbstverständlichkeit den Luxus eines Düsenklippers mit mindestens zweihundert leeren Plätzen. Diese rasche Akklimatisierung ist höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß unsereins mit allen nötigen Kenntnissen und ideologischen Einsichten ausgestattet ist, die uns alle Ursachen für den hanebüchensten Leerlauf sofort erkennen und gedanklich durchdringen lassen, so daß wir uns, weit entfernt, vor Staunen in Ohnmacht zu fallen, der Verhältnisse im eigenen Sinne bedienen können. Hatten die verschwenderischen Ausgaben für die Sondermaschine wenigstens einen nützlichen Aspekt, so gingen mir die Methoden, mit denen sich Bill schon jetzt als Besitzer von Dr. Pengs Vermögen aufspielte, bald über die Hutschnur. Um zwei Wartestunden auszufüllen, ging er mit mir in ein Kaufhaus, wo er sich von Kopf bis Fuß neu einkleidete. Zähneknirschend mußte ich zusehen, wie er sich die teuersten Hemden, feine Flanellhosen, gelbe Schuhe aus Wildleder – in Japan besonders kostspielig –, einen silbergrauen Schlips aus reiner Naturseide, eine Streichgarnjacke, wie sie hierzulande nur im Exquisitladen erhältlich wäre, und den unvermeidlichen Schlapphut, selbstverständlich bester Qualität, einkaufte.
Ich durfte die Rechnung begleichen. Nach erfolgter Metamorphose sah der Kerl in all den teuren Sachen eher stutzerhaft als elegant aus. Ein paar violette Reservesocken, die er, offenbar an Schweißfüßen leidend, „kaufte“, stopfte er in die Rocktasche. Als er dann noch einen prachtvollen, mit japanischer Handstickerei verzierten Gürtel nahm, war es mir zuviel. Kannst du mit dem Geld deines Professors nicht etwas sparsamer umgehen, fragte ich bissig. Bill überhörte den Ton. In sonderbar feierlichem Ernst entgegnete er: Es könnte auch dir nicht schaden, wenn du dich in diesen Tagen anständiger trügest. Womöglich sind es deine letzten auf dieser idiotischen Welt. Er fischte die Stahlkugel aus seiner alten Hose und ließ sie in die Tasche seiner neuen Jacke verschwinden. Mürrisch wies ich auf einen starken Lederriemen: Den brauchst du trotzdem nicht wegzuwerfen. Der hält noch für ein ganzes Leben. Bill stieß den Riemen von sich. Soll ich mich ständig an den mageren Hals des Rikschakulis erinnern? Der kommt auf dich, Freundchen, falls er tot sein sollte, ob die Welt nun platzt oder nicht. Nur langsam begriff ich den Sinn seiner Worte. Ich tastete mir an den Hals. Ich sah: Ein zerlumpter, barfüßiger Mann schleppt eine Karre. Wenn es ihm gelingt, die Summe einzulösen, auf die sein Scheck dotiert ist, wird er morgen nicht mehr selber Rikscha fahren. Er wird sich mehrere Karren kaufen und andere Kulis für sich laufen lassen. Er muß nur erst das Endprodukt aus dem Zusammenstoß zweier weißer Herren fortschaffen, dieses Bündel Elend hinter ihm. Das soll seine letzte Fracht sein. Der Hals ist vorgestreckt. Es dunkelt. Noch zwei, drei Gassen, dann kommt die Müllhalde. Dort wird er das willenlose Bündel abkippen und sich aus dem Staube machen. Ich entsinne mich, wie Bill, während ich den Scheck aushändigte und den „Rikscha“ auf die Summe aufmerksam machte, die Augen geöffnet hielt. Was ist ein magerer Menschenhals gegen einen Hosenriemen aus Rindsleder? Du hast ihn umgebracht! schrie ich.
Bill hob die Schultern. Ich brauchte den Scheck. Ich griff in die Luft. Ich riß ein Kleiderregal um. Ein Haufen Anzüge von der Stange bedeckte mich. Man hielt mir scharfes Zeug zum Riechen unter die Nase. Ein Mietwagen brachte uns zum Flugplatz. Ich war teilnahmslos. Alle bisherigen Anstrengungen machten sich bemerkbar. Noch vor vier Tagen war mein Leben still vor sich hingeträufelt. In der wohlbehüteten Ordnung des Lehrlingsheimes hatte sich sein Sinn im Lernen, in der Freizeit, in Sport und Spiel nach wohldurchdachtem pädagogischem Plan erfüllt. Ich fühlte mich den fremden Fragen und Problemen der großen weiten Welt nicht gewachsen. Und noch war kein Ende meiner Irrfahrt abzusehen. Normalerweise mußte ich den Kerl jetzt wegen Mordverdachtes anzeigen, aber wer fragt in einer Millionenstadt nach einem toten Kuli? Hatte nicht am Ende ich selbst mit meinem idiotisch hohen Scheck die Tat herausgefordert? Ich lag wie hingehauen in einem Sessel, während das Flugzeug startklar gemacht wurde. Maine Bill ließ einen Ventilator bringen, bestellte Whisky mit Soda und raunte mir zu: Nicht schlappmachen, Kamerad. Ohren steif! Mir blieb keine andere Wahl. Auf meiner Rechnung standen Millionen gegen dieses eine Opfer, vorausgesetzt, daß wir rechtzeitig über den Pazifik kommen. Jeder wird zugeben müssen, daß das Denken in solchen Kategorien auf die Dauer die stärksten Nerven zermürben muß. Bill sagte nicht, ob er Millionen Tote oder Dollars meinte. Er merkte, daß ich im Begriff war zu zerknacken. Er kümmerte sich scheinbar um mein Wohlergehen und suchte mich dabei mit Fleiß fertigzumachen. Kein Wunder, wenn er mir auch in diesem Zustande ein weiteres Experiment mit jener seltsamen Fallkugel nicht ersparte. Daneben bemerkte er: Wenn man nun bedenkt, daß von dieser blödsinnigen Spielerei die Zukunft der Menschheit abhängt! Der Gang zur endlich startbereiten Maschine ist mir nicht mehr bewußt. Erst als das Flugzeug durch die Wolken stieß, gewann ich wieder Interesse an meiner Umwelt. Wir schwebten wie über einem Wattetep-
pich. Strahlend wölbte sich der Himmel. Da war auch endlich die ersehnte Sonne. Sie stand hoch über uns. Ich hatte nicht die Kraft, sie poetisch zu begrüßen. Melancholisch hing ich in meinem Sessel. Konstrukteure, Techniker, Werkstoffchemiker, Metallurgen, Gütekontrolleure, Elektriker, Mathematiker, Physiker, Aerodynamiker, Aerostatiker, Motorenbauer, Meteorologen, Piloten, Arbeiter, Meister hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um mich hoch durch den Äther wie einen nassen Sack über den Ozean zu befördern. Gleichmäßig sangen die Motoren. In meinem Kopf kreiselte ohne jeglichen Zusammenhang ein Vers: Tand, Tand ist das Gebild von Menschenhand. Die Stewardeß, die uns zur Flugbetreuung beigegeben war, brachte etwas Scharfes – Dreierlei Tropfen vermutlich. Ehe ich das Gläschen kippte, war die Wolkendecke unter uns wie abgeschnitten. Die Sonne badete im Ozean. Mir war, als wären wir, Menschen und Maschine, eingeschmolzen in einen jener gläsernen Briefbeschwerer wie Veilchen und Vergißmeinnicht. Die Stewardeß verkündete: Wir, überfliegen den Japangraben. Maine Bill spähte hinunter. Siehst du den Flugzeugträger, fragte er. Ich entdeckte ein paar Splitter im glitzerigen Wellengekräusel. Tand! Das ist die GS-Navy. Sie verstecken Knallerbsen in die zehntausend Meter tiefe Kerbe, die hier den Meeresboden furcht. In anderen Teilen des Weltmeeres besorgen „Forschungsschiffe“ dieses Geschäft. Bill wandte sich an die Stewardeß: Haben Sie Baxters Kaugummi? Die adrett uniformierte junge Dame brachte das Gewünschte. Bill strahlte. Wir sind wieder zu Hause. Der japanische Gaumenkleister war ja kaum zu genießen. Der Kaugummi machte ihn redselig. Zum erstenmal schaute er sich im Flugzeug um. Zweihundert Fahrgastsitze starrten vor Leere. Die schneeweißen Leinenbezüge an den Kopflehnen schimmerten geisterhaft. At home, sagte Bill gerührt. Die Erde ist ein Paradies. Dann wurde er sarkastisch. Unter uns sind die Mariner bei ihrem friedlichen Handwerk. Bill starrte mich mit seinen grauen Augen an. Jetzt kann ich es ruhig sagen, fuhr er fort, dort unten wird die größte Gemeinheit der Weltgeschichte vorbereitet. Man hat sich ein besonderes Verfahren zur Vernichtung sämtlicher emericinischer Kernsprengstoffe ausgedacht.
Und das wäre, fragte ich müde. Die Dreierlei Tropfen hatten mich in einen lethargisch stabilisierten Zustand versetzt. Ich nenne die Taumelfreude, mit der die Welt den Beschluß zur Vernichtung sämtlicher Atomkriegsmittel feiert, eine Dummheit, orakelte Bill weiter. Solange unsere Herren Emericiner einigermaßen am Zuge waren, sprachen sie von Kontrolle, ohne abrüsten zu wollen. Jetzt, wo sie abrüsten müssen, tun sie das möglichst in aller Stille. Sie möchten der Kontrolle zuvorkommen, verstehst du? Ich zuckte die Achseln. Er deutete mit dem Daumen nach unten. Die GSE versenken ihren Teufelsdreck in den Tiefseegräben des Pazifiks, von den Kommandeurinseln bis zum Marianengraben, von den Samoainseln bis vor Neuseeland. Der Rest wird rund um den Globus verteilt. Alle zehn Kilometer wird eine Atombombe in den Meeresboden gerammt. Emerici beweist Sinn für Schönheit. Die Erde bekommt eine Kette aus radioaktiven Perlen um den Leib. Um die Tschuktschenhalbinsel, durch die Beringstraße zieht sich die unterseeische Kette. Atom-U-Boote krauchen unters Eis der Arktis und verlieren dabei Perle auf Perle. An Grönlands Küste entlang, längs des zwanzigsten Längengrades, schmiegt sich das wunderliche Geschmeide. Unterm Äquator rückt es aus bestimmten Gründen auf den zehnten Meridian, dem es dann bis in den eisigen Süden folgt. Halbkreisförmig umschnürt das Schmuckstück den antarktischen Eiskontinent und stößt hundertachtzig Grad östlich von Greenwich auf die Kermadecrinne, wo sich der Rosenkranz schließt. Nachtragend muß ich hier bemerken, daß ich meinen Begleiter schon lange auf Symptome des Irrsinns hin beobachtet hatte. Doch schien mir sein ganzes Wesen eher gerissen als unvernünftig. Ich tat seine Geschichte daher mit der Bemerkung ab: Wennschon. Ist es nicht die beste Art und Weise, das gefährliche Zeug zu verteilen? Und wenn man dabei zufällig ein Zündkabel mitversenkt, so daß aus der Perlenschnur eine saubere Ringladung rund um die Erde wird, fragte er lauernd zurück. Stotternd wandte ich ein: Das ist unmöglich. Wie könnte so etwas der Öffentlichkeit verborgen bleiben?
Ha, die Öffentlichkeit, schnaubte Bill, die schwelgt im Abrüstungstaumel, rechnet sich aus, was mit den eingesparten Rüstungsgeldern werden kann, malt sich riesige Projekte aus, Bewässerung der Wüsten, Abschmelzung der Polkappen, ha!, keiner denkt an Vorsicht. Die Emericiner mischen mit. Am Rande des Freudentanzes erfährt die Öffentlichkeit etwas von einem emericinischen ozeanographischen Jahr. Na und? Was gibt es nicht alles für Forschungsjahre? Wer sieht etwas Verfängliches darin, daß die Forschungsschiffe ausgerechnet eine Trasse abtasten, die fast genau einer Trennlinie zwischen Ost- und Westhemisphäre entspricht? Wer, frage ich dich, wiegt nach, wieviel die Kähne dabei an Gewicht verlieren. Bills Unterkiefer mahlte. Die ganze Welt feiert Entspannung. Ehe sie ernüchtert, ist es zu spät. In wenigen Stunden schon wird der Ring geschlossen, das Zündkabel gekoppelt sein. Alles andere ist eine Frage der Bereitschaft der emericinischen Nation. Ein Druck aufs Knöpfchen, den Rest darfst du dir vorstellen. Ich gestehe, daß ich in jener Phase meiner Reise nicht über ein Zehntel der Phantasie Maine Bills verfügte. Nur träge folgte mein Hirn der Aufforderung. Den Ozean unter uns überzogen Wellenrippchen wie eine Gänsehaut. – Von Pol zu Pol würde sich also eine Todeszone erstrecken! Fische würden verbrennen, Vögel ertrinken, Landtiere ersticken. Von der Todeszone würden Orkane ausstürmen, und gerade an dem Punkt, der vom Explosionsgürtel am weitesten entfernt ist, würden die Orkanwellen aufeinanderprallen. Die Ozeane würden überschwappen, radioaktiver Staub würde in den Ebenen, strahlender Schnee in den Gebirgen niedergehen. Die Flüsse hinauf jagten Meereswellen. Die Flüsse hinab stürzten Hochwasser. Bill schaute mich begierig an. Als ich keine Worte hatte, bemerkte er: Viel schlimmer noch! Die Stewardeß kam. Anscheinend langweilte sie sich vorn. Nach einem längeren Plausch blickte sie auf die Uhr und verkündete: Wir überfliegen die Datumsgrenze. Wir hatten den 26. Juli. Soeben sind wir in den 25. zurückgeflogen. In knapp vier Tagen hatte ich einen Erdentag eingeholt. Ich hatte auch damit gerechnet. Diesen gewonnenen Tag wollte ich Hiroshima opfern, sagte ich.
Maine Bill legte den Kopf schief. Ach nee! entfuhr es ihm. Darf man erfahren, was du dort verloren hast? Neunundsiebzigtausend Mitmenschen auf einen Schlag, rief ich und fügte bei: Nach offiziellen amerikanischen Angaben. Bill schwieg. Auf seinen schlechtrasierten Wangen erschienen rötliche Flecken. Ich stichelte weiter: In den Vereinigten Staaten selbst soll ja nicht ein einziger Dachziegel durch Kriegseinwirkung heruntergefallen sein. Shut up, brummte Bill. Ich weiter: In Hiroshima studieren deine Landsleute heute noch die Auswirkungen ihrer Versuchsbombe am überlebenden Material. Shut up, knurrte Bill. Er klebte seinen Kaugummi ans Kabinenfenster. Das Lamento klingt nicht gut aus dem Munde eines Deutschen, konterte er. Wo habt ihr denn die elf Millionen Fremdstämmige und Nichtarier gelassen? Was heulst du um Vergangenes? Die nächste Ladung, diese Ringladung um die Erde, ist so stark, daß die Erdrinde unter der Wasserverdämmung bis auf das Magma bersten wird. Was meckerst du über gewesene Kleinigkeiten? Im Moment ist alles darauf eingerichtet, diesen alten Planeten durch eine konzentrische Explosion in zwei Hälften zu spalten wie einen hohlen Kürbis. Bills beileibe nicht unterentwickeltes Kinn schob sich vor. Was machst du Greenhorn Anspielungen auf meine Nation? Bist du nicht selber wie ein Schuft geartet? Traust mir aus kleinlicher Angst um dein blödes Scheckheft den erbärmlichsten Charakter zu. Die Bombe von Hiroshima kostete zwei Milliarden Dollar. Hunderttausend Menschenleben auszulöschen, damit zwei Milliarden Dollar nicht umsonst vertan sind, und einen hilflosen Mann niederzustrecken, nur um ein lumpiges Scheckheft zu retten, was außer den Maßstäben ist daran so unterschiedlich? Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich dir schon längst eins über den Schädel geben konnte? Wahrhaftig, es fiel mir oft genug schwer, es nicht zu tun! Bill seufzte wie einer, der sich gezwungen sieht, ein schweres Laster zeitweilig zu unterdrücken. Leider habe ich, fuhr er fort, den verdammt blödsinnigen Auftrag, ausgerechnet dich wohlbehalten beim Professor abzuliefern.
Bill riß sich den Hemdkragen auf und zerrte brutal an seinem Schlips. Er brummte: Hör zu, Freundchen, es ist kein Unglück, wenn in diesen Tagen ein Dummerjan wie du weniger nach den Staaten kommt, aber ich, ich muß hinüber. Du hast dafür gesorgt, daß ich völlig mittellos bin und mich nicht einmal ausweisen kann. Das bindet uns noch fester aneinander. Glaube nur nicht, daß du mich abhängen kannst! Ich blieb kühl und skeptisch. Wir liegen auf direktem Kurs, erwiderte ich. In wenigen Stunden landen wir an der Westküste deiner Heimat. Was hast du noch zu befürchten? Auf die übrigen Ungeheuerlichkeiten von einer angeblichen Erdspaltung ging ich nicht ein. Welcher vernünftige Mensch konnte dem nur einen Augenblick lang Glauben schenken? Und welcher vernünftige Mensch hätte so etwas, hoch über den Wolken, meilenweit von jeglichem Beweis, jemals glaubhaft machen wollen? So verdichtete sich mir der Verdacht, ich hätte es eben doch mit einem Irren zu tun. Bill aber sagte: Erstens werden wir nicht direkt nach den Staaten fliegen, und zweitens werden wir in Honolulu zwischenlanden. Dieses alte Schiff gondelt nämlich schon seit uns die Stewardeß abzulenken versuchte mit nur drei intakten Triebwerken durch die Luft. Und drittens würden wir mit drei Motoren gut und gern hinüberkommen, wenn wir zwei die einzige Fracht an Bord wären. Leider sind die unteren Laderäume dieser alten Kiste mit irgendeiner schweren, kontraktwidrigen Ladung vollgestopft. Wenn du willst, kannst du der Fluggesellschaft deswegen einen Prozeß anhängen. Ich wußte nicht, wie ich diese Neuigkeit aufnehmen sollte. Von einer Zuladung war im Chartervertrag tatsächlich keine Rede gewesen. Woher willst du das wissen, fragte ich. Draußen sangen die Turbinen. Ruhig zog das Flugzeug seine Bahn. Bill schien plötzlich beleidigt. Schließlich ist man kein Greenhorn, brummte er. Ich war Testflieger, bevor mich Dr. Peng für seine Raketentruppe anheuerte. Er deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen. Schau dir die Flügeloberhaut an! So beult sie sich zwischen Rippen und Spanten nur auf, wenn der Kahn stark belastet ist. Die Fluggesellschaft geht auf Nebenverdienst aus. Deshalb mußten wir so lange auf den Start warten.
Die Stewardeß kam zurück. Bill schloß die Augen und tat, als ob er schliefe. Mir verkündete das Fräulein mit Keep-smiling-Miene, daß sich die Besatzung nicht wohl befände: Es muß an einer verdorbenen Speise liegen. Wir müssen auf Oahu zwischenlanden. In diesem Augenblick war es von Bill, so empfand ich, besonders gemein, den Unbeteiligten zu spielen. Was blieb mir anderes übrig? Ich machte gute Miene zu diesem bösen Spiel. Als wir auf dem Flughafen von Honolulu, jener Drehscheibe des nordpazifischen Luftverkehrs, hinuntergingen, war es bereits Abend. Leuchtend hell tauchte die Sonne in den Ozean. Maine Bill warf einen gleichgültigen Blick über die im Abendgold schimmernden Tragflächen. Die Luft wehte vom Meer her und wirkte wie Balsam. Ich verharrte in dem Anblick eines der schönsten Sonnenuntergänge meines Lebens. Da sagte Bill neben mir: Wenn das Triebwerk ausgewechselt sein wird, lassen Sie uns das gefälligst wissen, Fräulein. Meine Sinne taumelten in die rauhe Wirklichkeit zurück. Erst jetzt bemerkte ich, wie klein und zierlich unsere Flugbetreuerin war. Sie schien in den Betonboden versinken zu wollen. Ich schalt Bill einen Rüpel. Dieser schaute sich unbekümmert nach einem Hotelboy um. Zu gern hätte ich die Wartezeit dazu benutzt, um mir die Umgebung anzuschauen. Leider wurde es Nacht. So blieb mir nichts weiter übrig, als künftige Zuhörer meines Reiseberichtes in Gedanken schon damals auf jene Prospekte zu vertrösten, die ja überall zu haben sind. Für den Augenblick hatte ich nichts dagegen, daß mich Bill in das Fahrzeug eines der zahlreichen konkurrierenden Hotels verfrachtete. Auf meinem Zimmer angekommen, warf ich mich angekleidet aufs Bett, weil ich jeden Augenblick mit dem Abruf zur Maschine rechnete. Als ich erwachte, griff ich mir sofort an die Brust. Das Scheckheft war noch da. Blaue Wasserweite schimmerte durch die Fenster herein. Meeresrauschen drang an mein Ohr. Unmittelbar vor dem Hotel dehnte sich ein gelber Strand. Traurig in dem Menschengewimmel, sehnten sich ein paar Palmen nach Einsamkeit. Verschlafen und zerknittert starrte ich auf den berühmten Strand von Waikiki hinab. Träumte ich? Da meldete sich der Magen. Ich begab mich auf die Suche nach einem Frühstück. In einem Salon, am weitgeöffneten Fenster, saß Maine Bill in Gesellschaft
unserer kleinen Stewardeß. Gedämpftes Angelsächsisch knödelte durch den Raum. Bill begrüßte mich mit: Hallo! Wie geht es unserem Flugkapitän, fragte ich dagegen frostig. Die Stewardin suchte um die Antwort herumzukommen. Nehmen Sie Joghurt, schlug sie vor. Joghurt mit Ananas ist hier besonders zu empfehlen. Ananas, ergänzte Bill, die Dinger wachsen gleich um die Ecke im Gemüsegarten, der Rahm kommt tiefgekühlt aus dem Staate Wyoming. Verdirbt man sich daran auch nicht den Magen? Die Stewardeß wurde verlegen. Bill grinste. Es ist mir peinlich, sagte die Flugbetreuerin. Unsere Gesellschaft wird selbstverständlich die Kosten für diesen unvorhergesehenen Aufenthalt tragen. Indessen glaube ich, daß wir in zwei Stunden weiterfliegen können. Bill schlürfte das weiche Dotter eines Spiegeleis, spülte mit Soda nach und schob das Kinn vor. Liebes Fräulein, sagte er, geben Sie sich keine Mühe. Diese alte Mühle wird überhaupt nicht mehr starten. Ein Triebwerk ist schnell ausgewechselt, aber ein Startverbot der Flugsicherheitskommission läßt sich nicht vom Tisch fegen. Woher wissen Sie, fragte das Girl kleinlaut. Bill warf sich in die Brust. Einem alten Testflieger macht keiner etwas vor, röhrte er. Ihre Boeing ist eine aus der ersten Serie. Hat ja schon Moos angesetzt. Wenn die Duralhaut der Flügel auch im Ruhestand des Flugzeuges zwischen den Spanten ausgebeult bleibt wie die Knie einer alten Trainingshose, dann wird es höchste Zeit, die Kiste wegen Materialermüdung zu verschrotten. Sie haben die wenig beneidenswerte Aufgabe, uns bis zum Eintreffen einer Ersatzmaschine in Unkenntnis und bei Stimmung zu halten. Die weißen Finger der kleinen Dame spielten mit dem Salzstreuer, eine für repräsentative Angestellte konkurrierender Flugfirmen unzulässige Beschäftigung, wie mir schien. Mich dauerte das Mädchen. Bill aber nörgelte weiter: Zweifellos wären wir auf den Kontinent hinübergekommen, wenn Ihre werte Gesellschaft den Kahn nicht voller Fracht gestopft hätte. Das wäre einen Prozeß wert. Was hatten Sie denn
außer uns beiden noch geladen, daß die Kuh wie eine bleigefüllte Ente flog? Die Kleine war dem Weinen nahe. Ich darf's nicht sagen, stammelte sie. Wir können es auch feststellen lassen, grollte Bill. Es ist ja immerhin unsere Chartermaschine. Die Stewardeß erwiderte tapfer: Dann tun Sie es doch. Wenn ich es Ihnen verriete, würde es mich den Job kosten. Bill wandte sich mir zu. In dieser Sache entscheidest du. Ich hatte keine Lust, mich gegen geschäftstüchtige Firmen in Prozeßpraktiken zu üben. Mir wäre ein kleiner Bootsausflug lieber, entschied ich. Unterm blauen Blusenstoff hob sich die Brust unserer Betreuerin, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. Bill hievte sich aus seinem Sessel. Er hatte seinen Anzug aufbügeln lassen. Ein hellseidenes Hemd spannte sich raffiniert durchschimmernd über seinem mächtigen Brustkasten. Der bei seiner Flucht nach Hongkong verletzte Arm hing in einer schmalen schwarzen Schlinge. Mit Bügelfalte, japanischem Gürtel, seidig schimmernder Hemdhaut und seiner Stahlkugel, mit der er unablässig spielte, konnte er sich unter den Snobs am Strande ohne weiteres sehen lassen. Gut, sagte er und ruckte an seinem Gürtel. Nehmen wir uns ein Motorboot. Die Stewardin stand unschlüssig dabei. Und Sie besorgen uns inzwischen Plätze in dem regelmäßigen Linienflugzeug, das heute abend startet. Wer weiß, wann die Ersatzmaschine Ihrer Firma eintrudelt. Ich horchte auf. Bill wollte das Mädchen los sein. Er wollte mit mir allein in See stechen. Endlich mußte sich wenigstens eine Variante meiner Vermutungen klären. Wenn er ein Kidnapper war, wo bot sich eine bessere Gelegenheit, mich verschwinden zu lassen, als auf See, zwischen den vielen kleinen Inseln? In mir erwachte das Gefühl des Jägers, der vom Anstand aus zuschaut, wie ihm das Wild vor die Flinte zögert. Einmal mußte er ja zur Aktion schreiten! Einen Zusammenstoß mit ihm befürchtete ich nicht mehr. Ich trug eine lange, nadelspitze Schuhmacherahle bei mir, die ich zu Beginn der Reise eingesteckt hatte. Damit wollte ich ihn mir schon vom Leibe halten.
Die Stewardeß besorgte uns eine kleine Jolle mit Außenbordmotor. Als wir hinausfuhren, stand sie noch lange in ihrer schmucken Uniform am Kai und winkte. Mit dem Mut eines aufgeputschten Zwerghahnes ratterte unsere Nußschale gegen die Wellen. Unterm Kiel war ein gefährliches Rauschen. Keine Spur von einer gleichmäßig stampfenden Dünung. Tückisch und steil schossen die Wellen vor dem Bug auf und schielten in unseren offenen Kahn. Je weiter wir hinausfuhren, desto mulmiger wurde uns. Wir begriffen, daß sich hier, zwischen den Inseln, eine mächtige Meeresströmung hindurchzwängte. Maine Bill mochte gut und gern einiges von der Fliegerei verstehen, auf den Wellen machte er, der das Ruder führte, nicht die beste Figur. Das kleine Eiland, auf das wir zusteuerten, lag wie eine große, braune, auf dem Rücken bemooste Schildkröte im Meer. Ringsum stieg der Stille Ozean bis an die Kimm. Mir schien, als tümpelten wir in einer riesigen Glasschüssel, über die eine durchsichtige Glocke gestülpt war. Die Weite und Höhe raubte das Gefühl der Angst, sie lullte mich ein. Der Gedanke, es könnte außer dieser weiten Kompottschüssel mit paar Sprenkelchen drin, außer der majestätischen Himmelshöhe noch etwas anderes, gar etwas Wichtiges geben, schien mir plötzlich absurd. Bis mich ein Ruck vom Sitz warf. Aufgelaufen, rief Bill. Eine Brandungswelle überrollte uns. Das Boot schlug voll. Bill warf mir ein Seil an den Kopf. Raus! brüllte er. Festhalten! Eine zweite Woge trug mich höher an den Strand. Ich stemmte mich gegen den Sog zurückflutender Wassermassen, zwischen den Zähnen das Seil. Offenbar waren wir in Gefahr. Bill klammerte sich mit einem Arm ans Boot. Am Seil strebte er zu mir auf den nachgiebigen Grund einer Sandbank. Mit vereinten Kräften kämpften wir gegen die Brandung um das Boot. So hätten wir bis zur Erschöpfung die Leine halten können, wenn uns nicht Hilfe geworden wäre. Wir waren nämlich auf einem jener verbotenen Uferstreifen aufgelaufen, die ihrer Schönheit wegen meist im Privatbesitz irgendwelcher reicher Nichtstuer sind. Wahrhaftig eignen
sich jene Inselküsten für niemanden besser als für Leute, die nichts Gescheiteres wissen, als ihr nutzloses Leben hier zu verdösen. Man hatte uns beobachtet. Jetzt nahte uns Hilfe in Gestalt einer Fee, denn Schöneres hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. In einem Einbaum, wie sie die Insulaner benutzen, überquerte sie die stille Lagune, welche unsere Sandbank von dem richtigen Inselstrande trennte. Das schmale Boot stampfte unter der Kraft ihrer Ruderschläge. Wir vergaßen beide, wo wir standen, und purzelten, von einer Woge geschlagen, übereinander. Die junge Frau nahm sich Zeit, um unsere komischen Versuche weidlich zu belachen. Dann stemmte sie sich kräftig mit in unser Seil. Zu dreien zogen wir das gestrandete Fahrzeug auf die Sandzunge. Dann erst konnten wir uns einander zuwenden. Mir wollten schier die Augen übergehen. Das junge Wesen trug ein winziges schneeweißes Badehöschen und sonst nichts. Über ihre Brust und die langen, gebräunten Beine rieselten Meerestropfen wie Tauperlen. Sie war schwarzhaarig. Jeder Dichter, der die Haut eines Mädchens wie dieses mit dem Samt reifer Pfirsiche besingt, ist ein Stümper. Das war nicht schlechthin Haut, das war Grenzschicht von der paradiesischen Umwelt zum Herzen des Paradieses. Sie hatte ein sirenenhaft perlenschimmerndes Lachen. Die hohe, sanfte Stirn trug sie frei und mit der unbeschwerten Art der hier Eingeborenen. Ihre Augen waren groß, langwimprig, mandelförmig, unter feingeschwungenen Brauen und – blau. Die Art, wie sie unser Erscheinen aufnahm, bewies Einfühlung, Intelligenz und Freisinn. Die Grazie, mit der sie über ihren Körper verfügte, verriet mir ein Menschenkind, dem jedwede in Arbeit ausartende Tätigkeit fremd war. Ich ahnte, daß dieses Lebewesen alles konnte, was geeignet war, ein sorgenfreies, tatenloses Leben auszufüllen. Welch eine Leistung, wenn man bedenkt, wieviel Geist und Willenskraft dazu gehörten, um auf diesen glückseligen Schönwetterinseln ohne Arbeit nicht stumpfsinnig zu werden. Dennoch zeugte, wenn sie nicht gerade lachte, ein schwermütigträumerischer Zug um ihre Augen von dem Einfluß der stetig wirkenden Weite, Wärme, Milde, Stille und Helle dieser ozeanischen Eilandswelt. In ihrem Kanu ruderten wir über die Lagune. Beim Anblick ihrer Knie, der schmalen Fesseln und der kräftigen, unverbildeten Füße empfand ich den reißenden Wunsch, ihr ein Paar Pumps zu bauen, ein Paar Traumschuhe aus Ochsenfroschleder, mit Absätzen, so lang und schmal wie
Giraffenhälse. Und so drängte sich denn unerbittlich das Besondere meiner Lage wieder ins Bewußtsein, nämlich, daß in knapp vier Tagen meine Facharbeiterprüfung bevorstand. Gewaltsam drängte ich die Mahnung des Gewissens zurück und hatte nur Augen für Aurora, so hieß die Dame. Sie führte uns in ihren Bungalow, der unter Kokospalmen am Rande der Lagune lag. Dort besorgte sie uns trockene Beinkleider und steckte sich selbst, während wir uns umzogen, ein paar Blüten ins Haar. Ungezwungen ließ sie sich neben uns auf der Besuchermatte nieder. Während des Gespräches ruhte ihr Blick voller Interesse auf mir. Bill dagegen stierte wie vertiert auf ihre Brustspitzen. Ich versäumte nicht zu verraten, wes Landes Kind ich war. Dazu strahlte ich heimlich Sympathieströme aus, die ich in erstaunlicher Menge, Stärke, Intensität und Frische freisetzte. Auch Maine Bill, dieser alte Knochen, suchte durch Aufblähen seiner behaarten Brust, eckige Bewegungen und ähnliches Gepluster ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es wurden Speisen gebracht. Ich weiß nicht mehr, was ich, in den Anblick ihrer tiefblauen Augen versunken, alles hinuntergeschlungen habe. Ein kleiner Bub war dort noch, keine drei Jahre alt, aber schon deutlich mit den gleichen Traumaugen wie die Mutter ausgestattet. Aurora war die Tochter eines der reichsten Grundstücksaktionäre auf Oahu. Ihren Stammbaum führte sie auf einen englischen Rechtsgelehrten zurück. Jener war im achtzehnten Jahrhundert eingewandert, zum Vertrauten des damaligen Inselkönigs Kamehameha avanciert und von diesem mit großen Ländereien, wie es hieß, beschenkt worden. Sie war demnach eine Kreuzung zwischen einheimischem Hochadel und britischen Besitznehmern. Ihr Schicksal stellte sich bald als wenig beneidenswert heraus. Mit vierzehn Jahren schon war sie vom Vater, den Gepflogenheiten dieser Kreise gemäß, einem älteren Großbankier verlobt worden. Das Mädchen hatte wenig Lust, Vaters Lockvogel auf das Geld eines syphilitischen Lebemannes zu spielen. Sie entzog sich der Konsequenz vorerst durch ein höchst weibliches Manöver. Während eines jener Blumenfeste, bei denen es unter den Inselbewohnern, gelinde gesagt, etwas unkontrolliert hergeht, gab sie sich einem jungen Kanaken hin. Das Unternehmen zeitigte Erfolg, Aurora wurde schwanger. Der junge
Kanake, ob seiner Tat an der Tochter eines der Landmächtigen zutiefst erschrocken, machte sich aus dem Staube. Aber aus der Verbindung mit jenem Bankier konnte nichts werden, denn der hatte, obwohl selber morsch bis in die Knochen, Anspruch auf die Unberührtheit der Frau. Der Vater brachte Aurora, nach einer fürchterlichen Szene, versteht sich, unter dem Vorwand einer Europareise hierher, wo sie unter der Obhut treuer Diener warten sollte, bis der Herr Papa eine neue Partie gefunden hatte. Das Kind, ein kleiner Insulaner, blickte angesichts der Hilflosigkeit seiner Mutter einer wenig rosigen Zukunft entgegen. Ich bin meinem Vater hilflos ausgeliefert, schloß Aurora ihre kleine Erzählung. Kommen Sie doch mit mir in die Deutsche Demokratische Republik, rief ich spontan. Bill warf mir einen Blick zu, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Was soll ich dort in ihrem rauhen Lande, entgegnete sie und erklärte ernsthaft: Was auch kommt, die Heimat verlasse ich nicht. Lieber gehe ich samt meinem Kinde in die Brandung. Und doch ist das Leben in der Fremde erträglich, wenn man der Ergebenheit eines liebenden Herzens sicher ist! rief ich aus. Deutlicher konnte, durfte ich nicht werden. Ein dankbarer Blick von ihr war mein Lohn, doch sie beharrte auf ihrem Vorsatz. Goddam, knurrte Bill, und ich merkte betroffen, daß er bereits seit geraumer Zeit ohne Kaugummi auskam. Goddam, wollen Sie sich hier einmotten lassen? Ich würde sonst sagen, daß die Staaten, Kalifornien zum Beispiel, durchaus annehmbare Küstenstriche aufzuweisen haben. Meine Ersparnisse, die ich in meinen besten Tagen als Testpilot zurückgelegt habe, würden, schätze ich, zur Not für einen kleinen Bungalow mit Garten und 'n paar Palmwedel ausreichen. Dieser Strolch! Auf so billige Weise bei dem naiven, ratlosen Mädel Eindruck zu schinden! Zum Glück besaß Aurora Charakter. Zwar verschwendete sie auch an den Yankee einen dankbaren Blick, doch rief sie temperamentvoll: Was auch kommen mag, von Kind und Heimat soll mich selbst der Tod nicht trennen! Ich werde mich schon zu wehren wissen. Ehe ich mich verkaufen lasse, trage ich lieber Sorge, noch ein
zweites uneheliches Kind zu empfangen. Dann wird man mich schon in Ruhe lassen, denn wer nimmt wohl ein zweifach gefallenes Mädchen? Was will ich euch sagen, Freunde. Es war dringend an der Zeit, daß ich mit Bill ein paar Worte unter vier Augen wechselte. Unter einem Vorwand begaben wir uns hinter das Haus. Bill ging sofort auf mich los: Meinst du nicht auch, daß du so schnell wie möglich von hier verschwinden mußt? Ich verbesserte ihn: Nicht ich, sondern einer von uns beiden ist hier zuviel an Bord. Bill änderte die Tonart. Hör zu, mein Junge, du hast das ganze Leben noch vor dir, ich dagegen bin nicht mehr der Jüngste. Mein Ehrenwort, daß ich nie ein Schuft war. Ich will hier bleiben, auf diesem Klecks, auf dieser Sommersprosse mitten in der salzigen Pfütze. Ich will meine Tage nichts mehr sehen als den traurigsten aller Ozeane. Die Augen will ich zukneifen, mir die Ohren verstopfen, wenn oben eine Maschine auf Ostkurs geht, ich will, verdammt, solch gähnende Augen kriegen wie sie. Nur, stell dich mir nicht in den Weg, Kleiner. Wo war der Kidnapper? Wo war der obskure Kugelfallexperimentator? Wo war der Phantast geblieben? Er tat mir in diesem Augenblick leid, wie er vor mir stand, in einem viel zu engen, viel zu kurzen gestreiften heißen Weiberhöschen, barfuß mit Hühneraugenzehen. Nein, entgegnete ich eisig. Ich biete mehr. Auf meine Gesellenprüfung will ich verzichten, wenn du weißt, was das für einen jungen Deutschen bedeutet. Kurz und gut, verschwinde du! Du wirst, soviel ich von dir selbst hörte, jetzt anderswo dringender gebraucht. Das Haar des hartgesottenen Burschen sträubte sich. Gebraucht, schrie er, jawohl gebraucht. Immer wurde ich gebraucht, um Bomben zu schmeißen, um die Schallmauer zu durchbrechen, als Astronaut bei Peng und jetzt ganz allgemein. Immer werde ich von irgendwelchen Leuten gebraucht. Immer war von meiner Anwesenheit an einem ganz anderen Ort als dort, wo ich gerade selber gerne sein wollte, das Glück anderer abhängig. Er lachte sarkastisch. Und jetzt, haha, sieh mal einer an, da ich unbedingt hier bleiben muß, braucht mich die Welt wirklich. Ich bin ein
alter Knacker, in den Augen der Weiber nicht mehr viel wert, ein mit den Nerven heruntergekommener Testman, ein abgeschriebenes Versuchskarnickel. Dies hier ist vielleicht meine letzte, meine verdammt allerschönste Chance. Er holte Luft und fuhr mit vibrierender Stimme fort: Aber meine Nachricht muß hinüber zu Dr. Peng. Ich habe gewisse Studien getrieben. – Was habe ich getan, daß ausgerechnet ich auf alles Glück verzichten soll? Bin ich denn schuld an der Verrücktheit dieser Welt? Mag sie doch zum Teufel gehen! Aber du bist ja da, mein Junge. Du wirst die Nachricht übernehmen und weiterbefördern. Die Existenz der ganzen Menschheit hängt davon ab. Du wirst dem Professor folgendes berichten… Ich werde gar nichts tun, entgegnete ich eisig. Ich werde tun, was mir gefällt, und das verträgt sich nicht mit deiner Anwesenheit an diesem Ort. Wir konnten uns unmöglich länger hier hinterm Haus herumdrücken, ohne gegen SIE unhöflich zu werden. Bill drehte mich mit unangenehm hartem Griff an der Schulter um und führte mich vor den Bungalow. Gut, sagte er, mir bleibt eben nichts erspart. Er wies nach der Sandbank, auf der unser Boot lag. Die Sandzunge lag etwa dreihundert Meter vor dem Strand und schützte die Lagune vor dem offenen Meer. Bill sprach müde: Du bist eine verdammt mickerige Kröte, Fiebig. Die Bekanntschaft mit dir wird mir noch im Jenseits sauer aufstoßen. Unsere Chancen sind gleich. Du bist ein Schwächling, dem ich bei einer solchen Frau wie dieser ohnehin kein hohes Lebensalter prophezeien könnte. Ich dagegen habe einen verletzten Arm. Wer von uns beiden schwimmend den Sand erreicht und als erster wieder zurück ist, der soll ihr das Kind machen und, wenn er kann, bei ihr bleiben. Der Verlierer hat auf dem schnellsten Wege die Nachricht an Professor Peng zu bringen. Mir grauste. In der Lagune herrschte ein sonderbares Treiben. Dreieckige Flossen zischten durch das Wasser. Entsetzt rief ich: Dort sind Haie! Eben, sagte Bill trocken. Und zweierlei können die Biester auf den Tod nicht leiden, den Geruch von Blut und den Gestank von Angstschweiß.
Ich habe einen verletzten Arm, und du hast die Hosen voll. Unsere Chancen sind absolut gleich. Ich griff zur Schusterahle, um den Schimpf auf der Stelle zu ahnden. Doch ehe ich Bill damit unterlaufen konnte, trat SIE zu uns. In dem großen Klubraum des Lehrlingsheimes herrschte tiefe Stille. Vom Rathausturm herüber schepperten zwölf Schläge: Mitternacht. Die Versammlung wurde abgebrochen.
Zweiter Teil
Das winzige Goldkäferchen auf der Linde vor dem Café am Marktplatz lebte nicht mehr. Eine Meise hatte es weggepickt wie einen Floh. Satt war sie davon nicht geworden. Indes, was kann ein kleiner Vogel gegen die Macht der Gewohnheit? Er sieht etwas krabbeln. Das Vogelköpfchen legt sich schief. Das scharfe Vogelauge taxiert, geringschätzig, wie es scheint, das winzige Krabbelleben; es gibt fettere Bissen in dieser Jahreszeit, aber der Schnabel stößt zu – Gewohnheit. Fiebig hatte gut geschlafen. Am späten Vormittag ging er in den Garten des Lehrlingswohnheimes, blies den Staub von einem Gartentisch, packte seine Bücher aus und bereitete sich auf die erste Prüfung vor. Innerhalb von drei Stunden arbeitete er all seine Aufzeichnungen vom verflossenen Lehrjahr durch. Danach träumte er in die Bäume. Wo mochte das Käferchen sein? Am Abend zog es die Lehrlinge magisch in den Klub. Der Saal füllte sich. Es erschienen sämtliche Heiminsassen, die Lehrer, Meister Pinne mit seinen Gesellen, und niemand hatte sie gerufen. Eine Tagesordnung lag nicht vor. Jedesmal, wenn jemand die Tür öffnete, wandten alle die Köpfe. Im Büro der Heimleiterin tagte hektisch das Heimaktiv. Nichts als Geflunker, anstatt die Wahrheit zu sagen, dreiste, faustdicke Lügen; ich frage Sie, liebe Kollegen, müssen wir uns das gefallen lassen? So empörte sich der Universalgeograph. Die Heimleiterin gab zu bedenken: Andererseits, kann man denn so etwas von Anfang bis Ende erfinden? Steckt nicht vielleicht hin und wieder ein Körnchen Wahrheit in seiner Erzählung? Und Lehrer Kern erhob die Frage: Wäre denn das Ausgedachte weniger gut als die reine erlebte Wahrheit? Die Leute warten im Saal, drängte Langhammer. Soll ich sie nach Hause schicken oder nicht? Kann ich sie überhaupt noch wegschicken?
Alle waren versammelt, nur der Lehrling Gerhard fehlte. Der FDJSekretär fand ihn im Garten, wo Fiebig im Begriff war, eine Angelschnur aufzurollen. Ja, willst du denn gar nicht weitererzählen? Ach soo. Das hätte ich ja beinahe vergessen. Na, dann komm, Mensch. Gibt's denn ein Bedürfnis nach Geschichten? Wir wollen wissen, wie du dich da herausfindest. Das wird zum Bedürfnis erklärt, fertig! Der Jugendsekretär schleppte Gerhard mit sich fort. Der Schuhmacherlehrling hockte sich, im Klubraum angekommen, auf seinen alten Platz. Dort rollte er, ohne sich um die zahlreichen Zuhörer zu kümmern, den Rest seiner Angelschnur auf. Als er den langen Faden endlich auf der Spule hatte, schob er diese gleichmütig in die Hosentasche und klopfte mit der Hand drauf, als wollte er sagen: Was man hat, das hat man. Dann fuhr er ganz unvermittelt fort: In diesem Augenblick also trat Aurora auf uns zu. Wir Männer, eben noch bereit, übereinander herzufallen, wurden schlagartig zu braven Lämmern. Schön, sagte ich, dann soll der Wettkampf zwischen uns entscheiden. Aurora zeigte sich keineswegs überrascht. Sie nahm unseren Entschluß mit allen seinen möglichen Folgen huldvoll entgegen. Hier hob Gerhard den Kopf und griente. Seiner Statur nach stellte er kaum einen Federgewichtler. Dreist erzählte er weiter: Diese überaus schöne und selbstbewußte Geste eines Weibes machte mir die Brust weit. Ich entledigte mich meiner, Pardon, Auroras heißer Höschen, die sie mir geliehen hatte, damit meine eigenen Sachen trocknen konnten, und lief ans Wasser. Bill watschelte mir nach, so, wie ihn Gott erschaffen hatte. Auf ein Zeichen Auroras hin stürzten wir uns in die Fluten. Bill schwamm mit großem Kraftaufwand, ohne seinen verletzten Arm zu schonen. Wie ein Raddampfer schob er sich an mir vorbei. Ich hielt mich kraftsparend in seinem Kielwasser. Der Gedanke an die Haifische verdoppelte meine Kräfte. Ganz deutlich hatte ich vom Ufer aus einen massigen Körper durch das Wasser ziehen sehen. – Da
war er schon. Wie ein Torpedo schoß er heran. Ich strampelte. Angstschweiß. Ein weißer Bauch schimmerte auf. Nicht einmal meine Schuhahle hatte ich bei mir! Ein kalter, glatter Rumpf streifte meinen Körper. Ich schluckte Wasser. Ich schwamm ums Leben. In meiner Angst überholte ich den Amerikaner. Hinter mir gurgelte und platschte es. Hatte es Bill erwischt? Aber da kam die Bestie schon wieder auf mich zu. Die Sandbank schien vor mir zu fliehen. Plötzlich wurde ich emporgeschleudert. Die Hände griffen ins Leere. Aus. Ich verzichtete auf jede weitere Gegenwehr. Wozu? Ich sank. Ich spürte keine Schmerzen. Ich hatte gehört, daß Haie vorzüglich die weichen Bauchteile anbeißen, ferner, daß ihr Biß dem Schnitt eines Rasiermessers gleichkäme. Mir leuchtete ein, daß ich den Schmerz demzufolge nicht sofort spüren konnte. Man erzählt sich auch, daß Menschen ohne Eingeweide noch einige Zeit leben können. Wahrscheinlich hatte ich längst keinen Bauch mehr. Ich tauchte auf. Vor mir prustete Bill. Der Amerikaner lebte also immer noch! Oder war das bereits ein Wiedersehen im Jenseits? Grimm erfaßte mich. Diesseits oder jenseits, Bill hatte mich überholt, und das war zuviel. Ich schwamm wie rasend. Anstelle meines Bauches spürte ich eine brennende Grube. Wir schwammen um die Wette über den Fluß der Unterwelt. Anders konnte es nicht sein. Maine Bill erreichte zuerst die Sandbank. Ich sah, wie er dünnbeinig an Land stelzte, zwei-, dreimal aufatmete und sich dann wieder ins Wasser warf. Dann stieß auch ich auf Grund. Ich watete. Bereit, bis auf den Tod zu erschrecken, schielte ich auf meinen Bauch. Er war unversehrt. Da erschrak ich noch viel mehr, denn über meinem Zaudern war Bill schon weit voraus. Gewinnen sollte, wer zuerst zurück war. Vom Zurückschwimmen war indessen keine Rede gewesen. Ich stürzte entschlossen zu unserem Boot. Niemand sage, das sei unfair gewesen. Indem ich die Jolle zu Wasser brachte, entfaltete ich Kräfte, wie wir sie zuvor nicht selbdritt aufgebracht. Als ich fieberhaft den Handanlasser betätigte, sprang mir vor Anstrengung der Schweiß von der Stirn. Der Vergaser war naß geworden. Ich mußte zu den Riemen greifen. Mein Lebtag werde ich nicht wieder so rudern. Ums Boot kreiste der betrogene Hai. Er hob sein spit-
zes Maul aus dem Wasser und glotzte mich lauernd an. Ich ruderte. Die Riemen ächzten. Zügig holte ich Bill ein. Doch ehe mein Boot mit dem Kiel auf Grund stieß, stieg Bill an Land. Ich war um eine Nasenlänge zu spät gekommen. Einen Augenblick lang reckte sich Bill als Sieger, dann sank er erschöpft zu Boden. Aurora beugte sich über ihn und wand ihm einen Blumenkranz ums Haupt. Mir schenkte sie nicht einen Seitenblick. Ich spürte das Verlangen, mich vor den Hai zu werfen. Hier galt der Sieger alles, der Verlierer nichts. Aber mir versagten die Beine. Tatenlos sah ich zu, wie das schöne Inselkind den Yankee umsorgte. Der Hai, stöhnte ich, nur um mich bemerkbar zu machen. Das ist kein Hai, sagte Aurora kühl, das ist ein Delphin, noch dazu ein zahmer. Das Blut gerann mir fast vor Scham. Ich nahm meine Jacke und kehrte mich zum Boot. Da ich den Motor nicht flottbekam, bestieg ich den Einbaum, der mir mit seinem Ausleger sicher genug vorkam. Bill, der ja zurückblieb, mochte den abgesoffenen Motor irgendwann wieder flottmachen. Ich zog das Mattensegel auf und steuerte durch die schmale Laguneneinfahrt auf das Meer hinaus. Unauslöschlich bleibt mir die Szene am Strand. Maine Bill hatte sein blumenumkränztes Haupt in den Schoß der schönen Aurora gebettet. Die junge Frau neigte sich über ihn und verband seinen verletzten Arm. Eine Brise erfaßte das Boot und trieb es sanft dahin. Das idyllische Strandbild sank rasch zurück. Ich zog weiter. Endlich allein. Nicht einmal die Nachricht, die von Bill zu überbringen sein sollte, hatte ich mir geben lassen. Aber das waren ja doch nur Hirngespinste. Nichts von allem, was der Yankee mir vorgesponnen hatte, war wahr. Ich würde in die Vereinigten Staaten fliegen. Ich würde die Wirkungsweise des Fiebigschen Trompeteneffekts an Ort und Stelle erleben und danach in die Heimat zurückkehren. Ich würde meine Facharbeiterprüfung bestehen, mich in das Berufsleben meiner Heimatstadt einordnen, während Bill auf Hawaii in der Tochter eines reichen Grundbesitzers eine viel reizendere und wertvollere Beute als mich gefunden hatte.
Bei guter Brise steuerte ich das Auslegerboot dem Jachthafen von Waikiki zu. Als ich dort ankam, mußte ich dem Bootsverleiher den vollen Kaufpreis für die abhanden gekommene Jolle entrichten. Innerlich geknickt, nach außen gleichmütig, stolzierte ich in heißen Höschen und Sakko, überdies barfuß, durch das Foyer meines Hotels. Niemand empfand mein Äußeres als veränderungswürdig. Die kleine Stewardeß in ihrer schmucken Fliegeruniform trat mir entgegen. Dabei schaute sie weniger nach mir, sondern mehr nach dem vielleicht ebenso entblößten Bill aus. Die letzten Illusionen über die Wirkung meiner Erscheinung auf das andere Geschlecht wurden im Nu zunichte. Grausam für uns ist der Blick eines Weibes, der einem anderen Manne gilt. Ich sagte: Pardon, und verfügte mich auf mein Zimmer. Wo ist Ihr Begleiter? Das war ihre erste Frage, als ich, seriös gekleidet, wieder in die Halle kam. Es klang aber wie: Wo ist der Boß, der Reiseleiter, die Hauptperson, kurzum, ER. ER, antwortete ich deshalb betont, dürfte keine Lust mehr haben, diese Reise fortzusetzen. Aus ihren Augen las ich Entsetzen, was mich vorerst befriedigte. Im Geiste überschlug ich: Am dreiundzwanzigsten Juni war ich von zu Hause abgereist. Jetzt schrieb man den sechsundzwanzigsten. Den Blindtag durch die Datumsverschiebung nicht mitgerechnet, war ich vier Tage unterwegs. Bis zur Facharbeiterprüfung blieben mir nur noch vier Tage. Ich mußte so schnell wie möglich von diesen Inseln weg. Ich maulte: Wann geht es eigentlich weiter? In zwei Stunden, wenn das Linienflugzeug aus Manila eintrifft. Ich beschloß, noch ein Stündchen zu ruhen. Jemand rüttelte mich derb an der Schulter. Eine Stimme röhrte: Stehen Sie auf, folgen Sie uns unauffällig! Ich warf mich auf die andere Seite. Halluzinationen. Aber die Stimme wurde gröber: Spielen Sie hier kein Theater, Sie stehen unter Mordverdacht.
Durch die Augenschlitze blinzelnd, entdeckte ich hinter zwei vierschrötigen Gestalten die blaue Uniform unserer Stewardeß. Was wollen Sie, rief ich. Halten Sie mich nicht auf, ich muß zum Flugplatz. Die Männer lachten. Daraus wird nichts! Sie werden Ihren Weiterflug so lange verschieben müssen, bis wir wissen, was mit Ihrem Begleiter geschehen ist. Protestiere! schrie ich. Sucht ihn doch, wenn ihr etwas von ihm wollt, aber laßt mich in Ruhe. Nun werd mal nicht pampig, Junge! Uns liegt eine Anzeige vor. Mir ging ein Licht auf. Eine Anzeige, aha! machte ich, gewisse Flugbetreuer haben Lust, ihren Job zu verlieren. Ich schrie die Stewardeß an: Mischen Sie sich doch mit Ihrer Backfischphantasie nicht in meine Angelegenheiten, Fräuleinchen. Schrei die Dame nicht so an, Rüpel, rügte mich einer der Kriminalen. Oder stimmt es nicht, daß du allein zurückgekommen bist? Der andere packte mich am Arm und zerrte mich empor. Ich machte mich steif. Unsinn, schrie ich. Maine Bill geht es so gut wie nie zuvor in seinem Leben. Er befindet sich in zarter Obhut. Das letzte sagte ich wegen der Stewardeß. Die wurde folgerichtig blaß. Das werden wir feststellen, erklärten die Beamten. Inzwischen müssen wir Sie wegen Fluchtverdachtes in Gewahrsam nehmen. Da ich mich sträubte, wurde ich im Handumdrehen gefesselt. Ade, du liebe Facharbeiterprüfung. Es liegt kein Glück auf dieser Fahrt. Hören Sie! rief ich in letzter Not, ich habe Nachrichten von allerhöchster Bedeutung. Wenn ich nicht rechtzeitig nach White Mountain Village komme, ist die Welt im Eimer. Die beiden Kerle sahen einander verblüfft an. Sie tippten sich wie programmgekoppelt gleichzeitig an die Stirnen und fragten im Duett: Bei dir piept's wohl? Als ich mich gegen meinen Abtransport mit Fußtritten zu wehren begann, setzte mir einer von den beiden die Faust unter die Nase. Hinsinkend begriff ich: Mit Verrückten machte man hier weniger Federlesens als mit richtigen Ganoven. Mit einem Fluch auf Bill verlor ich das Bewußtsein.
Ich erwachte von einem fürchterlichen Gebrüll. Einer der Kriminalisten wetterte: Haben Sie nichts Besseres zu tun, als die Polizei zu verarschen? Sie sind in Ihrem Beruf 'ne Nulpe, Fräulein! Meine Sinne wurden rasch klar. Schon öffnete einer der Polizisten meine Handschellen. Fehlanzeige, murmelte er, um sogleich wieder über die Stewardeß herzufallen: Wenn Sie den Mann nicht rechtzeitig zum Flughafen bringen, können Sie sich nach 'nem neuen Job umsehen. Ab! Ich rappelte mich auf. Mein Schädel dröhnte. Meine Nase war ein unförmiger Fremdkörper, die Lippen fühllos und geschwollen. Nichts für ungut, nuschelte ich und hieb dem Kriminalisten, der mich verunstaltet hatte, die Faust in den Magen. Dann wankte ich am zitternden Arm unserer Flugbetreuerin zum Fahrstuhl. Im Taxi rasten wir zum Flughafen. Das Linienflugzeug aus Manila wartete. An der Gangway stand Maine Bill. Endlich! rief er. Am Einstiegsschott der Maschine wurde noch repariert. Um den Start zu verzögern, hatte Bill vor den Augen des Flugpersonals den Gummi herausgeschnitten, der bei verschraubtem Schott eine hermetische Abdichtung der Druckkabine gewährleistete. Für mich hieß es, für den Schaden zu berappen. Die kleine Stewardeß meldete sich mit hängendem Kopf beim Flugkapitän. Ich sah sie niemals wieder. Eine andere Betreuerin sorgte hier für die Passagiere. Sie machte mir kalte Umschläge, und Bill griente dazu. Ich bedauerte zutiefst, daß nicht er an meiner Stelle der Polente in die Hände gefallen war. Auf eine Erklärung über sein Erscheinen verzichtete ich. Was hätte er schon vorbringen können? Die Welt am Abgrund. Einer verläßt sein Glück zugunsten der verrückten Menschheit. Und so weiter und so fort. Heulend stieß sich unsere Maschine von der Insel ab. Fiebig schwieg. Seine Augäpfel kehrten sich einwärts. Er hockte verloren auf der Tischkante, ein vorlauter Schusterjunge, der nicht wußte, wie sein Unternehmen ausging. Es war, als verließen ihn sämtliche Geister. Im Zuhörerkreis regte sich Besorgnis. Jugendfreund Gerhard Fiebig schaute
sich wie hilfesuchend um. Auf dem Klavier zu seiner Rechten lag ein verhüllter Gegenstand. Gerhard griff danach. Er streifte die Hülle ab. Zum Vorschein kam eine Gitarre. Er legte das Instrument flach über seine Knie. Es war zu befürchten, er werde es sogleich mit einem Spannriemen über seine Schenkel schnallen. Wie betroffen starrte der Jünger aus der Zunft des Sokrates auf den befremdlichen Gegenstand. Dann griff er entschlossen in die verstimmten Saiten. So entstand immerhin ein Klang, und ohne Übereinstimmung mit den angeschlagenen Tönen hub er zu leiern an: So hatte ich die halbe Welt umseehehegelt. Doch niemals hatt der Atem mir gestockt. Mit Ach und Krach hab ich mich durchgefleeheheheegelt. Und war nun selber ziemlich angeknockt. Der „Freien Welt“ mir fremd und rauhe Siihihihiiitten hab ich mir schnell und gründlich angewöhnt. Doch habe ich darunter sehr geliihihihiitten, und mich deshalb gar bald nach Haus gesehnt. Indes war meine Fahrt noch nicht zu Äähhähähäände. Das Allerschlimmste stand mir noch bevor. Ich fiel den Gangstern in die Häähähähäände. Es ging mir schlechter noch als je zuvor. Egal, du bist ja klug und jung an Jaahahahaaren. So dachte ich, vertrauend auf mein Glück. Und sollst du in des Teufels Rachen faahahahaaren, ein Junge aus Groß Lütten scheut vor nichts zurück. Übrigens, bemerkte Fiebig schmunzelnd, blieb mir gar keine andere Wahl, als die Reise fortzusetzen. Er griff dazu wacker und falsch in die Saiten, doch die Disharmonie ging in der erwartungsvollen Stimmung unter.
Der Erzähler fuhr fort: Nach der Landung in San Angeles wurden wir ungewöhnlich scharf kontrolliert. Sämtliche Fluggäste wurden in Wartesälen festgehalten. Dämliche Gerüchte gingen um, Horoskope: Der Mars tritt endgültig in Opposition zum Großen Bären. Die Waage verschwindet unterm Horizont. Wissen Sie, ich glaube, das alles ist ein Riesenbluff. Was, die Konstellation der Sterne? Wer hat etwas davon, die Bevölkerung zu bluffen? Der Kriegsgott Mars und das Wappentier der Russen, nun sagen Sie doch einmal selbst… Die Sterne lügen nicht! Wir gehen einer Katastrophe außerplanetarischen Ursprungs entgegen, das ist es. Ausgerechnet jetzt, wo die Menschheit endlich zur Vernunft kommt! Zu diesen wirren Reden dudelten sämtliche Lautsprecher. Von Zeit zu Zeit wurde die Musik unterbrochen. Werbende Stimmen übertönten das Parolengeflüster: Was nützt es Ihnen, daß Sie mit dem Leben davonkommen, wenn Sie erblinden? Darum Lighthams Schutzbrillen gegen Atomblitze jeder Art und Stärke! Nach kurzer, aufpulvernder Zwischenmusik hieß es wieder: Die empfindlichsten Organe sitzen im Kopf, im Kopf, im Kopf, Kopf, Kopf. Nicht immer ist ausreichende Deckung vorhanden. Bei überraschenden Atomschlägen kann Ihnen schon die Aktentasche über dem Kopf viel nützen. Tragen Sie nur Aktentaschen der Firma Doofworth, die Sicherheitstaschen mit der soliden Bleieinlage. Und ich dachte, wir lebten endlich im Zeitalter einer weltweiten Entspannung. Ein Trupp Mannequins trudelte in den Wartesaal und führte den verblüfften Reisenden eine Kollektion von Raumanzügen vor. Die Not erzeugte, wie bewiesen wurde, erstaunliche Tugenden. Man konnte nämlich in den gummierten Asbestpanzern durchaus adrett wirken. Es gab eng anliegende Modelle mit Sichtfenstern und eingebauten Kußmembranen an allen möglichen Körperstellen.
Die Lautsprecherstimme schlug dazwischen: Sauerstoff, Elixier des Lebens! Legen Sie sich beizeiten genügend Vorrat an. Anruf genügt. Ponzo-Chemie liefert Sauerstoffbehälter jeder Art und Größe frei Haus. Ich begann zu röcheln. Allzuleicht vergessen wir den Schutz unserer Füße, dröhnten die Lautsprecher. Nehmen Sie Hottrotters Einlegesohlen, schweißfrei, feuerfest. Ich lechzte schon jetzt nach Sauerstoff. Der Teufel mochte wissen, was hier gespielt wurde. Plötzlich schien es mir gar nicht so abwegig, zwei auf einen Handwagen montierte Sauerstoffbehälter zu kaufen. Im Laufe dieser Nacht bestellte ich dann noch für Bill und mich je einen Strahlenschutzanzug mit Gummipolstern an Ellenbogen, Knien und Gesäß, einen Fallschirm, Sturzhelm, Geigerzähler, Tauchretter, ein bleigeschütztes Trinkwasserfäßchen, zwei Säcke Zwieback, einen tragbaren Dynamo und ein Zweimannschlauchboot. Endlich wurde ich zur Überprüfung meiner, wie es hieß, Identität aufgerufen. Ich kam in eine Art Zwinger für Tobsüchtige. Wände und Türen waren gepolstert, Fenster vergittert. Man drückte mich auf einen elektrischen Stuhl, verband meinen Körper mit Schwachstromabtastern. Eine Tonbandstimme nudelte: Sie befinden sich vor dem Untersuchungsgericht für emericinische Verhaltenskonformität. Sie haben nur mit Ja oder Nein zu antworten. Diskussionen verzögern den Prozeß; Protest verschlimmert ihre Lage. Sagt mal, seid ihr schwachsinnig, oder träume ich das bloß, rief ich verzweifelt. Der Untersuchungsmechaniker drückte auf eine Taste. Sie befinden sich… Protest verschlimmert Ihre Lage. So leierte das Tonband von vorn. Ich verstummte. Der Techniker schaltete eine neue Sprechmaschine ein. Fragen prasselten auf mich nieder. Sind Sie Agent einer fremden Macht? Mit welcher legalen Partei wollen Sie Verbindung aufnehmen? Haben Sie Beziehungen zu illegalen Gruppierungen? Sind Sie Kommunist? Lieben Sie Emerici? Ich liebe die Deutsche Demokratische Republik!
Knopfdruck: Antworten Sie nur mit Ja oder Nein, Diskussionen verzögern… Die Fragerei begann von vorn. Sind Sie Angehöriger einer religiösen Vereinigung? Sind Sie Atheist? Werden Sie sich in unsere politischen Angelegenheiten einmischen? No! sagte ich zu allem, no, no, no. Der Befragungsmaschinist riß ein Diagramm aus dem Detektographen. Stanzlöcher, Imprägnien, ein verräterisches Stück Seele von mir. Mit meinen Fingerabdrücken versehen, wanderte die Karte in einen Automaten. Lämpchen glommen, Rädchen surrten, Taster tickerten, Stanzer stanzten. Meine Seele fiel mit einem Stempel „Renitente Person“ verziert in einen Kasten mit der Aufschrift: F. Ich wurde losgeschnallt, kam mir vor wie eine ausgenommene Weihnachtsgans. Der Mechaniker wies mit dem Kopf zur Tür. Sie werden vom Gouverneur zum Frühstück erwartet, sagte er wie zum Hohn. Ich wurde zur Hintertür hinausgestoßen und stolperte in den weitgeöffneten Wagenschlag eines Straßenkreuzers. Der Fahrer war eine Art Mensch mit allen äußeren Attributen eines Gorillas. Er ließ den Wagen mit einem Panthersatz davonschießen. Später wurden wir in einem immer dichter werdenden Verkehrsstrom eingekeilt. Auf weichen, walkfesten Pneus, vorbei an Hochhausgebirgen, Fabrikanlagen, Garagenzeilen, Vorstadtvillen, Öltanklagern schlichen wir aus der Stadt. Wagenkolonnen verstopften die Ausfallstraße. Die meisten Fahrzeuge waren wie bei einem Massenumzug mit Hausrat und Gerätschaften hochbepackt, viele Autos mit angeschraubten Schutzplatten gepanzert, statt der blanken Vollsichtscheiben blinzelten schmale Sehschlitze. An einer Straßenkreuzung gab's einen Aufenthalt. Sofort näherten sich Zeitungsverkäufer und schrien: Das neueste Horoskop! Skorpione haben die größten Überlebenschancen! – Welt am Scheideweg. Staatsphilosoph Ernesto Bloodyfool untersucht die Lage der Nation. – Bunkeranleihen jetzt auch auf Kredit. – Ein Volk wehrt sich gegen das Unheil… Ich langte nach einer Zeitung. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, las ich da.
Vorn kreuzte ein Güterzug. Ich zählte fünfzig Kesselwagen mit der Aufschrift: Ponzo-Sauerstoff. Ich wandte mich an meinen Fahrer um Auskunft. Den Sauerstoff blasen wir in die Luft, damit wird nach einem Atomschlag die Atmosphäre wieder aufgefrischt, antwortete er gleichmütig. In flotter Fahrt erreichten wir gebirgiges Terrain. Vor einem kreiseiförmigen Gebilde, das frei auf einem Felsplateau lag, machte der Wagen einen Diener und stand. Der Betonkreisel war etwa zehn Meter hoch. Er lag auf einem glattbetonierten Felsrondell, das mit einer starken Brustwehr umgeben war. Auf der Felsplatte, um den Kreisel herum, parkte eine Anzahl Wagen. Fern im Süden lagerte der schwere Dunst einer großen Stadt. Der seltsame Körper, vor dem ich zwerghaft stand, erinnerte an ein Kuckucksei, das bekanntlich so gebaut ist, daß sein Schwerpunkt in der Spitze liegt. Der unwilligste Wirtsvogel ist nicht imstande, das fremde Gelege aus dem Nest zu wälzen, weil es stets wie ein Kreisel um diesen Schwerpunkt herumrollt. Sollten hier ähnliche Konstruktionsprinzipien vorgelegen haben? Sicher war die Spitze dieses mächtigen Kuckuckseis entweder vollbetoniert oder mit schweren Energiespeichern ausgefüllt. Ein solcher Kreiselbunker würde freilich selbst bei schwersten Erschütterungen nicht von der Plattform herabrollen. Noch war das raffinierte Bauwerk durch eine Energieleitung sowie durch ein Netz von Telefondrähten mit der Außenwelt verbunden. An der Rondellbrüstung lungerten ähnliche Mannsfiguren herum wie mein Fahrer. Sie trugen breite Sombreros und weite, ärmellose Umhänge, die vermutlich vor Wind, Regen, Sonne, Staub und verschiedenen Strahlungen schützen sollten. Mir war, als müsse ich unter den weiten imprägnierten Capes die Umrisse schwerer Maschinenpistolen erkennen. Als ich über eine Gangway zur Bunkerwand hinaufgefahren war, sank dort plötzlich ein Wandpfropfen, ähnlich einem schweren Kolben, nach innen und gab eine mannshohe, ovale Röhre frei. Betroffen über die enorme Dicke der Bunkerwand, betrat ich den so entstandenen Gang. Ich folgte der immer weiter vor mir zurückweichenden Kolbenfläche, bis sie seitlich in der Röhrenwand eine Öffnung freigab. Durch diese Öffnung gelangte ich endlich in das Innere des Bunkers.
Kaum hatte ich die Röhre verlassen, stieß der Kolben leise zischend in die Ausgangsstellung. So verpfropfte er den Bunkereinschlupf mit beängstigender Kraft und Fülle. Der Vorgang erinnerte an die Arbeitsweise einer Dampfmaschine oder eines Verbrennungsmotors, nur waren es hier Menschen, die ein- und, hoffentlich, wieder ausventiliert wurden. In einem taghell erleuchteten Raum begrüßten mich einige Herren. Sie rückten bereitwillig, um mir auf einer lederbezogenen Wartebank Platz zu machen. Ehe ich mich jedoch niederlassen konnte, wurde ich von einer charmanten Vorzimmerdame zum Gouverneur vorgelassen. In dem komfortablen Arbeitszimmer waren zwei Kerle mit der Durchsicht verschiedener Zeitungen beschäftigt. Bei meinem Eintritt erhoben sie sich. Einer kam mir einen halben Schritt entgegen. Er war ein schon älteres, stämmiges, etwas kurzatmiges Exemplar unserer Gattung. Da sind Sie endlich, begrüßte er mich kurz und scharf, wenn auch nicht unfreundlich. Er wies auf den zweiten Anwesenden. Mister Bloodyfool, Staatsphilosoph Numero eins. Der Vorgestellte verneigte sich, ein riesiger, rosiger, dünnhäutiger Mensch, aus dessen Benehmen ich sofort auf einen Zwitter schloß. Alles an dem Kerl wirkte irgendwie durchsichtig. Er hatte trotz seiner gewaltigen Dimensionen zarte Hängebäckchen, dazu schwülstige Lippen. Den rosigen Teint trübte nicht die Spur eines Barthaares. Freilich, ein dicker, krapproter Teppich mochte mit seinem Widerschein den femininen Zug dieses Mannes stärker hervorgehoben haben. Ich verbarg meine Verwunderung, ließ mich lässig in einen Sessel fallen und schlug ein Bein über das andere. Konnten Sie mir diese blödsinnige Ausfragerei nicht ersparen, Gouverneur, nörgelte ich. Der Statthalter glotzte mich an. Tut mir leid, entgegnete er scharf, niemand, der die Staaten betritt, kann sich dem Gesinnungstest entziehen. Das erfordert die Sicherheit der Nation. Der Gouverneur hatte zwei Gesichter. Sprechend entblößte er ein starkes, schadhaftes Gebiß, wodurch er einer alten Hyäne glich; schwieg er, liefen seine Lefzen wie eine Art geschlossene Maulspalte halb um die untere Gesichtshälfte herum. Ehrenwort, mit seinem blassen Teint und den stumpf wirkenden Lurchaugen sah er aus wie ein Axolotl. Auch seine scharfe, quäkende Stimme ähnelte der eines Lurches. Der Gouver-
neur hieß Craper, Francis Cornelius Craper, aber ich nannte ihn bei mir einfach Axolotl oder kurz Axl. Ich sagte: Denen habe ich natürlich keine Schmeicheleien aufs Band gesprochen. Dem Detektor bleibt ohnehin nichts verborgen, erwiderte Axl scharf. Eine weißbeschürzte schwarze Mamsell räumte die Zeitungen fort und deckte ein Hummerfrühstück auf. Während wir uns sättigten, saugten verborgene Ventilatoren lautlos die Düfte ab. Ein Glas Rum und eine schwarze Brasil stimulierten anschließend die Verdauung. Im Nebenzimmer warteten geduldig die Presseleute. Nichts erinnerte daran, daß wir hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen waren. Der Gouverneur faltete gemütlich die kurzfingerigen Hände über seinem Bäuchlein und wandte sich an den Philosophen: Sie kommen also in letzter Instanz auf das Unter-Ich als die Triebkraft aller Entwicklung. Das müssen Sie uns erklären. Die Bedienung stellte lautlos einen Strauß Rosen, frisch herbeigeschafft aus dem Kaliforniatal, auf den Tisch. An den Purpurblättern schimmerte noch der Tau. Eiskühler Duft entströmte den kaum entknospten Blüten. Der Philosoph bewegte die Hände, als wasche er sie in Luft. Das Unter-Ich ist eine philosophische Kategorie, so wie etwa unsere Vorstellung vom Atom ein Hilfsmittel ist, um das Atom zu begreifen. So begann der Philosoph mit zarter Stimme, und ebenso fuhr er fort: Welcher Mensch kann sich rühmen, das Atom sinnlich erfaßt zu haben? Und doch wagt heute niemand, die Ähnlichkeit mit dem realen Atom, das nie ein Menschenaug erblickt hat, anzuzweifeln. Warum? Jeder auf der Grundlage des abstrakten Modells durchgeführte Versuch führt zu praktisch wertbaren Ergebnissen. Der Mensch besitzt nicht die Ansicht des Atoms, sondern nur dessen Spuren. Das Unsichtbare wurde eingezirkelt, mit Resonanzmitteln umstellt, auf die es seine Wesenheiten abtrug. Sowenig, wie der Mensch das konkrete Atom jemals zu Gesicht bekommen wird, ebensowenig wird er die wahren Ursachen der gesellschaftlichen Bewegung und des Seins sinnlich erfassen. Kein Kernforscher kommt auf die Idee, den Mangel an sinnlicher, augenscheinlicher Wahrnehmung des Atoms als ein Unglück aufzufassen. Er gibt sich mit einer praktisch tauglichen, zweckmäßigen Abstraktion durchaus zufrieden. Und hier haben
wir die wunderbarste und schlüssigste Offenbarung zugleich! Das Atom im Menschen selbst ist es, das sich mit der Erkenntnis seines Funktionsschemas zufriedengibt. Der Mensch ist ein kompliziertes Gebäude aus in den verschiedensten Wechselbeziehungen aufeinander einwirkenden Atomen. – Ja, man kann sagen, daß beim Menschen die optimalen Bedingungen für das harmonische Zusammenklingen jener kleinsten Bausteine der Materie gegeben, besser, gefunden sind. Die Atome haben in unzähligen Varianten ihre höchstmögliche Organisationsform gesucht und haben diese im Menschen gefunden. Das bedeutet: Im Atom haben wir das Unter-Ich des Menschen. So wie wir im Atommodell die praktikable Anschauung des Unsichtbaren haben, haben wir im Unter-Ich die befriedigende Erklärung für die Ursache aller gesellschaftlichen Bewegungen. Alles, was wir um uns her sehen, sind mehr oder weniger geglückte Versuche der Atome, sich zur Vollkommenheit zu organisieren. Nehmen wir diese Rose. Wer will bestreiten, daß dieses Gewächs von ausnehmender Schönheit ist. Aber im Vergleich zum Menschen müssen wir sie als bei weitem mißglückten Versuch der Atome, sich selbst zu erkennen, betrachten. Wer baut den Menschen, das Getier, das Gestein? Es ist jener Elementardrang des Atoms, sich ausdrücklich zusammenzusetzen und sich in diesem Ausdruck womöglich selbst zu erkennen. Niemals hätte der Mensch das Bedürfnis, dem Wirken der Atome auf die Spur zu kommen, ohne diesen summierten Selbsterkenntnisdrang aller an seinem Bau beteiligten kleinsten Einheiten, also dem Unter-Ich. Es ist doch klar, daß ein Atom sich nicht anders ergründen kann als im höchsten organischen Verband. Wer anders könnte dem Menschen diesen Forscherdrang eingeben als das Ich der Atome? Deshalb setzen sich die Urbausteine mit unbeschreiblicher Geduld immer zu neuen Formen zusammen, bis der Mensch entsteht. Das Geheimnis allen Werdens ist somit gelüftet. Der Mensch als reflexivisches Instrument der Atome. Mister Bloodyfool sah Axl und mich verzweifelt an, dann ließ er sich herbei, noch faßlicher zu erläutern: Also, das Atom kennt seine konkrete Erscheinung, sein Äußeres sozusagen, aber es erkennt sein Wesen, seine Potenzen nicht. Wie sollte es diese Potenzen jemals kennenlernen, da es doch als Einzelwesen nicht imstande ist, jene komplizierten Anlagen zu bauen, die einen bewußten Aufschluß über alle Möglichkeiten der Atome gewährleisten? Durch seine Organisation im Menschen eröffnen sich
dem Atom immer neue Varianten, sich selbst zu erkennen. Und nun frage ich Sie, rief der Philosoph emphatisch, wer will es dem Atom verwehren, wenn es ihm gefällt, die Experimente mit sich selbst auf dem Wege über den Menschen auf die Spitze zu treiben? Pardon, rief ich dazwischen, wie verhält es sich mit der Sterblichkeit? Sehr richtig, sekundierte Axl. Atome, soweit sie sich nicht in Energie umwandeln, sind unsterblich, erwiderte Bloody glatt. Zwar kann sich, wie uns einleuchtet, jene höchste anatomisch-atomische Inkarnation nicht allzu lange halten, aber es ist ganz sicher: Jene Atome, die einmal das berauschende Gefühl hatten, Teil eines Menschen, sein bestimmendes Unter-Ich, gewesen zu sein, werden nicht eher rasten, bis sie eines Tages wieder in einem neuen Menschen oder, sagen wir, in einem neuen vernunftbegabten Wesen Platz gefunden haben. Trillionen verschiedenster neuer Bildungsversuche dürften dazu notwendig sein. Aber was gilt die Zeit? Jener Schwarm frei gewordener Atome aus der Leiche eines Menschen darf deshalb mit Fug und Recht als unsterbliche Seele angesehen werden, die sich der Religiöse als Gotteshauch vorstellt. Da es mir eben leicht nach Hummer aufstieß, fiel mir etwas ein. Ich rief: Stoffwechsel, Nahrungsaufnahme. Wie erklären Sie uns das? Bloodyfool nickte wissend. Fragen Sie der Vollständigkeit halber auch gleich nach Zeugung und Fortpflanzung. Ich nickte heftig. Bloodyfool erklärte nachsichtig: Zwei Atomkreise wirken zusammen, ein quantitativer über den Stoffwechsel und ein qualitativer über die Auslese. Die Atome, welche die Nahrung bilden, drängen sich ins höherorganisierte System hinein, um auf diese Weise zur höheren Erkenntnis zu gelangen. Da sie gewissermaßen frisch und kräftig sind, verdrängen sie im System schwächere, ermüdete ihresgleichen. Letztere werden ausgeschieden. Wir haben es mit einem ganz natürlichen Prozeß zu tun. Das Tüchtige, Starke, Frische verdrängt das Schwache, Abgenutzte, Ermüdete. Im System verbleiben kann auf die Dauer nur ein verschwindend geringer Teil von Atomen, so etwa, wie nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung eines Landes die Regierung bilden kann, eben die Elite. Die Zeugung nun ist ein auserlesener höherer Akt der Fortpflan-
zung, zu der sich jene Atomelite verstanden hat, ein Akt elementarer Selbsterhaltung des Unter-Ichs. Daraus erhellt, warum der Mensch dem Sexualtrieb machtlos gegenübersteht. Also, mir war noch längst nicht alles klar, obwohl mir schwante, daß ich mir das Leben als Funktion von Eiweißkörpern doch zu simpel vorgestellt hatte. Da ich jedoch im Nebenzimmer die Journalisten wie Ölsardinen eingepreßt wußte, verzichtete ich auf weitere Fragen zur biologischen Struktur. Dafür meldete sich jetzt der Gouverneur. Schön und gut, quarrte er, aber wissen Sie, ob die Atome die Höhe ihres Bewußtseins behalten, wenn der Mensch tot ist? Ich begriff. Dieser Mann, Inhaber einer kreiseiförmigen Schutzbehausung, die gut und gern einem Atomschlag standhalten durfte, wollte nicht sterben ohne den Trost, auch nach dem Tode wenigstens als Geist weiterzubestehen. Der Philosoph indessen wusch sich die Hände in Luft. Es ist, sagte er mit Festigkeit, so gut wie sicher, daß alles, was die Psyche eines Menschen ausmacht, nach dem Ableben uneingeschränkt weiterbesteht. Axl atmete erleichtert auf. Jedoch, fuhr der rosige Zwitter fort, verteilt sich dieses Bewußtsein, dieser Geist, der früher auf dem relativ engen Raum eines Menschen konzentriert war, nach der Auflösung auf die entschwebende Vielzahl aller an seinem Bau beteiligt gewesenen Atome. Jedes Atom nimmt gleichsam ein Stückchen von dem Geist des ehemaligen Menschen mit sich fort. Setzen wir die Anzahl der am Bau eines Menschen beteiligten Atome einmal gleich der Zahl aller in der Mohavewüste liegenden Sandkörnchen, so können wir uns ausmalen, in wie viele kleinste Teilchen dieser Geist verweht wird. Für das ehemalige Individuum als solches springt dabei so gut wie nichts heraus. Axls Mundwinkel zuckten vor Enttäuschung, aber mich beschäftigten jetzt andere Dinge als die Lebensfrage eines Milliardärs. Sagen Sie noch ein Wort über die gesellschaftliche Rolle des Unter-Ichs, rief ich. Die schwellenden Lippen des Philosophen lächelten. Das ist ganz einfach, erklärte er. Ähnlich wie das Schwein, der Hund, die Rose ist auch
der Neger, der Kommunist, die Frau als ein mehr oder weniger mißglückter Versuch des an sich ja blindwirkenden Atoms zu bezeichnen, seine vollendete Selbsterkennung zu erlangen. Das Unter-Ich in jenen Geschöpfen ist daher stets einseitig gerichtet, beim Neger etwa auf Rassengleichheit, beim Kommunisten auf Enteignung und ähnliches mehr. Bekanntlich ist alles Unvollkommene in der Natur häufiger als das Vollkommene. Das liegt in der Blindheit des Atoms begründet, deshalb gibt es auch bei weitem mehr minderwertige Geschöpfe als höchstentwickelte. Das Ich des Atoms ist eine gewaltige Kraft, aber es wirkt nur im vollendeten Menschen progressiv. Die Politik wird unter diesem Aspekt weniger zu einer Angelegenheit der breiten Massen als vielmehr zu einem elementaren Auftrag an wenige, aber zum vollendeten Unter-Ich herangereifte Individuen. Gouverneur Craper lutschte patschend an seinem Zigarrenstummel. Sein Unter-Ich arbeitete angestrengt. Welche Staatsform halten Sie für die geeignete? fragte ich. Wir Philosophen müssen es anderen überlassen, aus den Ergebnissen unserer Denkarbeit die richtigen Schlüsse zu ziehen, wich Bloodyfool aus. Und in welcher Spezies Mensch gelangt das Unter-Ich zu jener das Ich des Atoms am meisten befriedigenden Vollendung? Der Professor rieb sich die Hände. Seine Handflächen raschelten wie Seidenpapier. Die Bescheidenheit verbietet mir, darüber exakt Auskunft zu geben, antwortete er, doch kommt der Wissenschaftler, vor allem der Atomphysiker, noch am dichtesten an den Optimalfall heran. Würden Sie mir einige Fragen nur mit Ja oder Nein beantworten? Der Professor nickte. Da fragte ich: Billigen Sie der emericinischen Staatenlenkung optimale Voraussetzungen zur Herausbildung des UnterIchs zu? Ja. Würden Sie Personen, die mit dieser Staatenlenkung einverstanden sind, als Konformisten bezeichnen? Ja.
Bekanntlich wurde die emericinische Staatenlenkung von der Weltmeinung gezwungen, den Vertrag zur Vernichtung sämtlicher Kernmunition zu unterschreiben. Würden Sie das als einen Sieg des Nonkonformismus bezeichnen? Ja. Das Abstimmungsergebnis auf der Weltabrüstungskonferenz beweist, daß es mehr Nonkonformisten als Konformisten gibt, global gesehen. Gewiß. Beim Tode eines Nonkonformisten vermischen sich dessen Atome gleich einem Hauch im Urgrund des Seienden mit denen von abgelebten Konformisten. Nun ja. Wenn es gelänge, sozusagen in letzter Stunde, als Rettung vor der totalen Abrüstung, alle Nonkonformisten mit einem Schlage physisch zu vernichten, würde sich damit der Geist des Nonkonformismus und Kommunismus im Urgrund des Seienden, aus welch letzterem sich ja allein wieder neues Leben zusammensetzt, schlagartig akkumulieren? Logischerweise ja. So daß… Genug, fuhr Craper dazwischen. Erstens habe ich keine Lust, mein Ich nach dem Tode in alle Winde verstreut zu wissen, und zweitens kommen wir damit dem Kommunismus nicht bei. Je mehr wir erledigen, desto mehr erheben sich aus dem „Urgrund des Seienden“. Diese Philosophie ist untauglich. Sie sind unfähig, Mann. Gehen Sie! Melden Sie sich in genau zwei Stunden mit einer neuen, der Lage unserer Nation angemessenen Konzeption wieder! Bloodyfool erhob sich gehorsam. Seine rosigen Bäckchen zitterten. Offenbar hatte die Welt außerhalb dieses hartschaligen Betoneis nichts Anziehendes für ihn. Craper schnaufte. Sie sind ein Prachtkerl, Fiebig. Ihre geniale Erfindung des Fiebigschen Trompeteneffekts gab uns kaum jenen Raketenantrieb in die Hand, ohne den wir nach vollzogener Abspaltung der kommunistisch verseuchten Erdhälfte von allen Tendertrabanten im Weltraum abgeschnitten wären, da vollbringen Sie für die Nation schon wie-
der eine viel höher einzuschätzende geistige Rettungstat. Ich wäre diesem zwielichtigen Burschen allein wohl schwerlich hinter die Schliche gekommen. Axl schlug sich klatschend auf die Schenkel. Mann, Sie sind die Rettung Emericis – abgesehen davon, daß Sie mich reich gemacht haben. Seit Ihrer Erfindung stiegen meine Mondaktien um zweihundert Prozent, ihr Wert klettert weiter. Er betrachtete mich wie einen noch zu verschluckenden Wurm. Schätzen Sie dieses Kompliment nur ja nicht zu gering, Fiebig! Der Mann, der Ihnen das sagt, ist Mitglied des Obersten Weltgerichtes und Generalbevollmächtigter für alle Weststaaten. Wissen Sie, was das bedeutet? Die Evakuierung der Oststaatler nach dem Westen hat begonnen. Man hat errechnet, daß das große Becken zwischen den Rocky Mountains und der Sierra Nevada das sicherste Zufluchtsgebiet für den Fall X ist. Damit bin ich, Francis Cornelius Craper, kurz FCC, Generalbevollmächtigter der Weststaaten, potentieller Alleinherrscher über Emerici. Ich war restlos überzeugt, daß dieser Lurch zumindest die Fähigkeit besaß, große Gelegenheiten für sich zu nutzen. Jahrzehntelang waren die Weststaaten arm, vernachlässigt, von den fetten Oststaatlern ausgeplündert und verachtet. Im Senat galt ich nicht viel mehr als ein verlauster, ausgehungerter Ognaga-Häuptling. Jetzt bringen die hochnäsigen Oststaatler ihre höchsten Güter und zum Schluß ihr wertvolles Leben freiwillig unter mich. Mit Haut und Haaren geben sie sich mir in die Hände. Von Stunde zu Stunde verlagert sich der Nationalreichtum zugunsten des Westens. Junger Mann, Sie befinden sich im Organisationszentrum der größten Völkerwanderung aller Zeiten. Von hier aus beginnt eine neue Ära in der Geschichte Emericis, die Ära FCC. Ich habe eigentlich keine Minute Zeit für Sie. Unter meinen Händen werden die Weststaaten zu neuer Kultur aufblühen. Um diesen Preis bin ich bereit, jedes Risiko einzugehen. Der bevorstehende Hauptschlag gegen den Kommunismus legt das Schicksal der Gesegneten Staaten von Emerici in meine Arme. – Und da kommt so ein Trottel, um nachzuweisen, daß der Kommunismus im Urgrund des Seienden unausrottbar ist. Sie, Fiebig, haben die Welt meiner Vorstellungen gerettet, denn mit einer solchen Philosophie, wie sie dieser Blödmann verbreitet, könnten wir die Spaltung des Erdballs nicht recht-
fertigen. Junger Mann, Sie haben alle Voraussetzungen, zum Liebling der Nation emporzusteigen! Der Schuhmacherlehrling griff mit Macht, wenn auch wahllos, in die Saiten der verstimmten Gitarre. Seine Zuhörer erschraken. Kein Mensch wird jemals völlig ermessen, welche Kraft es mich kostete, unter solchen Sirenenklängen, rundum einbetoniert in Bunkerwände, mir selbst treu zu bleiben. Und doch vergaß ich keinen Augenblick, daß ich innerhalb von nur noch drei Tagen in die Heimat gelangen mußte, um meine Facharbeiterprüfung zu absolvieren. Unausgeschlafen, strapaziert, isoliert, versuchte ich herauszubekommen, was hier eigentlich gespielt wurde. Gehen wir nun zur Pressemeute, entschied Axl. Augenblick noch. Ich stoppte ihn vorsichtig. Ich komme aus Europa. Dort ist man über die Vorgänge, die sich hier einleiten, nicht im Bilde. Man feiert die Weltabrüstung. Der Gouverneur lachte bellend. Sehr erfreut, bemerkte er. Nicht einmal unsere eigene Bevölkerung kennt die volle Wahrheit. Davon werden Sie sich sogleich überzeugen. Er schnitt mir mit einer Handbewegung jede weitere Frage ab. Es ist doch völlig egal, woher die Gefahr kommt. Die Hauptsache ist, daß etwas dagegen unternommen wird. Das Volk will eine straffe Führung spüren, dann folgt es willig in die kühnsten Unternehmungen. Was tun wir nicht alles, bauen Wasser-, Gas-, Öl-, Stromleitungen in die unfruchtbarsten Gebiete, evakuieren den halben Kontinent, produzieren Bunker, konservieren die Erdatmosphäre in Stahlflaschen, garantieren jedem Bürger mindestens fünfzig Prozent Überlebenschancen. Nur ein kleiner Personenkreis braucht über das Vorhaben Bescheid zu wissen. – Freut es Sie, zu diesem Kreis zu gehören? Ich schüttelte den Kopf. Mich freut es auch nicht, gestand Craper. Es ist geradezu humanitär, die Massen im unklaren zu lassen. Es ist geradezu ein Gebot der Stunde, daß die ganze niederdrückende Last des Wissens über die bevorstehende Katastrophe allein auf unseren Schultern liegt.
Ein Telefon summte. Axl griff zum Elfenbeinhörer, sagte „all right“ und legte nach einer Weile auf. Um einen Schein blasser, bemerkte er: Die Weltuhr läuft. Die Zeiger stehen auf dem Zeitpunkt X minus achtundvierzig Stunden. Die Rocky Mountains, unsere guten alten Rockys, das Rückgrat des Kontinents, es wird sich biegen, aber es wird nicht zerbrechen. Zum erstenmal quäkte seine Stimme nicht. Ich blickte mechanisch auf meine Armbanduhr. Es war Mittag. Axl hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Er sprach in gewohnter Schärfe: Die Goldene Herde, Emericis verantwortliche Gesellschaft, trifft sich heute abend in Hollywood zur letzten Konferenz. Im Mittelpunkt stehen Sie, Fiebig. Von Dr. Pyrrhus Peng wird verlautet, daß einer seiner Assistenten Informationen von letzter, ausschlaggebender Bedeutung gesammelt hat. Sie werden also dem hohen Ausschuß das Ergebnis Ihrer Untersuchungen zu Gehör bringen. Zwar rinnt der Sand bereits durchs Stundenglas, aber das letzte Wort haben Sie. Axl näherte mir sein Gesicht und starrte mich an. Ich fühlte, daß er zitterte. Nun, lieber Freund, wie stehen unsere Chancen, bettelte der Bunkergewaltige. Er hielt mich offenbar für jenen Mitarbeiter Pengs, der Maine Bill war. Ich aber hatte meinen Reisebegleiter aus den Augen verloren. O hätte ich ihn doch früher danach gefragt, was es mit seiner Kugelspielerei auf sich hatte. Axls Frage konnte ja nur auf das Ergebnis jener Experimente zielen. Ich verlieh mir ein abweisendes Aussehen. Sie sind im Begriff, sich etwas vor den übrigen Mitgliedern der Goldenen Herde herausnehmen zu wollen, Craper, rügte ich. Der Gouverneur strich sich über die Glatze. Es war eine unkontrollierte Bewegung. Ich biete Ihnen die Hälfte meiner Mondaktien, wenn Sie eine hinreichende erklärbare Andeutung machen, krächzte er. Gehen Sie! befahl ich. Sagen Sie den Journalisten endlich, was Sie aufgrund Ihrer Stellung in diesem Spiel zu sagen haben. Da ging er hin, Francis Cornelius Craper, der mächtigste Mann im Westen. Ich sah seinen feisten Nacken vor mir und hatte das Gefühl, meinen Fuß draufsetzen zu müssen.
Die Dauer unserer Geheimbesprechung hatte die Spannung unter den Presseleuten auf den Höhepunkt gesteigert. Bitte, vergleichen Sie Ihre Uhren, sagte der Gouverneur, sichtlich abgespannt. Von den magnetometrischen Stationen wird übereinstimmend ein sprunghaftes Ansteigen kosmischer Spannungen gemeldet. Dieses Ansteigen der Spannungen zwingt zu dem Schluß, daß sie in etwa achtundvierzig Stunden eine Stärke erreicht haben werden, der unser Erdball nicht mehr zu widerstehen vermag. – Das wäre das Ende. – Ruhe bitte, meine Herrschaften! Vermutlich wird die Erde durch das kosmische Spannungsfeld in zwei nahezu gleich große Teile auseinandergerissen werden. Die Staatenlenkung hat den Vorgang seit langem beobachtet und alles in ihrer Macht stehende getan, um das Unglück abzuschwächen. Ich darf Ihnen sagen: Wir haben alle Vorgänge fest unter Kontrolle. Als Bevollmächtigter für den westemericinischen Raum ordne ich an: Erstens, alle Bürger haben sich unverzüglich in die ihnen zugewiesenen Gebiete in Marsch zu setzen. Zweitens, vor dem Verlassen der Wohnungen sind alle Gas- und Ölheizungshaupthähne zu schließen, alle elektrischen Sicherungen herauszudrehen, private Energieversorgungsanlagen sind stillzulegen. Drittens, nach Verlassen der Wohnungen sind diese sorgsam abzuschließen. Viertens, als Berechtigung zum Betreten von öffentlichen Schutzbunkern gilt die Vorlage von mindestens einer Bunkeranleihequittung; Bergleuten ist der Zutritt zu den Bunkern aus Platzgründen nicht gestattet, selbst wenn sie Zahlungsnachweise vorlegen. Sie haben in ihre Gruben einzufahren, wo sie sicher genug sind. Fünftens, um Säumigen Gelegenheit zu geben, doch noch schnell ihre Bunkeranteile zu kaufen, haben alle Bankfilialen bis auf Abruf rund um die Uhr zu arbeiten. Das Überschreiben von Sparguthaben auf Bunkeranleihen hat reibungslos zu erfolgen. Sechstens, ab sofort wird der Preis der Bunkeranteile aller Klassen um hundert Prozent heraufgesetzt, und siebentens, für Personen, die nicht rechtzeitig Schutzanleihen gezeichnet haben, daher die Bunker nicht
betreten können, gelten die Bestimmungen des zivilen Luftschutzes vierter Klasse. Danke, Damen und Herren. Gibt es noch Fragen? Die Journalisten schrien durcheinander. Nur die Stimmkräftigsten setzten sich durch: „The Star Times“: Können Sie unseren Lesern sagen, woher die kosmische Spannung kommt? Axl: In unmittelbarer Nähe unseres Planeten vagabundiert eine dunkle Sternmasse vorüber. Die Erde gerät genau in den Schnittpunkt von Sonne und Dunkelstern. Kein Zweifel; durch die auftretenden, gewaltigen, einander entgegengerichteten Kräfte muß jeder kleinere Körper, sobald er dazwischengerät, entzweigerissen werden. „The Star Pictures“: Welche Chancen können wir uns ausrechnen? Axl: Einhundert Prozent Überlebensaussichten für jeden, der noch rechtzeitig Schutzanleihen zeichnet; kaum die Hälfte für Unvernünftige, denen ihr Geld lieber ist als das Leben. „The Astrolog“: Sie haben mit Mister Bloodyfool konferiert. Gibt es neue, für die Menschheit in ihrer Schicksalsstunde tröstliche Erkenntnisse? Die gibt es, log Axl. Der Geist des Menschen zerfällt nämlich in zwei Teile, den absoluten Geist, der in den Urgrund des Seienden zurückkehrt, und zum anderen in den relativen Geist, der an die konkrete Erscheinung des Menschen gebunden ist. Daraus folgt: Der relative Geist ist verhältnismäßig leicht zu negieren, indem man sein physisches Medium vernichtet. Daraus folgt ferner, daß der kommunistische Ungeist auf der gesamten Osthemisphäre ausgelöscht wird, da man dort nicht auf die kommenden Ereignisse vorbereitet ist. Die gesamte Presse des Ostblocks, soweit sie von unseren Schutzmaßnahmen überhaupt Notiz nimmt, faselt wieder einmal von einer gesteuerten Massenhysterie in Emerici. Und was wird mit dem absoluten Geist? wollte ein Journalist wissen. Ich hielt den Atem an. Der Gouverneur zuckte nur die Achseln. Keine Ahnung, gestand er und fügte trocken hinzu: Das ist mir auch gleichgültig. Wenn wir nur die Roten loswerden.
Die Presseleute, es waren im Grunde recht vitale Burschen, brachen in Gelächter aus. Ich hatte das Gefühl, daß sie den Generalbevollmächtigten, ohne alles zu wissen, recht gut verstanden. Die Pressekonferenz endete mit einem optimistischen Akzent. In spätestens zwei Stunden würden die Rotationspressen ihre tröstliche Kunde unter die Massen schleudern: Einhundert Prozent Überlebenschancen für jeden, der sich einen Platz im Bunker kaufte. Millionen Federstriche würden Millionen Sparguthaben auf das staatliche Bunkeranleihekonto überschreiben. Der Staat, so hatte ich vorhin gehört, das war die Goldene Herde. FCC-Mondaktien würden schwindelerregend im Wert steigen. Wer es nur irgend erschwingen konnte, würde sich um ein Villengrundstück auf dem Mond bewerben, der bekanntlich zur Hälfte Mister Francis Cornelius Craper gehörte. Auf dem Mond wähnte man sich in Zukunft noch am sichersten. Und doch, was waren all diese Hoffnungen wert ohne Pengs neue Rakete, die nach dem Prinzip des Fiebigschen Trompeteneffekts funktionierte! Ich wurde mir meines Wertes für die emericinische Gesellschaft voll bewußt. Wenn ich nur eine Ahnung davon gehabt hätte, was man eigentlich von mir wissen wollte! Schrümm, schrumm, machte die Gitarre. Der Schusterjunge hockte, umgeben von aufgescheuchten Tongeistern, auf der Tischkante im Lehrlingswohnheim von Groß Lütten. Schrümm, schrumm. Die Klangbündel schreckten die Zuhörer. Schromm. Fiebig schien zu schauen, wie die Töne an der geschlossenen Saaltür umkehrten und auf ihn zurückfielen. Nachdenklich sprach er weiter. Die Presseleute waren gegangen. In dem kleinen Vorzimmer tickte ein Fernschreiber. Axl riß der Sekretärin die Papierschlange aus den Händen. Er las laut. Das Oberste Hochgericht der Staaten kündigte sein Erscheinen an. Obgleich alle technischen Vorbereitungen für eine gewaltsame Zersprengung der Erde bereits getroffen waren, schien man sich die Zeremonie einer förmlichen Verurteilung der Welt nicht ersparen zu können. Das Urteil, so vernahm ich, sollte in Hollywood vor der ver-
sammelten Goldenen Herde verkündet und seine Vollstreckung im Modellversuch demonstriert werden. Craper, sagte ich, denn ich mußte endlich Klarheit haben, was hat das Höchste Weltgericht mit der Angelegenheit zu tun? Der Gouverneur schaute mich eigenartig an. Ich mußte soeben eine Dummheit begangen haben. Schnell fügte ich hinzu: Ich komme aus Europa. Was allerdings die rein technische Seite der Schose betrifft, so steht mir selbst Professor Peng um die Erfahrungen meiner letzten Forschungsreise rund um den Globus nach. Neben der Tür zum Konferenzzimmer leuchtete eine Schrift auf. Namen von Organisationen, Namen wichtiger Persönlichkeiten wurden transparent. Der Verschlußkolben arbeitete demnach. Die Förderpumpe zum Regierungsherzen im Betonkreisel saugte neue Körperchen ein, die darauf warteten, mit Axls Geist beladen, wieder ausgestoßen zu werden. Legen Sie sich etwas hin, mein Freund, quäkte Axl. Ich habe zu tun. Auch Sie werden heute noch konzentriert arbeiten müssen. Ich stelle Ihnen meinen Ruheraum zur Verfügung. Die lächelnde Sekretärin geleitete mich in den Liegeraum des Statthalters. Der kahle Raum war von einem diffusen Licht erhellt. Ich streckte mich auf die einzige Liege und schlief sofort ein. Als ich erwachte, war es stockfinster um mich her. Kein noch so geringer Laut war zu vernehmen, außer dem Schlag meines eigenen Herzens. Ich blickte auf die Uhr und verfluchte meine Sparsamkeit, denn ich hatte mir nur eine billige Armbanduhr ohne Leuchtziffern gekauft. Ich kniff mir ins Ohr, raufte mir das Haar, um zu prüfen, ob ich noch existierte. Ich sprang auf, stieß aber mit dem Kopf gegen die Decke. Dabei hätte ich schwören mögen, daß diese vorhin noch nicht so niedrig war. Ich suchte die Tür, fand sie nicht. Rabenschwarze Finsternis. Alle Geräusche wurden absorbiert. Absolut schalltoter Raum. Ich bekam Angst. Gab's überhaupt noch eine Welt? Ich erinnerte mich, einmal die Sonne gesucht, Erde gerochen, Ozeane gesehen zu haben. Woher kämen solche Erinnerungen, wenn es diese Dinge nicht wirklich gäbe? Was für eine Welt mußte das aber sein, die zugleich Erinnerungen an hermetische Betoneier, saugende, pumpende Verschlußkolben, nukleare Ringladungen rings um die Erde hervorbrachte?
Ging ich in dieser Dunkelkammer meinen Erinnerungen weiter nach, so gelangte ich an einen fernen Punkt, von dem ich glauben sollte, er bedeutete einstmals das friedliche Leben im sogenannten Lehrlingswohnheim. Und in drei Tagen sollte ich dort hochwichtige Fragen über das Anfertigen von Fußbekleidungsmodellen beantworten. Ja, die Erinnerung! Ihr zufolge sollte ich mich sogar eingemauert im tiefsten Inneren eines Betonkörpers befinden. Ich bearbeitete das Material der Wände, bis meine Fingernägel brachen. Was, wenn man mich hier einfach vergaß? Wie sollte ich die Erde vor der endgültigen Spaltung retten? Ich röchelte, riß mir das Hemd auf, grub mir die spießigen, zerbrochenen Nägel ins Gesicht und schrie: Hrraaa, hrraaa, hrraaa! Na, Fiebig, tönte plötzlich Axls Stimme ganz in der Nähe, ausgeruht? Hrraaa, laßt mich raus, laßt mich raus! Gemach, gemach, mein Lieber. Wie wäre es mit einer kleinen Andeutung? Wenn ich meinen Erinnerungen trauen durfte, war der Gouverneur brennend an Dingen interessiert, die ich gar nicht wußte. Vermutlich hing von den Forschungsergebnissen Maine Bills eine ganze Menge ab. Hören Sie, durchdrang mich Crapers Stimme, Sie befinden sich in einer Klimakammer. Ich kann Ihr Blut zum Kochen bringen. Ich kann Ihre Blase zu einem Eisklumpen gefrieren lassen. Haben Sie Lust dazu? Was wollen Sie wissen, Mann? Wird die Spaltung gelingen? In meiner Kammer wurde es mittlerweile immer wärmer. Schweiß trat mir auf die Stirn. Das Atmen fiel schwer und schwerer. Dröhnende Hitze stieg vom Boden auf, strahlte von den Wänden, von der Decke. Da sah ich plötzlich Licht. Es kreiste wie eine blutige Orange vor meinen Augen. Ich riß die Augen auf, so weit es ging. Licht! Das wurde violett, blau, braun. Ich hatte nicht geahnt, daß in einem Menschen so viel Licht sein konnte. Ich hielt beide Hände vor die Augen. Jawohl, das Licht kam von innen. Die Hitze wurde schwer wie siedendes Metall. Mein Licht verlosch. Dann wurde es erträglicher in der Kammer.
Axls Stimme kam wieder: Freund, in dieser Kammer hat noch jeder gesungen. Aber was sollte ich denn, der ich doch nichts wußte, singen? Sie mißbrauchen Ihr Amt, stöhnte ich. In meinem Gefängnis wurde es wieder wärmer. Craper! Am liebsten hätte ich gestanden, daß ich gar keine Nachprüfungen angestellt hatte. Das wäre mein sicheres Ende gewesen. Wollte ich nur die geringste Hoffnung behalten, so mußte ich dieses Spiel durchstehen. Gouverneur, rief ich, Sie sind dem Präsidenten verantwortlich. Wenn mir etwas zustößt, wird man Sie belangen. Axls Lachen schepperte durch den Raum. Der Präsident hat nichts mehr zu sagen, höhnte er. Das Schicksal der Welt liegt in Händen des Obersten Gerichtshofes. Und jetzt zähle ich bis drei. Halt, schrie ich. Maine Bill kam mir in den Sinn. Eigentlich gehörte er statt meiner in dieses Höllenloch. Mit seiner Stahlkugel hatte er die Erde getestet, das erkannte ich nunmehr mit dem Scharfsinn der Not. Aber was mochte er dabei herausgefunden haben? Ich schrie: Die Erdzerspaltung ist unmöglich! Warum, fragte Axl verhalten. Weil euch das emericinische Volk und die anderen Völker der Welt noch rechtzeitig hinter die Schliche kommen werden! Oh, ich hatte mich keineswegs bewußt meiner innersten Gesinnung entblößt. Wer behaupten möchte, daß er in einer solchen Lage die Nerven behalten könnte, der trete vor. Nun umgab mich ungemessene Zeit wieder das absolute Reizvakuum dieser Todeskammer, das mich an meiner Existenz zweifeln ließ. Hatte wirklich jemand mit mir gesprochen? Schon begann ich mich nach der scharfen, peinigenden Stimme zu sehnen. Endlich bellte das Lachen wieder auf. Da bist du auf dem Holzweg, Jüngling. Alle technischen Vorbereitungen sind abgeschlossen. Alle erdenklichen Maßnahmen zur Tarnung des Unternehmens sind eingehalten worden. Nicht einmal die Offiziere jener Schiffe und U-Kreuzer wissen, was für Sonden sie da in den Meeresboden gerammt haben. Nur ein paar Wissenschaftler leiten das Unternehmen aus reichlicher Ferne
stabsmäßig. Da die Handlanger sowieso draufgehen, haben wir auf alle verräterischen Strahlenschutzmaßnahmen verzichtet. Das Zündkabel, das alle Kernladungen miteinander verbindet, ist als Nachrichtenkabel getarnt. Angeblich wird es die Daten von den Grundsonden sammeln und an die Zentrale weiterleiten. Eine Sonderstelle gibt bereits die ersten Bulletins über unser Ozeanographisches Jahr heraus. Bis die nachgeprüft werden können, hat es längst geknallt. Go on, Fiebig! Du sollst mir nicht ständig ausweichen. Ich zwang mich zu einem Lachen. Auch in geophysikalischer Hinsicht ist das Unternehmen dilettantisch, sagte ich so ruhig, wie es gehen wollte. Danach machte ich mich darauf gefaßt, notfalls ein paar Weisheiten aus der polytechnischen Oberschule auszupacken. Plötzlich umbrandete mich ein hysterischer Schrei: Du Hund, bist du wahnsinnig. Das ist unsere letzte Rettung. Sollen wir uns von den Roten in friedlicher Koexistenz niederkonkurrieren lassen? Axl hatte jetzt die Stimme eines Krokodils. Der Meinungstest hatte recht, du bist infiltriert. Ich mach dich kalt, du Aas! Mir war nicht bewußt geworden, wann Craper zum Du übergegangen war. Das untersteh dich! schrie ich zurück. Da wurde es bereits wunderbar kühl. Es wurde sogar kühler als notwendig. Ich war durchgeschwitzt. Ich war klitschenaß. Mein Anzug patschte nur so am Leihe. Ich war im Handumdrehen durch und durch gekühlt. Schon schlugen mir die Zähne aufeinander. Ich bedeckte mich von oben bis unten mit einem Trommelwirbel von Handschlägen. Die nassen Kleider wurden steif. Ich zog den Wirbel meiner Klatschhände wie eine wärmende Decke über die gefrorene Kledasche. Aber die Kälte wurde schmerzhafter. Bald sprang ich wie ein kopfloses Huhn gegen die Wände. Dabei schwanden mir die Kräfte. Schrill plärrte ich in die Finsternis hinein, doch nur an meinem aufgerissenen Mund und dem Schmerz in der Kehle merkte ich, daß ich meine Stimmbänder über die Maßen anstrengte. Die Wände verschluckten jeden Ton. Die Kälte verschlug mir den Atem. Ich hörte auf zu schreien. Hände und Füße wurden taub. Das Herz begann zu schmerzen. Eiskälte bohrte sich ins Hirn. Und wieder sah ich Licht.
Immer war also am Ende Licht. Diesmal waren es helle, lichte, leichte Farbtöne. Ein wunderbares Blau stieg aus mir herauf, wurde blasser, grünlicher. Ich entschwebte. Ganz weit aus der Ferne drang eine Stimme zu mir herüber: Fiebig, um Gottes willen, heben Sie die Liege an. Das ist der innere Mechanismus, der die Tür öffnet. Der Außenmechanismus klemmt. Die Pritsche ließ sich wie ein Klappbett anheben. Eine Tür sprang auf. Licht. Ich fiel in Ohnmacht. In einem Militärhospital der Stadt San Angeles hatten sie mich langsam wieder aufgetaut. Mit eigenartiger Gelassenheit betrachtete ich meine Umgebung. Dankbarkeit durchdrang mich ganz, ich wußte nicht, warum und wem gegenüber. Alles ringsum war weiß, Bettzeug, Wände, Einrichtung, die Kleidung der Schwester. Sie trat an mein Lager und erklärte: Ich habe Ihnen neue Sachen gebracht. Sie können sich jetzt anziehen. Unten wartet ein Wagen. Ihre Natur möchte ich haben! Habe ich weiße Haare, Schwester? Sie schüttelte verwundert den Kopf. Vor den Fenstern lag eine sonnenweiße Stadt. Palmen und Akazien mit weißem Staub überpudert. Diffuse Tagesgeräusche von weißlicher Klangfarbe drangen herein. Weiß brütete ein Hitzedom über der Stadt, schneeweiß war offenbar mein Inneres, das nimmer genug Sonne haben konnte. An der Peripherie der Stadt zerflossen Öltanks zu einem Silbersee. In den Taschen der neuen Kleider fand ich meine sämtlichen Papiere einschließlich meines Personalausweises der Deutschen Demokratischen Republik. Sie waren durchweicht und getrocknet. Mit einem Plätteisen bügelte die Schwester die Seiten meines Scheckheftes glatt. Ihre Augen hatten einen verträumten Ausdruck. Vor dem Hospital wartete eine Sanitätskolonne. Die Patienten wurden evakuiert.
Etwas abseits parkte ein mir bekannter Wagen. Der Fahrer lungerte gelangweilt am Wagenschlag. Ich verabschiedete mich von der Schwester. Die Stadt lebte wie ein aufgestörter Ameisenstaat. Vor den Banken drängten sich Menschen, die schnell noch Bunkeranleihen zeichnen wollten. Sämtliche Uhren waren angehalten. Dafür verkündeten Lautsprecher in regelmäßigen Abständen: x minus zweiundvierzig Stunden… x minus einundvierzigeinhalb Stunden… Dazwischen röhrten Ansagerstimmen: Bürger, bewahrt Ruhe und Ordnung! Wer Bunkeranleihen hat, kommt sicher unter. Suchen Sie im Falle X den Ihnen am nächsten gelegenen Schutzbunker auf. Anleihequittungen sind unbedingt vorzuzeigen. Bürger, deckt euch mit Rasierklingen ein. Möglicherweise gibt es für einige Zeit nicht einmal Strom für Ihren Trockenrasierer. Der allgegenwärtige Ponzo-Chemiekonzern landete seinen letzten Coup: Vergessen Sie nicht, sich mit Ponzo-Bunkerlichtern für alle Eventualitäten einzudecken. Ponzo-Straßenhändler tauchten auf und warfen jene flachen, jedem Deutschen sattsam bekannten Bunkerlichter auf den Markt, die mittels kurzen Dochtes und ungereinigten Stearins das elektrische Licht ersetzten. Die Preise für diese anspruchslosen Leuchten kletterten zusehends. In den Seitenstraßen wurden die Dinger bereits zu Schwarzmarktpreisen weiterverhökert. Überall herrschte mit einem Schlag akuter Bargeldmangel. Schon tauchten Bunkerlichter, kurz „Ponzos“ genannt, im Zahlungsverkehr auf, wo sie wie bare Münze gehandelt wurden. Unter den ärmeren Bevölkerungsschichten brach eine Meuterei aus. Auf dem Platz der emericinischen Freiheit rotteten sich Menschen zusammen, die den erforderlichen Mindestbetrag von zweitausend Dollar für einen Bunkerplatz nicht hatten. Sie riefen in Sprechchören: Bunker frei! Wir wollen nicht verrecken! Unser Wagen kam nicht mehr durch. Mein Fahrer, die Ruhe selbst, betete Flüche wie Rosenkranzpsalmen. Polizei rückte an. Die Menge kippte Fahrzeuge um und begann sich zu verbarrikadieren. Endlich dröhnte das beruhigende Geräusch von Panzerketten auf. Die Panzer rollten die Straße herauf, durch die wir gekommen waren. Im Nu sahen wir uns
zwischen der aufgebrachten Meute und den Planierschilden der Tanks eingekeilt. Schon drückten uns letztere in eine Menschenwand hinein. Ich schloß die Augen. Mir war alles egal. Ich hatte nur eine Sorge, wir möchten um Himmels willen nicht in den Schatten eines Hauses geraten, damit ich die Sonne nicht entbehren mußte. Unersättlich gierte mein Körper nach Wärme. Plötzlich ertönte ein donnerndes „Halt!“. In fieberhafter Eile war auf dem Dach eines Hochhauses eine Schallkanone montiert worden, die jetzt mit großer Phonstärke zu arbeiten begann: Haltet ein, Bürger! Jeder kann gerettet werden. Kommt zu Hosenfaller. – „Hosenfaller“ wurde völlig deutsch ausgesprochen. – Die Hosenfaller-Bank gewährt Kredit zum Ankauf von Bunkeranleihen. Mit Hosenfaller ins neue Leben! Die Menschenmenge zerstreute sich allmählich. Wir konnten im Schrittempo weiterfahren. An allen Hosenfaller-Bankfilialen bildeten sich Schlangen. Ein Federzug, und das Leben war gerettet. Nach überstandener Katastrophe würde man den Schutzkredit abarbeiten müssen. Na wennschon, erst einmal überleben. Im Foyer des Craper-Hochhauses, wohin mich der Fahrer diesmal brachte, sah es nicht viel anders aus als in den Straßen. Hier tobte ein wahrer Hexenkessel. Schreiende, wild gestikulierende Börsenmakler schlugen einander die bleigefütterten Aktentaschen um die Ohren. Vor den Wechselstellen und -schaltern standen Umhangmänner der CraperPolizei und ließen MPi-Läufe aus ihren silbergrauen Umhängen blinzeln. Hier suchten vor allem Beauftragte der begüterten Schichten das Geld ihrer Auftraggeber gegen Provision in Mondaktien anzulegen, um mit den erworbenen Aktien sofort weiterzuspekulieren. An den dröhnenden Fundamenten des Wolkenkratzers war zu merken, daß die Aktienpresse des Gouverneurs im Keller auf Hochtouren lief. In jeder Minute, da man sein Geld nicht in Mondaktien anzulegen vermochte, verlor man Riesenwerte. Über dem Börseneingang erschien eine Leuchtschrift: Mister Fiebig, Entdecker des Fiebigschen Trompeteneffekts, soeben eingetroffen. Mir war klar, warum Axl diese Meldung erst jetzt bekanntgab. Damit waren seine Widersacher, die es sich leisten konnten, ihr Geld noch zurückzuhalten, schlagartig ihres halben Vermögens beraubt: denn mit meinem
Auftauchen sprangen Crapers Mondaktien explosiv auf das Doppelte des bisherigen Wertes. Mitten in dem geräumigen Saal der FCC-Börse thronte auf einem Globus aus Steinmosaiken die Skulptur des Gouverneurs. Während sich das monumentale Abbild, reitend auf der Erdkugel wie auf einem Faß, mit der Linken ins Relief des amerikanischen Felsengebirges verkrallte, stemmte es mit der Rechten die silberschimmernde Nachbildung des Erdtrabanten empor. Unbekümmert um das Tohuwabohu waren Arbeiter damit beschäftigt, das Monument, welches Gesteinsproben aus allen Erdteilen enthielt, einzumauern. Nach geglückter Erdspaltung mußten die Mineralien von der Osthälfte, etwa unser elbischer Sandstein, von unschätzbarem Wert sein. Welch scharfsinniges, weitreichendes Genie, dieser Axl, ein Mann, wie ihn jede Nation nur in der größten Gefahr einmal in der Geschichte hervorbringt! Noch vor wenigen Jahren war Francis Cornelius Craper für verrückt erklärt worden, weil er seine Urangruben im damaligen Kongo sowie in Kanada verkauft hatte. Durch ein simples Manöver hatte er sich Besitzerrechte für fast die gesamte erdzugewandte Mondoberfläche bis in eine Tiefe von fünf Kilometern erworben. Angesichts der damals noch hoffnungslos rückständigen Raketentechnik hatte sich die Konzernwelt eins gefeixt, Craper den Mond überlassen und seine irdischen Bergwerke an sich gerissen. Jetzt rauften sich dieselben Bosse das spärliche Haar, und ihre Agenten keilten sich um einen Platz in der Käuferschlange. Wie zum Hohn stand auf dem silbernen Diagonalstreifen, der Axls Mondaktie zierte, der Slogen: Wer Mond hat, hat Sicherheit. Ich jagte im Fahrstuhl hinauf zum Dachgarten. Unter Palmen warteten Axl und seine Sekretärin auf mich. Da sind Sie ja endlich, quäkte er, als wäre nichts geschehen. Ich schauderte vor dem angebotenen Whisky mit Eis. Danke, ein steifer Grog wäre mir lieber. Dabei zeigte das Thermometer zweiunddreißig Grad Celsius im Schatten an. Zum Grog ist jetzt keine Zeit, entschied der Gouverneur. Wir müssen sofort nach Hollywood. Unterschreiben Sie!
Die Sekretärin legte mir ein Schreiben folgenden Inhalts vor: „Ich erkläre hiermit bei allen möglichen Konsequenzen, daß ich über die im Privatbunker des Obersten Bevollmächtigten der Weststaaten, Craper, stattgefundene Aussprache zu keiner Zeit und zu niemandem ein Wort aussagen werde.“ Und wenn ich mich weigere? Craper griente. Die einmal in meinem Liegeraum waren, haben alle unterschrieben. Meine Körperzellen wußten bei dem bloßen Gedanken an die Klimaanlage offenbar nicht, ob sie sich zusammenziehen oder ausdehnen sollten. Ich schwitzte unter einer Gänsehaut. Meine Glieder begannen ganz von selbst zu schlottern. Hastig griff ich zum Federhalter. Recht so, bekräftigte Craper. Fahren wir jetzt. Ehe wir uns jedoch erheben konnten, meldete sich das Katastrophentelefon. Der Anrufer sprach sehr laut und erregt, so daß ich mithören konnte: Die Bergleute von Carnotit Springs wollen nicht einfahren! Axl grunzte. Die Stimme aus dem Hörer wurde schärfer. Unternehmen Sie etwas, Gouverneur! Schon gut, schon gut, knurrte Axl. Ich schicke ein paar ausgesuchte Seeleningenieure. Sie sollen den Wühlmäusen klarmachen, daß sie tausend Fuß unter der Erde am sichersten sind. Wir brachen auf. Über der Stadt hingen Fesselballons, von denen es gleichzeitig herunterbrüllte: x minus einundvierzig, x minus einundvierzig! Die Straße führte an einem Flugplatz vorüber. Am Rande der Startund Landepiste schoben mächtige Planierraupen die kostbaren, planenbedeckten Jetliner mit Sand zu. Überall neben dem Rollfeld wölbten sich Hügelgräber, unter denen die Maschinen der Luftflotte eingemottet waren. In der Nähe des Haupteinganges zum Planetarium einer großen Filmgesellschaft gingen Hubschrauber nieder. Umhangmänner bildeten Spalier, und durch diesen Schutzkordon begaben sich die Mitglieder der Goldenen Herde zur Tagungsstätte des Weltgerichts.
Das Planetarium war ein imposantes Kuppelgebäude, angefüllt mit Fernrohren aus Pappmache, Spiegelteleskopen aus Weißblech, Radarantennen aus bronzierten Holzlatten. Lediglich die Projektionshalle war mit echten optischen Geräten ausgestattet. Diese schienen notwendig, um bei utopischen Filmen eine vollendete Illusion des Kosmos zu schaffen. Wir verfügten uns zunächst in eine luxuriöse Bar, wo sich die hohe Gesellschaft von der Reise erholte. Ich trug derzeit einen großkarierten Sportanzug, den mir die Krankenschwester ganz nach ihrem Geschmack ausgesucht hatte. Unter der Schar befrackter Pinguine wirkte ich wie der einzige Mensch. Der Gouverneur packte mich am Arm und rief: Ladies and Gentlemen, dies hier ist Mister Fiebig! Den müden Beifall, mit dem ich bedacht wurde, nutzte er, um mir zuzuraunen: Du bist ein toter Mann, wenn du auch nur mit einer Silbe Zweifel am Gelingen der Stunde X anklingen läßt! Du auch, wenn ihr Schweinehunde trotz meiner Warnung die Ringladung zündet, erwiderte ich ebenso vertraulich. Im übrigen war es für mich armen Schusterjungen, der noch nicht einmal die Facharbeiterprüfung hinter sich hatte, ein eigenartiges Gefühl, Aug in Auge mit den Mächtigsten des Kapitals zu stehen. Wie hatte der verjagte Philosoph Ernesto Bloodyfool gesagt? Im Atom haben wir ein Funktionsmodell zum Begreifen des Unsichtbaren. Erlebte ich nicht soeben das Unsichtbare in der Gesellschaft dieses Landes? Sie verkehrten doch nur in ihren engsten Kreisen, an exklusiven Orten. Sie agierten, abgeschirmt durch ihre Strohmänner, geschützt durch Polizeikohorten und Privatarmeen, hinter einem Blendwerk verschiedener Massenmedien und den Kulissen parlamentarischer Schaubühnen. Waren nicht, ganz wie in der Welt des Atoms, des Unsichtbaren, nur die Spuren ihrer Tätigkeit, die Börsenkurse, Konjunkturen, Krisen, Nöte und Verknappungen aller Art die eigentlichen Beweismittel ihrer Existenz? Außer dem Generalgouverneur hatte ich nie zuvor einen dieser Herren gesehen. Dennoch konnte ich mit Sicherheit annehmen: Die mit den länglichen Gesichtern, das waren Agrarbosse und Getreidekönige; sie konnten sich von den bevorstehenden Ereignissen keinen Reibach versprechen, verloren sie doch durch die Vernichtung der Osthemisphäre
einen sicheren Absatzmarkt. Dagegen durften sie nach vollzogener Abspaltung im eigenen Lande nicht mit einem Ansteigen des Lebensmittelverbrauchs rechnen, weil große Teile der Bevölkerung, nur um zu überleben, sich in die Zinsknechtschaft Hosenfallers begeben hatten. Die Herren mit den breiten Gesichtern konnten nur die Metall-, Chemie-, Elektronik- und Mondaktionäre sein. Ihr Weizen blühte jetzt. Jene aber mit den kantigen Gesichtern, das waren hohe Militärs in Zivil. Alle waren hier noch einmal zusammengekommen, um sich das Inferno der Erdspaltung im Modell vorführen zu lassen, ehe sie in ihre Kuckuckseier krochen. Soso, Sie bringen also letzte Informationen, redete mich der Rasierklingenkönig an, wobei er gewaltige Wolken Zigarrenrauch aus seinem Vollbart blies. Na, dann schießen Sie mal los. Ich? tat ich gekränkt. Der Gouverneur wird so freundlich sein und meinen Assistenten herbeischaffen lassen. Was denn für einen Assistenten, fragte Axl mich verblüfft. Ja, glauben Sie wirklich, daß ich selbst… Wozu hatte ich einen Gehilfen, schnarrte ich. Dann lieferte ich eine knappe Beschreibung Maine Bills und gab an, wo ich von ihm getrennt worden war. Bald erhielten wir eine Meldung, daß ein betreffendes Individuum im Gefängnis säße, da es keinerlei Identitätsnachweis erbringen könne. Her damit, befahl ich. Axl zuckte die Schultern. Ohne Papiere gibt ihn die Staatenpolizei nicht heraus, beteuerte er. Ich herrschte ihn an: Dann laß ihn gefälligst durch deine Leute heraushauen! Der Gouverneur fletschte die Zähne und sah im Handumdrehen aus wie eine alte Hyäne. Möchte wissen, wer von den Idioten im Weltgericht auf die Idee gekommen ist, ausgerechnet die Gruppe um Peng anzuhören, grollte er. Eine Figur im Rollstuhl wurde herangekarrt. Es war der größte Flugzeugproduzent Emericis, ein lendenlahmer Greis. Sagen Sie, Jüngling, wird der neue Planet eine Atmosphäre haben, die dicht genug ist, um Flugzeuge zu tragen?
Jüngling! Dabei war dieser Tattergreis längst ein erbärmlicher Habenichts. All seine stolzen Glitzervögel schmorten reihenweise eingebuddelt unterm Sand. Ein kleinerer Planet wird zwangsläufig eine dünnere Atmosphäre mit entsprechend ungünstigeren aerodynamischen Eigenschaften haben, antwortete ich kühl, wobei ich die voraussichtlich geringere Schwerkraft eines kleineren Himmelskörpers gleicher Dichte in meiner Auskunft unterschlug. Der Flugzeugfabrikant begann in seinem Rollstuhl zu wackeln. Ein blasser, wendiger Gentleman zog mich zur Seite. Könnte man die verdünnte Atmosphäre nicht künstlich… Gewiß, antwortete ich, aber das Verfahren zur Verdichtung der Lufthülle ist mein Geheimnis. Der wendige Gentleman riß ein goldenes Scheckheft aus seiner Brusttasche und zischte: Was kostet Ihr Geheimnis? Ich wies ihn bescheiden darauf hin, daß das Monopol über mein Verfahren zur Verdichtung der Atmosphäre gleichbedeutend war mit der Herrschaft über alles Leben auf der Erde. Welcher Mensch vermag eine solche Verantwortung zu tragen, Herr? Ich, sagte der bleiche Mensch leise. Ich bin Ponzo. Er wedelte mir mit seinem Scheckheft muffigen Wind um die Ohren. Seien Sie nicht blöd. Was nützt Ihnen Ihr Verfahren ohne die nötigen Mittel. Greifen Sie zu! Ich riß ihm das Heft aus der Hand und murmelte: Darauf bin ich nicht unbedingt angewiesen. Axl hatte sich entfernt, um seine Garde zu instruieren. Ponzo zog mich in eine Nische hinter Zierpalmen. Reden Sie! Lassen Sie quadratnetzartig über den neuen Planeten riesige Kompressoren aufstellen, riet ich. Damit komprimieren Sie die Luft auf jede gewünschte Dichte und blasen sie wieder in die Umgebung ab. Auf diese Weise muß der Atmosphärendruck zwangsläufig steigen. Wichtig ist dabei, daß Sie die dünnere Luft aus den höheren Schichten ansaugen. Ponzo hob verschmitzt den Zeigefinger, aber in seinen Augen blitzte es gefährlich. Ehe er den Mund auftun konnte, kam ich ihm zuvor: Sie sehen, der Plan ist einfach aber genial. Entschuldigen Sie mich. Ein klei-
ner Auflauf hinter uns gab mir Gelegenheit zu entwischen. Der Flugzeugmagnat war in seinem Rollstuhl zusammengesackt. Seine Arme hingen über die Armlehnen wie gebrochene Flügel. Der Mann war tot. Herzversagen. Ich bin ruiniert, soll er zuletzt geröchelt haben. Fiebig zupfte einmal ganz leicht an der dünnsten Saite des Instruments, das noch immer über seinen Knien lag. Es zirpte. Der. Lehrling legte den Kopf zurück und lauschte. Der Geist des winzigen Goldkäferchens, der seine krabbelige Hülle längst im Kropf einer Meise verloren hatte, schwirrte auf dem hellen Ton herbei. Gerhard nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf. Man schob die Leiche in eine Requisitenkammer. Schon kam der Gouverneur zurück und forderte die Gesellschaft auf, im Projektionssaal Platz zu nehmen. Unter der hohen Kuppel, auf einer niedrigen Plattform, lag übermannsgroß die naturgetreue Nachbildung der Erdkugel. Etwas seitlich, auf einem mit den Farben der Nation drapierten Gerüst, thronte das Weltgericht. Neun Männer saßen erhöht, in dunkelroten Talaren mit schwarzen Baretten auf den Schädeln, und sie starrten mit trüben Blicken auf den Globus herab. Ihr Schweigen übertrug sich auf die Goldene Herde im amphitheatralischen Halbrund. Ich nahm mit Axl in einer Sonderloge Platz. Eine Abordnung höchster Militärs erstattete Meldung: Erdball zur Exekution präpariert; alle Kabel verbunden; alle Energiequellen zur Erzeugung des notwendigen Zündstoßes zusammengeschaltet; alle Gefechtsposten besetzt; Schaltzentrale in Alarmbereitschaft. Die Richter hörten und schwiegen. Schwermütig fielen ihre Blicke. Die Nornen selbst schienen heraufgestiegen zu sein. Blutgetönt von der Farbe ihrer Roben waren die Gesichter. Nun erschien im Kostüm des Mannes von der Straße ein öffentlicher Ankläger. Er schilderte die Lage der „Freien Welt“, ihr Ausgeliefertsein an den Kommunismus, nachdem der Beschluß der Vereinten Nationen über die endgültige und totale Abrüstung, beginnend mit den Atomwaf-
fen, nicht länger zu verhindern gewesen war. Er wies nach, daß die freie Marktwirtschaft als einziges spontan entstandenes Wirkungsprinzip quasi von Gott geschaffen sei, die Planwirtschaft der Kommunisten auf der Basis der Enteignung allen Privatbesitzes daher nur vom Antichrist, vom Teufel inspiriert sein könne. In der Tat erschien auch prompt ein hoher Priester im Zeugenstand. Er führte aus, daß die Verbreitung des Kommunismus nur mit zeitweiliger Duldung Gottes geschehen konnte. Gott, rief er mit Blick zur Kuppel, erlegt damit den Seinen wieder einmal eine Prüfung auf, zu sehen, ob sie stark genug im Herzen sind, das Übel auszurotten, mit Stumpf und Stiel. Der Ungeist auf der Osthälfte dieser Erde, so rief der Priester, ist mehr als nur ein Fingerzeig. Das hat der Herr in seiner Güte selber so geordnet, um uns zu ermutigen. Der hohe Kleriker trat ab. Fiebig schaute sich im Kreise seiner Zuhörer um. Er sagte: Jetzt brauche ich mal zur Verdeutlichung der Situation ein Individuum aus unserer Mitte, das den öffentlichen Ankläger spielt. Sein Blick ruhte auf dem FDJ-Sekretär. Das machst am besten du, Alfred. Jugendfreund Langhammer riß vor Staunen den Mund auf. Ich? Ich glaube dir doch sowieso keine Silbe, Gerhard. Was soll ich denn sagen? Du hast das Abzeichen „Für gutes Wissen“, Mensch, sagte Fiebig freundlich. Da wirst du dich wohl einmal in die Rolle eines öffentlichen Anklägers gegen die verderbte Menschheit im allgemeinen und den Kommunismus im besonderen versetzen können. Ich bin doch selber Kommunist, wendete Langhammer ein. Na eben, versetz dich mal in die Lage des Klassenfeindes, forderte Fiebig auf. Und zieh dir etwas übers Blauhemd, dann fällt es dir vielleicht leichter. Langhammer protestierte, aber die übrigen Zuhörer im Saal fanden den Einfall großartig. Sie warfen dem Jugendsekretär eine karierte Tischdecke über und riefen ihm zu: Fang an, Alfred, wozu bist du denn Zirkelleiter im FDJ-Studienjahr.
Mit den Worten: Ich habe euch gewarnt! fügte sich Langhammer in sein Schicksal. Er stellte sich vor Fiebig, der gleichsam die neun Richter des Obersten Weltgerichtes vertrat, in Positur und rief emphatisch: Was soll also geschehen mit den Apologeten jener materialistischen Irrlehre, die die Welt längst in zwei Lager gespalten hat? Fiebig hob einen Finger und sprach: Der erste Richter entblößte sein Haupt. Er verkündete: Sie sind des Todes. Aha, sagte Langhammer, so läuft der Hase. Und was soll mit denen geschehn, die Hand anlegten an die gottgewollte abendländische Ordnung? Fiebig hob den zweiten Finger: Sie sind des Todes. Soso, machte Langhammer und rief: Ja. und all die Mitläufer, die trotz unserer Warnung – ich meine jetzt nicht unsere, sondern die Warnung dieser Emericiner – den falschen Propheten wie die Hammel folgten? Verflucht und des Todes, orgelte der Schusterjunge. Hm, hm, aber die Intellektuellen, die Wissenschaftler, Techniker, Künstler auch, die dem Kommunismus zu gleisnerischem Ansehen und freventlicher Macht verholfen haben, was soll aus denen werden? Verflucht und des ewigen Todes. Langhammer dachte nach. Was soll geschehen mit den Neutralisten, Pazifisten, Existentialisten, die es nicht wagten, eindeutig für das freie Spiel der Kräfte einzutreten? Der Strudel des Untergangs reiße sie mit sich hinab, urteilte Fiebig in der Rolle des fünften Richters. Was aber soll mit unseren treuen Verbündeten geschehen und auch den Dissidenten, die hier und da auf der Osthalbkugel noch eingesprenkt wirken? So sprach der nächste Richter, verkündete Fiebig: Die da nicht verhindert haben, was geschehen ist, haben solche Verbündete wie uns nicht verdient. Aber, gab der Ankläger zu. bedenken, wie sollen unsere eigenen Soldaten, Seeleute, Diplomaten, Agenten, ganze Flotten unserer Marine davonkommen, da sie doch von unseren Vorbereitungen nichts erfahren durften?
Fiebig kratzte sich. Er schien um eine Antwort verlegen. Schließlich richtete er sich auf. Die Richter, erzählte er, neigten in stillem Gedenken ihre Häupter. Danach sprach der achte stolz: Ihr Los ist das Schicksal des Kämpfers in der Schlacht, der Dank der freien Welt ist ihnen gewiß. Nun, sagte der Ankläger, von dem letzten Urteil sichtlich beeindruckt, wie soll es aber den nichtemericinischen Völkern der westlichen Hemisphäre ergehen, den Kanadiern und Lateinamerikanern? Sie halten unsere Vorbereitungen für einen Riesenbluff und stehen demzufolge vor einer Katastrophe allergrößten Ausmaßes. Scharf erwiderte Fiebig in der Positur des neunten Richters: Die Kubaner klammern Sie wohl aus Ihrer Fürsorge aus, Herr Ankläger. Außerdem ist Lateinamerika sowieso übervölkert. Wer auf der blanken Erde liegt, dem stürzt das Haus nicht auf den Kopf. Dem Hochmut der stolzen Kanadier indessen schadet ein Dämpfer nichts. Im übrigen hat sie der Herr nicht umsonst mit Blindheit geschlagen. Es sind gar zu viele Sünder unter ihnen. Was nun, fragte Jugendfreund Langhammer. Du kannst abtreten, Alfred, erklärte Gerhard Fiebig. Hast deine Sache folgerichtig gemacht. Denn genauso war es. Daran sieht man wieder einmal, wie die Notwendigkeit unter bestimmten Voraussetzungen nur diese und keine andere Fragestellung zuläßt. Der Jugendsekretär streifte seinen karierten Talar ab und setzte sich verdattert. Fiebig erzählte weiter: Die Richter schwiegen lange. Dann erhob sich ihrer der fünfte. Wortlos brach er seinen Stab über dem Erdball. Das trockene Knacksen drang bis in den letzten Winkel des großen Kuppelsaales. Rings um das Erdmodell leuchtete plötzlich eine Kette kleiner Lämpchen auf. Unter einer grünlichen Plastikhülle, welche die Meere und Ozeane überzog, leuchteten die Lämpchen aus der Grundtiefe wie eine Schnur aus glühenden Perlen. Hier legte die Gesellschaft eine Pause ein, weil angeblich gewisse experimentelle Vorbereitungen am Mechanismus des Demonstrationsobjek-
tes noch nicht abgeschlossen waren. Den wahren Grund für die Unterbrechung erfuhr ich sogleich von Axl. Nur deinetwegen muß ich das Programm ändern, fauchte er mich an. Dieser verdammte Assistent ist noch immer nicht zur Stelle. Wir gingen in einen großen Nebensaal, in dem sich allmählich die ganze Herde einfand. Auch hier befand sich ein Globus als zentrales Schauobjekt. Dieser war jedoch bedeutend primitiver ausgeführt und lag auf einer ganz gewöhnlichen Bretterbühne. Auf der Bühne stand ferner ein langer Tisch mit allerhand Gerümpel. An Einzelheiten erkannte ich leere Konservendosen, verbeulte Benzinkanister, Kuhschellen, zerbrochene Lampenschirme, Mörser, diverses Knochengebein, Autohupen, Topfdeckel, Leitungsrohre, Brechstangen, schartige Beile, Glasscherben, ein Klosettbecken, eine rostige Federmatratze und ähnlichen Schrott. Hinter dem Tisch mit all dem Zeug hatte sich eine Art Band aufgestellt, um nicht zu sagen, verschanzt. Es handelte sich ausschließlich um Individuen von schwarzer Hautfarbe. Der Bandleader begrüßte die hohen Gäste: Meine Damen und Herren, kein Ereignis ohne kulturelle Umrahmung. Wir erlauben uns, Ihnen eine moderne Sinfonie darzubieten. Das Werk trägt den Titel: Old World's End. Er gab seinen Männern ein Zeichen. Diese begannen wählerisch in dem Haufen Kulturschutt herumzukramen. Sie klingelten wie zum Spaß mit den Fahrradklingeln, klirrten mit Flaschenhälsen, trillerten auf Polizeipfeifen; es splitterte, wimmerte, wummerte, quietschte, kreischte, schrie. Es schwoll an, ballerte, pfiff, krachte, knallte, heulte, gellte. Alle Teufel der Hölle schienen losgelassen. Im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten die schwarzen Musiker. Einer tat Glas in einen Mörser und stampfte mit einem Schlegel drein. Einer streifte sich ein Paar dicke Lederhandschuhe über. Das Inferno setzte aus. Totenstille fiel in den Raum ein. Der mit den Lederhandschuhen zerrte eine Katze aus einem Sack und kniff ihr in den Schwanz. Die Katze entwand sich ihrem Peiniger, sauste wie ein kinetisch gewordener Aufschrei am Bühnenvorhang hinauf und verkroch sich irgendwo auf dem Schnürboden.
Dieser Vokaleinlage, einem kompositorischen Höhepunkt des ersten Satzes, folgte wieder der grelle Lautsalat der Instrumentalisten. Das Orchester entbehrte jedoch keineswegs der zarteren Klänge. Der Boß stülpte das Wasserklosett um, so daß darübergespannte Violinsaiten erkennbar wurden. Daran zupfte er nun herum und knirschte dazu mit den Zähnen. Das Ensemble begleitete ihn mit Rülpsern, mit Stöhnen, orgasmischem Röcheln und mit Ohrfeigengeklatsch. Die mit einem Bleirohr bearbeitete Stahlfedermatratze ächzte dazu melancholisch. Das Platzen abgerissener Kragenknöpfe, der mit Vehemenz gegen eine Glasscheibe geschleuderte, auftrippende Stirnschweiß der Neger gaben dazu launische Interpunktionen. Auf ihre entblößten Brüste klebten sich die Kerle Senfpflaster, um sie mit lautem Knall wieder herunterzureißen. Einer sägte mit einer Laubsäge auf 'ner Konservendose. Ein anderer kratzte einfach mit seinen Fingernägeln über Fensterglas, wobei ihm das krause Wollhaar zu Berge stand. Dann schluckten die Männer Wasser und gurgelten in allen Tonarten. Plötzlich sprang der Bandleader mit einem Panthersatz über den Tisch hinweg. Er zückte einen Trommelrevolver, System Colt, und schoß rasend auf den Globus. Als keine Patrone mehr in der Trommel war, drehte er die Waffe um und hämmerte mit dem Knauf auf die Erdattrappe ein. Nun hielt die übrigen nichts mehr auf den Plätzen. Jeder griff sich, was ihm gerade in die Finger kam, und drosch damit auf das hohle Gebilde ein. Die Faßdauben und Sperrholzreste, aus denen die symbolische Mutter Erde zusammengezimmert war, dröhnten und stöhnten. Ein Hexentanz brüllender, prügelnder, schmetternder, schuftender, keilender, schwitzender Entfesselter war im Gange. Unter Keulen, Keilen, Bleigewichten, Eisenstangen, Rohren, Beilen, Hämmern ging das hohle Gebilde aus den Fugen. Die wenigen noch heilen Faßdauben wurden aus den Trümmern gezerrt und über den Knien zerbrochen. Von der symbolischen Mutter Erde blieb nur ein kläglicher Trümmerhaufen.
Als nichts mehr zu vernichten war, flankten die Kerle wieder über den Gerätetisch auf ihre Plätze zurück. Sie griffen unter die Tischplatte, und im Handumdrehen hatte jeder ein klassisches Musikinstrument bei sich. Den Zuhörern blieben vor Überraschung die Münder offen. Es wurde unheimlich still. In die Stille nach dem Veitstanz schmiegte sich die unbegreiflich schöne Melodie des Wiegenliedes von Johannes Brahms: Guten Abend, gute Nacht. Aber die Milliardäre witterten eine Provokation. Mit einem Mal begannen sie zu schreien. Sie hielten sich die Ohren zu, strampelten mit den Beinen, stampften mit den Füßen, stießen Stühle um und heulten wie die Wölfe. Sie rissen das Parkett auf und bewarfen die Musiker mit Parkettplatten. Die Musiker stürzten den Langtisch mitsamt dem daraufliegenden Krempel um, drückten ihre Instrumente an sich und suchten ihr Heil in der Flucht. Daraufhin stürmten die jüngeren Herrschaften aus dem Publikum das Podium, bemächtigten sich der handfesteren Gegenstände und gingen der Einrichtung zu Leibe. Von dem, was nun folgte, habe ich nur bruchstückhafte, blitzlichtartige Eindrücke behalten. Eine Dame hatte ihr Gebiß herausgenommen und hämmerte mit der goldbeschwerten Prothese auf das Gesicht eines Gentleman ein. Dieser, nicht verlegen, spuckte ihr den braunen Saft aus einem Zigarrenstummel in den Ausschnitt. Ein anderer Herr zerschlitzte mit Nägeln und Zähnen das Brokatpolster des Sessels, auf dem er zuvor gesessen. Hinter den Kulissen war eine heftige Bewegung zu spüren. Dumpfe Laute drangen von dort her, ähnlich dem Klatschen von Gummiknütteln oder MPi-Kolben, mit welchen Mitteln wahrscheinlich Axls Umhangmänner das Collegium musicum zur Vernunft brachten. Eine neue Zeitansage des Weltzeitmechanismus erstickte kläglich im Trichter des Lautsprechers. Ehe der Saal völlig in ein Schlachtfeld verwandelt war, brach der Massenwahn mangels physischer Reserven in sich zusammen. Schweißtriefend, speichelnd, keuchend verfügte man sich in den Projektionssaal zurück, wo um den Globus die Lämpchen glühten.
Nach wie vor saßen die neun blutgetönten Nornen stumm auf der Tribüne. Der schmächtige Schusterjunge legte in raschem Entschluß die Gitarre beiseite. Es war eine Geste absoluter Erkenntnis. Wie auch sollte einer mit einem Saiteninstrument in der Hand den Untergang der Welt beschreiben? Er starrte in sein Publikum, als suchte er dort ein ausdrucksvolles Gesicht, aus dessen Mienenspiel er Anregung und Ermunterung beziehen könnte. Vorsichtig, wie in Erinnerung an das längst aufgelöste Goldkäferchen, das einst mit allzu kurzen Fühlerchen die Webkreuzungen des Tischtuches in der kleinen Konditorei am Marktplatz abgetastet hatte, begann der Lehrling weiterzuerzählen. In den Projektionssaal zurückgekehrt, wurde ich zunächst Zeuge eines Richtspruches von außerordentlicher Humanität. Der öffentliche Ankläger erhob seine Stimme, um einen Fall zweiter Ordnung vorzutragen: Höchstes Gericht, es ist trotz beispielloser Anstrengungen nicht gelungen, alle emericinischen Bürger in den Bunkern unterzubringen. Besonders jene breiten Bevölkerungsschichten, die sich immer noch weigern, einen Kredit auf die Zukunft zu nehmen, stehen den kommenden Ereignissen schutzlos gegenüber. Sollten wir die noch vorhandene freie Kapazität an Unterkünften nicht doch als kostenlose Armenbunker verfügbar machen? Anderenfalls könnte das Schicksal dieser Menschenmassen zu einem Fakt bitterer Anklage gegen uns werden. Was soll ich euch sagen, erklärte Fiebig, nicht einer der anwesenden Magnaten war bereit, seine Mietbunker kostenlos zu öffnen. Die Staatskasse war durch kostspielige Ausgaben zur Geheimhaltung der Spaltungsvorbereitungen restlos erschöpft. Außerdem bedeutete die Öffnung der Bunker für Nichtzahlende und Zahlungsunwillige eine Brüskierung all derer, die sich ihre Sicherheit für teures Geld erkauft hatten. Es blieb nur ein Ausweg, nämlich die Bedrohten in das sogenannte Todestal, einem wüsten Landstrich im Norden, in Marsch zu setzen. Dieser ödeste Ort inmitten der Mohavewüste war von den Geologen als der sicherste Fleck im Falle X errechnet worden. Hier erhob sich jedoch ein neuer, schier unwiderlegbarer Einwand. Ein Mensch in der Tracht eines höchsten Staatsbeamten erhob schärfsten
Protest gegen diesen Plan. Der sicherste Freiplatz der Staaten, das Death Valley, ist seit langem für die Aufbewahrung der Staats- und Zivilakten reserviert, rief er mit Stentorstimme. Mehr als zwei Millionen Aktenbündel sind bereits auf dem Transport dorthin. Allein die Vorstrafenregister reichen aus, das Tal bis an den Rand zu füllen. Seine von Pflichtgefühl und Verantwortung getragene Stimme vibrierte, als er ausrief: Diesen Akten allein gebührt der sicherste Platz auf Erden. Wie sollen wir weiterregieren, wenn wir keine Übersicht über die eigene Bevölkerung mehr haben? Nur durch das Wissen über seine Vergangenheit ist der Mensch zu lenken. Ein jeder begriff sofort, welch schwere Entscheidung auf den Schultern jedes einzelnen der neun obersten Richter nunmehr lag. Selbst mir leuchtete ein, daß das geregelte Fortbestehen eines Staates ohne seinen höchsten Schatz, die Steuer- und Zivilakten, eine pure Illusion war. Ausgerechnet in dieser bangen Minute vor der zweitwichtigsten Entscheidung des Weltgerichtes mußte mich Axl mit der Bemerkung stören: Dein Assistent ist da. Soll warten, erwiderte ich. Hat meine Leute ein Bravourstück gekostet, den Mann herauszuholen. Ich winkte ärgerlich ab, ganz auf die fällige Entscheidung konzentriert. Mußten den ganzen Mitteltrakt des Bundeshauptgefängnisses in die Luft sprengen, um an den Mann heranzukommen, tuschelte Axl weiter. Zum Teufel, zischte ich, denn jetzt erhob sich der mittlere Richter. Zu seinen Seiten saßen je vier gleichgestellte Männer, ein Bild vollendeter Harmonie. Feierlich verkündete er den unabänderlichen Beschluß: Den obdachlosen Bürgern der Nation gebührt in der Stunde höchster Not das Tal des Todes als letzter Zufluchtsort. Diesem Richterspruch folgte der zweite Kollaps des Tages. Der aktenverantwortliche Hauptstaatssekretär fiel tot um. Indes, die Größe der menschlichen Gesinnung, die diesem Urteil zugrunde lag, wurde schweigend zur Kenntnis genommen. Nun salutierten die hohen Militärs. Die Hymne der Nation wurde intoniert. Da war keiner der hartgesottenen Businessmen, dem nicht eine Träne der Rührung im Auge glitzerte.
Doch, wie es so oft im Leben zu sein pflegt, der Gang der Ereignisse ließ uns keine Zeit, die ganze Größe des Augenblicks voll auszukosten. Es wurde urplötzlich dunkel. Nur die leuchtende Perlenschnur um den Globus verbreitete einen magischen Schein. Langsam begann sich die täuschend ähnliche Nachbildung des Erdballs um die Polachse zu drehen. Mir wurde zumute wie dem lieben Gott, der von seiner Sonderloge geruhsam auf sein Werk hinabschaut. Der Erdball rotierte schneller. Mir wurde klar, daß am Äquator dieser rollenden Kugel bedeutende Fliehkräfte auftreten mußten. Aber ich, Gott, hatte vorgesorgt. Innere Gesetze hielten meine Welt zusammen. Es konnte gar nichts passieren. Und doch! Ein Knall, ein Blitz. Die teuflische Ringladung, nicht Gottes-, Menschenwerk, war gezündet worden. Meine Erde barst. Vom Druck der Explosion, deren Steuerung jedem Sprengmeister zur höchsten Ehre gereicht hätte, wurden beide Hemisphären, die Osthälfte und die Westhälfte, auseinandergedrückt. Die Fliehkraft schleuderte die beiden Halbkugeln voneinander weg, wie Schalen eines ausgehöhlten Kürbisses. Ein, nein, zwei gewaltige Brände loderten auf. Brenzliger Gestank verbreitete sich. Wutschnaubend erkannte ich, Gott: Diese Tröpfe hatten meine Erde anstatt mit allseitig aufeinander wirkenden Masseteilchen, mit ölgetränkter Holzwolle vollgestopft. Eine zentimeterstarke, im Feuer schrumpfende Plastikhülle war alles, was die Welt zusammenhielt. Schon wollte ich ob dieser dreisten Unterschlagung eines meiner klügsten göttlichen Gesetze einen gräßlichen Fluch hinabschleudern, als ich zu meiner Besänftigung entdeckte, daß sich unter jener durchsichtigen Folie, welche die Meere bedeckte, wenigstens echtes Wasser befunden hatte. Dieses floß natürlich aus und löschte die brennende Holzwolle derjenigen Hälfte, der bei der Spaltung die größeren Ozeanteile zu bemessen worden waren. Die landreiche, trockene Osthälfte brannte lustig weiter. Und immer noch rotierten, trudelten, torkelten die beiden Wrackteile meines Götterwerkes gesondert vor sich hin. Die aufflammende Saalbeleuchtung schleuderte mich aus der Höhe eines betrachtenden Gottes in die Gegenwart stark transpirierender Multis hinab. Ein Demonstrator in schwarzer Gelehrtenrobe tauchte an der
Plattform auf. Mit bleichen Wangen verkündete er, daß das Experiment im wesentlichen gelungen sei. Ohne Kommentar wies er auf den verkohlten, immer noch schwelenden Strunk der ehemaligen Osthälfte. Die Kontinente Europa, Asien, Afrika, Australien waren ein Raub der Flammen geworden, das bißchen Wasser der Randmeere war verdampft. Mit einem Schürhaken holte der Gelehrte die Westhälfte heran, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sie erinnerte fatal an einen riesigen Bratapfel, was den Demonstrator nicht daran hinderte, zu erklären: Der emericinische Kontinent ist genau mit den von uns einkalkulierten neuen Qualitäten davongekommen. Die Konturen des Festlandes waren noch zu erkennen. Die Gebirgszüge der Kordilleren und des Felsengebirges krümmten sich wie im Schmerz rings um das neue, nur noch halb so große Kugelgebilde. Die Plastikhülle hatte sich durch die Erwärmung und nachfolgende Abkühlung um die Sprengöffnung zusammengezogen. Nur das Epizentrum der gräßlichen Brandwunde war wie ein leicht schwelender After offengeblieben. Die Wassermassen der stolzen Ozeane, die man sich in kühnem Schnitt zugemessen hatte, waren beim Löschen der Holzwolle größtenteils verdampft. Der Demonstrator drehte den neuen Globus so, daß die ehemalige Nord-Süd-Linie der Kordilleren jetzt den Äquator bildete. Die Gegend um den ehemaligen Golf von Guinea lag jetzt am Nordpol und unser schönes Hawaii am Rande der neuen Antarktis. Arme Aurora! Der Demonstrator lächelte bescheiden. Leider hat einer unserer Monteure vergessen, einen bestimmten Draht zu verbinden, erklärte er, dadurch wurde es unmöglich, die Sonne in den Raum zu projizieren. Die Lage des neuen, freien Planeten im Sonnensystem ist jedoch einfach zu erklären und noch einfacher in der Praxis zu regulieren. – Wir zünden nämlich die Ringladung in einem genau errechneten Augenblick, so daß die Westhälfte von der Fliehkraft ins Perihel geschleudert wird. Wir werden also künftig unsere Bahn in größerer Sonnennähe finden. Das ist notwendig, um den Wärmeverlust des kleineren Planeten auszugleichen. Die Osthälfte dagegen wird ins Aphel hinausgeschleudert und muß, nachdem sie aus Wassermangel verglüht sein wird, in eisiger Kälte erstarren.
Der Demonstrator gönnte sich hier eine Pause, ehe er den letzten Trumpf ausspielte. Jedem wird aufgefallen sein, hub er von neuem an, daß die atomare Ringladung nicht lückenlos angeordnet war. Im Gegenteil. Wir haben zwischen dem Nordausgang des Tongagrabens und dem Südende des Marianengrabens eine weite Lücke im Sprengsystem gelassen. Jawohl, verehrte Damen und Herren, diese Verzögerungsdiagonale haben wir mit kluger Berechnung zwischengeschaltet. Dadurch wird die alte Erde gezwungen, mit ihrem Rotationsmechanismus noch in letzter Sekunde wertvolle Arbeit für uns zu leisten. Die hier vom Spalthieb unversehrt gebliebene Erdrinde muß nämlich nach eingeleitetem Auseinanderstreben beider Halbkugeln erst noch vollends durchreißen. Das gibt natürlich einen Ruck, dessen Impuls ausreicht, unserem neuen Wohnplaneten bei seiner Geburt einmal eine Eigenrotation zu verleihen, und zum anderen, die Polachse so zu kippen, daß der ganze Kontinent Amerika der Länge nach in die äquatoriale Lage gerät. Die hierbei eingesparten Sprengkräfte werden dazu verwandt, den Skalpierschnitt um die alten Polkappen herum, deren Eisvorräte wir zur Abkühlung der Magmaglut am Kugelquerschnitt benötigen, um so sicherer zu unseren Gunsten zu führen. In der Tat werden sich, wie Sie am Modell gesehen haben, die beiden Polkappen umlappen und zuerst in den ungeheuren Glutkrater stürzen. Ich muß gestehen, fügte der Schusterjunge an dieser Stelle ein, daß ich um ein Haar den verlockenden Vorstellungen erlegen wäre. Die Schaffung des ersten künstlichen, wenn auch kleineren Planeten war nicht ohne jeden wissenschaftlichen Reiz, zumal von einem abenteuerlichen Hauch umwittert, wie ihn sich jeder Pionier nur wünschen konnte. Welch ungeahnte Startmöglichkeiten die neue Raumbasis mit ihrer geringeren Schwerkraft allein der Raumfahrt eröffnete! Ich wagte kaum weiterzudenken. Sämtliche Planeten der Sonne kamen in greifbare Nähe. Ich vermochte den Wert meines neuen Raketenantriebssystems erst jetzt so richtig zu erfassen. Schon rückten die Trabanten fremder Zentralgestirne näher ins Blickfeld. Ich war drauf und dran, Maine Bill erneut verhaften zu lassen, um an seiner Stelle für die physikalische Durchführbarkeit des Unternehmens zu bürgen. Zum Glück fiel mir gerade noch
rechtzeitig ein, daß ich ja nach Ablauf von nur noch achtundvierzig Stunden in meine Heimatstadt zurückgekehrt sein mußte, um meine Facharbeiterprüfung zu bestehen. Es widerstrebt mir nun mal, vorgefaßte Entschlüsse umzustoßen. Fiebig räusperte sich und erzählte weiter. Lassen Sie meinen Assistenten kommen, flüsterte ich. Bill wurde aufgetreten, er konnte kaum auf eigenen Füßen stehen. Zwei Umhanglümmel stützten ihn. Sie hatten ihm einen ihrer silbergrauen Schutzumhänge übergeworfen, vermutlich, um seine ramponierte Gestalt zu verbergen. Sein Gesicht verriet Spuren einer schweren Schlägerei. Ich verließ die Loge und trat neben Bill in die Arena. Wie ein mächtiger Hohlspiegel wölbte sich die Hallenkuppel über uns. Ich wußte nicht, was Bill in petto hatte, und witterte Gefahr. Instinktiv hatte ich das Bedürfnis, jetzt in der Nähe eines starken Menschen zu sein. Abtreten! befahl ich den MPi-Leuten. Während sich die beiden Gorillas trollten, raunte mir Bill zu: Hast du dich darauf eingerichtet, in der nächsten Sekunde frikassiert zu werden? Ich zuckte die Achseln. Die Goldene Herde war von Kopf bis Fuß auf Spaltung eingestellt. Sicher würden sie uns beide mehr als vierteilen, wenn ihnen Bill – was kommen mußte, ich wußte nur nicht, wie – diese letzte Hoffnung auf eine Rettung vor dem Weltkommunismus raubte. Nein, ich war keineswegs auf ein solches Ende eingestellt. Ich hing am Leben, aber an der Seite Bills fand ich die Aussicht auf den Tod erträglicher und war entschlossen, der Welt diesen Dienst zu erweisen. Ich wandte mich an die Richter und sprach: Hohes Tribunal, ich bitte nun um die Ehre, durch meinen Assistenten (einen Subordinierten zu haben war in diesen Kreisen Voraussetzung) das Ergebnis meiner Forschung bekanntgeben zu dürfen. Ganove! zischte Bill. Die neunköpfige Hydra nickte gemessen. Ich stach Bill mit meiner Schusterahle in die Seite und befahl: Bitte, Herr Kollege, geben Sie meine Entdeckungen preis. Maine Bill unterdrückte einen Schmerzenslaut und schrie: Mehr Licht!
Es dauerte einige Zeit, ehe man begriff. Dann senkte sich zu unseren Häupten ein mächtiger Kronleuchter herab. Tiefer! rief Bill. Der Kronleuchter strahlte tausendkerzige Helle. Noch tiefer! Der Tiefstrahler schwebte nunmehr direkt über unseren Köpfen. Strömende Wärme überduschte uns. Bill schätzte die Höhe bis zum untersten Leuchtarm. Dann griff er in die Tasche und holte seine Stahlkugel hervor. Sie blitzte wie ein verlorenes Sternchen im All. Angestaunt von allen Seiten, wiederholte Bill zum soundsovielten Male seinen Versuch, indem er die Kugel einfach fallen ließ. Wißt ihr, was das bedeutet? fragte er, um sogleich mit schrecklicher Stimme zu donnern: Das ist, ihr verdammten Ignoranten, der Beweis dafür, daß ihr die Erde nicht wie eine taube Nuß zerteilen könnt! Er gab dem noch immer wie ein aufgeplatzter Bratapfel daliegenden Modell des neuen Planeten einen Fußtritt, daß es pflaumig aus der Arena kullerte, und schrie mit überschnappender Stimme: Unsere alte Mutter Erde, die dazu verdammt ist, solche Wanzen wie euch zu ernähren, wird nicht von einer Käserinde zusammengehalten, sondern von dem Gesetz der Massenanziehung! Maine Bill stand leicht vorgebeugt, seine scharf gebogene Nase hackte gegen das Dunkel, das uns unter der Lichtdusche umzirkelte. Mit kantiger Stirn und brennendem Blick glich er einem Dompteur, der ein gefährliches Ungeheuer in Schach hält. Er durfte nicht erst warten, bis sich ein Knurren erhob. Dieser greise Professor Pyrrhus Peng hatte mich beauftragt, eine Formel wiederzufinden, fuhr er deshalb rasch fort. ER hatte diese Formel in seiner Jugend noch auf der Penne gelernt, inzwischen aber vergessen, wie man Dinge eben vergißt, die nach dem Examen nie mehr im Leben gebraucht werden. Als nun Dr. Peng, so fuhr Bill fort und war plötzlich ein hingebungsvoller Erzähler geworden, der ganz von seinem Lebensinhalt sprach, als nun also der Professor von dem Plan zur Endlösung der Kommunistenfrage durch die Erdspaltung erfuhr, ging er tagelang grübelnd in seinen
Räumen umher, verweigerte die Nahrungsaufnahme und ließ niemanden zu sich. Der strategische Wurf dieses Planes, so erklärte er, als er nach Tagen wieder unter seine Mitarbeiter trat, ist grandios. Er ist so recht nach dem Geschmack eines jeden echten Forschers. Welch ein Wissenschaftler würde sich nicht allein studienhalber für die saubere Spaltung eines Himmelskörpers interessieren? Aber, so schränkte er ein, der Plan hat eine anfechtbare Stelle. Leider weiß ich nicht zu sagen, wo. Mir ist die entsprechende Formel entfallen. Sie wurde schon vor Jahren jeder Art von Rechenmaschinen integriert, und zwar so geschickt, daß wir sie nicht wieder vollständig herausbekommen. Aus den Studienplänen ist sie als überflüssiger Ballast verschwunden. Jetzt, wo wir die Formel in ihrer nackten, schönen Reinheit brauchen, ist sie vergriffen. Wie hieß bloß der Entdecker? Ein gewisser Isaac Newton, glaube ich. Uns blieb nichts anderes übrig, fuhr Bill in seinem Bericht fort, wir mußten das Gesetz vom Zusammenhalt der Welt neu ausfindig machen. So bin ich also losgezogen und habe meine Kugel an allen möglichen und unmöglichen Orten rund um den Globus fallen lassen. Und ich versichere hiermit unter Eid, daß die Kugel überall nahezu gleich schnell in gerader Richtung direkt auf den Erdmittelpunkt zu fiel. Den Erdmittelpunkt erreichte sie nur deshalb nicht, weil sie überall auf andere Gegenstände fiel, die im Wege waren. Und ich stellte fest, daß mein Kügelchen in Stratosphärenhöhen etwas langsamer, in Schachtestiefen dagegen etwas schneller fiel als auf der Erdoberfläche. Bill sprach mit zunehmender Bedrohlichkeit weiter: Und wenn ich nicht dieses Greenhorn da, diesen Gerhard Fiebig, unbedingt heil in die Staaten hätte lotsen müssen, weil der leider für unsere Raketenforschung unentbehrlich ist, so hätte ich gewiß auch die Gesetzmäßigkeit mathematisch nachweisen können. Das Newtonsche Gravitationsgesetz, meine Herrschaften, ich konnte es nicht rekonstruieren, weil mich dieses Individuum an meiner Seite ständig daran gehindert hat. Ich wünschte jetzt nichts sehnlicher, als mich aufzulösen. Doch konnte ich schon deshalb nicht einfach in die Erde sinken, weil mich Bill am Kragen gepackt hatte und wie ein Kaninchen festhielt. Übrigens überschätzte ich hier das Publikum. Es war in hohem Grade absurd, vor einer Meute sektverquollener Darmsäcke physikalische Prob-
leme zu erörtern. Bill erkannte diesen fatalen Umstand ebenfalls nicht. Er redete weiter: Durch einen glücklichen Zufall fand ich die bewußte Formel doch noch. Er griff unter sein Cape und brachte ein ledergebundenes Büchlein zum Vorschein. Auf dem Buchrücken erkannte ich in Goldschnitt die Jahreszahl 1899. Dieses Buch fiel mir von dem vollbepackten Lastwagen eines evakuierenden Antiquariats direkt vor die Füße, rief Bill. Er schlug mit zitternden Fingern eine vorgemerkte Seite auf und zitierte: Isaac Newton. Über das Gravitationsgesetz. Zwischen zwei Massen m1 und m2 herrscht eine Anziehung, die um so größer ist, je geringer die Entfernung r zueinander ist. Und hier, Bills Augen blitzten wie seine Stahlkugel, hier steht die Formel. Der Betrag der Anziehungskraft ergibt sich aus der Gravitatim ⋅m onskonstante γ ⋅ 1 2 2 . Das heißt, die gegenseitige Anziehung aller am r Bau der Erde beteiligten Masseteilchen nimmt nach dem Erdmittelpunkt hin nicht ab, sondern zu. Sie nimmt ZU, ZU, ZU, ihr Idioten! Bills Stimme überschlug sich. Weil ja der Radius immer kleiner wird. Im Erdmittelpunkt ist r gleich Null! Man könnte ebensogut sagen, alle Gravitationskraft ist im Mittelpunkt der Erde konzentriert. Und ihr wollt die Erdrinde sprengen!!! Fiebig riß die Augen auf. Was nun folgte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Bill und ich standen im Mittelpunkt unterm strahlenden Kronleuchter. Wir starrten aus einem scharf abgezirkelten Lichtkreis in das dunkle Auditorium. Sonderbare Geräusche drangen von dort zu uns. Es war, als vollzöge sich ein Aufbruch. Aber die Geräusche entfernten sich nicht, sie rückten näher. Gesichter tauchten aus dem dunklen Umkreis auf. Leiber rückten an. Die Goldene Herde drang zu uns ein. Kein Laut der Enttäuschung, kein Wutausbruch. Schweigsam verengte sich der Ring aus Menschenleibern. Eine beängstigende Kontraktion war im Gange. Von den hinteren Reihen wurde nachgedrängt. So eng mußte es im Erdmittelpunkt sein. Schwüler Atem berührte uns. Die vorderen Reihen der Heranrückenden
waren ihrer selbst nicht mächtig, waren nur Teil eines makabren Ringmuskels, der sich konvulsivisch zusammenzog. Die Erkenntnis, daß Bill und ich nicht die einzigen zerquetschten Leichen sein würden, machte unsere Lage nicht rosiger. Unter der Vorstellung, Brei vom Brei einer in uns hineingestauchten Masse fettleibiger Bankiers zu werden, hob sich mein Mageninhalt. Ich begriff mit Elektronenschnelle: Nicht nur die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift, es kann auch zu enormen Gewalten kommen, wenn gewissen Massen eine Idee genommen wird. Halt! schrie ich mit dem letzten Atem, der aus mir herausgepreßt wurde. Halt! Ich habe ein Geschäft für Sie. Fiebig triumphierte. Sein Blick schweifte über die Zuhörer wie der eines Herrschers über gröbste und feinste Gesichter. Er fuhr fort: Ich hatte nämlich begriffen, daß es nur eine Rettung geben konnte, wenn wir diesem materialisierten Mob wenigstens vorübergehend den Schein einer Idee zurückgaben. Der Druck ließ auch sofort etwas nach, stagnierte sozusagen, denn in den hinteren Reihen spitzte man die Ohren. Ich rang nach Atem und rief: Sie haben gesehen, das Wasser der Meere wird verdampfen. Ich setzte einfach noch einmal dreist die wissenschaftliche Beweisführung Maine Bills außer Kraft. In diesem Personenkreis war das möglich. Geld war das Zauberwort, auf das sie unter allen Umständen reagierten. Wasser! schrie ich. Wer Trinkwasser hat, der hat die Macht im neuen Reich der Freiheit. Mehr brauchte ich in diesem Kreis wirklich nicht anzudeuten. Der Bluff gelang. Ich hatte der drängenden und zugleich bedrängten Meute die Idee, den Sinn ihres Lebens zurückgerufen. Der Druck ließ nach. Die Masse verwandelte sich in Energie. Im Hintergrund begann bereits der Kampf um die Telefone. Mit dem Schrei: Ich kaufe den Amazonas! eröffnete jemand die Börse. Bill und ich waren im Nu vergessen. Der lange Yankee nützte die wiedererlangte Bewegungsfreiheit und sprang mit einem mächtigen Satz in
die Luft. Er riß die Arme empor und verkrallte sich im Kronleuchter. An mir rauf, aber dalli! keuchte er. Ich sprang nach seinen Füßen. Ich kletterte an Bill und weiter am Tragkabel des Kronleuchters zur Kuppel hinauf. Bill folgte. Ehe wir uns durch eine Dachluke in die Nacht hinausschwangen, warfen wir einen letzten Blick in die Tiefe. Dort hatte das Höchste Weltgericht die Rolle eines neunköpfigen Auktionators übernommen. Unter Geschrei, das bis zu uns hinaufdrang, verhökerten die Monopolisten untereinander die Binnengewässer der Nation und des ganzen Kontinents. Schweratmend rasteten wir in der Dachluke. Bill hatte das Bein über den Lukenrand gehakt und starrte wie fasziniert hinab. Ich drängelte nervös zum Abstieg über das Dach. Er aber konnte sich nicht von dem Schauspiel dort unten losreißen. Einzelne, besonders laut hinausgebelferte Satzfetzen waren zu verstehen: Zwanzig Milliarden für den Michigansee! Hinter Bills Stirn schienen sich sonderbare Vorgänge abzuspielen. Sein unrasiertes Kinn bebte. Er stieß mich zurück und fauchte: Warte! An die Lukenkante geklammert, starrten wir hinunter in das tiefstrahlererleuchtete Höllenloch. Die reichsten Leute der Welt tobten wie Kobolde. So wie Amputierte zunächst glauben, daß sie das abgenommene Bein noch haben, so wähnten sich die dort unten noch in der wiedergegebenen Möglichkeit ihres Spalterplanes. Bill rieb sich die Augen und fragte: Sage mir, was geht dort vor sich. Das Übliche, antwortete ich, nur konzentrierter, nur an einem Ort zusammengeballt. Sie hökern um die Reichtümer der Nation. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch gehört alles ihnen, murmelte Bill. Wir hätten längst fliehen müssen. Daß Bill nicht daran dachte, das bewies seine große innere Erregung. Verständnislos starrte er dort hinunter. Eine lange MPi-Salve schmetterte herauf. Projektile schlugen ins Kuppeldach. Ich erkannte Axl neben einem Mann seiner Leibgarde. Das Ge-
schrei im Lichtpfuhl verstummte. Bleiche Gesichter wandten sich nach oben. Waffenmündungen wurden heraufgerichtet. Ich prallte zurück. Aber Bill lachte höhnisch. Die schießen uns nicht ab. Dieses Gewürm braucht uns zu sehr. Du unterschätzt ihre Enttäuschung, wollte ich erwidern, da rief Bill, und die Kuppelwölbung verstärkte seine Stimme zu einem wahren Götterdröhnen: Die Welt bleibt doch vereint! Dann rutschten wir endlich rittlings über das gewölbte Dach hinunter bis auf die Konsole. So, sagte der Lehrling unvermittelt. Es ist schon wieder verdammt spät geworden. Wollt ihr unbedingt heute noch alles bis zu Ende anhören, oder soll ich lieber morgen weitererzählen? Damit du dir übertags neuen Stoff ausdenken kannst, warf Jugendfreund Langhammer ein und fügte hinzu: Nee, nee, mein Lieber. Du hast noch über ungefähr achtundvierzig angebliche Reisestunden zu berichten. Das wirst du wohl heute noch schaffen. Langhammer wartete einen Augenblick, und da das Publikum keine Einwände erhob, forderte er Fiebig auf: Also, mach schon weiter, Mensch, damit wir endlich auf den Kern der Sache kommen.
Dritter Teil
Gut, seufzte Fiebig, ich will mich so kurz wie möglich fassen. Er holte tief Luft, verdrehte die Augen und suchte offensichtlich den verlorenen Erzählfaden. Die Rutschpartie war schnell und schmerzhaft, fuhr er fort. Der Boden meiner grobkarierten Hose widerstand der Reibung nicht. Mit nacktem, brennendem Hintern landete ich unten. Was nun? Ich war gewöhnt, allen Fährnissen dieses Lebens wenigstens äußerlich intakt zu begegnen. Was nun? äffte Bill. Nichts wie fort von hier. Aber wohin denn? Ins Todestal. Im Gewühl der Massen sind wir noch am sichersten. Bill, schrie ich, diese Goldene Herde ist imstande, die Ringladung trotzdem zu zünden. Ich habe ihnen den Glauben an das Unternehmen wiedergegeben. Ach, Bill, was bin ich für ein Schwein! Heul nicht, fuhr er mich an. Komm jetzt endlich. Er hatte leicht reden, denn er war auf dem festen Gewebe seines geborgten Umhanges zu Tal gerast. Was ist, zischte er ungeduldig. Ich kann nicht. Bill stieß einen Fluch aus. Willst du gottverdammter schwachnerviger Scheißer uns beiden die Flucht versauen? Ich war nun erst recht nicht zu bewegen, meine Kehrseite von der schützenden Außenmauer des Planetariums wegzuheben. In dieser Situation hätten uns Axls Umhangmänner todsicher aufgegriffen, wenn es nicht um diese Zeit, da der Sand durchs Stundenglas rieselte, noch andere Aktivitäten gegeben hätte. Ein Wagen raste mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf uns zu und stoppte erst im letzten Augenblick. Ein wendiges kleines Kerlchen sprang heraus und schrie mich an: Sie sind Mister Fiebig! Leugnen Sie nicht. Ich erkenne Sie an Ihrer Kragen-
weite. Die ganze verrückt gewordene Stadt habe ich nach Ihnen abgesucht. Sie haben einen Schutzanzug Größe sechsundvierzig und einen weiteren der Größe achtundfünfzig bestellt. Letzterer dürfte Ihrem Begleiter passen. Wollen Sie das Zeug nun endlich nehmen und den Empfang quittieren, damit ich meine Ruhe habe? Glauben Sie, es macht uns Spaß, jedem einzelnen Kunden hinterherzulaufen? Ich fingerte verdattert nach meinem Scheckbuch. Bringen Sie das Zeug hierher, befahl ich. Nein, genau vor meine Füße! Für gutes Geld hätte mich der Mann sicherlich auch angekleidet, aber das gestattete ich nicht. Minuten später standen Bill und ich strahlensicher verpackt an der Mauer. Mit besonderer Freude registrierte ich die doppelte Verstärkung des Hosenbodens des gummierten, asbestierten, imprägnierten Schutzanzugs. Vor uns lag ein Berg überlebenswichtiger Güter, die ich seinerzeit bei derselben Firma bestellt hatte. W… was s… soll der Kram, fragte Bill erstaunt. Verbissen zerrte ich einen Fallschirm aus dem Haufen und schnallte ihn mir um. Stell dir vor, du wirst vom Druck der Explosion einige hundert Meter in die Luft geschleudert, Billy. Da griff er zögernd zu. Man muß auf alles gefaßt sein, redete ich auf ihn ein, und er half mir schließlich, den Pemmikan, das Schlauchboot, den Dynamo und die Trinkwasser-Frischhaltetanks auf den Handwagen mit den beiden Sauerstoffflaschen zu verladen. Die besagte Firma hatte an alles gedacht und zwei Repetiergewehre zur Verteidigung unseres Besitzes gratis mitgeliefert. Wir drapierten uns mit Patronengurten. Bis zur Unkenntlichkeit vermummt, reihten wir uns mit unserem Wägelchen in den Strom ausziehender Menschen ein. Es ging in die Wüste. Dabei wäre es uns ein leichtes gewesen, einen Platz im sichersten Bunker zu kaufen. Der Schusterjunge tauchte einen Augenblick in die Wirklichkeit zurück. Er beugte sich vor, klemmte die Hände zwischen die Knie und fixierte seine Zuhörer, wie um zu prüfen, was er ihnen noch zumuten könnte. So als habe ihn die Diagnose befriedigt, fuhr er fort:
Ich kann also doch noch an den Facharbeiterprüfungen teilnehmen. Da mir ohnehin kein Mensch glauben wird, was für ein Alp damit von meiner Seele genommen ist, darf ich frei behaupten, daß mir all das, wovon ich nun berichten werde, nur erträglich war, weil ich stets und ständig fest an meine Rückkehr in die Heimat glaubte. Vorerst war die Hoffnung allerdings gering. Wir schwankten in sengender Sonnenglut durch die Wüste. Der Deichselgriff des Handwagens schlug in den Händen. Die Räder knirschten durch den Sand. Ringsum keuchten Hunderttausende, die es ablehnten, Kredit auf die Zukunft zu nehmen. Sie fanden es ehrenvoller, ins Tal des Todes zu ziehen, als in Schuldknechtschaft bei Hosenfaller zu überleben. Flankiert wurde der Zug durch motorisierte Kolonnen aller Art, darunter auch Polizeifahrzeuge, die nach uns beiden fahndeten. Aus diesem Grunde war es nicht ratsam, ein Fahrzeug zu benutzen. Eingeschlossen in die Masse der ärmeren Schichten, waren wir einigermaßen sicher. Wehende Staubfahnen zeigten auf Dutzende Kilometer die Bewegung der millionenfüßigen Völkerwanderung an. In der Hitze des Tages waren sie alle bis auf das Hemd entkleidet, alle außer mir. In meinem strahlensicheren Asbestanzug hielt ich mich wacker aufrecht. Durch die grausame Folter in Axls Kältekammer war ich noch immer so durchgefroren, daß ich mich im Brutofen der Wüste, fest umhüllt vom assimilationsfesten Gewebe der Schutzbekleidung, nahezu wohl fühlte. So war ich, sehr zur Verwunderung meiner neuen Reisegefährten, die einzige vermummte Gestalt auf dieser erbarmungslosen Piste. Übrigens hatte ich allen Grund, mich vor diesen Ärmsten zu verhüllen. Inzwischen zeitigte nämlich mein Hinweis auf den künftigen Wert des Trinkwassers die ersten Folgen. Wasser war plötzlich ungemein knapp. Der Zug der Hunderttausende dürstete. Längst hatten wir unseren bescheidenen Wasservorrat becherweise an die schwächsten Wanderer verteilt. Unbarmherzig saugte die Sonne an den Poren der Menschen. Ebenso unbarmherzig machte die Goldene Herde das Wasser zur teuersten Ware. Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß sich die Wassermonopolisten hinreichend Gedanken um die Versorgung der Elenden mit dem kostbaren Naß gemacht hatten. Grellbunte Tankwagen fuhren im Schrittempo neben der Kolonne her und boten das Wasser der Firma Colora-
do River Drink feil. Ihr machten die Firma Fresh Columbia Water und noch einige andere, im Handumdrehen gegründete Wasserversorgungsunternehmen Konkurrenz. Dennoch stiegen die Preise für den Becher Wasser unaufhaltsam. Es ist doch wohl verständlich, daß ich als der Initiator dieser Verknappung mich nicht gern erkennen lassen wollte. Maine Bill, der nicht hinter den naheliegenden Zusammenhang kam, hielt meine Vermummung für eine Art sportliches Härtetraining und bewunderte mich aus ehrlichem Herzen. Er selbst hatte sich nach kaum drei Stunden Marschzeit, die Sonne war eben aufgegangen, den Schutzanzug röchelnd vom Leibe gerissen. Um mir wenigstens in anderer Beziehung voraus zu sein, zog er wie ein Pferd am Ziehgurt des Handwagens. Ich brauchte nur zu steuern. Weit vorgebeugt stapfte er durch den Sand. Seine Halsmuskeln traten wie Stränge hervor. Sein Atem ging stoßweise. Schaum stand ihm vorm Mund. In den tiefen Querfalten seiner Stirn nistete der Staub. Nur in sehr langen Abständen wechselten wir einige Worte miteinander. Was soll nun werden, fragte ich. Nach einer halben Stunde sagte Bill: Weiß nicht. Wir trotteten wie eine Herde Tiere. Die Sonne nährte sich, wie's schien, von Menschenschweiß. Zu Anfang des Marsches hatte der Galgenhumor noch manch witzige Bemerkung hervorgebracht. Jetzt schleppte sich die Menge stumpfsinnig dahin. Zu beiden Seiten des Zuges waren schattige Zelte aufgestellt worden. Unter den einladenden Sonnenschirmen leuchteten Schaumgummimatratzen in lockenden Farben. Über den Zelten warben treffende Slogans: „Gönn dir ein Viertelstündchen“, „Mach mal Pause“. Geschäftstüchtige Manager hatten den Wüstenboden längs der Straße für ein Spottgeld aufgekauft. Zu beiden Seiten des Heerzuges erstreckten sich zwei breite Zonen in Privatbesitz. Der Liegeplatz kostete bereits zehn Dollar je Stunde oder ein Bunkerlicht; so hoch waren diese primitiven Leuchten schon im Kurs gestiegen. Aus menschlichen Erwägungen war es strengstens verboten, sich in den glühenden Sand hinzustrecken. Doch die Besitzer gaben sich alle Mühe, den Wanderern die Rast auf ihrem Grundstück so angenehm wie möglich zu gestalten. Viele gaben schon jetzt ihren letzten Dollar hin,
um wenigstens einige Minuten im Schatten auf einer Traummatratze zu ruhen. Ich bemitleidete Bill, dem keine andere Wahl blieb, als seinen ausgemergelten Körper mittels Muskelspannung aufrecht zu halten. Mich hinderte das steife Gewebe meines Raumanzuges förmlich am Umkippen. So befand ich mich nach stundenlangem Marsch noch immer den Umständen entsprechend wohl; nur der Fallschirm am Gesäß schlug mir bei jedem Schritt lästig in die Kniekehlen. Plötzlich ein hysterischer Aufschrei: Das Eisen! Ich hab das Bügeleisen nicht abgeschaltet! Eine Frau, die bisher tapfer ausgeschritten war, machte kehrt und versuchte, gegen den Menschenstrom anzukommen. Vor uns, sich gegenseitig stützend, wankte ein älteres Ehepaar. Ich hatte stundenlang Gelegenheit, folgenden, immer wiederkehrenden Disput mit anzuhören: Du hast den Wasserhahn im Bad nicht richtig zugedreht. Nein, du warst zuletzt im Bad. Und du wendest nie genügend Kraft auf, um den Hahn richtig zu schließen. Wenn du das weißt, warum tust du es nicht für mich? Ich kann mich nicht um alles kümmern. Die Wanne ist längst voll. Vielleicht läuft sie gerade über. O Gott, o Gott, die ganze Wohnung unter Wasser. Daran bist du schuld. Nein, du warst zuletzt im Bad. Ich verspürte Lust, den beiden wechselweise meine Schusterahle ins Gesäß zu bohren. Der Aufschrei jener Frau hatte eine Fehlleistungspsychose ausgelöst. Jeder vermutete, in seiner Wohnung etwas nicht ordnungsgemäß hinterlassen zu haben. Selbst Leute, die nie eine richtige Behausung besessen hatten, faselten, nur um den guten Ton zu wahren, von irgendwelchen Unterlassungen. Es fehlte nicht viel, und die ganze Marschsäule wäre wieder umgekehrt. Da mahnte die bekannte allgegenwärtige Stimme aus dem Lautsprecher: x minus sechsundzwanzig; x minus sechsundzwanzig. Sogleich ruckte der Zug wieder an. Bis zum Ziel war es noch weit.
Mich verwunderte die Disziplin dieser Menschen. Kein einziger von ihnen wußte über die Hintergründe der Auswanderung Bescheid, aber jeder wähnte sich genau informiert: Eine dunkle Sternmasse passierte die Erde und würde sie in zwei Teile zerreißen. Kein Zweifel, jeder mußte nach seinen Möglichkeiten zur Rettung beitragen, und sei es nur durch das geduldige Weiterwandern. Niemandem fiel es ein, an den Grundlagen der bestehenden Ordnung zu rütteln. Morgen schon konnte man vielleicht selbst ein Geschäft eröffnen, ein Unternehmen gründen. Die Wasserverkäufer, die Liegestättenvermieter am Rande der Piste, das waren Menschen wie du und ich, nur klüger, nur tüchtiger, nur der großen Masse stets um eine Nasenlänge voraus. Sie hatten eben früher erkannt, daß Wüstenboden, Schatten, ein Schluck Wasser unter Umständen die begehrtesten Waren werden konnten. Man konnte doch einer lächerlichen Müdigkeit wegen nicht den Privatbesitz antasten und sich damit jede Hoffnung verderben, eines Tages selbst in den Vorteil desselben zu gelangen. Die gepanzerten Armeefahrzeuge jedenfalls, die den Zug flankierten, waren reine Statisterie. Die Disziplin war vorbildlich. X minus vierundzwanzig. Die Sonne stand fast senkrecht über uns. Das Todestal, dessen Name eigentlich absurd war, galt es doch für den sichersten Platz der Welt, dieses Tal der Zukunft war weit. Es zu erreichen, blieben noch vierundzwanzig Stunden. Nur nicht schlappmachen. Und wieder halfen Gerüchte weiter. Im Death Valley seien Kämpfe im Gange, hieß es. Marschkolonnen aus Los Francisco seien mit der Vorhut von San Angeles ins Handgemenge gekommen. Kampf ums Todestal, das jeder für sich haben wollte, mußte! Nur hin, die eigenen Leute unterstützen. Nieder mit den Los-Franciscoern! Ganz nebenbei war zu erfahren, daß die Bergleute von Carnotit Springs noch immer nicht in ihre Gruben einfahren wollten. Entgegen anderslautenden Vorstellungen meinten die Kumpels, daß sie in der Tiefe wie bei einem Erdbeben zermalmt würden. Axls Psychoingenieure stießen auf tiefstes, durch praktische Erfahrungen untermauertes Mißtrauen. In unserer Marschkolonne erhoben sich Stimmen des Unmuts. Immer diese Bergleute! Die machen den Staat noch für kosmische Naturkatast-
rophen verantwortlich. Solln sie doch verrecken, wenn sie nicht einfahren wollen! Plötzlich bäumte sich Maine Bill auf. Ich höre immer Naturkatastrophe, lallte er mit verquollener Zunge. Betrügen tun sie euch, ausplündern, belügen, täuschen! Die Spaltung der Erde ist Menschenwerk, betrieben von der Goldenen Herde. Er war stehengeblieben. Endlich war es gesagt. Und er wußte doch: Auf Verrat dieser Dinge stand Todesstrafe, vollstreckbar sofort durch jedes fliegende Standgericht. Unsere Marschgefährten sahen ihn nur mitleidig an. Sonnenstich, konstatierten sie. Hört, wie der Kerl phantasiert! Bill stierte mit blutunterlaufenen Augen in die Runde. Er raufte sich das schüttere Haar und schrie: Glaubt mir doch. Ich selber stand in dieser Nacht vor dem Höchsten Weltgericht. Die Leute gingen weiter. Sie warfen verächtliche Blicke auf Bills magere, abgerissene Erscheinung, entdeckten Spuren von Faustschlägen, das Koma der Übermüdung in seinem Gesicht und sagten: Vor dem Höchsten Weltgericht will er gestanden haben. Menschenmassen rannten gegen uns auf. Unmutsschreie gellten. Wir wurden vorangestoßen. Weiter! Mensch, halte uns hier nicht auf! Achselzuckend legte sich Bill wieder ins Zeug und zog und zog. Am Rande der staubigen Piste parkte eine Wagenkolonne. Aufgespannte Sonnenschirme, grüngestrichene Gartenstühle im Wüstensand. Herren in Seidenhemden und mit Panamahüten. Limonadenflaschen. Eiskübel. Äußerst wohl proportionierte Damen in Shorts, mit langstieligen Zigarettenspitzen zwischen den knallroten Lippen. Durch spiegelblitzende Sonnenbrillen beobachteten sie den staubzerfressenen, fieberäugigen Zug. Ein Kranarm schwenkte über unsere Häupter. Auf der Kranplattform wurde eine Kamera gerichtet. Man filmte uns. Neben der Kamera, hoch auf dem Kranausleger, gebärdete sich ein Mensch wie toll. Er wies mit dem Arm nach mir und schrie durch ein Megaphon: Den dort, den dort! Ich fühlte mich angehakt. Vom Kran aus war eine Angel nach mir geworfen worden. Man hievte mich wie einen großen Fisch aus dem trüben Strom. Bill folgte mit dem Handwagen automatisch in meine Richtung.
Dann standen wir vor dem Drehstab einer Filmgesellschaft. Individuen beiderlei Geschlechts, die entweder in der Aufnahmeleitung oder in der Filmhandlung eine Rolle spielen mochten, begutachteten mich. Der Mann von der Plattform kam herbei. Er trug noch immer das Sprechrohr in der Hand. Seine Augen bedeckte ein grüner Zelluloidschirm. Knox, sagte er. John Knox III. Chefregisseur, alleiniger Inhaber dieses Sauladens, der zu neunundneunzig Prozent aus Faulenzern, Säufern und vor allem Nichtskönnern besteht und sich Twenty Knox Filmgesellschaft nennt. – Also los, Leute, Tempo, Tempo! Dreht mir die Massenszene weiter. Ich habe hier zu tun. – Was, Sie staunen? Jawohl, der alte John ist der einzige Filmboß der Welt, der noch selber Regie führt, aus Sport, Hobby, künstlerischer Berufung. Hat das einen Sinn? Es hat! So bleibt der Nation einer ihrer besten Regisseure erhalten. Ist Geld ein Grund, seine Fähigkeiten rosten zu lassen? Never! Schauen Sie sich nur diese Stümper an. Diese Burschen hätten Sie glatt übersehen. John Knox aber entgeht nichts. Ein Mann mit komplettem Raumanzug bei vierzig Grad im Schatten hat alle Voraussetzungen, in meinem Film „Sodom und Gomorrha“ die Heldenrolle zu spielen. Endlich schöpfte er einmal Luft. Er rückte seinen Sonnenschirm auf den Hinterkopf und redete sogleich weiter. Staunen Sie nur, junger Mann. Die Konkurrenz und alle Welt in Staunen zu versetzen, das ist die Methode und das Geheimnis meiner Erfolge. Lächeln Sie ruhig. Ich habe es nicht nötig, seriös zu erscheinen. Kein Konkurrent macht mir solche Massenszenen nach. Noch niemals in der Filmgeschichte hat jemand so grandiose Bilder so billig auf den Streifen gekriegt wie Knox III. Ich produziere im größten Tohuwabohu in aller Seelenruhe fast umsonst den größten Film aller Zeiten. Er hieb mir die Schulter lahm. Und Sie, junger Freund, sind engagiert. Sie spielen die Hauptrolle: Jim the Hyperman. Na, wie klingt das? Hier muß ich endlich bekennen, daß ich mich keineswegs in der Verfassung fühlte, jemals das Todestal zu erreichen. Inmitten des Filmtrubels, als Titelheld verkleidet, wähnte ich mich vor den Nachstellungen der Goldenen Herde ebenso sicher wie unter den immer hoffnungsloser sich dahinschleppenden Menschenmassen. Was wird aus Bill? fragte ich.
Erst jetzt schien Knox meines Begleiters ansichtig zu werden, obwohl dieser neben mir stand. Ach der? Seine Mundwinkel bogen sich verächtlich. Der ist Dutzendware. Solche Gestalten lungern täglich zu Hunderten vor meinen Büros herum. Für ein belegtes Brötchen nehmen die jede Doublerolle mit Handkuß. Ich benötige den Mann zum Transport meiner Ausrüstung, Mister Knox. Die Augen des Filmbosses wurden kugelrund. Sie glauben doch nicht im Ernst an diese Stunde X, fragte er. Ich wies auf die stumm vorüberziehenden Massen. Sie alle glauben daran, ein Knox etwa nicht? Hören Sie, sagte der Gentleman-Regisseur, ich verdiene an meinen Filmen etwa fünftausend Dollar je Minute. Wenn ich mich trotzdem so lange mit Ihnen abgebe, so nur, weil ich durch Sie noch mehr zu verdienen hoffe. Ich schaffe einen völlig neuen Helden. Was ist Batman? Was ist Superman? – Jim the Hyperman wird alle übertreffen! Er wird das Idol der Jugend Emericis, der Traum aller Teenager werden. Hyperman kann schießen, schlagen, stechen, reiten, fahren, fliegen wie kein anderer. Er kann sich unsichtbar machen, übers Wasser laufen, durch Feuer gehen… Aber das alles kann Superman doch auch schon, fiel ich ihm ins Wort. Gewiß, gab Knox zu. Mehr als Superman kann, läßt sich beim besten Willen nicht ausdenken. Aber nun kommt der Knüller, und das ist eben mein Genie! Superman ist ein Muskelprotz. Hyperman kann das gleiche bei, sagen wir, bescheidener Konstitution. Emerici bekommt einen neuen Volkshelden. Wer hat schon Muskeln wie ein Sechspfundbrot? Kein halbes Dutzend Catcher, sage ich Ihnen. Hypermans Figur dagegen haben Millionen Jungs. Und deshalb wird Jim populär werden. Wir kommen dem Realismus näher. Das Unmögliche volksgerecht darbieten, das ist die Kunst, eine Nation zu erziehen. Der Emericiner braucht ein Idol, das ihn nicht schockiert, sondern das ihm gleicht – und er bekommt es von mir serviert. Management, mein Lieber. Das ist auch der ganze Weltuntergangsboom. Egal, wer an den Fäden zieht, die Chose ist gut gemacht. Eine geradezu wohltätige Idee. Die gesamte emericinische Geschäftswelt wird davon belebt, vom Großbankier bis hinunter zum Stra-
ßenhändler. Verdammt, wer sich davon bluffen läßt. Ihm geschieht blutig recht, wenn er mit dieser Hammelherde durch den Staub trottet. Knox war durch nichts zu bremsen. Trotzdem merkte er meine Verwunderung und stellte fest: Allzu geistreich scheinen Sie nicht zu sein, Mann. Ist auch gar nicht nötig. Das ist ja geradezu der große Clou Hypermans: Überlegenheit ohne ersichtlichen Geist und hervorquellende Physis. So entspricht er genau unseren Vorstellungen vom normalen Emericiner. Knox zerrte mich am Arm hinter sich her. Bill folgte uns mit dem Handwagen wie ein zugelaufener Hund. Wir fuhren zum Kranausleger hinauf. Bill mußte unten bleiben. Als Hauptdarsteller müssen Sie schließlich ihr Milieu kennenlernen, erklärte Knox. Zum erstenmal hatte ich Gelegenheit, den Marsch des Volkes durch die Wüste von oben zu überschauen. Fast wollten mir die Augen aus den Höhlen springen. Der Durstmarsch der Ungezählten, unter deren Tritten der Boden zitterte, war von fast ebenso vielen Zuschauern flankiert, die, allerdings motorisiert und bunkerscheingesichert, den Vorgang wie eine willkommene Sensation verfolgten. Sportbegeisterte Emericiner fuhren im Schrittempo neben dem Zug her und feuerten einzelne, bereits schwankende Fußgänger an. Die Marschierenden waren bereits so ermüdet, daß allenthalben Menschen zusammenbrachen, ohne daß sie von den Leidensgefährten aufgehoben werden konnten. Deutlich war von hier aus zu sehen, wie die motorisierten Schlachtenbummler Wetten darüber abschlossen, wer wohl als nächster zu Boden ginge, wer die nächsten zehn Kilometer noch durchstünde, wer vielleicht gar bis ans Ziel gelangen würde und dergleichen mehr. Schon schlängelten sich Buchmacher auf Motorrädern durch die Wagenreihen und boten die Wetten auf, wobei sie sich gegenseitig überschrien. Es leuchtete ein, wer einen Wagen hatte, der konnte in höchstens vier bis fünf Stunden seinen Bunker erreichen und hatte somit Zeit genug, dieses erregende Glücksspiel mitzuspielen. Aber wie alle Werte, so stiegen auch die Wetten in diesem Spiel ins unermeßliche. Es gab Hasardeure, die im Wettfieber sogar ihren Wagen als Einsatz gaben.
Einer marschierte rüstig neben der Kolonne her. Er hatte sein Automobil bereits verspielt. Jetzt hatte er seinen Bunkerschein gegen hundert Dollar – für diese Summe war ein alter Ford gerade noch zu haben – auf einen Neger gesetzt. Direkt unter uns brach der Neger, der äußerlich noch einen recht straffen Eindruck gemacht hatte, mit Schaum vorm Mund zusammen. Wutschnaubend trat ihn der enttäuschte Wetter mit Füßen, bis er von der Ordnungspolizei selber in den Zug der Elenden hineingestoßen wurde. So wie diesem unglücklichen Wetter erging es vielen anderen auch. Überhaupt schien mir das Begleiten des makabren Zuges bei näherem Hinsehen gar nicht so lustig zu sein. Es entpuppte sich vielmehr als eine todernste Sache. Ganz gleich, ob einer wettete oder nicht, er mußte stets gewinnen oder verlieren. Vom Bauchladenhändler bis zum Multiaktionär, letzterer freilich durch Mittelsmänner, war jeder bemüht, mit den grauen Elendsgestalten ins Geschäft zu kommen. Mich beschlich die fade Ahnung, daß all die schattige, satte, kräftige, geschäftige Existenz am Rande der Heerstraße in blödester Weise davon abhing, daß man immer noch ein paar Dollars oder Cents direkt oder mittelbar aus dem Strom der Hoffnungswanderer herauszog. Dabei trieb der Geschäftssinn durchaus Blüten von ergreifender Menschlichkeit. Ein mit DisneyBildern und lustigen Monstern buntbemalter Autobus fuhr an der Marschpiste entlang. Von Zeit zu Zeit orgelte das Megaphon, den Schalltrichter auf das dürstende Fußvolk gerichtet: Mütter, befragt euere Herzen. Gönnt eueren Kindern eine lichte Zukunft. Verkauft uns endlich euere Babys. Unsere Firma „Babylook“ bürgt für die behutsame Weitervermittlung Ihrer kleinen Lieblinge an reiche wohlwollende Zweiteltern. Bürgerinnen, Mütter, handeln Sie menschlich! Ersparen Sie wenigstens Ihren Kleinsten die Strapazen und das Schicksal einer ungewissen Reise. Seht, das Glück, das ungetrübte Kinderglück, ist so nah. Retten Sie Ihre Sprößlinge, und erleichtern Sie damit Ihr Gewissen. Ja, freilich schleppte in dem Elendszug manch unglückliches Weib zwei, drei Kinder mit sich, die oft genug kaum noch genügend Kraft hatten, um zu wimmern. Die Hoffnung auf das rettende Tal des Todes wurde mit jedem Schritt geringer. Neben der Heerstraße aber gingen mit elastischen Schritten blütenweiß bekittelte Tanten der Firma „Babylook“. Sie dufteten frisch nach Seife und waren bereit, die verdreckten Un-
glückswürmchen aus den Armen ihrer erschöpften Mutter entgegenzunehmen. Manch eine verzweifelte Mutter sah ich da das schier Unglaubliche tun. Winzige Menschlein wurden gegen Silber eingehandelt, Silber sogleich gegen Wasser. Da stürzte sich manches arme Weib, vom Wasser neu belebt, mit bloßen Fäusten auf die sauberen, straff und weiß beschürzten Tanten der Firma „Babylook“, und diese, da sie ihre jüngste Erwerbung oft noch auf den Armen hatten, konnten sich der verzweifelt andringenden Mütter nur durch Stiefeltritte erwehren, die sie aber trefflich und mit schier männlicher Wucht auszuteilen verstanden. Der Aufstand der Mütter wurde stets recht bald von herbeigeeilter Polizei entweder durch gutes Zureden oder unter Zuhilfenahme des Gummiknüppels beendigt. Die wahnwitzigen Weiber, die ihre Kinder zurück haben wollten, nachdem sie diese soeben verkauft, wurden in den Menschenstrom zurückgestoßen und bald ins Ungewisse mitgerissen. Sehr gefragt waren in der vorwärts rückenden, staubgrauen Masse die von den großen Zeitungen herausgegebenen Sonderhoroskope. Je elender die Menschen wurden, desto gieriger griffen sie nach den stündlich neuerscheinenden, schreiend aufgemachten Blättern. Die mit überhitzter Phantasie immer sensationeller aufgemutzten Meldungen vom Herannahen der Stunde X peitschten die Menschen an den Rand des Wahnsinns. Viele hielten dem seelischen Druck unter größten physischen Strapazen nicht mehr stand. Sie warfen ihren Vorsatz ab und gaben durch Zeichen zu verstehen, daß sie nun doch noch einen Schuldschein auf die Zukunft unterschreiben wollten. Sofort stürzte sich eine Rotte von Agenten der verschiedensten Kreditinstitute auf den neuen Kunden, zerrte ihn aus dem Marschblock und vollzog an ihm die notwendigen Formalitäten. Bald hatte der so Gerettete außer einem Bunkerschein, einigen Lebensmitteln sowie Wasser und Schatten in begrenztem Maße auch die Pflicht, bis an sein Lebensende für die eben gemachten Schulden zu arbeiten. Sobald der Ermattete einigermaßen zu sich gekommen war, begriff er das Ausmaß seiner Verschreibung und wünschte nun erst recht, es möge doch alles zugrunde gehen. So sehnte der brave Mann eine Katastrophe herbei, die nach Meinung cleverer Geschäftemacher nur ein großangelegter Coup war, den es nach Kräften auszunutzen galt. All die Kreditgeber, Vermittler, Vertreter, Vermieter, Verkäufer, Horoskopesteller, Buchmacher, Bankhalter waren Bestandteil des großen Auszuges, das einfassen-
de, abzutragende oder angeschwemmte Ufer, ohne das kein Strom denkbar ist. Und immer mehr Erschöpfte brachen in die Knie. Jetzt wurde bereits rücksichtslos in den Staub getreten, was da unterlag. John Knox nahm meine Entgeisterung zufrieden auf. Seit ich wußte, daß Klugheit und Scharfsinn nicht zu den geschätztesten Eigenschaften eines Heldendarstellers gehörten, tat ich so dumm wie möglich. Fürchtet man nicht, einmal die Kontrolle über diese Riesenbewegung zu verlieren, fragte ich. Knox III. lachte wie über einen guten Witz. Kontrolle, rief er, was ist denn das? Kann man das kaufen? Läßt sich daran etwas verdienen? Offenbar nicht, sonst gäbe es längst einen Trust, der sich damit befaßt. Unser Kontrollorgan ist der Dollar. Er geht durch alles, alles geht durch ihn. Der Dollar ist die Verkörperung der Ordnung selbst. Plötzlich wurde er einen Augenblick lang todernst. Es war beklemmend, Knox gleichsam wie vom Blitz der Erkenntnis getroffen zu sehen. Was wäre, wenn wir den Dollar nicht hätten, fragte er sich selbst verblüfft. Gleich darauf rief er: Unsinn. Und wie um sich sogleich der Macht des Geldes zu vergewissern, schrie er: Eintausend Dollar her, in Stücken, aber dalli! Ein Sackvoll wurde herbeigeschleppt. Knox griff hinein, bekam einen Wutanfall und brüllte: Echtes Geld, ihr Idioten, oder soll ich mich lynchen lassen? Echte Dollars wurden aufgetrieben. Von der Kranplattform ließ Twenty-Knox-Boß einen klingenden Silberregen auf den Elendstroß niedergehen. Der Platz unterm Kamerastand wurde im Handumdrehen zu einer Massenunfallstelle ohnegleichen. Graue Gestalten, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, warfen sich auf das Geld, warfen sich übereinander. Ein Berg von zuckenden Leibern wuchs herauf. Kein Ruf, kein Schrei, kaum ein wütendes Knurren, nur ab und zu verbissenes Stöhnen. Menschen, die es magisch zuhauf lockte. Keinerlei Hast, nur lahmes, zähes Gekrabbel, ermatteten Erdkröten gleich. Zeitlupengriffe nach Silberstücken. Tritte, auch nicht schwunghafter, nach langsam tastenden, kralligen Händen. Endliches Am-Boden-Liegen. Nicht-mehrHochkönnen. Nicht mehr, um alles Geld der Welt. Röcheln. Verröcheln.
So schwäch. Leiber über Leibern. Hände voller Dollars reckten sich aus dem Haufen. Kiefer voller Zähne knackten Fäuste wie hartschalige Muscheln. Münder voller Sand schwiegen dazu. Knox beugte sich erregt übers Geländer. Filmen! schrie er. Drehn, drehn, drehn! Kameras schnurrten. Knox frohlockte. Im Atelier werden wir auf diesen Streifen eine Rettungsszene projizieren. Hyperman rettet Geliebte aus Weltuntergangspanik. Von dieser Szene werden Generationen von Filmproduzenten träumen! In diesem Augenblick fühlte ich mich fähig, auf meine Facharbeiterprüfung, ja auf die Rückkehr in die Heimat überhaupt zu verzichten. Aber ich war viel zu entkräftet, um dieses Scheusal allein übers Geländer hinabzuschleudern. Ich winkte Bill, ich machte ihm eindeutige Zeichen. Noch starrte Knox fasziniert in das kriechende, siechende Durcheinander hinab, das seine Silbertaler angerichtet hatten. Aber leider konnte auch Bill kein Auge von den tragischen Vorgängen wenden, wo Menschen einander um den Besitz flacher Metallscheiben mühsam in den Grund mantschten. Da kehrte sich Knox bereits von der Reling ab. Es war zu spät, wenigstens ihn zu richten. Nach und nach hatten sich Vorübergehende in den Besitz des Geldes gebracht. Diejenigen, die sich darum gerauft, hatten den Tod durch ihresgleichen gefunden. Wohl mochten nicht alle eintausend Wertmarken gefunden worden sein, doch es war nichts mehr zu haben. Ein letzter Bewerber brach einem Sterbenden, schon unter dem stummen Protest nachrückender Massen, die Kinnlade auf und entnahm ihr ein Stück Geld. Die glücklicher zu Dollars Gekommenen kauften sich sofort Wasser, kauften sich sofort das Recht auf Schlaf, kauften sich etwas Leben zurück. Knox kommentierte: In spätestens einer halben Stunde besitzt keiner von denen einen roten Heller. Der Dollar pulst, der Dollar rollt, er arbeitet, er springt vom Schwächeren zum Stärkeren. Das ist sie, unsere alles regulierende und kontrollierende Macht.
Zurückfahrend im Konvoi der Filmgesellschaft nach Hollywood, kamen wir schließlich am Ende des großen Auszuges vorüber. Die schwankenden Reihen wurden immer lichter. Versprengte, abgeschlagene Trupps kämpften verzweifelt um Anschluß. Ihnen folgten einzelne, noch aufrecht einhertaumelnde Wesen, dann zu Vierbeinern gewordene, dann lagen nur noch Leichen. Aasgeruch. Über viele Kilometer zeigten in den Sand getretene Häufchen Fleisch und Knochen an, wo die Völkerwanderung voller fleißig genährter Hoffnung entlanggezogen war. Die Verluste waren beträchtlich. Dennoch dürfte die Zahl der Fußwanderer nicht kleiner geworden sein. Der tüchtigste Jobber konnte nicht arbeiten, ohne zu essen – trinken – schlafen, kurz, ohne die Dienste von seinesgleichen. Das bedeutete Verlust. Die Geschäftswelt, dieses Spaltbakterium, das den Spalterrummel auf die Spitze trieb, spaltete selber ständig ruinierte Elemente von seiner Masse ab und schied diese in den grauen Strom des Elends aus. Schließlich mußten trotz der hohen Abgänge mehr Menschen im Tal des Todes ankommen als vordem aufgebrochen waren. Je weniger an den Ärmsten auf die Dauer zu verdienen war, um so stärker griff die Verdienerschicht ihre eigene Substanz an und dezimierte sich selbst. Unser Filmtroß raste geschäftig an den Toten vorüber. Wolken von Aasgeiern, den letzten, den harmlosesten, den reinlichsten, den sympathischsten Nutznießern des großen Geschäfts, klafterten auf. Dann herrschte ringsum der Wüstensand. Auf Anraten Knox' hatte ich meinen Atomschutzanzug anbehalten. Ein zeitgemäßerer Dreß konnte für Hyperman nicht erfunden werden. Mir war das nur recht, wer konnte wissen, welche Kräfte sich innerhalb der Goldenen Herde nach Bills Enthüllungen durchsetzen würden, die gemäßigteren oder die ultrakonfusen? Womöglich dauerten die Richtungskämpfe im Planetarium noch an, der Spalterapparat war sich selbst überlassen und trieb mechanisch auf die Stunde X zu. Aus solchen Erwägungen heraus lehnte ich es ab, mich von unseren Sauerstoffflaschen nebst Zubehör zu trennen. Bill saß im hinteren Wagenteil und hütete unsere Habseligkeiten. Seit Stunden war er mir nicht mehr geheuer. Ständig murmelte er vor sich hin. Ich spitzte die Ohren und vernahm: Die Verblödung meiner
Landsleute wird eines Tages ein Ende haben. Ich drehte mich nach Bill um. Ein gramzerfurchtes Gesicht starrte gleichsam durch mich hindurch. Seine schmalen Lippen formten mühsam Worte: Dieser ungeheure Fischzug wird ein total ausgeplündertes Volk hinterlassen, ein Volk, das nichts zu verlieren hat als seinen blinden Glauben. Bill nickte wie in weite Ferne. Und aus den leeren Geldbeuteln wird der Unglaube steigen wie ein Gewitter. Leider konnte ich nicht über den Sinn dieser Beschwörungen nachdenken, da sich Knox an mich wandte: Für Ihr Wohl sorgen jetzt Angestellte meiner Firma. Ihren Diener können Sie entlassen. Möchte wetten, der ist Ihnen nur deshalb noch nicht ausgerissen, weil er an diesen Rummel glaubt und sich in Ihrer Nähe sicherer fühlt. Es wäre Ihnen also nicht möglich, auch nur einen Augenblick an die bevorstehende Katastrophe, ganz gleich, ob kosmischen oder irdischen Ursprungs, zu glauben, fragte ich. Mensch, der bloße Gedanke an einen Weltuntergang ist absurd und führt zum Verlust der Geschäftstüchtigkeit. Und doch tun Sie selbst alles, was in Ihrer Macht steht, um den Glauben daran bei anderen zu nähren? Nun wurde seine Stimme gereizt. Sofern es mir Geld einbringt allerdings! Im übrigen wird niemand gezwungen, irgendwem irgend etwas zu glauben. Ich hörte Bill auf dem Rücksitz unverständlich murmeln. Dann löschte mir Freund Schlaf das Licht. Ich erwachte durch heftige Bewegungen. Eine Hand hatte sich in meinen Anzug gekrallt und ruckte daran in seltsam rhythmischen Abständen. Nur mühsam brachte ich die schlafverquollenen Augenlider auseinander. Ich saß noch immer im Wagen des Filmkönigs. Jemand drosch mit einem Knüppel auf die Hand, die sich in meine Schulter verkrallt hatte. Daher also dieses ruckende Zerren an meinem Anzug. Die Hand gehörte zu Bill. Dunkle Gestalten versuchten, ihn an den Füßen aus dem Wagen zu zerren. Damit er nicht schreien konnte, hatten sie ihm ein Kissen auf das Gesicht gebunden. Die Kerle waren so eifrig bei der Sache, daß sie mein Erwachen nicht merkten. Sie hantierten, daß der Wa-
gen schaukelte, wobei sie einander im engen Fond behinderten! Der mit dem Knüppel zischte: Laß los oder ich schlage dir den Schädel ein. Bill war viel zu matt, um sich zu wehren. Da erklärte ich bei halbgeschlossenen Lidern ohne sonderliche Aufregung: Wenn sich die Herren nicht augenblicklich anständig betragen, erfährt Mister Knox, daß seine Leute nicht einmal fähig sind, einen halbtoten Mann unauffällig zu kidnappen. Man muß wissen, daß es für emericinische Gangster keine größere Schande gibt als die, beim Menschenraub ertappt zu werden, weil dieses Verbrechen zu den einfachsten Übungen für Anfänger gehört. Die Burschen wurden augenblicklich zahm wie Lämmer. Einer stammelte: Wir exerzieren doch bloß 'ne Szene durch, die wir nachher drehen wollen. Erkennen Sie uns denn nicht, Mister Fiebig? Wir gehören doch zum Drehstab. Danke, sagte ich und fügte hinzu: Ich dachte schon, Sie sollten meinem Begleiter unauffällig bei der Flucht behilflich sein. Nun aber weiter, ins Studio, ohne Proben bitte! Boß Knox staunte nicht schlecht, als wir den nunmehr völlig schlaftoten Bill ausluden. Der Meister war unterwegs, während ich schlief, in einen anderen Wagen umgestiegen, wahrscheinlich, um die Szenenprobe nicht zu behindern. Zu seiner stummen Entschuldigung wies einer der unglücklichen Entführer auf den Klumpen, den Bill und unser Handwagen bildeten. Der Yankee klammerte sich noch in tiefer Bewußtlosigkeit mit einer Art Starrkrampf an den Leitern des Handwagens fest und war nicht davon loszukriegen. Kräftige Männer mußten Bill und Wagen förmlich mit Hebeln durch die Tür des Autos kanten. In der verkrampften Lage, quer über das Handwägelchen, wurde er schließlich vier Treppen hoch in die Räume des Gästehauses transportiert, die für mich reserviert waren. Dort angekommen, wollte ich mich sofort auf das Bett werfen, aber Knox bestand darauf, mit den Dreharbeiten zu beginnen. Sterbensmüde, unter fortwährendem Gezänk mit Knox, schleppte ich mich ins Atelier. Der Boß war der Meinung, und auch das war einer seiner genialen Einfälle, daß Hyperman, sollte er dem Publikum imponieren, einen völlig entleerten, desinteressierten Gesichtsausdruck haben müsse. Diese Vor-
aussetzung war bei mir, der ich nichts im Sinn hatte, als zu schlafen, im höchsten Maße gegeben. Mir war im wahrsten Sinne des Wortes scheißegal, was ich für eine Rolle zu spielen hatte. Nur ein einziger Gedanke bewegte mich wie im Traum: Ich hoffte, in dem unerschöpflichen Requisitenarsenal der Filmgesellschaft ein startfähiges Flugzeug zu finden. Damit wollten wir aus dem Bereich der tauben Ohren fliehen. Knox glaubte ja wie alle weniger integren Bosse, die nicht zum engeren Kreis der Goldenen Herde gehörten, mitnichten an den bevorstehenden Weltuntergang. Er hielt das Ganze für einen noch nie dagewesenen Geschäftsrummel, an dem er kräftig mitverdienen wollte. Entsprechend lax waren seine Schutzvorkehrungen. So war zum Beispiel nicht ein einziger Bunker bezugsfertig geworden. Um den staatlichen Sicherheitsvorschriften zu genügen, wurden auf dem Filmgelände lediglich ein paar Splittergräben ausgehoben. Bill und ich wußten als einzige um die ganze Größe der Gefahr, wenn sich in der Goldenen Herde die Unbelehrbaren durchsetzten. Wir mußten die übrige Welt warnen. Das war jetzt unsere letzte und vornehmste Aufgabe, sosehr es auch geraten war, uns vor den Suchtrupps der Gouverneurspolizei zu verbergen. Die Verpflichtung, zu entrinnen und zu warnen, trieb mich jetzt zur übermenschlichen Anstrengung. Ich mußte einfach spielen, so fertig ich auch war. Scheinwerfer blendeten mich, Kameras fuhren auf mich zu, Knox sprengte mir schier das Trommelfell mit seinem Megaphongeblöke. Er als Chefregisseur leitete diese wichtigen Aufnahmen selbst. Er wurde nicht müde, mein aus Schlafmangel von Toxinen aufgeschwemmtes Gesicht in Großaufnahme zu fotografieren. Eine völlig entgeistigte, übermüdete, maßlos gelangweilte Fratze, das war Hyperman, das Idol der emericinischen Jugend. Ich wurde an ein Seil gebunden und hatte so zu tun, als ob ich mich mit eigener Kraft daran festhielte. Das mit mir behangene Seil wurde in kreisend pendelnde Bewegung versetzt. Abwechselnd wurde nun ich, dann wieder ein an der Decke kreisendes Flugmodell gefilmt. Das Seil, an dem ich hing, wurde immer tiefer herabgesenkt. Ich hatte die Aufgabe, im Vorüberschwenken eine mit allen Attributen emericinischer Sexualität ausgestattete Diva vom Boden aufzuklauben.
Mit der Sexbombe unterm Arm hatte ich dann am Seil emporzuklettern, um sie im Flugzeug zu verstauen. Das war die Rettungsszene, die Knox in die echte Massenszene auf dem Durstmarsch hineinprojizieren wollte. Diese Partie hätte jedes beliebige Double besser spielen können als ich, aber Knox kam es viel zu sehr auf meine vor Erschöpfung götzenhaft blasierte Visage an. Schlapp wie ein Lämmerschwanz hing ich am Seil und konnte gar nicht daran denken, meine Partnerin auch nur anzulupfen. Diese entstieg dem Elendshaufen zu Tode gehetzter, sich um ein paar Dollars die Gurgeln zerbeißender menschlicher Wracks so drall und proper wie Venus aus dem Wellenschaum. Da ich sie nicht packen konnte, mußte sie ebenso an Stricken emporgehoben werden wie ihr Retter. Das kluge Mädchen versäumte nicht, für diesen Umstand eine saftige Extragage zu fordern. Für eine Frau ist es schließlich ein Unterschied, ob sie von einschnürenden Stricken oder auf den Armen eines kräftigen Mannes emporgetragen wird. Knox ging auf ihre Extraforderung nur deshalb ein, weil er sah, daß ich mich immer mehr dem augenblicklichen Zustand Maine Bills näherte. Um mich selber aufrecht zu halten, bedurfte es eines ganzen Systems von Fäden und einer kompletten Hilfsmannschaft. Ich war im Grunde nicht viel mehr als eine seelenlose Marionette. Aber gerade weil sie an allerlei Fäden gezerrt wurden, bekamen alle Bewegungen meiner Gliedmaßen einen unerhört leichten, schier überirdischen Schwung, und der Regisseur konnte Schreie der Begeisterung nur mit Mühe unterdrücken. Meinen Minnedienst an der Dame verrichtete ich mit einem Ausdruck leerer Blasiertheit, den einfach keiner nachmachen konnte. Es fehlte nicht viel, und ich hätte der Puppe glatt ins Gesicht gegähnt. Ehe der Schusterlehrling in seiner Erzählung fortfuhr, erforschte er aus den Augenwinkeln die Reaktion vor allem seines weiblichen Publikums. Mit dem Ergebnis zufrieden, bemerkte er: Freilich, wäre ich in einer anderen Verfassung gewesen, wer weiß, ob ich nicht ihr zuliebe meine Facharbeiterprüfung doch um wenigstens ein
Jahr aufgeschoben hätte. Fiebig pumpte den Brustkasten voller Kraft und erzählte weiter. Emericis Fans würden folgende einmalige Sache auf der Breitwand miterleben und wahrscheinlich nie wieder vergessen: Hyperman fliegt mit seinem Sportflugzeug gramverzehrt, aber mit ausdruckslosem Gesicht über die Wüste hin und sucht seine Geliebte. Er will sie heim in den schützenden Bunker bringen. Mit vor Langerweile – denn was hat ihm die Welt noch zu bieten – verschwollenen Augen entdeckt er nichtsdestotrotz adlerscharf tief unten im Gewühl ihre schimmernde Haut. Letztere ist gerade im Begriff, unter röchelnden Leibern ihren Teint zu verlieren. Hyp ist in solchen Fällen nie verlegen. Er wirft ein langes Seil aus der Flugzeugkabine, bindet das obere Ende am Steuerknüppel fest und prüft, ob der Knoten hält. Vom Seil gleichsam auf Kurs gehalten, fliegt der Apparat eine geschlossene Vollkurve, deren Radius so eingesteuert ist, daß das untere Seilende immer wieder knapp über dem Knäuel wahnsinniger Menschen hinwegstreicht. Nun kurvt die Kiste also immer rundherum. Jim Hyp klettert am kreisenden Seil runter. Er wartet ab, bis das Seilende mit ihm wieder einmal über die Todeskandidaten hinstreicht, schnappt sich sein Mädel, wozu er sich, kopfunter hängend, nur mit den Beinen ans Seil klammert, beißt einem allzu anhänglichen Burschen in die Hand, so daß dieser loslassen muß, und klimmt mit der wiedergewonnenen Braut zum Flugzeug empor. Endlich in der brav weiterkurvenden Maschine angelangt, küßt er den teuren Schatz voll meisterhaft unterdrückter Leidenschaft. Die Aufnahmen hierzu gelangen unter den geschilderten Schwierigkeiten. Meine Partnerin stellte sich, besonders beim Küssen, nicht ungeschickt an. Sie hielt meine Gleichgültigkeit für hervorragend gespielt und bewunderte mich bis zur Anbetung. Mit dem allerletzten Rest meiner physischen Lebenskraft bedauerte ich, nicht in besserer Verfassung zu sein. Und dann gab es mir einen Stich. Die Schlußszene wurde vor einem richtigen zweisitzigen Sportflugzeug gedreht. Laut Regieanweisung hatte ich mit der Geretteten auf den Armen vom Flugzeug weg – und der Kamera entgegenzuschreiten. Meine hübsche Partnerin schmiegte sich
mit Charme und weiblicher Inbrunst an meine Brust. Alles umsonst. Sie mußte dabei doch von einem Hebekran mit unsichtbaren Seilen gehalten werden. Knox war mit dem Ergebnis unserer Arbeit überaus zufrieden. Nach Beendigung der Filmerei gab er sogar ein kleines Bankett, auf dem Whisky gereicht wurde. Meine Diva, ein Mädel, das so recht in diese Welt paßte, äußerte den Wunsch, ihren Helden einmal in Zivil zu sehen. Gern tat ich ihr den Gefallen und entledigte mich meines Raumanzuges, zumal ich wußte, daß ich in meinem grobkarierten Sportanzug keine schlechte Figur machte. Der feine Streichgarnstoff war bei allen Strapazen unter der groben Kombihülle kaum zerknittert worden. Wir tranken einander zu. Der scharfe Alkohol erweckte meine Lebensgeister ein klein wenig. Als meine Diva, im Film nannte ich sie Julia, ihren Handschuh fallen ließ, fand ich sogar die Kraft, mich danach zu bücken. Zu spät fühlte ich den kühlen Luftzug am Steiß. Wie von einer Klapperschlange gebissen, schnellte ich empor. Julia sank ohnmächtig dem erstbesten Komparsen in die Arme. Im Bruchteil eines Gedankens wurde mir wieder bewußt, daß bei jener Rutschpartie übers Kuppeldach des Planetariums einiges mit meinem Anzug passiert war. In jener Sekunde nahm ich mir vor, mich nie wieder in Abenteuer einzulassen, deren erdrückende Einwirkung das elementarste Erinnerungsvermögen trübte. Dann galt es, rasch zu handeln. Nichts wird im prüden Emerici schrecklicher geahndet als ein sittliches Vergehen oder auch nur Ungeschick. Waren die schockierten Herrschaften erst einmal zu sich gekommen, so hatte ich mit gefährlichen Herausforderungen zu rechnen. In meinem Zustand ging ich einem Duell denn doch besser aus dem Wege. Ich raffte den Strahlenschutzanzug auf und türmte. In meinem Zimmer lag Maine Bill noch immer bäuchlings über dem Handwagen und schnarchte. Der starre Krampf seiner Glieder hatte sich gelöst. Wie ein nasser Sack, mit baumelndem Kopf und schlaffen Armen hing der Mensch über dem unbequemen Gestell. Ich hatte keine Zeit für untaugliche Erweckungsversuche. Ich schrie ihn einfach an: Ein Flugzeug, Bill! Wir haben eine Maschine! Das wirkte, als hätte ich einem schlafenden Hund 'ne Leberwurst vor die Nase gehalten.
Bill fuhr auf und fragte: Wo? Ich stieg in fiebernder Hast in meinen Schutzanzug. Mach dich fertig, stieß ich hervor. Bill gähnte. Dann suchte er seine Zahnprothese. Dabei geriet er an die Wasserkaraffe und soff und soff. Ich riß ihm die Kanne aus den Händen und half ihm in den Overall, wobei ich ihm mit dem Knie ermunternde Stöße versetzte. Nie kriege ich wieder so gut sitzende Beißer, jammerte Bill. Dann machte er Anstalten, den Handwagen mitzunehmen. Ich raufte mir das Haar. Idiot, zischte ich. Aber den Sauerstoff, verteidigte sich Bill. Wir können doch nicht darauf verzichten – in diesen Zeiten. Zähneknirschend buckelte ich mir eine der schweren Flaschen auf, Bill nahm die andere. Im Vorübergehen griff er nach dem vorher so verschmähten Fallschirm. So bepackt verließen wir unser Asyl. Die gesamte Belegschaft von Twenty Knox fahndete bereits nach uns. Indes mußten ihre Bemühungen an Knox' Praxis scheitern, renitente Filmstars durch die Zurschaustellung beliebig vieler Doppelgänger gefügig zu machen. Nun liefen den Häschern überall Individuen in die Quere, die mir hundsgemein ähnlich sahen. Bill dagegen war nach Knox' eigenen Worten sowieso eine Dutzendgestalt auf dem Filmgelände. Wir gelangten folglich unbehelligt zu der Sportmaschine, vor der die letzte Szene gedreht worden war. Bill, der ehemalige Testflieger, strich witternd um den Apparat herum, tätschelte die Tragflügel, prüfte umständlich die Ruder, tat einen Blick in die Kabine und ließ sich sogar zu einem anerkennenden Kopfnicken hinreißen. Über seinen Körper lief ein Zittern, wie es ausgediente Terrier beim Anblick eines Hasen überfällt. Er öffnete die Motorhaube. Als er sich zu mir umdrehte, hing sein Unterkiefer wie eine leere Brotlade herab. Ich schloß ihm mit schnellem Griff den Mund und sprang instinktiv zur Seite. Wo, schrie Bill und ballte die Fäuste, wo, zum Teufel, ist denn der Motor? Ich zuckte arglos und ein wenig blöd die Schultern.
Bill zeigte mit bebendem Finger auf den Hohlraum unter der aufgeklappten Motorhaube. Du verdammter Arsch, das ist doch nur 'ne Attrappe, brüllte er. Es sieht aber doch so echt aus, stöhnte ich. Bill sank ächzend ins Gras. X minus sieben, röhrte es übers Gelände. Bill murmelte: Alles okay, nur der Motor fehlt. Und ich weiß auch, warum, vermutete ich tiefsinnig. Knox, dieser Geizhals, ließ ihn ausbauen, nur damit er für die Maschine keine Steuern zu zahlen braucht. Und so finden wir hier unser Ende bloß wegen eines blöden Knickers, fügte Dr. Pengs Assistent verstört hinzu. Ich streckte mich lang aus und lauschte dem Sausen meines überanstrengten Blutes. Bis zum Weltuntergang oder dem, was nach der Zündung einer nuklearen Ringladung rund um die Erde folgen mußte, waren nur noch knapp sieben Stunden. Nichts wäre einfacher gewesen, als die Stunde X zu verschlafen. Aber ich wollte dem Ende offenen Auges entgegensehen. Ganz zufällig fiel mein Blick auf die Sauerstoffflaschen. Es waren besondere Behälter mit mehreren hundert Atmosphären Überdruck. Jedermann weiß, daß reiner Sauerstoff die Sinne belebt, so wie dieses Element etwa einen verglimmenden Funken noch einmal hell zum Auflodern bringt. Als habe allein der Gedanke an dieses Elixier eine belebende Wirkung, begann mein Gehirn wieder zu arbeiten. Ich stand erregt auf. Wir fliegen, jubelte ich. Hurra, wir fliegen! Dazu breitete ich die Arme aus. Maine Bill zeigte mir in beleidigender Absicht einen Vogel. Leider war jetzt nicht die Zeit, entsprechend darauf zu reagieren. Ich nahm eine der großen Stahlflaschen und versuchte, sie am Heck der Maschine festzubinden. Bill schaute meinem Treiben mit verkniffenen Augen zu. Er bequemte sich sogar von seinem Liegeplatz unterm schattigen Tragflügel empor, wo er vermutlich bereits das Jüngste Gericht abwarten wollte, und ging mir skeptisch zur Hand. Wenn schon anmachen, dann am Schwerpunkt, Junge. So eine Kiste ist nämlich genau ausgetrimmt.
Wir banden die Flaschen unter der Pilotenkanzel an den Flugzeugrumpf. Dabei kam mir meine Gewohnheit zustatten, stets eine Rolle guten Schusterdrahtes bei mir zu haben. Bill begriff langsam. Er arbeitete mit zunehmendem Eifer. Sollte deine Idee wirklich etwas taugen, knurrte er dazu, dann erkläre ich sie für den genialsten Einfall in der Epoche der klassischen Fliegerei. Wir verrötelten die beiden Gaspatronen so mit dem Kabinenboden, daß die Ventile nach hinten starrten. Dann drehten wir die Flugzeugnase in den Wind. Bill befahl mir, in dem Flugapparat Platz zu nehmen, aber nicht auf dem bequemen Sitz neben dem Piloten, sondern, der besseren Trimmung wegen, längelang im leeren Motorengehäuse. Als ich verstaut war, nahm Bill einen Hammer aus dem Bordwerkzeugkasten und schlug mit wuchtigem Schlag das Ventil einer der Hochdruckflaschen ab. Mit grellem Pfeifen entwich das eingeschlossene Gas durch die entstandene Öffnung. Unser Vogel begann zu zittern, zu rollen, zu hopsen. Das ausströmende Gas trieb ihn immer schneller. In meiner Motorenkammer hörte ich, wie Bill das Kabinendach zuschlug, fühlte erleichtert, wie die Maschine vom Boden abhob, und erlitt die entfesselten Urlaute meines Begleiters. Bill schlug vor Freude ein Loch in die Kabinenwand nach dem Motorraum zu. Durch dieses Loch im Brandschott trat er mir gegen das Schienbein und schrie: Hörst du, mein Kleiner, wir fliegen. Hohoo, halleluja! Ich hörte viel weniger, als ich spürte: Bill hatte immerhin Schuhgröße sechsundvierzig. Und ich fürchtete, er werde den Verstand verlieren. Deshalb fragte ich ziemlich frostig: Ja, wohin denn. Daraufhin wurde es in der Kabine ruhig. Unterm Flugzeugrumpf machte sich das mit List und Gewalt eingepferchte Gas pfeifend frei. Durch seine Schubkraft gewannen wir merklich an Höhe. Ja, wohin denn nur, fragte Bill. Allzulange würde dieser Antrieb nicht vorhalten. Wenn wir auch noch eine zweite Patrone hatten und die Maschine nach Abflauen der Schubkraft um das Gewicht des ersten Triebwerkes erleichtern konnten, so war es doch notwendig, recht bald auf Kurs zu steuern. Endlich erklärte Bill: Nach Carnotit Springs, zu den Bergleuten.
Die Maschine hatte jetzt im Horizontalflug eine beträchtliche Geschwindigkeit erreicht. Da die Geräuschquelle des Antriebs etwas hinter der Kabine lag, konnten wir uns mühelos verständigen. Nach Carnotit Springs, zu den Bergleuten, fragte ich, wieso denn. Bill wackelte übermütig mit den Tragflügeln, so daß ich in der Motorwanne wie in einer Schiffskoje gerollt wurde. Wieso? schrie Bill, weil dort der Unglaube auferstanden ist. Ich brauchte Zeit, um die Nachricht zu verarbeiten. Seit wir flogen, nährte ich die Hoffnung, vielleicht doch noch zu Professor Peng zu gelangen. Bis nach White Mountain Village waren es etwa viertausend Kilometer Luftweg. Wir schrieben x minus sechseinhalb Stunden absolute Erdzeit. Wenn die Kiste nur sechshundert Kilometer in der Stunde zurücklegte, kamen wir vielleicht gerade noch rechtzeitig dort an, um die Rakete aufzulassen. Wenn schon die Emericiner die Wahrheit nicht wissen wollten, so war es anständiger, zusammen mit den Menschen auf der anderen Erdhälfte zu sterben. Aber nun setzte Bill seine Hoffnung auf den Unglauben der Bergleute. Wozu? Ärgerlich rief ich: Deine Ungläubigen werden nichts verhindern können. Eine Hoffnung, die sich allein auf Unglauben stützt, genügt doch nicht. Ich merkte, wie Bill völlig unbegründet den Gashebel betätigte, als könnte das irgendeinen Einfluß auf unsere Fahrt haben. Hör mich an, Junge, rief er. In seiner Stimme lag etwas Rührendes. Ich will, verdammt, kein Gehilfe der Wissenschaft sein, wenn ich auf diesem Trip um die Erde nur das Gravitationsgesetz wiedergefunden habe. Ich will mich einen Trottel heißen, wenn ich nicht auch ein paar andere Erkenntnisse gewonnen habe. Der Unglaube bei den Bergleuten gegen diese verfluchte Lügenmaschine ist ein neuer Anfang. Unser Land wird von Schuften regiert. Die Goldene Herde trägt ebensowenig die Opfer ihres Weltanschlags, wie sie die Sprengstoffe dazu entwickelt, die Ladung angebracht, die Bunker gebaut, die operativen Pläne erarbeitet oder die Berechnungsgrundlagen geschaffen hat. Stets brauchen sie zur Ausführung ihrer abenteuerlichen Pläne, zur Herstellung und Sicherung ihrer Macht andere Menschen, große Massen von Menschen, Arbeitern, Fachleuten, Wissenschaftlern, die bereit sind, sich dafür herzugeben, daß sie nur immer weiter verdummt und ausgenutzt werden. Ob diese Schufte
nun die Ladung zünden oder nicht, ich gehöre jetzt dorthin, wo ihr Lügengespinst, ihr Tarnungsnetz, ihr Täuschungsgebilde ein Loch bekommen hat. Eine Weile war nur das Pfeifen des entweichenden Sauerstoffs zu vernehmen. Und was wird aus mir, fragte ich. Bill hustete. Hör zu, Kamerad, fliege du weiter. Versuche, dich zu Dr. Peng durchzuschlagen. Wenn die Maschine um einen Mann leichter wird, erhöht sich ihre Reichweite. Es genügt, wenn du dem Professor die Newtonsche Formel bringst. Und dann hopst ihr rüber auf die andere Seite. Die Goldene Herde braucht dich und den Professor. Ihr allein habt das Geheimnis der Superphonrakete. Wenn ihr weg seid und die Rakete dazu, wird die Sprengung für sie sinnlos, weil die Verbindungstechnik zu den Rohstoffplaneten fehlt. Was mich betrifft, ich bleibe bei den Bergleuten. Du brauchst deinen Landsleuten nichts zu erzählen. Was hier im Schatten der offiziellen Entspannungspolitik betrieben wird, ist so unwahrscheinlich, daß es dir sowieso kein Mensch abnimmt. Das bedeutete Trennung. Wie oft hatte ich Bill schon los sein wollen. Nun, da er mich wirklich verließ, empfand ich den Abschied bitter. Vergeblich suchte ich nach einem Zauberwort, das ihn sein Vorhaben vergessen ließ. Und Aurora, fragte ich verzweifelt. Der Fahrwind brauste zu kräftig, als daß ich Bills Seufzer hätte vernehmen können. Er antwortete gepreßt: Es ist mein Elend, daß ich stets anderswo dringender gebraucht werde als dort, wo es mich hinzieht. Jetzt, da ich mich am stärksten zu ihr sehne, werde ich hier zum erstenmal wirklich gebraucht. Auch daran sind diese Gangster von der Goldenen Herde schuld. Bill reichte mir unvermittelt ein Stemmeisen durch und befahl: Sobald ich ausgestiegen bin, kommst du heraus und nimmst meinen Platz am Steuer ein. Stemm dir inzwischen ein Schlupfloch ins Brandschott. Ich begann zu arbeiten. Bill gab mir unterdessen Ratschläge, wie ich das Flugzeug steuern müsse, und schärfte mir ein: Falls Jäger auftauchen sollten, drückst du dich in die Wolken. Plötzlich tastete seine Hand nach der meinen. Es ist soweit. Ich verblocke jetzt die Steuerung zum Geradeausflug. Schließ das Kabinendach wieder. – Leb wohl, Junge. Grüß die andere Welt!
Ein letzter Händedruck. Seine von Stockschlägen blaugeschwollene Rechte lag einen Augenblick lang in der meinen. Mehr konnte ich von ihm nicht sehen. Sie übergab mir zum Abschied jene Stahlkugel, die ihm zum Nachweis der Erdbeschleunigung gedient hatte. Leb wohl, rief er noch einmal, dann riß ihn der Luftzug weg. Ich schlüpfte aus der engen Motorwanne und machte es mir auf dem Pilotensitz bequem. Da das Kabinendach einmal zurückgeschoben war, löste ich den Schleudermechanismus des Beisitzes aus, so daß dieser mit Knall und Pulverdampf aus der Kabine schoß. Ich nutzte die Bewegungsfreiheit und stemmte anstelle des Beisitzes einen langen, breiten Schlitz in den Kabinenboden, so daß ich an die Drahtverrötelung der beiden Druckbehälter gelangte. Das Kabinendach hatte ich zuvor geschlossen, dennoch war das Fliegen nunmehr keine reine Freude. Durch die Bodenöffnung drückte der Fahrwind und blies mir die Backen auf. Ich mußte das Visier meines Schutzanzuges schließen. Das leichte Sportflugzeug, ehemals mit einer Propellerturbine ausgerüstet, war für Geschwindigkeiten um fünfhundert Kilometer je Stunde konstruiert. Der Sauerstoffstrahlantrieb war jedoch stärker, so daß der Apparat tückische Stampfbewegungen machte. Ich hielt die Maschine ängstlich auf dem von Bill vorgezeichneten Kurs. Dort unten, wo der Yankee verschwunden war, dehnten sich dichte Wolkenbänke. Was hatte ich nicht an diesem Menschen gesündigt! Wie so oft, wenn man einen guten Kameraden verloren hat, kam die Erkenntnis zu spät. Glücklicherweise hatte ich keine Zeit zum Traurigsein. Die Kraft der ersten Vorratsflasche ließ rapide nach. Dabei konnte das Flugzeug kaum ein Drittel der gesamten Flugstrecke zurückgelegt haben. Wenn mich die zweite Patrone auch etwas weiter treiben würde, da ich ja keinen Höhenunterschied überwinden mußte, so konnte ich doch niemals ans Ziel gelangen. Bekümmert löste ich die Fesseln des sich leerenden Schubgefäßes. Die steuerlose Flasche schoß mit dem letzten Rest ihres Inhalts in tollen Kapriolen davon. Um keine Fahrt zu verlieren, beeilte ich mich, das Ventil des zweiten Druckbehälters abzuschlagen. Der abgehauene Ventilstutzen flog wie eine Kanonenkugel weg. Gleich danach ging ich in einen leich-
ten Stichflug über, wodurch sich die Geschwindigkeit ohne Mehraufwand erhöhte. In dieser Fluglage zischte der Apparat nun stundenlang dahin. Am Verhalten der ersten Gasflasche hatte ich festgestellt, daß die Ausströmgeschwindigkeit während des gesamten Expansionsvorganges nahezu konstant blieb und nur ganz zum Schluß jählings abfiel. Ich führte diese Erscheinung auf das Profil des Druckbehälters zurück. Sicherlich hatten die Konstrukteure des Vorratsbehälters einen solchen Effekt beabsichtigt, wenn auch nicht um des Fliegens willen. Doch wozu zerbrach ich mir den Kopf? Es war nur zu gewiß, daß ich weit vom Ziel entfernt niedergehen mußte, gleich, wieviel Kilometer ich durch fliegerische Finessen herausschund. Aber seltsamerweise rumorte in der hintersten Ecke meines Schädels die fixe Idee, daß vielleicht doch noch nicht alles zur Rettung bedacht war. Und schließlich kam mir einer jener Einfälle, wie sie nur Menschen in höchster Not zuweilen haben. Ein Beobachter hätte über das Gebaren, das ich nun an den Tag legte, den Kopf schütteln müssen. Ich kroch nämlich, das Flugzeug dem Geradeausflug überlassend, ins leere Motorengehäuse zurück. Dort lockerte ich mit Hammer und Meißel, im Schweiße meines Angesichts, die Propellernabe von innen her so weit, daß ich den Propeller im Bedarfsfalle samt Nebenkegel mit einem wuchtigen Hammerschlag vollends abtreiben konnte. Die unnütze Luftschraube war mir wegen ihres bremsenden Widerstandes längst schon verhaßt. Leider durfte ich sie nicht vorzeitig abstoßen, weil sonst durch die Öffnung an der Rumpfnase der Fahrwind mit zerstörerischer Wucht ins Flugzeug gestoßen wäre. Die dabei auftretenden Staukräfte hätten die leichte Rumpfzelle auf der Stelle zersprengt. Nachdem ich die Nabe hinreichend gelockert hatte, kroch ich in die Kabine zurück, korrigierte eine kleine Kursabweichung und verschnaufte erst einmal. Eine rechte Schinderei stand mir noch bevor. Noch nie hat die Luftfahrt einem Menschen solche Mühsal bereitet wie mir. Unter mir erschien in der Landschaft eine Flußgabelung. Das mußte die Einmündung des Ohio in den Mississippi sein. Da vernahm ich den Oktavensturz des Pfeifgeräusches aus dem Triebwerk. Nun galt es unverzüglich zu handeln. Schon vorher hatte ich das Flaschenende durch einen haltbaren Pechdraht, den ich mir beim Abwurf der ersten Flasche
zurückgewonnen hatte, mit dem Kabinendach verbunden. Jetzt lockerte ich die Verrötelungen der zweiten Flasche so weit, daß sie nicht davonflog, aber für das folgende Manöver genügend Spielraum hatte. Ich drückte mittels Hebelkraft das Kabinendach zurück. Am starren vorderen Teil der Kabine hatte ich einen starken Haken bemerkt, dessen Zweck ich mir nicht erklären konnte. Über diesen Haken ließ ich nun Schusterzwirn laufen, auf dessen selbstverfertigte Haltbarkeit ich mir etwas zugute hielt, und benutzte ihn somit als Umlenkpunkt. Der Kräftezug reichte vom Schiebedach über den Haken am Frontgehäuse zum Flaschenboden. Je weiter ich das Dach zurückhebelte, desto höher wurde die schwere Stahlflasche, mit dem Boden zuoberst, in die Kabine hereingehievt. Durch die Öffnung im Kabinenboden stieg so ein stählerner Fahrgast herauf, bis er nahezu senkrecht neben mir schwebte. Der nachlassende Schubstrahl, welcher, zugegeben, meinem dünnen Schusterzwirn auf das beste zu Hilfe wirkte, verströmte nach unten ins Freie. Doch nur für einen Augenblick durfte ich verschnaufen. Dann hob ich den schweren Hohlkörper unter Aufbietung letzter Kräfte an und bugsierte ihn, diesmal mit der Ausströmöffnung voran, in die leere Motorenhöhle, wo ich zuvor gelegen hatte. Schon neigte der Aeroplan die Nase erdenwärts, da stieß ich, den Rücken gegen den Pilotensitz gestemmt, den langen Flaschenkörper mit einem kräftigen Fußtritt gegen die gelockerte Propellernabe. Damit erreichte ich einmal, daß das Kabinendach durch den Seilzug mit einem Ruck zuklappte, aber als Wichtigstes, daß die Luftschraube vom Motorraum her ausgestoßen, abgestoßen wurde. Anstelle des so entstandenen gefährlichen Loches in der Rumpfnase erschien sofort der konisch verjüngte Flaschenhals. Eiligst verkeilte ich die Flasche gegen das halbdemolierte Brandschott zwischen Motorhöhle und Kabine, indem ich die Werkzeugkiste dazwischenschob. Das Flugzeug war bereits zum Sturzflug übergegangen. Ich hockte schweißüberströmt am Steuerknüppel und harrte der Dinge, die da kommen mußten. Deutlich erkannte ich die heranrasenden Einzelheiten
der Landschaft, da machte sich an der Rumpfnase ein hohles Röhren und Pfeifen bemerkbar. Die Maschine zog wieder an. Was war geschehen? Durch das Ausströmen von mehreren hundert Atmosphären Überdruck aus einem allseitig geschlossenen Behälter war in demselben ein ebenso großes Vakuum entstanden. Dieses füllte sich nun genauso intensiv wieder auf, wie sich die Flasche entleert hatte. Dabei wurde die vormalige Ausströmdüse im Hand- beziehungsweise Flaschenumdrehen zur Ansaugöffnung. Klar, mein pneumatisches Gefäß würde sich nun so lange gierig an der Luft vollschnorcheln und dabei den Flugapparat hinter sich herziehen, bis es seinen gewohnten inneren Arbeitsdruck, auf den es geeicht war, wiedererlangt hatte. Nun konnte ich den Steuerknüppel unbesorgt an den Bauch ziehen. Mit dem Perpetuum mobile, das ich durch Zufall gefunden hatte, war die restliche Flugstrecke überhaupt kein Problem mehr. Ich hätte ohne Zwischenlandung den Atlantik überqueren können, wenn ich für weitere Flaschenumwendungen noch genügend Kraft in den Knochen gehabt hätte. Der jugendliche Erzähler lächelte wie in Erinnerung an einen seiner merkwürdigsten Streiche. Er ließ jedoch seinen Zuhörern keine Zeit zur Besinnung und fuhr sogleich fort: Der letzte Flugabschnitt verlief ohne Zwischenfall, nur daß die Maschine durch den Wegfall des Propellerwiderstandes noch mehr Fahrt bekommen hatte. Die Rumpfnase klebte förmlich wie ein gieriger Saugnapf an der Atmosphäre. Mir schien, als wäre es ganz gleich, ob sich die Ansaugöffnung am Bug eines aerodynamischen Körpers oder an der Deichsel eines Heuwagens befand. Sie hätte auch jenen mit gleichem Ungestüm durch die Luft gerissen. Ich orientierte mich nach dem Lauf des Ohio, überquerte dann die Appalachen und schwang mich über die „Grünen Berge“, hinter denen ich mein Ziel, die „Weißen Berge“, wußte. Als ich den Connecticut Canon überflog, entdeckte ich hinter mir eine Anzahl Jagdflugzeuge. Ich atmete auf. Schon längst hatte mich die unheimliche Leere des Himmels deprimiert. Die Verfolger brausten mit Überschallgeschwindigkeit heran, verminderten die Fahrt und umkreisten mich in weiten Schleifen. Aber ich war bereits am Ziel. Deutlich erkannte ich auf einer Waldlichtung die von Bill hundertmal beschriebenen Umrisse der Versuchs-
anstalt des Dr. Peng. Unverkennbar zeichnete sich das Hauptquartier des Gelehrten, ein griechischer Säulentempel mit Deltagiebeln, ab. Wenn ich an die Stimmung der Piloten dachte, die kurz vor der Stunde X noch einmal ihre Maschine aus dem Sand buddeln mußten, konnte ich ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken. Jawohl, ich drehte gehorsam bei und steuerte die werkseigene Rollbahn an. Aber ich konnte ja nicht landen, weil sich das Vakuumtriebwerk nicht regulieren ließ. Es wäre gewiß eine lohnende Aufgabe gewesen, dafür einmal einen geeigneten Drosselschieber zu entwickeln. Meinen Fallschirm hatte ich zum Glück noch immer bei mir. Ich stieg also einfach aus, nicht ohne zuvor meinen Verfolgern eine lange Nase gedreht zu haben. Gehorsam öffnete sich der Schirm. Sanft schwebte ich hinab und landete direkt auf dem Dach des Tempels der Wissenschaft. Die Piloten der Jagdstaffel setzten ihre Maschinen nacheinander hinter den verlassenen Flugapparat und jagten Feuerstöße aus ihren Bordkanonen in die unschuldige Attrappe. Ich löste mich, begünstigt von einer absoluten Windstille, aus den Fallschirmgurten, schaute mit leiser Wehmut zu, wie die Phantome aus meiner braven, schwergeprüften Taube Späne machten, hörte in unmittelbarer Nähe den schon vermißten Lautsprecher brüllen: x minus dreißig Minuten! und schlief ein. Lange starrte Fiebig stumm vor sich hin, ehe er behutsam weitersprach: Es wäre unserem Ansehen nicht abträglich, wenn wir uns von Zeit zu Zeit darüber Rechenschaft ablegten, wieviel wir unseren Feinden verdanken. Denn seht, wir gehen doch nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die Verfolger den Auftrag hatten, mich tot oder lebendig ins Spalterhauptquartier zu bringen. Na ja, sonst hätten sie doch nicht den Versuch unternommen, auf der Rollbahn des Forschungsgeländes niederzugehen. Nun war aber das Landen auf einer fremden Piste keine einfache Sache, zumal der Bodendienst seine Tätigkeit bereits eingestellt hatte. Deshalb brauchten die Piloten mehrere Anflüge, um sich mit den hiesigen Verhältnissen vertraut zu machen. Jeder Mensch, der in der Nähe eines Flugplatzes wohnt, wird schwören, daß der Lärm durchstartender Strahlturbinen Tote erwecken kann. Wir dürfen daher getrost schlußfolgern,
daß ich heute an dieser Stelle nicht berichten könnte, wenn die Maschinen nicht fortwährend über das Dach hinweggebraust wären, auf dem ich lag. Dabei erweckten sie mich aus einem Schlaf, der mindestens drei Tage gedauert hätte. Ich wußte nicht, wie lange ich scheintot bäuchlings überm Dachfirst gehangen hatte. Wieder bei Sinnen, zögerte ich keinen Augenblick, mir Zugang ins Haus zu verschaffen. Ich hob einen Dachziegel etwas an und überließ den Rest der nächsten Jagdmaschine. Ihr Schubstrahl faßte unter den geschaffenen Angriffspunkt und hob wie ein Orkan das halbe Dach ab. Wie lose Blätter im Herbststurm, so segelten die Dachziegel davon. Durch das Dach, über den Hausboden gelangte ich bequem ins Innere des Gebäudes. Gleichsam durch das Oberstübchen drang ich zu dem Geist vor, der hier im Unzugänglichkeitspol der Forscherstadt wirkte. Wenn ich jedoch annahm, einen bärtigen Tattergreis vorzufinden, der im fortschreitenden geistigen Verfall seine Formeln nicht behalten konnte, so hatte ich mich geirrt. Noch nie wurde ich von so scharf geschliffenen Brillengläsern angeblitzt. So abweisend runzelte sich bei meinem Eintritt noch nirgendwo eine Stirn. Der Gelehrte stand an einem großen Globus, wo er soeben noch einmal den Verlauf der Kernschlagschnur um die Erde studiert haben mochte. Wie oft war er dieser knallroten Linie schon mit sorgenvollen Blicken gefolgt? Alles schien in Ordnung zu sein. Die astronomischen Berechnungen stimmten, die Konstellation zur Sonne im Augenblick der Zündung sowie die Sprengverzögerungslücke zur Einschleuderung in die neue Polachse waren raffiniert gewählt. Alles an dem Unternehmen atmete Kühnheit und Größe. Es war gleich Mittag. X minus zehn Minuten, schrie der Lautsprecher. Nur ein Mann wie Professor Peng wachte in dieser Stunde noch außerhalb eines Bunkers über das Schicksal der Nation. Er selbst hatte mit dem Spalterprojekt wenig zu tun. Sein Fachgebiet waren jene lebenswichtigen Raketen, die nach vollzogener Geburt der neuen Welt, einer Welt frei von Furcht vor dem Kommunismus, den Verkehr mit dem dann menschenleeren Rohstoff-Tenderplaneten aufnehmen sollten. Lediglich in bezug auf die zu erwartenden neuen astronautischen Gegebenheiten hatte er das Projekt zu prüfen. Aber sein Forschergeist konnte sich nicht mit einer Teilaufgabe, und wäre sie noch so
grandios, begnügen. So prüfte er denn rein privat und mit leidenschaftlichem Herzen das Vorhaben auf seine prinzipielle Durchführbarkeit. Er hätte die kosmogeniale Lösung der sozialökonomischen Weltprobleme ohne weiteres gutgeheißen, wenn, ja wenn seine Überprüfungen ein positives Resultat gezeitigt hätten. Aber hier stimmte etwas nicht. Da war etwas, was die Experten übersehen hatten! Hier fehlte ein Posten auf der Rechnung. Dr. Pyrrhus Peng wartete fieberhaft auf die Rückkehr seines Assistenten. Beim Eindringen einer vermummten, keineswegs vertrauenerweckenden Gestalt griff der Gelehrte geistesgegenwärtig zur Pistole. Immerhin lagen auf seinem Tisch streng geheime Dokumente. Langsam hob sich die schwarze Mündung. Ich hörte den Sicherungshebel knacken. Peng zielte mir mit verblüffend ruhiger Hand direkt ins linke Auge. Ich sah seine von Kimme und Korn gekerbte, durch die Brille überdimensional vergrößerte Pupille. Langsam krümmte sich sein Finger durch. Bis hierher war ungestraft noch nie ein Fremder vorgedrungen. Ich sah mich schon als Leiche. Um noch im Tode meinen Auftrag zu erfüllen, schrie ich: Gamma mal em eins mal em zwei durch errquadrat! Dann erst erinnerte ich mich voller Schrecken, daß der Mann ja stocktaub war. Seine Trommelfelle waren durch jene Versuche mit dem Fiebigschen Trompeteneffekt längst geplatzt, der Gehörgang durch fleischige Schutzwucherungen völlig geschlossen. Jeden Augenblick mußte die Kugel aus dem Lauf flitzen. Ich hielt mit schreckgeweiteten Augen die Hand vor mich, wobei ich die Finger spreizte, so wie kleine Kinder sich vor einem bösen Hund zu schützen versuchen. In meiner Verzweiflung malte ich mit der anderen Hand die verdammte Formel in die Luft. Gamma, schrie ich, Gamma, Gam-ma, in der Hoffnung, er würde mir den Namen des Symbols für die Gravitationskonstante wenigstens von den Lippen lesen. Ohne daß das Schießeisen zunächst sank, erblödete das zielende Auge. Es kehrte sich wie bei einem nach Vokabeln befragten Gymnasiasten nach innen. Das Brillenglas zeigte mir die blutunterlaufenen Äderchen auf dem weißlich schimmernden Augapfel, während das andere Auge noch immer wie beim Zielen zugekniffen blieb. Der Professor unterzog sein Gehirn einer tiefgreifenden Revision.
Gam-ma, sagte er mit schriller, wie bei Taubstummen unkontrollierter Stimme. Dann sträubte sich sein schlohweißes Haar. Dann sank endlich die Pistole. Dann stieß er hervor: Aber das ist doch – Newton! Er stürzte ans Telefon. Zentrale, schrie er. Aber es meldete sich keine Zentrale. Es meldete sich überhaupt nichts mehr, wohin der Professor auch anrief. Zwischendurch krähte er: Wahnsinn. Das ist doch Wahnsinn. X minus neun, kreischte wie zum Hohn der Lautsprecher. Auf einer Tafel erschien die entsprechende Leuchtschrift. Ich machte Peng darauf aufmerksam, und während dieser aus der Situation seine Schlüsse zog, hatte ich endlich Gelegenheit, meine Armbanduhr zu stellen. Dabei erinnerte ich mich in Sekundenschnelle aller wichtigen Stationen meiner Reise. Am ersten Tag war ich bis nach Moskau gekommen, wo ich mit meinem Freund Petja im mitternächtlichen Kreml das wohl seltsamste und unerklärlichste Abenteuer dieser Reise erlebt hatte. Am zweiten Reisetag wurde ich in Kanton über die Grenze abgeschoben und schlug in Hongkong einen Menschen nieder, den besten Menschen, den ich je gekannt habe. Am dritten Tag holte mich Bill in Tokio ein. Am vierten Tag überquerte ich auf Ostkurs die Datumsgrenze und verlor das Wettschwimmen um Aurora. Am fünften Tag verlor ich meinen Begleiter erneut, geriet in die Gewalt Axls und erlebte im Planetarium das große Schauspiel von der Hinrichtung der Welt. Am siebenten Tag zog ich mit Bill in die Wüste, wurde als Jim Hyp zum Idol der emericinischen Jugend erhoben und verlor Bill für immer. Jetzt näherte sich der Zenit des achten Tages. Die Kalendertage wußte ich nicht. Vieles war in Axls Kältekammer aus meinem Gedächtnis wie ausgefroren. Damals wurde zum erstenmal die Weltzeit ausgerufen, x minus achtundvierzig Stunden. Die Frist lief in knapp neun Minuten ab. Mir war jedoch klar, daß ich bei diesem rasanten Reisetempo trotz aller Hindernisse nur sieben effektive Kalendertage
unterwegs war, eine Thematik, über die Jules Verne bereits ausführlich berichtet hatte. Ich hatte also noch einen ganzen Tag bis zu meiner Rückkehr in die Heimat gut. Von Berlin trennten mich jedoch noch immer rund fünfundachtzig Längengrade, wie ich auf dem Globus des Professors leicht erkennen konnte. Das heißt, zu Hause zählte man den siebenten Tag nach meinem Verschwinden bereits mit siebzehn Stunden und dreißig Minuten. In wenigen Minuten aber ging die Zeitrechnung offenbar zu Ende. Wenn kein Wunder geschah, war die Welt nicht mehr zu retten. Wie aus weiter Ferne vernahm ich die Stimme des Professors: Das Schiff ist startklar, nur die Flugbahn ist noch nicht berechnet. Soweit er dabei seine Stimme, der Taubheit wegen, beherrschte, konnte ich daraus bittere Ironie hören: Wohin befehlen Sie? Zum Mars? Zur Venus? Dort dürfte es nicht gastlicher zugehen als auf Erden – nach dem, was jetzt kommt. Nach Europa, schrieb ich auf einen Zettel, DDR. Pengs Brillengläser blitzten. Verstehe, sagte er. Der Herr zieht es vor, in der Alten Welt, in der Wiege dieser Menschheit, zu verenden, die es bis zu diesem Tag hat kommen lassen. Die drei magischen, gleichsam bauchigen Buchstaben mochten dem Wissenschaftler nicht viel bedeuten. Doch in seinen bitteren Worten lag der Neid, der Urneid des in der sogenannten Neuen Welt Geborenen, um die Geschichte des Europäers, O ja, ich verstand ihn gut. Wo dieser Mensch, der sich mit importierten attischen Säulen umgab, wo dieser Gelehrte auch starb, starb er in der Fremde. Ich drängte: Wenn wir überhaupt noch wegkommen wollen, müssen wir dieses Gespräch unterbrechen. Aber er war ja taub. Zum Glück erschien die Leuchtschrift wieder: x minus sieben. Da zog mich der Professor entschlossen mit sich fort. Es ging durch schmale Gänge, in Fahrstühlen immer tiefer hinab, so daß ich schon fürchtete, er wolle mit mir in einem Bunker unterkriechen. Endlich tat sich eine schmale Eisentür, eher ein Schott, auf. Wir sahen uns vor einer kleinen Klappbrücke, die über einen tiefen Schacht zum Einstieg in die Raumschiffkanzel führte. Diese befand sich in der Spitze
eines schlanken Projektils, das in einem ausgemauerten runden Schacht wie in einem Rohr stand. Der Professor erläuterte: Der Start aus dem Erdinnern hat den Vorteil, daß keinerlei Schallenergie nach den Seiten hin entweichen kann. Das leuchtete mir zwar ein, dennoch war ich enttäuscht. Im stillen hatte ich gehofft, die Fiebigschen Trompetendüsen endlich in ihrer ganzen Größe zu sehen. So verlor sich der schlanke Raketenkörper leider im Dunkel des Schachtes. Die Raumkabine, die wir gleich darauf betraten, bot nichts von besonderem Interesse. Sie wich in keiner Weise von den zur Zeit gebräuchlichen Konstruktionen ab, höchstens war sie in allen Ausmaßen größer angelegt. Der bewohnbare Teil gliederte sich in den Steuerraum, den Schleusenraum, die Vorratskammern, Schlaf- und Aufenthaltsräume mit Bad und Toilette sowie eine Bibliothek. Letzte war mit einem Spitzbogengewölbe ausgestattet, ähnlich einer gotischen Kapelle, und im obersten, konischen Teil der Rakete gelegen. Die Bibliothek war übrigens der einzige Raum, der ein Bullauge aufwies. In allen anderen Abteilungen mußte die Betrachtung der Außenwelt über Bildschirme geschehen. Soeben erschien auf einem der Monitore die Meldung: x minus vier Minuten! Der Professor begann fieberhaft am Schaltpult zu arbeiten. Ich muß gestehen, daß ich bei der Steuerung der Rakete gänzlich auf ihn angewiesen war. Die einzige Instrumentierung unserer Schuhmacherwerkstatt zu Hause bestand nämlich aus einem alten Wecker, dessen Läutwerk nur nach einem kräftigen Schlag mit dem Schusterhammer in Aktion trat. Um nicht tatenlos zuzusehen, wie Peng auf dem Elektronenklavier furioso spielte, zwängte ich mich in einen der Raumanzüge, die an besonderen Halterungen bereitstanden, wobei mich die Taubheit des Gelehrten dazu verleitete, gräßliche Flüche auszustoßen. Endlich leuchtete eine rote Lampe auf, und Peng verkündete: Fertig! X minus drei Minuten! zeigte der Monitor an. Nun brauchen wir nur noch die Zündschnur anzubrennen, erklärte Pyrrhus Peng. –?–
Ja, glauben Sie wirklich, ich verlasse mich in einer so wichtigen Sache wie der Zündung dieser Triebwerke auf einen komplizierten elektrischen Zündmechanismus? Das leuchtete mir ein. Peng gab mir Streichhölzer. Er drückte mir eine Taschenlampe in die Hand und bat: Sie sind der Jüngere von uns beiden, guter Freund. Klettern Sie hinunter zu den Düsen. Es sind zwar nur knapp zweihundert Leitersprossen, aber ich könnte vielleicht zu langsam sein. Er drängelte mich aus dem Schott. Und denken Sie daran: Die Zündschnur ist für nur eine Minute Brenndauer zurechtgeschnitten. Um nicht auf die Vorstellung zu kommen, mit dem Professor könnte etwas nicht in Ordnung sein, begann ich still zu beten. Dabei hastete ich die Steigeisen in der Schachtwand hinunter. X minus zwei! höhnte es hinter mir her. Beim dritten ausführlichen Vaterunser, weiß der Teufel, woher sich die Gebetsverse plötzlich einstellten, war ich auf der untersten Sprosse angelangt. Ich fand keinen festen Boden darunter, sosehr mein Fuß auch tastete. Eine Hand an der Steigleiter, im Mund die Stablampe, die Streichhölzer unters Kinn geklemmt, so versuchte ich, Feuer zu reißen. Als die Zündschnur endlich brannte, entfuhr mir ein erleichtertes Amen. Dabei entfiel mir die Taschenlampe, und so konnte ich auch in dieser letzten Minute keinen Blick auf die gewaltigen Triebwerke werfen, die meinen Namen trugen. Als die Stablampe in der Tiefe verpoltert war, dröhnte es oben: Wo bleiben Sie denn, Mensch? Die letzte Minute ist angebrochen! Ich muß das Schott schließen. In der doppelten Verpackung meines Atomschutzanzuges und des schweren Skaphanders keuchte ich die Steigleiter hinauf. Ehe ich hintenüberkippte, zog mich Dr. Peng in die Kabine. Das Schott knallte zu. Eine Stimme röhrte: x minus sechs Sekunden, fünf, vier, drei, zwei, eins, null… Das Gähnen der Schallawine fiel mit dem Weltuntergang in eins. Ich sank auf den schweren Kabinenteppich. Tonnenschwere Lasten wälzten sich auf mich. Mein Kopf bekam das Gewicht eines Elefanten.
Fiebig schüttelte heftig den Kopf, als wolle er eine geradezu unerträgliche Erinnerung verscheuchen, dann steuerte er seine Erzählung entschlossen auf das Ende zu. Schließlich ließ der Druck nach. Ich wagte nicht, mich aufzurichten. Pengs Stimme krähte über mir: Hören Sie, junger Freund, wir fliegen ins Nichts. Ich habe keine Ahnung, ob, wo und wann wir eines Tages landen werden. Aber ich mag nicht länger zu einer Menschheit gehören, die das fatalste Experiment aller Zeiten ausführte. Wir haben Proviant und Bücher für den Rest unseres Lebens an Bord. Lassen Sie uns also unsere Tage im freien Flug, schwerelos, bei geruhsamer Kontemplation zubringen. Seine Worte, wahrscheinlich sehr leise gesprochen, dröhnten mir im Kopf wie Paukenschläge. Allmählich schwand der rote Schleier vor meinen Augen. Vorsichtig schaute ich mich um. Mein erster Blick galt der Mattscheibe. Noch bedeckte die Erde mit kaum wahrnehmbarer Oberflächenkrümmung fast die ganze Projektionsfläche. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, weil sich gerade jetzt große Wolkenfelder über ihr Angesicht breiteten. Offensichtlich verließen wir den Planeten auf einer sehr steilen, fast senkrechten Bahn, denn obwohl wir schon viele Minuten stiegen, befanden wir uns noch immer über dem Atlantik, wie das Gitternetz auf der Mattscheibe auswies. Jetzt erst entdeckte ich den Professor. Er lag über mir in seinem profilgerechten Startbehälter, darin er weit weniger unter der Schwerkraft litt als ich, der immer noch auf dem Teppich lag. Peng schaute väterlich auf mich herab. Jawohl, er war verrückt! Er schwebte in einem so gehobenen Götterwahn, wie Menschen seiner nur teilhaftig werden, wenn sie überkandideln. Dabei entging ihm gänzlich, daß es ein großer Unterschied war, ob ein Greis oder ein Jüngling zeitlebens in einer Raketenzelle eingeschlossen blieb. Ihm deswegen Vorhaltungen zu machen wäre sinnlos gewesen. Er lächelte sein entrücktes Lächeln, mir aber sträubte sich das Haar bei dem Gedanken, diese Grimasse vielleicht noch jahrelang ertragen zu müssen. Inzwischen zeichnete sich die Erde auf dem Bildschirm deutlicher als Kugelausschnitt ab. Mir wurde immer dringender bewußt: Das war mei-
ne Mutter Erde, der wunderbarste aller Himmelskörper. Sie war bereits kein Hier mehr, war zu einem fernen Dort geworden, zu einer schimmernden, noch nicht ganz überschaubaren, doch vielleicht schon unerreichbaren Ferne. Und mit jeder Sekunde wurde ich weiter von dort weggerissen. Weg – ge – ris – sen! Panik erfaßte mich. Wie eine Robbe kroch ich zur Fußbodenluke und ließ mich zur Schleusenabteilung hinunterplumpsen. Kaum merkte ich, wie ich den Raumhelm verschloß und die Flügelmuttern am Brustring verschraubte. Zitternd tastete ich nach dem Schaltknopf. Ehe der Professor begriffen hatte, schob sich die Schleusenwand zwischen uns. Dann ruderte ich ins All hinaus. Lieber tot und Sputnik meiner Erde als lebendig begraben! Langsam schob sich der schlanke Raketenkörper an mir vorüber. Die Triebwerke waren eingehüllt in eine dichte Gaswolke, die mir auch dieses letzte Mal den Blick auf jene gekrümmten Düsenhörner vernebelte. Eine seitliche Böe aus dem Triebwerk, ein Ausläufer jenes mächtigen Schubstrahls, erfaßte mich, wirbelte mich um und bremste meine Fluchtgeschwindigkeit von der Erde. Um ehrlich zu sein, ich hatte damit gerechnet. Meine Überlegungen gingen dahin, daß mir die Schallgewalt nichts anhaben konnte, außer daß sie meine Fahrt verlangsamte. Da ringsum ja schalltoter, leerer Raum war, blieben meine Ohren heil. Wieder einmal zeigte sich die ganze Genialität meiner Erfindung, die nun leider unwiederbringlich dahin ist. Während nämlich die volle Phonzahl schiebend am Raketenkörper angriff, verhallte sie entgegengesetzt unhörbar und schadlos im freien Raum. Jetzt war ich ganz allein. Alles entfernte sich von mir. Der mir nach Maine Bill eben noch nächste Mensch verscholl im All. Er hatte wenigstens seine hermetische Welt, seine Bücher, seinen Himmel der Geistvollen, die Einsamkeit. Die Erde entfernte sich immer noch von mir, obwohl es schien, als bewegte ich mich von der Rakete weg auf sie zu. Wenn mich aber meine Berechnung nicht im Stich ließ, mußte ich bald wieder vom Planeten angezogen und wenigstens als kreisender Trabant eingefangen werden.
Und wenn die Goldene Herde nicht inzwischen zum Äußersten geschritten war, hatte ich sogar Hoffnung, von den Bodenstationen angepeilt, heruntergeholt oder wenigstens als Kuriosum beobachtet und registriert zu werden. Die letztere Chance hatte ich namentlich seitens der Schulsternwarten meines Heimatlandes, die besonders eifrig damit beschäftigt sind, neue künstliche Himmelskörper aufzuspüren und in Kladden einzutragen. Leider war ich nur ein sehr schwach leuchtendes Objekt, wodurch mein Auffinden in den Weiten des Raumes sehr erschwert werden mußte. Grausam umklammerte mich das tiefschwarze All. Kein Schild wehrte mir die stechende Sonnenlanze. Sie drang durch den Raumanzug und verbrannte mir schier die eine Körperhälfte, während die andere zu Eis erstarren mußte. Die Folter in Axls Kältekammer erwies sich jetzt als unfreiwilliges Training. Mit einer Art von Galgenhumor versuchte ich herauszufinden, wo die Grenzschicht zwischen heiß und kalt durch meinen Körper verlief. Dieser Zustand währte jedoch nur kurz. Bei Strafe des Unterganges mußte ich mir etwas einfallen lassen. So versetzte ich denn meine Wenigkeit durch einen geschickten Beinschlag, wie ihn jeder im Schwimmbad beim Turmspringen lernt, in eine langsame Drehung um die Längsachse. Dadurch entging ich der Zerstörung durch einseitige Temperatureinwirkungen. Zugleich begann sich der Kosmos mit all seinen Sternen um mich her zu drehen. Mir wurde übel davon. Ich mußte die Augen schließen. Die Augen aber, die Lebensfenster, geschlossen, umfing mich sogleich der allzeit auf der Lauer liegende Schlaf. Seltsam schaukelnde Bewegungen, seltsam schwemmende Kräfte, bleierne Schwere dazu erweckten meine Sinne wieder. Es hob mich rhythmisch auf und senkte mich. Etwas klatschte in regelmäßigen Abständen an meinen Helm. Ringsum war es stockdunkel. Durch die Schutzhandschuhe fühlte ich ein Medium wie Wasser, vermischt mit Spinnweb. Ich begann an dem zähen Zeug zu zerren. Das Helmfenster wurde frei. Die Sterne leuchteten wieder. Am untersten Rand meines Gesichtskreises tauchte eine schmale, rötliche Sichel auf und verschwand und kam wieder empor. Dieses wiegende Auf und Ab, das konnten nur Wellen sein. Und dieses unruhige Flimmern der Sterne, das war mir doch bekannt. Verschiedene Luftschichten bewirkten dieses Szintillieren. Die Sichel dort im Auf- und Niedertau-
chen, das war der gute alte Mond. Wenn aber über mir Luft und unter mir Wasser war, dann war auch irgendwo Land, Land, Land. Das Spinnweb, das den Helm bedeckt hatte, bestand aus Fallschirmseide. Ich erinnerte mich jetzt an den unförmigen Packen am Raumanzug. Nur war mir dieses Zusatzpaket in der Schwerelosigkeit nicht weiter aufgefallen. Ich war gelandet. Wer beschreibt mein Glück? Arbeiter mögen sich nach gelungener Stoßschicht freudig die Daumen drücken; Ärzte mögen sich nach gelungener Operation, noch halb benommen von der ungeheuren Konzentration auf Lebensfäden, aber froh über das Wohlbefinden des Patienten, eine Zigarette anzünden; Forscher mögen sich zum Gelingen einer schier endlosen Versuchsreihe gratulieren; Schauspieler nach erfolgreicher Premiere in einem Blumenmeer versinken; Liebende sich meinetwegen im siebenten Himmel wähnen – ich hatte meine Erde wieder. Ich lag rücklings auf dem irdischsten aller Elemente, dem Wasser, und starrte in den Himmel, von wo ich gekommen war. Der Raumanzug wirkte wie ein Luftkissen. Die Wellen wiegten mich wie eine Mutter ihr Kind. Glücklich und träge ließ ich mich treiben. Erst sehr viel später blickte ich auf das Leuchtzifferblatt der Spezialuhr, die zur Ausrüstung gehörte. Es war sechzehn Uhr dreißig. Verwirrt kratzte ich mich am Helm. Seit wann war es am frühen Nachmittag finster? Ich überlegte. Genau um zwölf Uhr waren wir, ein Professor und ich, wenn das alles kein Spuk, keine arge Sinnestäuschung war und ich nicht alsbald aus einem schweren Traum in meinem Bett erwachte, jedenfalls gestartet. Die Differenz der vorgeschrittenen Tageszeit zu meiner Uhrzeit ließ sich nur dadurch erklären, daß ich mehrere Längengrade östlich vom Startpunkt niedergegangen sein mußte. Wer weiß, was inzwischen alles geschehen war. Vielleicht hat im Hauptquartier der Goldenen Herde doch ein Verrückter aufs Knöpfchen gedrückt. Beklemmende Angst ergriff mich. Vielleicht tümpelte ich gerade hilflos über die zum Meeresboden gewordene Tiefebene meiner norddeutschen Heimat. Vielleicht lag dort unten meine geliebte kleine Stadt. Ich bildete mir ein, über versunkene Straßen hinwegzutreiben. Dort, wo ich einst die Luft meiner Kindheit geatmet hatte, staute sich
das Wasser. Wo der Fluß die Freiheit hatte, übers Wehr hinabzuschäumen, stand die Salzsee. Der süße Fluß war ertrunken. Das Meer stand quaderförmig in allen Zimmern. In meiner Lehrwerkstatt schwamm der Meister, umgeben von Stiefelschäften und zierlichen Leisten, an der Decke. Hier konnte sich der Lehrling einen Seitenblick nicht verkneifen, um die Wirkung seiner Vorstellungskunst auf Meister Pinne zu studieren. Einigermaßen befriedigt, wie es schien, erzählte er weiter. Das Alptraumhafte meiner Lage verdichtete sich, ich bekenne ehrlich, daß ich bis zu dieser Stunde, da ich euch berichte, das befreiende Gefühl des Erwachens noch nicht gehabt habe. Ich schlug verzweifelt um mich. Plötzlich schürften meine Füße Grund. Ich wälzte mich um und fühlte festen Boden unter den Händen. Eine Welle trug mich höher an den Strand. Der helmbeschwerte Kopf plumpste in den Sand. Ich handelte traumhaft sicher. Der erste Blick galt dem Indikator. Von Radioaktivität war keine Spur vorhanden. Vorsichtig öffnete ich das Helmfenster. Ein würziges Element, wie ich es nie zuvor geatmet zu haben meinte, strömte mir in die Lungen. Wie eh und je rauschten die Wellen an den flachen Strand. Ungeduldig arbeitete ich mich aus der doppelten Umhüllung. Wie in einer Metamorphose schlüpfte ich aus dem aufgebrochenen Rachen des Raumhelmes. Den strapazierten Strahlenschutzanzug ließ ich im Skaphander zurück. Der verlassene Raumanzug lag an der Wasserkante wie die leere Puppe einer häßlichen Larve. Die Hinterbeine der Larvenhülle lagen, verdreht und in sich zusammengefallen, im Wellensaum. Der unförmige Helm klaffte mit offenem Visier, als wolle sich hier ein entseeltes Ungetüm mit letzter Kraft im Sand verbeißen. Noch unsicher tat ich die ersten Schritte auf dem gewonnenen Land. Ein Lichtschein hinter einem Küsten-Kürsprung lockte mich an. Zwiespältige Gefühle plagten alsbald mein Herz. Ich konnte mich unmöglich in meinem lädierten, grobkarierten Sportanzug in die Gesellschaft begeben. Ein Schild, das sich schwarz gegen den erhellten Hintergrund abhob, erweckte meine Neugier. Mühsam kletterte ich am Pfahl empor und buchstabierte fast mit der Nase die verblichene Inschrift: Das Betreten der Frei-
körperkulturanlage in Badebekleidung ist nicht erwünscht. Die Kurverwaltung. Unglücklich vor Glück umarmte ich den Schilderpfahl. Inhalt und Form der Tafelinschrift konnten mir nicht deutlicher sagen, daß ich zu Hause war. Die Nacht verbrachte ich neben meinem Raumanzug wie zu einer Totenwache. Als der Tag heraufdämmerte, streifte ich endlich meinen strapazierten Anzug ab und verstaute ihn, nachdem ich meinen Personalausweis und Bills Abschiedsgeschenk, nämlich diese Stahlkugel hier, an mich genommen hatte, im Rachen des Kosmonautenhelmes. Dann schleifte ich meine ausgediente Astralhülle ins Meer hinaus. Mit Steinen bettete ich sie auf dem Grund zur letzten Ruhe. Danach wartete ich splitternackt und frierend auf die Dinge, die da noch kommen sollten. Als erster kam, wie ich nicht anders vermutet hatte, ein Strandwärter. Wie er so in voller Dienstuniform, mit gestrenger Miene vor mir stand, der ich schlotternd die Arme um den Körper schlang, wurde mir mit einem Schlage die ganze Nichtigkeit meiner Existenz klar. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war ich doch nichts weiter geblieben als der schmächtige Lehrjunge, dem, nicht erhaben über den Verdacht gewisser Neugierden, selber die Kleider abhanden gekommen waren, verharrend an dem einzigen Ort, wo das nackte Dasein öffentlich geduldet wurde. Wo war meine große Vergangenheit geblieben, wo? Ich durfte froh sein, wenn mir der Strandwärter glaubte, daß die paar Mark, die ich meinem Ausweis entnahm, mein Eigentum waren. Ich durfte mich glücklich schätzen, in dem Strandmann einen Menschen gefunden zu haben, der hilfreich genug war, der mir schnell und unbürokratisch neue Wäsche, eine billige Kluft und ein paar Sandalen besorgte. Ja, er händigte mir sogar den Rest des Geldes aus und verzichtete darauf, mir für die Übernachtung im Freien ohne Campinggenehmigung und Aufenthaltsbescheinigung eine Strafgebühr abzuknöpfen. Für diese fünf Mark sechzig, die mir noch verblieben waren, kaufte ich mir eine Bahnfahrkarte zweiter Klasse und fuhr nach Hause.
Damit beendete Gerhard Fiebig seine Erzählung. Es war bereits nach Mitternacht. Wieder einmal war die Heimordnung, die ab zweiundzwanzig Uhr Bettruhe für jedermann gebot, sträflich übertreten worden. Kein Mensch konnte vorhersagen, wie sich dieser Umstand auf die noch folgenden theoretischen Abschlußprüfungen auswirken würde. Die Heimleiterin blickte besorgt auf ihre Schützlinge, wie eine Mutter, die ihre heranwachsenden Kinder zeitlebens für klein und hilfsbedürftig hält. Der Erzähler hockte mitgenommen auf der Tischplatte. Teilnahmslos, als sei ein Spannungsfeld in ihm zusammengebrochen, verhielt er sich zu seiner Umgebung. Das Gefäß der Mitteilung war leer. Das Mitgeteilte erfüllte, Mitteilsamkeit stiftend, die Zuhörer. Es herrschte eine Aufladung, die, wie die Heimleiterin meinte, sich besser an Ort und Stelle im Austausch miteinander lüftete, als daß sie den Schülern bis in den kurzen, unruhigen Schlaf hinein folgte. Deshalb schritt sie nicht ein, als der Jugendsekretär versuchte, das aufgeregte Durcheinander mit seinem ausgeprägten Sinn für Ordnung in die Kanäle einer artigen Diskussion zu leiten. Vergeblich. Man stritt sich wahllos über die verschiedensten Fragen zugleich. Ob dieser Maine Bill zusammen mit den Bergleuten etwas auszurichten vermochte? Ob ein Dr. Pyrrhus Peng bei all seinen Vorzügen nicht doch in den Sternen besser aufgehoben wäre als auf Erden? Ob es möglich sei, solch phantastische Zurüstungen, wie sie zur Spaltung der Erde notwendig waren, im verborgenen zu treffen? Solche und viele andere Fragen mehr wurden durcheinandergebracht. Nur auf die nächstliegende Frage kam keiner der jugendlichen Zuhörer. Dem Dozenten für Allgemeingeographie blieb es vorbehalten, sie zu stellen: Halt, halt! Erst wollen wir wissen, wo der Bursche während der vergangenen acht Tage wirklich war! Aber da heimste er bei den jungen Leuten schallendes Gelächter und Spott ein. Am FKK-Strand war er, riefen einige. Seht doch, wie braun er ist!
Nicht erhaben des Verdachtes gewisser Neugierden, lispelte eine Mädchenstimme. Fiebig errötete. Eine andere Mädchenstimme trat für ihn ein: Wenn er nur alle acht Tage so eine Geschichte nach Hause brächte, so wäre es mir nicht wichtig, zu erfahren, wo er inzwischen geblieben war. Nein, ereiferte sich der Universalgeograph. Hier geht es um die Wahrheit. Einen Staat Emerici gibt es nicht, das ist leere Phantasterei. Fiebig richtete sich noch einmal auf. Ich schwöre, rief er, es gibt die Emericiner, es gibt die Goldene Herde, es gibt ihre Angst vor der weltweiten Entspannung. Das alles gibt es. Wo, fragte der Geograph kühl. Konkret bitte. Die Wahrheit ist immer konkret. Und wir werden schon noch herausbekommen, wo du dich aufgehalten hast, während deine Kameraden sich auf die Prüfungen vorbereitet haben. Glaube nur ja nicht, daß wir dir wegen jeder hanebüchenen Lügengeschichte diese Schulbummelei durchgehen lassen. Fiebig war endgültig verstummt. Er warf dem Geographen einen halb vorwurfsvollen, halb mitleidigen Blick zu und entfernte sich still. Der Geographielehrer setzte sich durch. Er erwirkte gegen den Schusterlehrling eine Vorladung vor den Lehrkörper, wo er seinen wahren Aufenthalt während der vergangenen acht Tage verraten mußte. Die Angelegenheit war jedoch so unschuldig, so banal und uninteressant, daß wir hier auf deren Wiedergabe verzichten können. Zudem war das Geständnis kein rühmlicher Sieg für Gerhards Widersacher. Der Junge war von seiner Erzählung noch so verausgabt, daß es keine Kunst mehr war, den nackten Sachverhalt herauszukriegen. Übrigens genoß der Kerl von vornherein bei den meisten Erziehern stillschweigende Vergebung. Ja, manch einem Pädagogen war es peinlich, der Befragung beizuwohnen, weil aber der Geograph formal recht hatte, konnten sie nicht dagegen Einspruch erheben. Der Lehrling, der, nebenbei bemerkt, die Prüfungen achtbar bestand, revanchierte sich auf seine Weise.
Als sich an demselben Tage der beliebte Lehrer Kern zur Biologieprüfung begeben wollte, fiel ihm von der großen Linde vor dem kleinen Café am Marktplatz etwas auf den Hut. Ärgerlich wollte er den Klecks herunterschnipsen, überlegte es sich jedoch anders. Er übergab dem Prüfling Gerhard Fiebig eine Materie zur Untersuchung, die sich schon von weitem als Guano – Meisendreck – identifizieren ließ. Dennoch klemmte sich der Schüler gewissenhaft hinters Mikroskop. Durch die Vergrößerung entdeckte er in dem kalkigen Exkrement die golden schimmernden Flügelschalen eines winzigen Kerfleins. Lange starrte der Junge übers Vergrößerungsrohr hinweg in die Ferne. Dann schrieb er statt eines ordentlichen Untersuchungsprotokolls einen einzigen Satz. Lehrer Kern konnte sich nicht enthalten, diesen Satz in Anwesenheit des Universalgeographen auszuplaudern. Der Satz machte die Runde. Er lautete: Gold geht unverdaut durch derbe Mägen.