Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 468 Dorkh
Die rebellische Seele von H. G. Francis Atlan im Labyrinth der tödl...
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Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 468 Dorkh
Die rebellische Seele von H. G. Francis Atlan im Labyrinth der tödlichen Fallen Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie tatsächlich alles überstehen, was Dorkh gegen sie aufzubieten hat, und sogar ihre Aufgabe erfüllen – allerdings anders, als Duuhl Larx es sich vorgestellt haben dürfte. Als Dorkh nun erneut losfliegt, will Atlan um jeden Preis erfahren, wohin die Reise des Dimensionsfahrstuhls geht. Mit seinen Gefährten dringt er daher in ein tödliches Labyrinth ein, durch das man ins Zentrum des SCHLOSSES gelangen kann. Atlan sucht DIE REBELLISCHE SEELE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide macht sich auf die Suche nach der »Seele« von Dorkh. Razamon, Grizzard, Asparg und Fiothra ‐ Atlans Begleiter. Zerik ‐ Anführer einer Gruppe von Kemmas. Eigna ‐ Denker der Paparen.
1. Dorkh befand sich in Aufruhr. Nahezu ununterbrochen bebte der Boden unter den Füßen von Atlan und seinen Begleitern, als sie sich der Kristallkuppel näherten, die sich mitten im SCHLOSS erhob. Blitze zuckten herab und durchbrachen die Dämmerung. Hin und wieder schien es, als werde die Sonne wieder sichtbar werden. Doch Atlan ließ sich von solchen Eindrücken nicht täuschen. Dorkh hatte seine Position verlassen und nahm Fahrt auf. Daran gab es keinen Zweifel. Noch hatte der Dimensionsfahrstuhl nicht seine höchste Geschwindigkeit erreicht, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann es soweit war. Atlan und seine Begleiter – Razamon, Grizzard, Asparg und Fiothra – erreichten einen Erdwall. Als sie ihn überschreiten wollten, tauchte plötzlich eine kleine Gestalt vor ihnen auf und hob befehlend beide Arme. »Bleibt stehen, wenn euch euer Leben lieb ist«, rief sie. Razamon blickte lächelnd auf den Zwerg herab, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Sein Gegenüber war gerade einen Meter groß und hatte einen grauen Bart, der ihm bis fast an die Knie reichte. Er trug eine grüne Hose und hochschäftige rote Stiefel. Dicke Hornplatten schützten seine Schultern und die Oberarme. Auf dem Kopf hatte er ein rotes Gebilde, das so aussah wie die Blüte einer Tulpe. Zwischen diesem blütenartigen Kopfschmuck und dem Kopf spreizten sich fingerlange Hörner ab. Sie bildeten einen Kranz um seinen Kopf.
»Hast du dir nicht ein wenig viel vorgenommen, Kleiner?« fragte der Berserker spöttisch. Der Zwerg lachte. »Du Hohlkopf glaubst, ich will euch drohen? Typisch für euch Riesen.« »Du hast also rein freundschaftliche Gründe, dich mit uns zu befassen«, stellte Atlan fest. »Danke. Wir sind dir verpflichtet.« »Das will ich meinen«, entgegnete der Zwerg und fuhr sich mit beiden Händen durch den Bart, um ihn zu glätten. »Würdest du uns freundlicherweise auch sagen, wovor du uns warnen willst?« Der Arkonide durchsuchte seine Taschen nach einem Geschenk, fand jedoch nichts, was er dem Bärtigen hätte übergeben können. Der Zwerg bückte sich, nahm einen Stein auf und schleuderte ihn in Richtung Kristallkuppel. Als der Stein etwa zwanzig Meter weit geflogen war, geriet er in ein unsichtbares Energiefeld und verging in einem grellen Blitz. »Davor.« Erschrocken blickten Atlan und Razamon sich an. Sie wußten, daß sie ahnungslos in das Energiefeld gelaufen wären, wenn sie der Zwerg nicht gewarnt hätte. »Wir sollten umkehren«, sagte Grizzard, der bleich geworden war. Atlan drehte sich zu Asparg und Fiothra um. Er hoffte, daß die beiden jungen Magier irgend etwas gegen das Energiefeld unternehmen konnten, doch sie schüttelten die Köpfe und gaben ihm damit zu verstehen, daß sie ebenso machtlos waren wie er. Razamon bückte sich, nahm ebenfalls einen Stein auf und schleuderte ihn in das Energiefeld. »Du kannst so viele Steine hineinwerfen, wie du willst, Dummkopf«, sagte der Zwerg. »Dadurch ändert sich gar nichts.« »Wann würde sich denn etwas ändern?« fragte der Arkonide. »Aha. Du scheinst nicht ganz so dumm zu sein wie die anderen. Wer bist du?«
»Atlan.« »Freut mich. Ich bin Zerik, ein Kemma.« »Nun, Zerik, sicherlich willst du es nicht dabei bewenden lassen, daß du uns warnst.« »Nein, Atlan, keineswegs. Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Ich irre mich wohl nicht, daß ihr in die Kristallkuppel wollt? Weiterhin kann ich wohl davon ausgehen, daß ihr nicht einfach nur dort hingehen, sondern bis zur Seele vordringen wollt.« Der Arkonide war vorsichtig. Er wollte einem Fremden gegenüber nicht so ohne weiteres offenlegen, was sein Ziel war. Daher zuckte er nur vage mit den Schultern. »Ihr habt zwei Möglichkeiten«, fuhr der Zwerg fort. »Entweder versucht ihr auf eigene Faust, durchzukommen, oder ihr nehmt meine Hilfe an. Entscheidet ihr euch für die erste Möglichkeit, bezahlt ihr teuer dafür.« »Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als uns für dich und deine Hilfe zu entscheiden«, stellte Atlan fest. Er blickte zu einigen Chreeans hinüber, die etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt vorbeiliefen. Die Tiere brüllten laut. Die ständigen Beben ängstigten sie. »Du hast es erkannt«, rief Zerik und klatschte begeistert in die Hände. »Also – fangen wir gleich an. Du sollst meine Bedingungen hören.« »Müssen wir uns wirklich mit dem da befassen?« fragte Razamon mürrisch. »Ich bin nicht allein«, fuhr Zerik fort, ohne ihn zu beachten. Er klatschte erneut in die Hände. »Kommt her«, rief er dann. »Los – beeilt euch.« Sechs zwergenhafte Gestalten tauchten aus einer Bodenrinne auf, in der sie sich versteckt hatten. »Da sind sie«, sagte Zerik. »Das sind Yerik, Xerik, Werik, Uerik, Terik und Serik.« Die Freunde Zeriks sahen genauso aus wie er, so daß Atlan sie nur
schwer voneinander unterscheiden konnte. Alle hatten lange, graue Bärte, trugen grüne Kleider und rote Stiefel und hatten tiefe Falten und Runen im Gesicht, als seien sie schon uralt. Sie unterschieden sich allein durch farbliche Abstufungen der blütenartigen Gebilde. Dieses war bei Zerik am hellsten. Bei allen anderen waren diese Pseudoblüten dunkler. Razamon stöhnte ärgerlich. »Wollen wir uns wirklich mit diesem Haufen belasten?« fragte er. »Höre nicht auf diesen Hohlkopf«, sagte Zerik erregt. »Wir sind uns also einig?« »Noch nicht«, entgegnete der Arkonide. »Wir nehmen euch mit, aber nicht ohne Gegenleistung.« »Das ist so klar, daß man darüber gar nicht mehr zu reden braucht«, erwiderte Zerik lachend. »Wir bringen euch durch den Energieschirm. Yerik wird bis zur Kristallkuppel kriechen und von dort aus eine Strukturlücke schaffen.« »Moment mal«, sagte Razamon. »Wenn er das kann, wozu braucht ihr dann unsere Hilfe?« »Wir kommen bis zur Kuppel, aber nicht weiter«, erklärte Zerik bereitwillig. »Da drinnen wird es so schwierig, daß wir es allein nicht schaffen.« »Vorsicht«, rief Grizzard. Atlan fuhr herum. Er sah zwei Mörder‐Chreeans, die direkt auf ihn zu liefen. Die Tiere schienen blind vor Angst zu sein. Die Veränderungen, die mit dem Start von Dorkh aufgetreten waren, schienen die Tiere in Panik versetzt zu haben. Sie brüllten auf, als der Boden erbebte. Razamon und der Arkonide flüchteten zur Seite. Dann waren die Chreeans auch schon heran. Sie rasten an ihnen vorbei und rannten auf die Kristallkuppel zu. Als die Chreeans die Stelle erreichten, an der die geworfenen Steine sich in pure Energie verwandelt hatten, blitzte es auf. Im Bruchteil einer Sekunde vergingen die Echsen. Zwei Stichflammen
schossen in die Höhe, dann wehte ein wenig Asche zu Atlan und seinen Begleitern herüber. Razamon fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, die plötzlich von Schweißperlen überzogen wurde. Jetzt war ganz deutlich geworden, daß die Kristallkuppel tatsächlich von einer Todeszone umgeben war, die sie ohne Hilfe nicht überwinden konnten. »Noch Zweifel?« fragte Zerik spöttisch. »Keine Zweifel mehr«, erwiderte Atlan. »Wir nehmen euch mit.« »Also gut. Yerik, mach uns den Weg frei.« Atlan, Grizzard, Razamon, Asparg und Fiothra blickten sich schweigend an. Sie wußten, daß sie alle das gleiche dachten und fühlten. Dorkh hatte seine bisherige Position verlassen und bewegte sich auf ein bislang unbekanntes Ziel zu. Wo aber war dieses Ziel? Bewegte sich der Dimensionsfahrstuhl bis in die Nähe von Cagendar, dem Sitz des Neffen Duuhl Larx? Dieser Neffe war es gewesen, der Atlan, Razamon und Axton beziehungsweise Grizzard nach Dorkh hatte bringen lassen, damit sie dort für ihn die Kastanien aus dem Feuer holten. Doch Dorkh konnte auch zu einem völlig anderen Ziel fliegen und dort in einer Katastrophe enden. Vorläufig war alles offen und es gab nur eine einzige Möglichkeit, herauszufinden, wohin der Dimensionsfahrstuhl sich bewegte. Nur die »Seele« von Dorkh konnte eine Antwort auf die Frage nach dem Ziel geben. Daher war Atlan fest entschlossen, in die Kristallkuppel einzudringen und mit der »Seele« zu sprechen. Das wütende Gebrüll von einigen Mörder‐Chreeans schreckte Atlan und seine Begleiter auf. Zerik klatschte nervös in die Hände. »Beeile dich, Yerik«, rief er. »Wir haben keine Zeit mehr. Die Biester bringen uns um.« Atlan drehte sich um. Es war so dunkel geworden, daß er kaum noch etwas sehen konnte. Als ein Blitz vom Wölbmantel herabzuckte und die Dunkelheit für
den Bruchteil einer Sekunde durchbrach, bemerkte der Arkonide fünf Chreeans, die direkt auf ihn zu stürmten. Ein Schlag erschütterte Dorkh so stark, daß Razamon sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er stürzte gegen den Arkoniden und riß diesen mit zu Boden. Im nächsten Moment schon rasten die Chreeans über sie hinweg. »Yerik«, kreischte Zerik außer sich vor Zorn. »Wann willst du endlich losgehen?« Yerik kniete auf dem Boden, hob die Hände in andächtiger Gebärde über den Kopf und blickte zum Wölbmantel empor. Zerik legte ihm die Hand auf die Schulter. »Geh endlich, oder die Mörder‐Chreeans bringen uns um.« Yerik ließ sich auf den Bauch fallen und kroch auf die Kristallkuppel zu. Dabei preßte er sich gegen den Boden und nutzte jede Vertiefung aus. Sein Verhalten machte deutlich, daß das Energiefeld nicht bis an den Boden herabreichte, sondern wenige Zentimeter darüber endete. Yerik schob sich mit äußerster Vorsicht voran, da die geringste Berührung mit dem Energiefeld schon den Tod für ihn bedeutete. Allmählich verschwand seine kleine Gestalt in der Dunkelheit, und nur hin und wieder, wenn ein Blitz herabzuckte, wurde erkennbar, wie weit er schon vorgedrungen war. Die Zahl der Mörder‐Chreeans, die in unmittelbarer Nähe auftauchten, wurde immer größer. Zerik hieß Atlan und die anderen, sich auf den Boden zu legen und sich hinter dem Erdwall zu verstecken. »Die Bestien könnten auf uns aufmerksam werden und sich an uns austoben«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich habe keine Lust, zwischen ihren Zähnen zu enden.« »Wie lange dauert es noch?« fragte Razamon. »Wann schaltet Yerik das Energiefeld ab?« »Er schaltet es überhaupt nicht ab.« Zerik kicherte leise. »Er schafft einen Korridor, durch den wir zur Kristallkuppel gehen können.
Wenn es soweit ist, werde ich vorangehen. Ich werde euch führen, und ich kann euch nur empfehlen, genau hinter mir zu bleiben. Ein Schritt zur falschen Seite, und es ist aus mit euch.« Atlan hörte das Schnaufen von mehreren Chreeans, die sich ihnen langsam näherten. Er hob den Kopf und spähte über den Erdwall hinweg ins Dunkle. Weit von ihm entfernt zuckte ein Blitz herab. Gegen den hellen Hintergrund konnte der Arkonide die Echsen sehen. Sie waren noch etwa zwanzig Meter von ihm entfernt und kamen genau auf ihn zu. Im Gegensatz zu den anderen, die zuvor gekommen waren, bewegten sie sich langsam und zögernd, als suchten sie nach Beute. Der Arkonide wandte sich Zerik zu. »Ich weiß. Ich habe sie auch gesehen«, wisperte dieser, bevor er etwas sagen konnte. Ein Schrei hallte durch die Nacht. »Das ist Yerik. Er hat es geschafft.« Zerik erhob sich. »Kommt. Schnell. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Das zwergenhafte Wesen ging aufrecht auf die Kristallkuppel zu. Die anderen zögerten, ihm zu folgen. Als sie jedoch sahen, daß ihm nichts geschah, eilten sie hinter ihm her. Atlan blickte über die Schulter zurück. Der Atem stockte ihm, als er sah, daß die Mörder‐Chreeans angriffen. Die Tiere kamen nahezu lautlos aus dem Dunkel und rasten auf sie zu. »Vorsicht«, schrie er. »Sie kommen.« Zerik wirbelte herum. Er krallte seine Finger in die Hosen Atlans. Auch die anderen Zwerge warfen sich auf den Arkoniden und dessen Begleiter. »Keinen Schritt zur Seite«, schrie Zerik. »Es wäre euer Tod. Bleibt stehen.« »Das ist doch Wahnsinn«, brüllte Razamon und schleuderte einen der Zwerge von sich. Im gleichen Moment rannte die erste Echse etwa fünf Meter von ihnen entfernt in das Energiefeld. Sie verfehlte die von Yerik
geschaffene Strukturlücke und verging in gleißender Glut. »Nicht bewegen«, wiederholte Zerik. »Ganz gleich, was geschieht.« Jetzt hatten alle begriffen, wie ernst seine Warnung zu nehmen war. Das unsichtbare Energiefeld umgab sie. Eine falsche unbedachte Bewegung konnte den Tod bedeuten. »Ich werde wahnsinnig«, erklärte Grizzard stöhnend. »Das ertrage ich nicht.« Mit weit geöffneten Augen blickte er auf die Mörder‐Chreeans, die wild angriffen, sie jedoch nicht erreichten. Sobald sie bis auf etwa fünf Schritte herangekommen waren, gerieten sie in das Energiefeld und verbrannten. Bei jeder einzelnen Echse aber hatten Fiothra und die Männer das Gefühl, sie werde sie erreichen und niedertrampeln. Immer wieder blitzte es vor ihnen auf, bis endlich neun Chreeans in dem materievernichtenden Energiefeld gestorben waren. Danach wichen die anderen Tiere zurück. Sie hatten erkannt, daß sie die Beute nicht packen konnten. Zerik atmete auf. »Ich bin ein ausgemachter Dummkopf, daß ich mich mit solchen Narren wie mit euch abgebe«, erklärte er. »Obwohl ich euch gesagt habe, daß ihr euch nicht bewegen dürft, hampelt ihr herum, als bestünde nicht die geringste Gefahr.« »Wir sind dir dankbar«, erwiderte der Arkonide. »Wir wissen, daß wir ohne dich keinen einzigen Schritt vorankämen.« »Dann benehmt euch gefälligst so, wie ich es von euch erwarte, und führt aus, was ich euch befehle.« »Keine Sorge. Wir tun, was du verlangst.« Atlan beobachtete Zerik, der sich nun umwandte und zu Boden blickte. Der Zwerg streckte die Hände aus und bewegte die Finger, als wolle er ertasten, wie es weiterging. Dann drehte er sich ein wenig zur Seite und ging los. In dieser Richtung sah nichts anders aus als in anderen
Richtungen. Der Arkonide konnte nicht den geringsten Unterschied feststellen, obwohl er ein hervorragender Beobachter war. Ihm war unerklärlich, wie Zerik die Strukturlücke fand. Er zögerte, dem Zwerg zu folgen, bis ihn einer der anderen Zwerge anstieß. »Wir müssen bei ihm bleiben«, erklärte der Kleine, »sonst kommen wir nicht durch.« Atlan gab den anderen ein Zeichen und schloß zu Zerik auf, der sich plötzlich nach links wandte. Es schien, als wolle er zu der Stelle zurückkehren, von der sie gekommen waren, aber schon nach wenigen Schritten drehte er sich zur Seite und verfolgte eine andere Richtung. »Ich komme mir ein bißchen blöd dabei vor«, sagte Razamon nervös. »Wenn man wenigstens sehen könnte, ob das alles nur Bluff ist oder nicht.« Zerik, der diese Worte gehört hatte, bückte sich, nahm ein wenig Sand auf und warf ihn seitlich weg. Das Energiefeld flammte so hell auf, daß Atlan geblendet die Augen schloß. Danach warf Zerik Sand zur anderen Seite, und nun war für alle klar, daß sie sich in einer Strukturlücke befanden, die höchstens anderthalb Meter breit war. Hilfesuchend blickte Razamon die beiden Magier an, doch diese gaben ihm zu verstehen, daß sie nichts tun konnten. Sie mußten sich ebenso auf Zerik verlassen wie alle anderen. Zerik wechselte die Richtungen immer häufiger und führte Atlan, Razamon, Grizzard, Asparg, Fiothra und die anderen Kemmas auf die Kristallkuppel zu, die etwa dreihundert Meter hoch war und an ihrer Grundfläche einen Durchmesser von annähernd sechshundert Metern hatte. Am unteren Rand gab es zahlreiche bogenförmige Einschnitte, die etwa fünfzig Meter hoch und zwanzig Meter breite Durchlässe bildeten. Irgendwo unter diesem Kristalldach war die »Seele« von Dorkh. Die beiden Magier Asparg und Fiothra hatten erklärt, die Seele sei
über einen Schacht zu erreichen, der unter dem Kristalldach beginne. Mehr schienen sie auch nicht zu wissen. Atlan blickte an dem seltsamen Gebilde hoch, das trotz der Dunkelheit gut zu erkennen war. Das kristalline Material der Kuppel war undurchsichtig, und der Arkonide fragte sich, was sich wohl darunter verbarg. »Da vorn«, sagte Razamon plötzlich. Seine Stimme klang eigenartig bedrückt. »Yerik.« Atlan blickte an Zerik vorbei nach vorn. Sie waren nun nur noch etwa zwanzig Meter von der Kuppel entfernt. Neben einem der bogenförmigen Einschnitte kauerte eine winzige Gestalt auf dem Boden. Sie preßte beide Hände gegen zwei schimmernde Punkte, die aus dem Sand ragten. Die Augen quollen Yerik weit aus dem Kopf, und seine Haut sah aus, als ob er von innen heraus glühte. »Schnell, beeilt euch«, sagte Zerik. »Er hält nicht mehr lange durch.« Atlan sah, daß die Hände Yeriks sich schwärzlich verfärbt hatten, und plötzlich erfaßte er, was geschehen war. Jetzt wußte er, warum Yerik gezögert hatte. Der Zwerg hatte sich geopfert. Er würde nicht überleben. Energieströme flossen durch seinen zierlichen Körper, die so stark waren, daß er ihnen auf die Dauer nicht standhalten konnte. Sie würden ihn verbrennen. »Komm. Rasch«, sagte der Arkonide, als er bemerkte, daß Fiothra stehenblieb. Sie erreichten einen der Einschnitte in der Kuppel, und Zerik kniete neben Yerik nieder. »Du hast es geschafft«, erklärte er mit sanfter Stimme. »Von dir werden die Aprekken noch in Tausenden von Jahren sprechen.« Das Gesicht Yeriks verzerrte sich. Der Zwerg öffnete den Mund und versuchte, etwas zu sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Sein Kopf glühte auf, und dann schoß eine sonnenhelle
Stichflamme aus ihm heraus. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte Yerik sich in ein Häufchen Asche. »Du hast gewußt, daß er dabei sterben würde«, sagte Fiothra anklagend. Zerik nickte. »Das habe ich«, gestand er. »Es war die einzige Möglichkeit, uns durch den Energieschirm zu bringen.« »Irgendwann werden wir in die entgegengesetzte Richtung gehen«, bemerkte Razamon düster. »Was ist dann?« Zerik fuhr sich mit beiden Händen durch den Bart. »Woher soll ich das jetzt schon wissen?« erwiderte er mit schriller Stimme. »Wäre es nicht an der Zeit, uns zu sagen, was ihr überhaupt in der Kuppel wollt?« fragte der Berserker. »Wieso nehmt ihr solche Opfer und so ein Risiko auf euch?« »Du wirst es früh genug erfahren. Auf jeden Fall haben unsere Absichten nichts mit euren zu tun. Und ihr habt keinen Schaden davon, daß wir mit euch gehen. Im Gegenteil. Aber das begreifst du ja doch nicht. Wozu gebe ich mir eigentlich soviel Mühe mit so einem Schwachkopf, he?« Razamon trat ärgerlich auf die zwergenhafte Gestalt zu, doch Atlan hielt ihn besänftigend zurück. »Wir wollen keine Zeit verschwenden«, sagte er. »Die Winzlinge brauchen uns«, entgegnete Razamon grimmig. »Das haben sie selbst gesagt. Von jetzt an sind sie auf uns angewiesen. Das sollten sie sich hinter die Ohren schreiben.« Atlan blickte an Zerik vorbei in einen Einschnitt der Kuppel. Hinter dem zwergenhaften Wesen erhob sich eine schwarze Wand. Sie schien undurchdringlich zu sein. »Wie geht es weiter?« fragte er. Zerik hob die Schultern. »Das weiß ich auch nicht«, erwiderte er. »Es ist tausend oder noch mehr Zeke her, daß wir in der Kuppel waren. Mittlerweile haben
wir vergessen, was ist.«
2. Asparg ging langsam auf die schwarze Wand zu. Er hob die Arme und streckte die Hände vor. Seine Finger bewegten sich, als glitten sie über die unsichtbare Tastatur einer positronischen Orgel. »Wir können hindurchgehen«, verkündete er. »Uns wird nichts geschehen.« »Wir sollten umdrehen«, bemerkte Razamon mürrisch. »Oder wir sollten zumindest versuchen, diese Horde von Narren loszuwerden.« Er zeigte auf die Kemmas. Die zwergenhaften Wesen blickten ihn empört an, und einer von ihnen versuchte, ihm gegen das Schienbein zu treten. Zerik hielt ihn jedoch zurück, indem er ihn am Bart packte. »Sei vorsichtig«, rief er warnend. »Du könntest diesen Schwachkopf verletzen.« »Ich bin dafür, daß wir umdrehen«, wiederholte der Berserker. Zerik trat wütend auf ihn zu. Er hob beide Fäuste und schüttelte sie drohend vor Razamon. »Und wer, frage ich dich, soll dafür sein Leben opfern, he?« brüllte er. »Hast du nicht gesehen, was Yerik getan hat?« Razamon blickte beschämt zur Seite. »In Ordnung«, antwortete er leise. »Du brauchst nichts mehr zu sagen.« Zerik drehte sich um und eilte mit weit ausgreifenden Schritten auf die schwarze Wand zu. Asparg streckte eine Hand aus, um ihn aufzuhalten, doch der Zwerg wich ihr aus. Er verschwand in der schwarzen Wand. Sekunden später tauchte er wieder daraus auf. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte Atlan herausfordernd an. »Was ist denn, Großer?« fragte er. »Willst du hier versauern?« Der Arkonide lächelte und ging mit ihm durch die schwarze
Wand, die sich als eine Art Lichtvorhang entpuppte. Er betrat eine riesige Halle, in deren Mitte sich eine Stufenpyramide erhob. Sie bestand aus fünf Stufen, die jeweils etwa fünfzehn Meter hoch waren. Auf der Spitze der Pyramide erhob sich ein Säulentempel, über dem sich ein goldenes Dach wölbte, das sich aus zahllosen Statuen von fremdartigen Wesen zusammensetze. Die Säulen bestanden aus einem exotischen Stein, wie Atlan ihn zuvor noch niemals gesehen hatte. Rampen verbanden die Stufen der Pyramide miteinander. »Es dürfte sicher sein, daß der Schacht, der zur ›Seele‹ führt, dort oben beginnt«, sagte Fiothra. »Das ist also unser Ziel«, bemerkte Grizzard. Er blickte mit glänzenden Augen zu dem Tempel empor. Er erinnerte sich nicht, jemals ein derart prachtvolles Gebäude gesehen zu haben. Zwischen ihnen und der Pyramide befand sich jedoch ein Gewirr von offenen Gräben, Torbögen und überdachten Durchgängen. Stufen führten zu einem etwa drei Meter tiefen Graben hinab, der den Zugang zu dem Labyrinth bildete. »Wir müssen durch das Labyrinth«, erklärte Zerik. »Und das ist es, was ich meinte. Ohne eure Hilfe schaffen wir es nicht, obwohl wir bereit sind, sehr viel dafür zu tun, daß wir alle durchkommen. Ganz ohne Opfer wird es jedoch nicht abgehen.« »Was willst du damit sagen?« fragte Razamon. »War ich nicht deutlich genug? Ein Opfer haben wir bereits zu beklagen. Aber damit haben wir gerechnet. Es war nicht anders zu machen.« »Du hast also gewußt, daß Yerik sterben würde.« »Natürlich.« Razamon drehte sich zu Atlan um und blickte ihn ratlos an. »Wir haben uns mit einem Wahnsinnigen eingelassen«, stellte er kopfschüttelnd fest. »Wir sollten umkehren.« Zerik lachte schrill. »Er hat es noch immer nicht begriffen, dieser Hohlkopf. Es gibt
keine Umkehr. Wir können nur weitergehen, bis wir an unserem Ziel sind. Dann müssen wir von dort aus das Energiefeld draußen abschalten oder umprogrammieren, oder ihr werdet die Kuppel niemals mehr verlassen.« * Eigna war leuchtend grün. Von seinem mächtigen Schädel erhoben sich vielfach gezackte Antennen, an deren Spitzen blumenartige Büschel wucherten. Der Denker vom Stamm der Paparer hatte einen langgestreckten Körper mit zwölf Chitinringen und einem scharf gekrümmten Giftdorn am Ende seines Schwanzes. Er bewegte sich auf acht Beinen nicht sonderlich schnell voran, hatte aber zwei Arme mit äußerst geschickten Chitinhänden. Darüber hinaus besaß er zwei Scherenarme, mit denen er eine Beute hätte packen können, die wesentlich größer war als er selbst. Doch Eigna hatte noch nie in seinem Leben im Kampf von diesen Scherenarmen Gebrauch gemacht. Er war ein zivilisiertes Wesen, das sich gar nicht mehr vorstellen konnte, daß seine Vorfahren lebende Beute verzehrt hatten. Eigna schob sich in einen mit allerlei Technik ausgerüsteten Raum und stöhnte gequält, weil ihn arthritische Veränderungen in den Beingelenken plagten. »Das Leben macht keinen Spaß mehr«, sagte er zu Seleinghont, der in einer Liegeschale ruhte und sich mit den mächtigen Scheren einen gegorenen Brei zuführte. »Früher, als ich noch jung war, habe ich nie daran gedacht, daß ich mal Schmerzen in den Gliedern haben könnte.« Seleinghont schlug die Scheren krachend zusammen. Damit gab er zum Ausdruck, daß er sich amüsierte. »Du hast Grund, dich zu beklagen, alter Schwerenöter«, antwortete er nuschelnd und rasselnd. Seine Sprechwerkzeuge
waren nicht mehr ganz in Ordnung. Das behauptete er jedenfalls. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erklärte er Eigna, daß er wichtige Schwingungsteile nicht mehr benutzen konnte, weil sie zum Teil ausgefallen, zum Teil verkalkt waren. Eigna hatte ihn jedoch im Verdacht, daß er aus purer Faulheit nachlässig sprach, weil er wußte, daß er auch so verstanden wurde. »Wenn du in deiner Jugend den Weibern nicht so nachgejagt wärst, dann würden dir heute nicht die Arme und Beine verdorren.« »Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu zanken«, erwiderte Eigna ärgerlich, »sondern um dir mitzuteilen, daß die zwergenhaften Kemmas wieder einmal versuchen, bei uns einzudringen.« »Der Teufel soll sie holen.« Seleinghont wurde munter. Er stopfte sich rasch noch etwas Brei in den Mund und schlürfte ihn vernehmlich in sich hinein. »Warum lassen sie uns nicht endlich in Ruhe?« »Ich will ehrlich sein«, entgegnete Eigna. »Ich bin froh, daß sie kommen.« »Du lügst«, schrie Seleinghont, der befürchtete, daß Eigna ihn ärgern wollte. »Nein. Es ist wirklich so. Ich bin die Gespräche mit dir leid. Sie öden mich an. Seit Jahren ist nichts Aufregendes mehr passiert. Endlich geschieht etwas. Ich werde die Kemmas beobachten.« »Du wirst nicht dulden, daß sie die ›Seele‹ erreichen.« »Natürlich nicht.« Eigna schleppte sich stöhnend und ächzend zu einem Schaltpult. Er drückte einige Tasten, und ein meterhoher Bildschirm erhellte sich vor ihm. Auf ihm waren die schattenhaften Gestalten der Kemmas und fünf größere Gestalten zu erkennen. »Sie sind nicht allein«, stellte Seleinghont überrascht fest. »Sie haben Verbündete. Aber auch mit ihnen werden sie es nicht schaffen.« »Wir werden es verhindern.« Seleinghont war munter geworden. Er verließ die Liege, in der er geruht hatte, und eilte zu Eigna. Er bog die langen Fühler mit den
Augen nach vorn, um sich ja nichts entgehen zu lassen. »Sie sind mitten im Energiefeld«, stellte er überrascht fest. »Wieso verbrennen sie nicht?« »Sie haben sich eine Strukturlücke geschaffen, durch die sie bis zur Kuppel gehen können.« Eigna schaltete um, und die Gestalt Yeriks erschien im Bild. Schweigend beobachteten die beiden Paparer, wie Yerik unter der Macht der auf ihn einstürzenden Energien verging. »Sie haben ganz bewußt einen aus der Gruppe geopfert, um die anderen durchzuschleusen«, bemerkte Seleinghont verblüfft. »Das hätte ich ihnen niemals zugetraut.« »Sie haben Helfer, mit denen sie die Fallen in der Kuppel überwinden könnten.« Seleinghont schlug belustigt die Scherenarme zusammen. »Ich wette mit dir, daß sie schon an der ersten Falle scheitern, die ich für sie aufbaue«, erklärte er. »Tausend Liter Schwarzwein vom besten Jahrgang, wie ihn selbst der Dunkle Oheim nicht besser trinkt, gegen einen Apfel, daß sie in der Falle sterben.« »Einverstanden«, entgegnete Eigna. »Die Wette gilt.« Er ließ sich auf eine Liege sinken, um Seleinghont dabei zu beobachten, wie er seine Falle vorbereitete. Auf dem Bildschirm waren die zwergenhaften Kemmas mit den fünf Helfern zu sehen. Seleinghont zeigte auf einen von ihnen. Er hatte silberhelles Haar und rötliche Augen. »Er soll der erste sein, der stirbt«, verkündete er. * Atlan blickte verwundert auf das labyrinthartige Grabensystem. Er betrachtete die Linien, die die Gräben des Labyrinths bildeten, und glaubte schon bald, herausgefunden zu haben, wie er gehen mußte, um ans Ziel – die Pyramide – zu kommen. Die Gräben durchfurchten den gesamten Boden der Halle und lagen oft so nah
beieinander, daß nur eine dünne Mauer zwischen ihnen blieb. An anderen Stellen waren sie weit voneinander entfernt, so daß sich Inseln bildeten, die einen Durchmesser von zehn Metern oder mehr hatten. Es schien, als könne man ganz leicht über die Mauerkronen zwischen den Gräben hinweg zur Pyramide gehen. Atlan war jedoch sicher, daß er gerade das nicht tun durfte, wenn er überleben wollte. Dieser Weg, der sich ihnen so verlockend anbot, war der gefährlichste. Daran gab es für den Arkoniden nicht den geringsten Zweifel. Das machte er auch seinen Begleitern klar. »Alles, was leicht erscheint, ist gefährlich«, sagte er. Das traf auch auf das Labyrinth zu. Auf den ersten Blick schien es so, als sei es nicht weiter schwierig, hindurchzugehen und zum Ziel zu kommen. »Das ist entweder ein Witz oder eine teuflische Falle, die nur so aussieht, als sei es ganz leicht hindurchzukommen.« »Leicht ist es bestimmt nicht«, bemerkte Zerik. »Also ist es eine Falle«, stellte der Berserker fest. »Ich kehre um«, sagte Grizzard. »Ich glaube, wir haben uns zuviel vorgenommen.« Die anderen blickten ihn überrascht an. »Das ist unmöglich. Und das weißt du«, erwiderte Zerik ärgerlich. »Was soll also dieses Gerede?« »Ich werde mich auf den Bauch legen und unter dem Energiefeld hindurchkriechen«, erklärte Grizzard. »Dann geh«, befahl der Anführer der Kemmas. »Beeile dich, damit wir uns nicht noch länger mit dir aufhalten müssen.« Atlan und Razamon schwiegen, als Grizzard sich umdrehte und auf den schwarzen Lichtvorhang zuging. Sie konnten den Freund verstehen. Die Gefahren, die sie auf sich nahmen, wurden immer größer. Und wenn sie sich in das Labyrinth begaben, wurde die Lage für sie vollends unübersehbar. Grizzard zögerte kurz vor dem schwarzen Lichtvorhang, blickte zu Atlan zurück und zuckte bedauernd die Schultern. Dann
versuchte er, den Lichtvorhang zu durchschreiten. Es gelang ihm nicht. Er prallte von ihm ab und stürzte zu Boden. Erschrocken sprang er wieder auf und legte seine Hände gegen das schwarze Feld. Es war, als ob er eine massive Wand berührte. »Wieso geht es nicht?« fragte er. Atlan ging zu ihm und überprüfte das Energiefeld mit den Händen. »Ich bitte euch um Vergebung«, rief Zerik den anderen Kemmas zu. »Als ich diese Typen ansprach, konnte ich nicht ahnen, daß es lauter Narren und Verrückte sind. Jetzt ist es zu spät. Wir können nicht mehr zurück.« »Du brauchst dir um uns keine Sorgen zu machen«, erwiderte einer der anderen Kemmas. Atlan glaubte, Serik in ihm zu erkennen. »Wir können recht gut beurteilen, was mit diesen Versagern los ist und was wir zu tun haben.« Der Arkonide erwartete, daß Razamon mit einem Wutausbruch auf diese Beleidigung reagieren würde, doch der Berserker grinste nur. »Nachdem also endgültig klar ist, daß wir nicht umkehren können, schlage ich vor, daß wir aufbrechen«, sagte Atlan. Er trat näher an das Grabensystem heran und verfolgte die Linien noch einmal mit den Augen, die zum Ziel zu führen schienen. Dann ging er eine schräg abfallende Rampe hinab. Das Licht veränderte sich. Hatten die Grabenwände bisher grau und eintönig ausgesehen, so nahmen sie nun einen grünlichen Farbton an. Als Atlan zu Razamon und den anderen hinaufblickte, bemerkte er, daß eine unsichtbare Dichteschicht zwischen ihnen und ihm sie seltsam verzerrt erscheinen ließ. Razamon stieg zu dem Arkoniden in den Graben hinab und gab damit den anderen das Zeichen, ihm zu folgen. »Wir wollen zusammenbleiben«, sagte er, als er neben Atlan stand. »Hier unten gibt es Fallen, wenn wir Zerik glauben dürfen, und
viele Augen sehen mehr als nur zwei.« Der Arkonide nickte und ging weiter. Zerik gesellte sich zu ihm. »Es stimmt. Wir müssen wirklich vorsichtig sein«, sagte er. »Ich weiß, daß es hier unten teuflische Fallen gibt. Laß dir Zeit. Überlege dir jeden Schritt, sonst schlägt plötzlich irgend etwas zu, und es ist zu spät für dich.« Atlan blieb stehen. »Was ist los?« fragte Grizzard. »Ich glaube, ich habe einen Lichtpunkt gesehen. Da unten.« Der Arkonide zeigte auf die senkrecht aufsteigende Grabenwand. Fiothra schloß zu ihm auf. »Einen Lichtpunkt? Wie meinst du das?« »Hier könnte eine Lichtschranke sein«, antwortete der Arkonide. »Vielleicht ist da irgendwo ein unsichtbarer Lichtstrahl. Wenn wir ihn berühren, könnte irgend etwas ausgelöst werden.« »Warte«, bat Asparg. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Er bückte sich und nahm einige kleine Steine auf, die auf dem Boden lagen. Er warf sie nach vorn. Sie flogen etwa einen Meter weit, dann schienen sie in der Luft zu verharren, und plötzlich schoß krachend und brüllend der Boden des Grabens auf. Eine sonnenhelle Energiewand stieg senkrecht in die Höhe und verbrannte die Steine. Atlan und seine Begleiter fuhren erschrocken zurück. Nur knapp waren sie dieser Falle entgangen. Die Grabenwände strahlten eine unerträgliche Hitze aus, so daß der Weg schon aus diesem Grunde für einige Zeit unpassierbar war. Als erster faßte sich der Arkonide. Während die anderen noch unschlüssig warteten, bückte er sich und nahm ebenfalls einige Steine auf, um sie gegen die Lichtbrücke zu werfen. Die erwartete Reaktion blieb aus. Die Steine flogen hindurch, ohne das Energiefeuer auszulösen. »Es funktioniert nur einmal«, stellte Zerik fest. »Wir können
weitergehen.« Bevor einer der anderen etwas sagen konnte, nahm er einen Anlauf und sprang über die Stelle hinweg, an der der Boden aufgebrochen war. »Es ist verdammt heiß«, schrie er, sichtlich stolz über seinen Erfolg. »Aber wenn ihr es so macht wie ich, passiert euch nichts.« Atlan folgte ihm, und nun zögerten auch die anderen nicht mehr länger. Sie waren jedoch noch keine zwanzig Meter weit gegangen, als Grizzard, der in diesem Moment vorn ging, gegen ein unsichtbares Hindernis prallte. Fluchend verharrte er vor der unsichtbaren Wand. »Was jetzt?« fragte er. Atlan bat Asparg zu sich und untersuchte zusammen mit ihm die Wände und den Boden vor dem Energiefeld. Er hoffte, irgendwo eine Möglichkeit zu finden, das Feld abzuschalten, aber er suchte vergeblich. Zerik machte den Vorschlag, den Graben zu verlassen und das Energiefeld oben auf der Graben wand zu umgehen. »Lieber nicht«, erwiderte Atlan. »Dieser Weg bietet sich an. Er ist so einfach, daß eigentlich jeder auf den Gedanken kommen muß, daß es so am besten geht. Doch ich warne vor diesem Weg. Alles, was nahezuliegen scheint, ist gefährlich.« »Du hast bisher einen ganz intelligenten Eindruck auf mich gemacht«, entgegnete der Kemma, »aber das eben war keine Glanztat. Das war reine Spekulation. Wir versuchen es.« Er wehrte alle weiteren Argumente des Arkoniden unwillig ab, wobei er heftig mit den Armen ruderte. Das blütenartige Gebilde auf seinem Kopf verfärbte sich und wurde fast weiß. »Ich will nichts mehr hören«, schrie er. »Xerik wird nach oben klettern. Werik, Uerik – helft ihm.« Die beiden Angesprochenen stellten sich an die Grabenwand. »Hoch mit dir, Uerik«, befahl Werik. Uerik gehorchte und kletterte
auf seine Schultern. Dann streckte er Xerik die Hände entgegen und half ihm, nach oben zu steigen. Xerik schwang sich geschickt auf die Mauerkrone und blickte lachend zu den anderen herunter. »Na also«, sagte er triumphierend. »Hier oben passiert überhaupt nichts.« Er hüpfte übermütig auf der Mauerkrone weiter, doch da schoß plötzlich ein grünes Licht auf ihn zu und erfaßte ihn. Xerik schrie entsetzt auf. Er versuchte, von der Mauer in den Graben zu springen. Doch es war zu spät für ihn. Er fiel in sich zusammen und verbrannte in dem grünen Feuer. Ein Luftzug erfaßte seine Reste und trieb sie davon. Zerik sank stöhnend auf den Boden. Er vergrub das Gesicht in den Händen, und seine Schultern begannen zu zucken und zu beben. Mitfühlend legte ihm Atlan die Hand auf den Rücken. »Es war nicht deine Schuld«, sagte er leise. »Wir alle haben geglaubt, daß es so geht.« »Das ist nicht wahr.« »Doch. Es ist wahr. Wenn es nicht so wäre, hätte ich niemals geduldet, daß er so etwas tut.« Zerik stand auf. Seine Augen wurden feucht. »Von jetzt an werde ich tun, was du verlangst«, versprach er. »Ich werde auf dich hören. Du hast mehr Erfahrung in solchen Dingen als ich.« »Darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, daß wir uns einig sind und die Warnungen anderer beachten. Xerik ist seinem eigenen Leichtsinn zum Opfer gefallen. Das ist es, was sein Ende schlimm macht. Es war vermeidbar.« »Ich habe Hunger«, sagte Zerik unvermittelt. »Und ich habe Durst«, bemerkte Werik, der neben ihm stand. Diese Worte, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Tod Xeriks standen, machten bewußt, daß sie es alle mit einem Problem zu tun hatten, mit dem sie sich bisher überhaupt noch nicht befaßt hatten. Keiner von ihnen hatte irgend etwas zu Essen oder zu Trinken bei
sich. Sie alle waren darauf angewiesen, daß sie in der Kuppel etwas fanden. »Wir können uns keine langen Pausen erlauben«, stellte Razamon fest. »Die Wand ist weg«, sagte Grizzard überrascht. Er ging einige Schritte weiter und passierte dabei die Stelle, an der sich vorher das Energiefeld befunden hatte. Atlan folgte ihm und rief dann die anderen zu sich. »Ich verstehe das alles nicht«, erklärte Grizzard. »Wozu all diese Fallen und Schwierigkeiten?« »Das ist einfach zu beantworten«, erwiderte Zerik. »Man will alle von der ›Seele‹ fernhalten, die nicht befugt sind, dorthin zu gehen, und die die ›Seele‹ irgendwie gefährden könnten. Wer berechtigt ist, zur ›Seele‹ zu gehen, kann es ungehindert tun. Alle Fallen werden ungefährlich für ihn.«
3. »Wartet mal«, bat Razamon und legte einen Finger an die Lippen. »Ich habe etwas gehört.« »Wasser«, sagte Zerik. »Da plätschert irgendwo Wasser.« »Eine weitere Falle«, behauptete Grizzard. »Man will uns dorthin locken, weil man weiß, daß wir Durst haben.« Atlan ging vorsichtig weiter, ständig bereit, zurückzuspringen, falls er irgendwo ein Anzeichen einer Falle entdecken sollte. Der Graben bog nach rechts ab und ging in einen Tunnel über, der schräg in die Tiefe führte. An der Decke des Tunnels klebten glitzernde Steine, von denen ein sanftes Licht ausging. Deutlich war das Plätschern von Wasser zu hören. »Ich muß etwas trinken«, sagte Werik und zupfte dem Arkoniden am Ärmel. »Sei geduldig«, entgegnete Atlan. »Früher oder später werden wir etwas für unseren Durst tun können, es wäre jedoch gefährlich, das erste beste Angebot anzunehmen.« Asparg schloß zu ihm auf. Der Magier blickte ihn ruhig an. »Wir können weitergehen«, sagte er, und um dem Unsterblichen zu demonstrieren, wie sicher er seiner Sache war, schob er sich an ihm vorbei und betrat den Tunnel. Nach einigen Schritten drehte er sich lächelnd um. »Wirklich«, betonte er. »Es ist ungefährlich.« Werik eilte ihm nach. »Du darfst nichts trinken«, warnte Atlan ihn. »Das Wasser könnte vergiftet sein.« »Unsinn«, rief Werik. »Wir hatten uns vorgenommen, Warnungen ernst zu nehmen«, sagte Zerik ärgerlich. »Hast du das schon vergessen? Gerade haben wir Xerik verloren. Willst du der nächste sein?«
»Ich habe nicht das geringste Interesse daran.« Werik blieb stehen und strich sich den Bart glatt. Das tulpenähnliche Gebilde auf seinem Kopf nahm eine grünliche Farbe an. Atlan vermutete, daß sie Verlegenheit signalisierte. »Laßt mich zu Asparg durch«, bat Fiothra mit sanfter Stimme. »Vielleicht kann ich ihm helfen.« Atlan und Werik traten zur Seite. Fiothra ging zu Asparg und unterhielt sich flüsternd mit ihm. Dann winkte sie Atlan zu sich heran. »Mit dem Wasser stimmt etwas nicht«, erklärte sie leise. »Hör doch, wie es plätschert.« Atlan lauschte, doch er konnte nichts Ungewöhnliches an dem Geräusch feststellen, das von dem Wasser ausging. »Ich finde, es klingt völlig normal«, sagte er. »Du irrst dich«, erwiderte sie mit beschwörender Stimme. »Das Wasser ist nicht in Ordnung.« »Also gut.« Der Arkonide wandte sich an die anderen. »Wir müssen Asparg und Fiothra glauben. Sie warnen vor dem Wasser. Ganz gleich wie durstig ihr seid, ihr dürft nichts davon trinken. Es könnte euer Tod sein, wenn ihr es doch tut.« »Kommt her«, rief Fiothra. »Seht euch das an.« Als Atlan sie erreichte, sah er, daß ein Bach durch eine Höhle floß, deren Wände und Decke mit schimmernden Edelsteinen bedeckt waren. Die glitzernden Steine reagierten auf jedes Geräusch, indem sie ihre Farbe und Helligkeit veränderten. »Ist das nicht hübsch?« fragte die Magierin und bemühte sich, ihre Stimme zu modulieren, um auf diese Weise möglichst kräftige Farb‐ und Helligkeitsveränderungen bei den Steinen hervorzurufen. Werik trat an den Bach heran. »Das Wasser sieht ganz klar aus«, sagte er. Seine helle Stimme bewirkte eine Grünfärbung an der Decke. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es vergiftet ist.« Asparg kniete sich am Bach nieder und ließ die gestreckten Hände
langsam über das Wasser gleiten, ohne es allerdings zu berühren. »Es hat magische Kräfte«, erklärte er danach und erhob sich. Er war blaß geworden, und er wehrte sich gegen ein Gefühl der Übelkeit, das in ihm aufkam. »Ich würde auf keinen Fall etwas davon über meine Lippen kommen lassen.« »Magische Kräfte«, höhnte Werik. »Das ist doch nur fauler Zauber. Ihr Magier versucht ständig, euch aufzuwerten.« Grizzard versuchte, einen Edelstein aus der Wand zu brechen, doch das gelang ihm trotz aller Anstrengungen nicht. Fiothra eilte zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das solltest du nicht tun. Spürst du es denn nicht? Diese Höhle ist wie ein lebendes Wesen. Mir ist, als ob sie direkt mit der ›Seele‹ verbunden wäre – oder mit etwas anderem, das wir unbedingt respektieren sollten.« »Du meinst, die Kräfte der Dämonen leben in diesen Steinen?« Grizzard fuhr erschrocken zurück. Er fürchtete sich am meisten von allen vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen. Atlan war inzwischen zum entgegengesetzten Ausgang der Höhle gegangen. Er blickte in einen Tunnel hinaus, der nach etwa zwanzig Metern in einen offenen Graben führte. »Kommt weiter«, sagte er. »Je länger wir hier bleiben, desto schwieriger wird es für uns.« Fiothra, Grizzard, Razamon und Asparg kamen zu ihm. Die Kemmas zögerten, weil Werik am Bach kniete und mit glühenden Augen auf das Wasser blickte. Zerik packte ihn an den dornenartigen Auswüchsen am Hals und versuchte, ihn hochzuziehen. »Ich trinke nicht«, versprach Werik. »Ich will nur etwas sehen. Bitte, laßt mich allein.« »Nein«, sagte Atlan. »Bleibt bei ihm.« Doch es war schon zu spät. Die Kemmas hatten sich bereits einige Schritte von Werik entfernt, und dieser beugte sich nun blitzschnell zum Wasser hinab.
Gierig trank er. Zerik, Uerik, Terik und Serik stürzten sich auf ihn und zerrten ihn vom Bach fort. Er lachte schrill und strampelte vergnügt mit den Beinen. »Ihr Narren«, schrie er. »Ich habe meinen Durst gelöscht. Ihr könnt von mir aus verdorren. Mir jedenfalls wird das nicht passieren.« Er schüttelte die anderen ab und kam zu Atlan. Trotzig blickte er zu ihm auf. »Dämonenzeug, eh?« fragte er herausfordernd. »Was für einen Quatsch wirst du uns noch präsentieren?« »Nichts weiter«, erwiderte der Arkonide ruhig. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wenn du meinst, unsere Warnung in den Wind schlagen zu können, dann tu es. Versuche aber nicht, die anderen umzustimmen.« Werik schnaubte verächtlich durch die Nase, warf sich die Spitze seines Bartes über die Schulter und ging an Atlan vorbei in den Tunnel hinaus. Er erreichte den Graben, ohne daß etwas geschah. Hier wartete er auf die anderen. »Es tut mir leid«, sagte Zerik leise. »Ich dachte, daß alle vernünftig geworden sind.« »Gehen wir weiter.« Atlan krauste die Stirn. Er fühlte sich von einer inneren Unruhe erfaßt, die er sich nicht erklären konnte. Das Extrahirn schwieg. Der streng logisch denkende Teil seines Gehirns hatte sich seit vielen Stunden nicht mehr gemeldet. Es schien, als weigere sich der Logiksektor, Stellung zu Vorfällen zu nehmen, die sich jeder Logik zu entziehen schienen. Werik lachte schrill und triumphierend und ging weiter. Die Wände des Grabens wurden heller, und die Gruppe erreichte eine Abzweigung. »Und jetzt?« fragte Razamon. Er wandte sich an den Arkoniden, weil er dessen überragenden Gedächtnisleistungen kannte. Der Arkonide besaß ein fotografisches Gedächtnis und konnte sich an alle Einzelheiten des Labyrinths erinnern, die er vorher von oben
gesehen hatte. Daher wußte er genau, wo er war, doch er wußte ebenso, daß er von oben an dieser Stelle keine Abzweigung bemerkt hatte. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte er. »Hier dürfte keine Abzweigung sein.« Werik ging einige Schritte weiter in den rechten Graben hinein, kehrte dann um und ging in den linken. »Ich glaube, wir sollten nicht länger auf ihn hören«, erklärte er dann. »Für mich ist alles klar.« Razamon blickte Atlan verblüfft an. Er hatte noch nicht erlebt, daß der Arkonide sich getäuscht hatte. »Wahrscheinlich bin ich durch Spiegel irritiert worden«, sagte Atlan nachdenklich, während ihm plötzlich bewußt wurde, woher das Unbehagen kam, das ihn erfaßt hatte. »Natürlich. Das Labyrinth wäre reichlich sinnlos, wenn man es von oben einsehen und auf diese Weise gleich den richtigen Weg erkennen könnte.« Endlich! bemerkte der Logiksektor. Zerik schrie entsetzt auf. Atlan, der versonnen auf den Boden geblickt hatte, fuhr herum. Er sah schemenhafte Gestalten, die über ihn hinwegsprangen und dabei den Graben überquerten. Die Schemen hatten insektoide Formen und sahen bedrohlich aus. Die Kemmas warfen sich in ihrem Schrecken auf den Boden und spähten ängstlich nach oben. Zerik kroch zu dem Arkoniden, als sei von diesem allein Hilfe zu erwarten. Atlan zählte zwölf verschiedene Schemen, von denen einige wie Käfer, andere wie Heuschrecken und wiederum andere wie Fliegen aussahen. Sie bewegten sich lautlos über sie hinweg, und keiner von ihnen schien angreifen zu wollen. »Weiter«, sagte Atlan. »Laßt euch nicht aufhalten.« »Wohin?« fragte Razamon. »Nach rechts oder nach links?« »Am besten teilen wir uns«, entgegnete der Arkonide. »Ich weiß nicht, welche Richtung am besten für uns ist. Wenn einige von uns nach links, die anderen nach rechts gehen, können wir uns durch
Rufe verständigen. Sobald eine Gruppe sicher ist, den richtigen Weg gefunden zu haben, kann sie die andere informieren.« »Einverstanden«, sagte Grizzard. »Wer geht mit wem?« »Ich entscheide mich für links«, erklärte Fiothra. »Ich gehe mit dir«, sagte Asparg, und auch Grizzard entschloß sich, bei der Magierin zu bleiben, während Atlan, Razamon und die Kemmas sich nach rechts wenden wollten. Die Gruppen trennten sich ohne weitere Worte. Alle schienen bestrebt zu sein, den unheimlichen Schatten so schnell wie möglich zu entkommen. Kaum waren Atlan und seine Begleiter einige Meter weit gegangen, als plötzlich der Boden unter ihnen nachgab. Der Arkonide, der die Gruppe anführte, erkannte, daß sie sich auf einer Falltür befanden, die nach unten gekippt war. Er warf sich zur Seite und versuchte, sich an der Wand festzuhalten, doch diese war so glatt, daß sie ihm keinen Halt bot. Hilflos rutschte er die Schräge hinunter. Razamon und die fünf Kemmas glitten hinter ihm her, prallten gegen ihn und schleuderten ihn endgültig in die Tiefe. Der Berserker hämmerte verzweifelt mit den Fäusten gegen den Boden der Gleitfläche. Er hoffte, ein Loch hineinschlagen und sich an dessen Kanten halten zu können, doch das gelang ihm nicht. * Grizzard bereute schon bald, daß er nicht mit Atlan gegangen war. Er ärgerte sich darüber, daß er geglaubt hatte, die beiden Magier könnten ihm größeren Schutz bieten als der Arkonide. Er wagte jedoch auch nicht, umzukehren und allein zurückzugehen, da er fürchtete, sich aus eigener Kraft in dem Labyrinth nicht behaupten zu können. Fiothra und Asparg machten jedoch einen äußerst unsicheren
Eindruck auf ihn. Die schattenhaften Gestalten tanzten über ihnen auf der Mauerkrone des Grabens, und ihre Haltung wurde immer drohender. Es schien, als würden sie sich im nächsten Moment schon auf die beiden Männer und Fiothra herabstürzen. »Wir sollten umkehren und zu Atlan gehen«, sagte Grizzard zögernd. »Warum?« fragte Fiothra. Sie blickte ihn erstaunt an. »Nichts spricht dagegen, daß dies der richtige Weg ist.« Die Schatten über ihnen begannen zu heulen und zu kreischen. Ihre Anzahl wuchs immer mehr an. »Dann verscheuche sie«, bat Grizzard und deutete nach oben. »Wir müssen doch etwas gegen sie tun können.« Fiothra schüttelte den Kopf. »Das habe ich schon versucht«, gestand sie ein. »Es geht nicht.« »Sie tun nichts«, erklärte Asparg. Er strich sich das blauschwarze Haar aus der Stirn, und seine intensiv blau leuchtenden Augen blickten Grizzard besänftigend an. Er richtete sich ein wenig höher auf und bemühte sich, seine Unsicherheit zu überspielen. Das gelang ihm jedoch nicht ganz. »Verschwindet«, brüllte der Terraner nach oben. Er ruderte mit den Armen. »Haut endlich ab.« Die schemenhaften Gestalten kreischten und jaulten, als habe er sie körperlich gezüchtigt. »Laß sie doch«, bat Asparg. »Wenn sie etwas gegen uns ausrichten könnten, hätten sie es längst getan.« Er drehte sich betont gelassen um und ging weiter. Der Boden wurde rauh und uneben, so daß sie nicht mehr so mühelos vorankamen wie zuvor. Grizzard blickte erschauernd auf die Wände, die nun auch nicht mehr so glatt aussahen. Er hatte den Eindruck, daß überall Blutstropfen aus den Wänden gequollen waren und sich an der Luft verhärtet hatten. Die Grabenwände wuchsen höher und neigten sich zugleich gegeneinander, so daß ein Tunnel entstand, der oben einige
Zentimeter weit offen war. Grizzard blieb stehen. Die schattenhaften Gestalten drängten sich über ihm. Es schien, als setzten sie zum Sprung an. »Nein«, sagte er. »Ich fühle, daß wir hier falsch sind.« Grizzard war entschlossen, nicht einen Schritt weiterzugehen. Die Instinkte des Jägers und Waldläufers sprachen in ihm an. Sie sorgten dafür, daß er sich der Gefahr, in der er sich befand, körperlich bewußt wurde. Asparg lächelte. Sein ungewöhnlich schönes Gesicht glänzte im Widerschein des rötlichen Lichts, das von den Blutstropfen an den Wänden ausging. »Was ist los mit dir?« fragte er mit singender Stimme. »Mit mir ist nichts«, antwortete Grizzard. Er fühlte sich plötzlich unendlich allein. Zwischen ihm und den beiden Magiern tat sich ein Abgrund auf, den er überwinden wollte, der jedoch unüberbrückbar schien. »Du hast dich verändert. Und Fiothra auch.« Asparg und Fiothra lächelten nachsichtig. Sie blickten ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Euch ist nicht bewußt, daß etwas anders ist als vorher. Ihr merkt nicht, daß ihr unter einem fremden Einfluß steht«, sagte Grizzard beschwörend. »Jemand oder etwas läßt euch denken und handeln, wie er oder es es will. Erinnert euch doch, wer ihr seid.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Armer Grizzard.« Fiothra kam zu ihm und strich ihm sanft über die Wange. »Das hier war wohl ein wenig zuviel für dich.« Der Terraner meinte, die Schemen lachen zu hören. Schattenhafte Hände streckten sich nach ihm aus. Er glaubte zu fühlen, daß sie ihm unter die Kleidung drangen und ihm kalt über den Rücken fuhren. Aufschreiend schreckte er zurück. »Weg hier«, rief er den beiden Magiern zu. »Ihr dürft nicht bleiben.«
Sie verharrten lächelnd auf der Stelle und blickten ihm nach, als er Schritt auf Schritt zurückwich. »Vielleicht hättest du draußen bleiben sollen«, sagte Fiothra nachsichtig. »Vielleicht ist es aber auch der Durst, der deinen Verstand verwirrt hat.« Grizzard stiegen Tränen in die Augen. Er fühlte sich in eine fremde unbegreifliche Welt versetzt, in der alle menschlichen Beziehungen erstarben. Die beiden Magier waren unerreichbar für ihn. Sie befanden sich fest in der Gewalt einer unbekannten Macht, und sie begriffen nicht, daß er ihnen helfen wollte. »Hört mich doch wenigstens an«, schrie er und streckte die Arme nach ihnen aus. »Tut nicht so, als sei ich verrückt geworden. Ich weiß, daß ich es nicht bin.« Asparg nickte mitleidig. »Natürlich weißt du es, Grizzard. Wir machen dir keinen Vorwurf. Du willst uns helfen, und wir sind dir dankbar dafür.« Es schien, als hätten sie sich auch körperlich weiter von ihm entfernt, obwohl sie sich nicht bewegt hatten. Sie wirkten kleiner als zuvor. Zugleich schien sich der Gang zu erweitern. Die schattenhaften Gestalten über Grizzard kicherten. »Kommt her zu mir«, bat er, doch Asparg und Fiothra lächelten nur. Grizzard sah hinter den beiden Magiern eine bizarre Gestalt auftauchen. Sie war insektoid, kroch auf acht unproportional langen Beinen voran und war mit seltsamen Auswüchsen bedeckt, die keinerlei Funktion zu haben schienen. Das Wesen hatte mehrere Beiß‐ und Reißzangen und einen langen Dorn mit scharf gezackter Öffnung, der offensichtlich dazu diente, das angefallene Opfer aufzuspießen und ihm ein Gift zu injizieren. Der Terraner schrie auf. »Hinter euch. Asparg. Fiothra. Paßt auf.« Doch die beiden nahmen seine Warnung nicht ernst. Ihr Lächeln
vertiefte sich. Voller Wohlwollen blickten sie ihn an. »Dreht euch doch um. Seht, was hinter euch ist«, brüllte er. »Geh schon zu Atlan«, entgegnete Asparg. »Wir nehmen es dir nicht übel.« * Zum erstenmal, seit sie in dem Labyrinth waren, hatte Atlan sich aufgegeben. Er stürzte haltlos in die Tiefe. Dunkelheit umgab ihn, und er fiel immer schneller. Er glaubte, in einem Schacht zu sein und irgendwann auf dem felsigen Schachtgrund aufzuschlagen. Zerik und die anderen Kemmas schrien vor Entsetzen. Razamon verhielt sich still. Plötzlich fühlte der Arkonide einen leichten Schlag. Er prallte mit der Schulter gegen etwas auf, was augenblicklich unter ihm nachgab, und dann stürzte er kopfüber in eine kugelförmige Halle, deren unteres Teil mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt war. Aus nicht erkennbaren Quellen kam taghelles Licht. Atlan erkannte, daß die Wände der Hohlkugel aus bizarr geformten Felsen bestanden, die in den verschiedensten Farben glänzten und schillerten. Rasend schnell kam die grünliche Flüssigkeit auf Atlan, Razamon und die Kemmas zu. Zerik klammerte sich an den Arkoniden, als könne er bei ihm Hilfe finden. Der Unsterbliche machte sich jedoch keine Illusion. Er schätzte, daß die Hohlkugel einen Durchmesser von mehr als hundert Metern hatte, und er wußte, daß ein Sturz aus einer Höhe von hundert Metern auf eine Wasserfläche tödlich war. Dennoch warf er sich mit ruckenden Körperbewegungen herum, bis er mit den Füßen voran fiel. Er streckte die Beine aus und bog die Fußspitzen nach unten, um dem Wasser möglichst wenig Widerstand zu bieten. Dann schlug er auch schon auf. Überraschenderweise fühlte er kaum etwas. Der erwartete harte
Aufschlag blieb aus. Er schoß mit den Füßen voran in die Flüssigkeit, und er reagierte augenblicklich, während die anderen mehr Zeit benötigten, den Schock zu überwinden. Er breitete Arme und Beine aus, um nun möglichst viel Widerstand zu bieten und nicht so tief zu tauchen. Er merkte, daß die Abwärtsbewegung endete, und er ruderte kräftig mit Armen und Beinen, um sich hochzuarbeiten. Doch es schien, als glitten seine Hände durch Luft. Sie fanden keinen Widerstand in der Flüssigkeit, und der Arkonide hatte den Eindruck, daß er in der Tiefe verharrte. Panik kam in ihm auf, und er verstärkte seine Bemühungen, an die Oberfläche zu kommen. Jemand griff nach seinem Fuß. Unwillkürlich trat er mit dem anderen Fuß nach der Hand, die ihn gepackt hatte. Dann wurde ihm siedendheiß bewußt, daß es Razamon, Zerik oder einer der anderen Kemmas sein konnte, die Hilfe bei ihm suchten. Trotz aller Bedenken öffnete er die Augen und blickte nach unten. Er fürchtete Schäden für seine Augen, weil er die Art der Flüssigkeit nicht kannte, aber dann merkte er, daß ihre Wirkung völlig neutral auf die Schleimhäute war. Eine seltsame Gestalt befand sich unter ihm. Sie war langgestreckt wie ein Krokodil und hatte dornenartige Auswüchse am Kopf. Mit vier Armen versuchte das Wesen, ihn zu fassen und festzuhalten. Atlan schlug blind um sich, während ihm die Luft knapp wurde. Er warf den Kopf in den Nacken, weil er hoffte, die Oberfläche des eigenartigen Sees sehen zu können, doch über ihm war nur ein diffuses Grau, so daß er nicht abschätzen konnte, ob er sich zehn oder gar zwanzig Meter unter der Oberfläche befand. Er schluckte, um die Atemnot für einige Sekunden zu verdrängen, aber er fühlte, daß er die Luft nicht mehr lange anhalten konnte. Er atmete ein wenig aus, um sich eine weitere Frist zu verschaffen, und fühlte zugleich, daß er im nächsten Moment den Mund öffnen mußte. Er konnte den Atemreiz nicht mehr länger unterdrücken.
Verzweifelt ruderte er mit Armen und Beinen, da er wußte, daß er zuviel Flüssigkeit in die Lungen bekommen würde, wenn er zu atmen versuchte. Die Flüssigkeit würde ihn sofort bewußtlos werden lassen und damit alle Chancen auf eine Rettung zunichte machen. Neben ihm tauchte eine kleine Gestalt auf. Wie ein luftgefüllter Ball schoß sie an ihm vorbei. Er glaubte, Zerik zu erkennen, und verzweifelt fragte er sich, warum der Kemma ihn nicht mit nach oben genommen hatte. In höchster Atemnot öffnete er den Mund, atmete jedoch noch nicht. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen das unvermeidlich erscheinende Ende, und dann durchbrach sein Kopf die Oberfläche des Sees. Atlan schnellte sich bis fast zu den Füßen aus der Flüssigkeit, und erst jetzt bemerkte er, daß er sich die ganze Zeit über mit erheblicher Geschwindigkeit nach oben bewegt hatte. Neben ihm tauchten Razamon und die Kemmas auf. Auch sie wurden förmlich in die Höhe geschleudert, überholten ihn in der Luft und stürzten mit ihm wieder in die Flüssigkeit.
4. Dieses Mal tat Atlan von vornherein alles, was ihm möglich war, um nicht so tief einzutauchen. Tatsächlich gelang es ihm, augenblicklich wieder an die Oberfläche zu kommen. Das Ufer war nur wenige Meter von ihm entfernt, doch eine langgestreckte Gestalt glitt dicht unter der Oberfläche der geheimnisvollen Flüssigkeit entlang und versuchte, ihm den Weg zu versperren. »Wir müssen durch. Schnell«, brüllte Razamon hinter ihm. »Hier wimmelt es von solchen Bestien.« Atlan drehte sich um. Er sah, daß sich auch alle fünf Kemmas hinter ihm befanden und ebenfalls dem Ufer zustrebten. Er warf sich nach vorn, fühlte einen Hornpanzer unter sich und drückte ihn mit aller Kraft in die Tiefe. Neben ihm gischtete das Wasser auf. Eine Echse wand sich in den Armen Razamons und flüchtete unmittelbar darauf in die Tiefe. Atlan packte Zerik und warf ihn ans Ufer. Der Kemma kreischte, als ob es ihm ans Leben ginge, drehte sich um und streckte die Arme aus. »Die anderen auch«, forderte er. Atlan erreichte das Ufer, das aus Steinbrocken bestand, und zog sich hoch. Dann half er Razamon und den Kemmas heraus, die sich mit Mühe und Not vor den angreifenden Bestien retteten. Eines der Tiere sprang auf die Felsen, doch der Berserker fegte es mit einem gewaltigen Faustschlag wieder herunter. Erschöpft zogen sich die Kemmas wieder zurück, während Atlan und Razamon abwarteten, ob ein weiterer Angriff erfolgte. »Das war knapp«, sagte der Berserker. Er atmete schnell und keuchend. »Ich dachte, ich würde nie mehr aus dieser Brühe auftauchen.« Voller Abscheu fuhr er sich mit den Händen über die Arme und
Beine, um die Flüssigkeit von den Kleidern abzustreifen. »Was ist das eigentlich?« fragte er dann. »Ich weiß es nicht«, entgegnete der Arkonide und ließ sich auf einen Stein sinken, um Atem zu schöpfen. »Auf jeden Fall ist es kein Wasser.« Er blickte zur Decke der Halle hoch, ohne die Falltür erkennen zu können, durch die sie herabgekommen waren. »Und was ist jetzt?« fragte Zerik. »Schließlich wollen wir hier nicht bleiben.« »Natürlich nicht.« Atlan erhob sich. »Irgendwo gibt es einen Ausgang. Wir werden ihn finden.« »Ich dachte, ich lande in der Hölle«, bemerkte Zerik. »Ich fand das alles gar nicht so aufregend«, erklärte Werik, der sich überlegen und selbstsicher gab. »Ehrlich gesagt, verstehe ich eure Aufregung nicht.« »Schweige, du Hohlkopf«, rief Zerik ärgerlich. Atlan blickte Werik nachdenklich an. Er ist größer geworden, stellte das Extrahirn fest. Verblüfft horchte der Arkonide in sich hinein. Dann beobachtete er Werik, der unruhig zwischen den anderen Kemmas hin und her lief. Dabei fiel ihm auf, daß Werik tatsächlich größer als die anderen Zwerge war. Razamon beobachtete, daß etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt drei Echsen aus dem Wasser krochen. Die Tiere hatten die gleiche Farbe wie die Steine am Ufer des Sees, und sie bewegten sich so langsam, daß sie nur schwer von den Steinen zu unterscheiden waren. »Wir müssen so schnell wie möglich einen Ausgang finden«, sagte der Berserker. »Wenn wir uns nicht beeilen, könnte es bald zu spät sein.« Er machte Atlan auf die Echsen aufmerksam, und Zerik befahl den anderen Kemmas, auszuschwärmen und zu suchen. Werik fand schon Sekunden später einen Aufgang. Es schien, als sei er davon
geradezu angelockt worden. »Hier ist ein Felsspalt«, schrie er und streckte triumphierend die Arme in die Höhe. »Kommt her und hört nicht mehr auf Zerik, der hat ja doch keine Ahnung.« Zerik, der bisher der unbestrittene Anführer der Kemmas gewesen war, zuckte bei diesen Worten zusammen, als sei er körperlich gezüchtigt worden. »Er hat von dem Wasser getrunken«, sagte er. »Es ist ihm zu Kopf gestiegen.« Damit ging er über die Bemerkung Weriks hinweg, als sei sie nicht gefallen. Uerik, Terik und Serik gaben zu erkennen, daß sich für sie nichts geändert hatte. Sie sahen nach wie vor in Zerik ihren Anführer. Atlan ging zu dem Felsspalt, den Werik entdeckt hatte, und blickte hinein. Über Geröllbrocken ging es steil nach oben bis zu einer runden Öffnung, durch die helles Licht hereinfiel. »Wir steigen hier hoch«, entschied der Arkonide. »Kommt.« Dieser Aufforderung hätte es nicht mehr bedurft. Die Kemmas drängten sich um ihn. Nur Razamon stand noch in Ufernähe. Er beobachtete ein krokodilähnliches Wesen, das sich ihm schwimmend näherte. Langsam zog er sich zurück, bückte sich und schleuderte einen Stein nach dem Tier. Er verfehlte es jedoch. Er drehte sich um und eilte zu Atlan, der bereits mit dem Aufstieg begann. »Was ist los?« fragte der Arkonide. »Nichts«, erwiderte Razamon. »Ich glaubte, eine Zeitlücke erkennen zu können, aber ich habe mich geirrt.« Er griff sich ans Bein, als ob er Schmerzen habe, hob die Hand jedoch sogleich wieder und strich sich verlegen übers Haar. Die Echsen, die erkannten, daß ihnen ihre Opfer entgehen würden, brüllten enttäuscht. Razamon bückte sich, nahm erneut einen Stein auf und schleuderte ihn nach den Tieren. Er verfehlte sie jedoch abermals. Dennoch war der Effekt ganz anders als beim ersten
Wurf. Der Stein flog an zwei Echsen vorbei, beschrieb dann – allen Naturgesetzen widersprechend – eine Kurve nach oben, zerplatzte in zahllose Einzelstücke und stürzte als Steinschauer in die Flüssigkeit. Die Splitter verschwanden darin, ohne die Oberfläche des Sees aufzuwerfen. »Laß uns gehen«, sagte der Berserker. »Hier stimmt überhaupt nichts.« »Die Höhle ist verhext«, erklärte Zerik und kletterte hinter den anderen Kemmas her, die bereits einen beträchtlichen Vorsprung hatten. Atlan warf den Echsen einen letzten Blick zu, dann folgte er den anderen. Er war unsicher geworden. Die Höhle war gefährlich, aber seltsamerweise erschien sie ihm nicht gefährlich genug. Die anderen Fallen, mit denen er sich auseinanderzusetzen gehabt hatte, waren so angelegt gewesen, daß bereits die geringste Unvorsichtigkeit zum Tod führen mußte. Das war hier nicht der Fall gewesen. Wenn der See mit Wasser gefüllt gewesen wäre, dann hätte er den herabstürzenden Körpern soviel Widerstand geboten, daß sie alle beim Aufprall getötet worden wären. Hatte die tatsächliche Gefahr in den Echsen gelegen? Sollten sie ihr Opfer werden, und gab es tatsächlich so etwas wie eine Zeitlücke, die verhindert hatte, daß sie von den Raubtieren eingefangen worden waren? Ein Schrei schreckte Atlan auf. Es war ein Schrei des Entsetzens. Er kam aus der Kehle eines der zwergenhaften Wesen, die schon weit in die Spalte vorgedrungen waren. * Seleinghont schlug die Scheren zusammen und bog seine Stielaugen zur Seite. Spöttisch mit den Beinen scharrend, blickte er Eigna, den
Denker vom Stamme der Paparer, an. »Was ist denn nun?« fragte er. »Quält dich deine Arthritis so, daß du mir keine Antwort mehr geben kannst? Der Silberhaarige lebt immer noch. Willst du mir nicht erklären, wieso?« Eigna stöhnte ärgerlich. »Ich weiß es nicht«, gestand er nach einigem Zögern ein. »Es ist mir unerklärlich, daß er überlebt hat. Normalerweise hätte er schon beim Sturz sterben müssen. Die auf ihn angesetzten Strahlenimpulse hätten zum Herzstillstand führen müssen.« »Das haben sie nicht getan.« »Er muß über magische Kräfte verfügen, oder er besitzt ein Organ, das immun gegen diese Impulse macht.« Eigna krächzte ärgerlich. Der Giftdorn am Ende seines Schwanzes hob sich hoch über seinen Körper hinaus, und ein paar grünliche Tropfen fielen aus ihm herab. »Die Hornechsen hätten ihn zerreißen müssen, aber er war ihnen überlegen.« »Du mußt dir also etwas einfallen lassen«, stellte Seleinghont amüsiert fest. Ihm gefiel, daß der Denker in der Klemme saß. Dadurch war für Unterhaltung gesorgt. Und nichts war ihm wichtiger als ein bißchen Abwechslung. »Ich werde einen Plan entwickeln, der dafür sorgt, daß er nicht entkommt«, erklärte Eigna. Haßerfüllt blickte er auf die Monitorschirme, auf denen er Atlan und seine Begleiter sehen konnte. »Er mag noch so fähig und noch so ungewöhnlich sein, ich bin ihm dennoch überlegen.« »Da bin ich gespannt«, erwidert Seleinghont, »wie lange es noch dauern wird, bis der Weißhaarige auf der Nase liegt. Um was wetten wir dieses Mal?« Eigna wartete eine geraume Weile mit seiner Antwort. Dann wandte er sich seinem Gesprächspartner zu. Drohend erhob sich der Schwanz mit dem Giftdorn. »Damit du siehst, daß es mir wirklich ernst ist, setze ich die Wette hoch an«, entgegnete er ihm.
»Du willst die magische Krone bieten?« fragte Seleinghont überrascht. »Das wäre allerdings eine Wette, die mich wirklich reizt.« »Die magische Krone«, bestätigte Eigna. Er atmete schwer. »Und wenn es dieses Mal nicht gelingt, werde ich beim nächsten Mal mein Leben einsetzen.« * Grizzard ertrug es nicht mehr länger, die Freunde in Gefahr zu sehen. Er wollte sich auf Asparg und Fiothra stürzen und sie zurückreißen. Doch sie wichen vor ihm zurück, als stelle er eine Gefahr für sie dar, und kamen dabei dem monströsen Wesen noch näher. Verzweifelt streckte Grizzard die Arme nach ihnen aus. »Ihr braucht euch nur umzudrehen, dann seht ihr, was ich meine, und dann wißt ihr, daß ich nicht verrückt geworden bin«, sagte er. »Aber wir wissen doch, daß du es gut mit uns meinst«, erwiderte Asparg milde lächelnd. »Das brauchst du uns nicht mehr zu beweisen.« »Dann kommt zu mir.« Sie schüttelten die Köpfe. Grizzard entdeckte einen Stein, der sich aus dem sonst glatten Boden des Grabens gelöst hatte. Er nahm ihn rasch auf und warf ihn mit voller Kraft gegen das insektoide Wesen. Er traf es dicht über dem Saugrüssel. Der Stein prallte mit einem eigenartig dumpfen Geräusch auf, verletzte das Tier nicht und fiel auf den Boden. Doch wirkungslos blieb der Treffer nicht. Die beiden jungen Magier lösten sich für einen kurzen Moment aus der zwingenden Sphäre des Angreifers. Sie drehten sich um und blickten es an. Fiothra schrie entsetzt auf. Ihre strahlend blauen Augen schienen alles Licht der Umgebung einzufangen.
Die Magierin wich vor der Bestie zurück, stolperte und stürzte direkt in die Arme Grizzards. Dieser fing sie auf und schleifte sie über den Boden. Asparg, der sich noch nicht ganz befreit hatte, versuchte, sie zurückzuzerren. Er umklammerte ihre Beine, um sie zu halten. Doch dadurch entfernte er sich weiter von dem insektoiden Wesen, und plötzlich wurde auch er frei. Er sprang erschrocken auf, hob Fiothra hoch und flüchtete mit ihr. Das monströse Wesen erkannte, daß ihm die Beute entgehen würde, und griff an. Es pfiff schrill und richtete den Stechrüssel auf die beiden Männer und das Mädchen. Doch jetzt rannten diese so schnell sie konnten zu der Stelle zurück, an der sie sich von Atlan und den anderen getrennt hatten. Das Tier folgte ihnen, holte jedoch nicht auf. Es bewegte sich eigenartig schwerfällig auf den unproportional langen Beinen. Sie rannten um eine scharfe Gangbiegung, und der Indianer blickte zurück, als sie sich etwa zwanzig Meter von ihr entfernt hatten. Er erkannte, daß sie nicht länger verfolgt wurden. Dafür tauchten einige der schemenhaften Wesen über ihm auf. Sie drohten ihm mit ihren Klauen. »Es ist vorbei«, sagte Grizzard. »Das Biest kommt nicht hinterher.« Fiothra lehnte sich schwer atmend gegen die Grabenwand. Sie legte die Hände vor das Gesicht. »Ich erinnere mich an alles«, sagte sie. »Ich weiß noch genau, wie ahnungslos ich war, und welche Mühe du dir gegeben hast, uns von diesem Monstrum wegzulocken. Nicht ein einziges Mal bin ich auf den Gedanken gekommen, daß ich deine Warnung wirklich ernst nehmen muß.« »Das Biest hat dich beeinflußt«, antwortete Grizzard und gab ihr mit einer knappen Geste zu verstehen, daß sie sich keine Gedanken machen sollte. »Vergessen wir den Vorfall.« »Das wird mir wohl kaum so schnell gelingen«, erklärte Asparg. Er sah müde und erschöpft aus. Der überstandene Schrecken hatte Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. »Eigentlich war ich davon
überzeugt gewesen, daß mich so leicht niemand mit magischen Kräften einfangen kann. Jetzt weiß ich, daß ich wie eine Fliege im Netz einer Spinne war. Vielleicht hätte mich das Monster getötet, ohne daß ich etwas davon gemerkt hätte.« »Das ist möglich«, sagte Grizzard. Er blickte unbehaglich zu den schemenhaften Gestalten hoch. »Wir sollten jedoch weitergehen und versuchen, so schnell wie möglich Atlan zu finden. Er kann noch nicht weit sein.« Die beiden Magier nickten. Sie waren einverstanden. Auch sie zog es zu dem Arkoniden zurück. Sie hatten das Gefühl, als könnten sie wirkliche Sicherheit nur bei ihm finden, und ihnen wurde bewußt, daß sie sich an seiner Persönlichkeit aufgerichtet hatten. * Atlan kletterte in aller Eile über das Geröll nach oben. Einige Meter von ihm entfernt drängten sich Zerik, Uerik, Terik und Serik vor einer Öffnung im Fels zusammen. »Was ist los?« fragte der Arkonide. Die Kemmas schlugen mit faustgroßen Steinen auf die Felskanten an und versuchten, die Öffnung zu erweitern. Keiner von ihnen antwortete. »Wo ist Werik?« rief Razamon. Atlan hatte die Kemmas erreicht. Er blickte durch die Öffnung in eine Höhle. »Er ist hier«, erwiderte er und ließ sich erschüttert auf einen Felsbrocken sinken. Razamon schloß zu ihm auf. Er blieb neben ihm stehen. »So helft ihm doch«, schrie Zerik. »Worauf wartet ihr Hohlköpfe denn noch? Seht ihr nicht, daß es auf jede Sekunde ankommt? Wenn ihr noch länger zögert, ist es zu spät für ihn.« »Es ist zu spät«, entgegnete Razamon, »ob wir warten oder nicht.
Niemand kann ihm helfen.« Werik glotzte ihn mit großen Augen an. Er kauerte in der Höhle, die aus unsichtbaren Quellen erhellt wurde. Hinter ihm befand sich eine kleine, goldene Statue, die ihn offenbar angelockt hatte. Schon vorher war Atlan aufgefallen, daß Werik gewachsen war. Jetzt war diese Tatsache für niemanden mehr übersehbar. Der Kemma war doppelt so groß wie zuvor. Er war in die Höhle gekrochen und dabei gerade noch durch die Öffnung gekommen. In der Höhle aber hatte sein Körpervolumen deutlich zugenommen, und es stieg auch jetzt noch an. Ängstlich kauerte er auf dem Boden, den Kopf weit nach unten gedrückt, weil die Höhle so niedrig war, daß er sich nicht zu seiner vollen Größe aufrichten konnte. Zerik und die anderen Kemmas hatten die Gefahr erkannt. Sie war unübersehbar. Werik wuchs auch jetzt noch. Atlan, Razamon und die zwergenhaften Wesen beobachteten, daß er von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Vergeblich hämmerten die Kemmas mit Steinen gegen den Fels. Die Öffnung ließ sich nicht vergrößern. »Es ist eine Falle«, stellte Razamon fest. »Sie hat Werik angelockt, und sie läßt ihn nun nicht mehr frei. Ich bin froh, daß ich nichts getrunken habe. Ich hatte Durst und konnte mich kaum beherrschen. Wenn ich getrunken hätte, wäre ich jetzt wohl auch in der Höhle.« »Bestimmt.« »Helft ihm doch«, flehte Zerik. »Wir schaffen es nicht allein. Redet nicht herum. Helft.« »Es ist aussichtslos«, erwiderte der Arkonide. »Für Werik ist es zu spät.« »Nein«, sagte Werik röchelnd. »Es darf nicht zu spät sein, nur weil ich ein bißchen Wasser getrunken habe.« Er zerrte mit beiden Händen an seinem Bart, ohne zu bemerken, daß er sich die Haare dabei büschelweise ausriß. In seiner Haut bildeten sich Risse. Ächzend versuchte er, sich ein wenig mehr Platz zu verschaffen. Er wälzte sich mühsam herum und legte sich auf
den Bauch, so daß er die schmerzenden Beine ausstrecken konnte. Erschüttert bemerkte der Arkonide, daß er mit dem Rücken bereits die Decke berührte. Jetzt ging der Körper Kemmas in die Breite. Der Schädel wurde so mächtig, daß das Kinn auf dem Boden lag, während der Hinterkopf bis an die Decke reichte. Razamon stürzte sich nach vorn. Er hieb mit bloßen Fäusten wie rasend auf den Fels ein, erreichte damit jedoch nur, daß er sich die Knöchel blutig schlug. Dann packte er einen Stein und wuchtete ihn gegen die Wand, erzielte jedoch auch damit keinen Erfolg. Enttäuscht ließ er ihn sinken. Werik blickte ihn an. Seine Augen waren mittlerweile kaum kleiner als der Kopf des Berserkers. »Du meinst es gut mit mir«, sagte er keuchen, »aber Atlan hat recht. Es ist wirklich zu spät. Die Höhle gibt mich nicht frei. Geht weiter. Ihr müßt nicht unbedingt sehen, wie ich sterbe.« »Du wirst nicht sterben«, erwiderte der Berserker. »Wir werden einen Weg finden, dich zu befreien.« »Unsinn. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe das verzauberte Wasser getrunken, und jetzt bezahle ich dafür. Geht weiter. Ich möchte nicht, daß ihr noch hier seid, wenn ich … platze.« Razamon sträubten sich die Nackenhaare. Er erfaßte, daß Werik die Wahrheit erkannt hatte. Hilfesuchend blickte er Atlan an, doch der Arkonide schüttelte nur den Kopf. »Wir hätten dir gern geholfen, Werik«, beteuerte Zerik. »Überlege jedoch, wie es hätte weitergehen sollen, wenn es uns tatsächlich gelungen wäre, dich aus der Höhle zu holen. Du hättest dich wegen deiner Größe kaum noch bewegen können.« »Sehr trostreich, mein Bruder«, entgegnete Werik. »Du meinst also, wenn es schon sein muß, dann lieber so.« Er war kaum noch zu verstehen. Sein Körper füllte nahezu die ganze Höhle aus. Die Finger, die fast so groß waren wie vorher sein Körper, krochen aus der Höhle, als suchten sie nach einem Opfer.
Unwillkürlich wichen Zerik und die anderen Kemmas vor ihnen zurück. »Geht jetzt«, bat Werik. »Ich möchte allein sein.« »Ja – wir gehen.« Zerik drehte sich um und kletterte weiter in der Röhre nach oben. Uerik, Terik, Serik, Atlan und Razamon folgten ihm. Als sie kurz darauf zurückblickten, sahen sie, daß eine unförmige Fleischmasse aus der Öffnung der Höhle quoll. »Es geht schnell«, sagte Atlan leise. »Natürlich wird er nicht platzen. Er wird ersticken.« »Das ändert nichts.« Zerik raufte sich den Bart. »Warum mußte dieser Narr auch von dem Wasser trinken, obwohl wir ihn alle gewarnt haben?« Sie hörten Werik laut stöhnen und ächzen. Als sie das Ende der Röhre fast erreicht hatten, wurde es jedoch still unter ihnen. Sie verharrten auf der Stelle. »Er hat ausgelitten.« Razamon senkte den Kopf.
5. »Ich hoffe, sein Ende ist euch eine Warnung«, sagte Atlan, nachdem er einige Minuten schweigend abgewartet hatte. »Ihr kommt nur lebend durch das Labyrinth, wenn ihr vorsichtig seid. Hier wird jeder Leichtsinn sofort bestraft.« »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen«, erwiderte Zerik. »Von jetzt an übernehme ich die Verantwortung. Du wirst keinen Grund mehr haben, mit uns unzufrieden zu sein.« »Es geht nicht um mich, sondern um euch.« Atlan blickte den Kemma besorgt an. »Ihr müßt endlich begreifen, daß wir ohne euch durchkommen. Wir verhalten uns diszipliniert. Deshalb hat es bei uns auch noch keine Opfer gegeben, sondern nur bei euch.« »Das macht nicht nur dir Sorgen«, entgegnete Zerik. »Ich werde mein Leute ins Gebet nehmen. Du kannst dich darauf verlassen.« Er blieb stehen und gab auch den anderen Kemmas ein Zeichen, vorläufig nicht weiterzuklettern. Als Atlan und Razamon so weit von ihm entfernt waren, daß sie ihn nicht mehr hören konnten, wandte er sich an Uerik, Terik und Serik. »Wir müssen wirklich vorsichtig sein«, flüsterte er. »Die beiden haben etwas gemerkt. Wenn wir nicht aufpassen, kommen sie womöglich darauf, worum es uns wirklich geht.« »Das wäre gefährlich«, bemerkte Uerik. »Du hast recht, so geht es nicht weiter. Wir haben uns wohl zu wenig Gedanken gemacht.« »Ich sehe, ihr habt verstanden«, sagte Zerik zufrieden. »Das läßt mich hoffen.« Er spähte verstohlen zu Atlan und Razamon hinüber, die das Ende der Röhre erreicht hatten und sich nun vorsichtig hinausschoben. »Wir müssen bei ihnen bleiben, damit sie nicht mißtrauisch werden«, sagte er und trieb die anderen an. Atlan stand im Graben, als sie durch die Öffnung der Röhre
hinauskrochen und horchte. »Was ist los?« fragte Zerik. »Jemand kommt«, antwortete der Arkonide. »Vielleicht ist es Grizzard mit Asparg und Fiothra?« Zerik richtete sich auf. Das blumenartige Gebilde auf seinem Kopf verfärbte sich tiefrot. »Natürlich sind sie es. Hörst du es nicht an ihren Schritten?« »Vorläufig höre ich keine Schritte. Jemand hat gerufen, aber ich weiß nicht, wer es war.« Zerik eilte einige Schritte weit in den Graben hinein. Dann stieß er beide Arme in die Höhe. »Sie sind es«, jubelte er. »Grizzard! Asparg! Fiothra!« Er blieb an einer Grabenbiegung stehen, zögerte und lief dann kurzerhand weiter. »Nicht«, rief Atlan. »Zerik.« Er eilte hinter dem Kemma her, bog jedoch nicht um die Ecke. Grizzard, die beiden Magier und Zerik kamen ihm entgegen. Sie lachten freudig erregt, als sie ihn sahen. »Habe ich es nicht gesagt?« Zerik stemmte die Fäuste in die Seiten. »Hin und wieder machen wir auch etwas richtig.« »Es war dennoch leichtsinnig von dir, einfach loszulaufen«, stellte Razamon mit düsterer Miene fest. »In diesem verdammten Labyrinth darf man sich nicht so bewegen.« Sie sind über die Falltür gegangen, ohne hindurchzufallen. Atlan stutzte. »Was ist passiert?« fragte er. Grizzard schilderte, was ihnen begegnet war. Von einer Falltür sprach er jedoch nicht. Razamon und Atlan blickten sich irritiert an. »Wieso funktioniert die Falle bei uns und bei ihnen nicht?« Der Berserker schüttelte unwillig den Kopf. »Hier scheint nichts logisch zu sein. Ich freue mich, daß ihr heil über die Falle gekommen seid, dennoch wüßte ich gern, nach welchen Gesetzen das Labyrinth funktioniert.« »Das werden wir vielleicht nie erfahren«, erwiderte der Arkonide.
»Ich glaube auch nicht, daß es viel bringt, wenn wir versuchen, die Logik zu begreifen. Ist euch schon aufgefallen, daß wir der Pyramide sehr nahe sind?« Überrascht blickten die anderen nach oben. Eine Rampe, die zur ersten Stufe der Pyramide hinaufführte, war nur etwa fünf Meter von ihnen entfernt. Davor erhob sich allerdings eine etwa drei Meter hohe Grabenwand. »Es sieht ganz leicht aus«, bemerkte Zerik. »Wir könnten die Grabenwand erklettern und die Rampe erreichen, aber das geht wohl nicht.« »Ganz bestimmt nicht«, sagte Asparg. »Ich spüre, daß da etwas ist, vor dem wir uns in acht nehmen müssen. Gehen wir lieber weiter.« »Der Graben führt irgendwann direkt zu einer Rampe«, erklärte Atlan. »Das habe ich mir von oben aus genau angesehen. Ich erinnere mich auch daran, daß ich diese Biegung gesehen habe, in der wir stehen. Sie liegt verführerisch nahe an der Rampe, und das ist für mich ein sicheres Zeichen dafür, daß wir hier nicht aussteigen dürfen.« Ein eigenartig hallendes Gelächter ertönte. »Hört doch«, flüsterte Fiothra. »Da ist jemand.« Atlan blickte sich um. Seine Begleiter waren still geworden. Keiner von ihnen hatte gelacht. »Es kam von dort«, wisperte Zerik und zeigte zur Pyramide. »Da ist jemand, der uns beobachtet.« Atlan legte den Zeigefinger an die Lippen. »He – ihr da drüben«, rief jemand. Die Stimme schien aus allen Richtungen zugleich zu kommen. »Worauf wartet ihr noch? Kommt endlich her zu mir. Ich bin lange genug allein, und ich habe es satt. Soll ich euch helfen?« Zerik wollte antworten, aber der Arkonide bedeutete ihm, still zu sein. »Hat es euch die Stimme verschlagen?« Die Stimme schien durch die Mauern zu kriechen. Sie wurde körperliche fühlbar. »Ich warne
euch. Wenn ihr weitergeht, erwischt es euch mit Sicherheit. Seleinghont wird alles tun, um euch zu erledigen. Und Eigna erst recht. Die beiden sehen es nicht gern, wenn ihr hier herumgeistert. Ihr braucht Hilfe.« Eine fremdartige Musik ertönte. Eine Tür knarrte, und Gelächter hallte über den Graben. Es schien, als werde irgendwo die Tür zu einem Vergnügungssalon geöffnet und wieder geschlossen. »Habt ihr gehört, wie die Gläser klangen?« fragte Uerik. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Da gibt es etwas zu Trinken.« »Und du hast Durst«, stellte Zerik ärgerlich fest. »Hast du vergessen, wie es Werik ergangen ist?« »Ich habe es nicht vergessen«, gab Uerik zurück. Er war gereizt, und es schien, als werde er Zerik an die Gurgel springen. Atlan stellte sich zwischen die beiden Kemmas und beruhigte sie. Danach entschlossen sie sich, weiter in das Labyrinth vorzudringen, um das Ende der Gräben so schnell wie möglich zu erreichen. Bisher hatten sie etwa einen Kilometer zurückgelegt. Atlan ging davon aus, daß die Fallen in etwa gleichen Abständen angelegt waren. Daher wurde er unruhig und unsicher, als sie etwa zweihundert Meter gegangen waren und durch nichts aufgehalten worden waren. Auch nach abermals zweihundert Metern Wegstrecke gab es keine Zwischenfälle. Nun waren alle davon überzeugt, daß sie bei jedem Schritt mit einer Falle rechnen mußten. Sie gingen langsamer und zögernder. Keiner sprach, und jeder schien froh zu sein, wenn er nicht an der Spitze zu gehen brauchte. Meistens übernahm der Arkonide diese gefährliche Position, hin und wieder ließ er sich jedoch auch ablösen, wenn er merkte, daß seine Konzentration nachließ. Als sie weitere vierhundert Meter zurückgelegt hatten, näherten sie sich wieder der Pyramide, von der sie sich zeitweilig so weit entfernt hatten, daß sie sie nicht mehr sehen konnten. Der Graben
führte direkt darauf zu, bog jedoch kurz davor scharf ab. Als sie etwa dreißig Meter vor der Abbiegung waren, schob sich Zerik an Atlan vorbei. »Warte«, sagte er. »Ich glaube, ich erkenne eine Falle. Geht lieber noch ein paar Schritte zurück.« Er warf sich auf den Bauch und wartete, bis Atlan und die anderen sich einige Meter weit zurückgezogen hatten, dann kroch er langsam voran. Er war noch keine drei Meter weit gekommen, als die Grabenwand an der Abbiegung plötzlich aufbrach und ein nadelspitzer Dorn mit unglaublicher Wucht und Geschwindigkeit daraus hervorschoß. Er zuckte über Zerik hinweg bis auf etwa einen halben Meter an Atlan heran. Erschrocken blickte der Arkonide auf die Spitze der Nadel, die dicht vor seiner Brust zum Stehen gekommen war. Der Dorn war über dreißig Meter lang. Er hätte jeden durchbohrt, der sich der Abbiegung aufrecht gehend genähert hätte. Zerik wälzte sich auf den Rücken herum und stieß triumphierend die Arme nach oben. »He – was sagt ihr nun?« schrie er. »Wir haben verdammtes Glück gehabt«, erwiderte Razamon, der unendlich erleichtert zu sein schien. Er fühlte sich von einem kaum noch erträglichen Druck befreit, weil sie nun endlich auf eine Falle gestoßen waren und sie entschärft hatten. Zerik zog sich an dem Dorn hoch und setzte sich rittlings hinauf. Huldvoll grüßte er die anderen. »Das Ding hätte euch alle erwischt, wenn ich nicht gewesen wäre«, erklärte er. »Ich will damit nur sagen, daß ihr mir zu unendlicher Dankbarkeit verpflichtet seid.« »Wir sind dir dankbar, Kleiner«, erwiderte Razamon mürrisch, »aber nun komm mal herunter.« »Ich denke gar nicht daran.« Zerik stand auf und lief vorsichtig balancierend auf dem Dorn weiter, wobei er sich dem dickeren Ende
näherte. Als er einige Schritte weit gegangen war und sicherer stand, lachte er und hüpfte auf der Stelle. »Was würde nur aus euch werden, wenn ihr mich nicht hättet«, rief er vergnügt. »Ihr könnt euch selbst gratulieren, weil ihr euch dafür entschieden habt, uns mitzunehmen.« Atlan schob sich am Dorn entlang zu ihm hin. »Komm endlich herunter«, befahl er. Zerik blickte ihn verwundert an. »Warum?« »Weil jedesmal einer von euch gestorben ist, wenn er leichtsinnig oder übermütig wurde.« Erschrocken sprang der Zwerg in den Graben hinab. »Du hast recht, Großer. Es war nur, weil ich so froh über meinen Erfolg bin.« Atlan ging über die Entschuldigung hinweg. »Hast du gesehen, wie es nach der Grabenbiegung weitergeht?« fragte er. »Nein. Nicht genau. Warte mal.« Er legte beide Hände an den Kopf und schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Er versuchte, sich an das zu erinnern, was er gesehen hatte. Nach geraumer Zeit blickte er den Arkoniden an. »Der Graben führt von der Pyramide weg. Weit weg – bis fast an den Rand der Kuppel.« »Vielleicht sollten wir hier doch über die Grabenwand klettern«, schlug Serik vor. Razamon stand noch immer an der Spitze des Dorns. Er legte beide Hände an das Mordinstrument und bog den Dorn bis zur Grabenwand zur Seite. Das bereitete ihm keine Mühe. Der Dorn war elastisch. Danach drückte er ihn erst gegen den Boden und bog ihn dann nach oben, indem er sich unter ihn stellte und in die Höhe stemmte. Atlan hörte, daß es im Dorn leise knisterte. »Was soll das, Razamon?« fragte er.
»Man müßte ihn aufbrechen können«, antwortete der Berserker. Er ließ den Dorn los und kam zu Atlan. Sie waren etwa fünf Meter von der Stelle entfernt, an der die Waffe aus der Mauer gebrochen war. Sie standen mit dem Rücken an der Wand und konnten sich nur noch seitlich gehend bewegen, weil der Dorn zuviel Platz einnahm. Razamon blickte den Arkoniden kurz an, dann schlug er mit den Knöcheln gegen die Dornwand. »Hörst du? Er ist hohl«, sagte er. »Ich weiß immer noch nicht, was du vorhast.« »Wartʹs ab.« Der Berserker ließ sich auf den Boden sinken und kroch an Atlan vorbei bis zum Ende des Dorns. Hier hatte er so wenig Platz, daß er kaum aufrecht stehen konnte. Doch das störte ihn nicht. Er hob die Arme über den Kopf, verschränkte die Hände ineinander und schlug mit voller Wucht auf den Dorn ein. Fiothra schrie unwillkürlich auf. Sie glaubte, Razamon werde sich die Hände zerschmettern, doch der Düstere schien keine Schmerzen zu kennen, und seine Hände schienen sich in puren Stahl verwandelt zu haben. Immer wieder hieb er auf den Dorn ein, der stärker und stärker zu schwingen begann. Atlan blickte zur Spitze des Dorns. Er sah, daß sie hin und her peitschte und dabei von einer Grabenwand zur anderen pendelte. Das schwarze Material, aus dem der Dorn bestand, kreischte unter der extremen Belastung. Das Geräusch war so unangenehm, daß Atlan, die beiden Magier und die Kemmas sich die Hände an die Ohren preßten. »Aufhören«, rief Zerik. »Das ertrage ich nicht. Willst du uns alle umbringen?« Er kroch zu Razamon und trommelte mit den Fäusten gegen seine Beine, doch der Berserker ließ sich nicht aufhalten. Immer wieder hämmerte er seine Fäuste gegen den Dorn, bis dieser schließlich mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbarst und in ganzer Länge auf den Boden stürzte.
Zerik konnte sich buchstäblich in letzter Sekunde zur Seite werfen und so dem Dorn entgehen, der ihn sonst zermalmt hätte. »War das nötig?« schrie er erschrocken. »Du hättest mich umbringen können. Wie kann ein erwachsener Mann sich seinem Haß so ergeben, daß er totes Material zerstört, nur um sich zu rächen?« »Sei still«, bat Razamon erschöpft. Er rieb sich die Hände, die an den Knöcheln bluteten. »Sieh dich lieber um.« Zerik blickte verblüfft auf die Stelle, an der der Dorn abgebrochen war. Durch das gezackte Loch konnte er den Anfang der Rampe sehen, die zur ersten Stufe der Pyramide hinaufführte. »Das war es also«, sagte er. »Du bist zu faul, noch ein paar Kilometer zu gehen, und hast deshalb die Wand aufgebrochen. Hm. Recht praktisch.« Er fuhr sich grinsend durch den Bart und nickte Razamon anerkennend zu. »Ich dachte gar nicht, daß du so gute Ideen hast, Düsterer. Ich gebe zu, daß ich nicht weniger bequem bin als du.« Atlan betrachtete die Öffnung. Der Mechanismus, der den Dorn hatte vorschnellen lassen, war nicht zu erkennen. Zerik zog sich an den Kanten der Öffnung hoch und kletterte hindurch, bevor ihn einer der anderen aufhalten konnte. Unversehrt richtete er sich auf der anderen Seite auf und eilte bis zum Fuß der Rampe. »Ihr könnt mir bedenkenlos folgen«, rief er. »Hier ist alles in Ordnung. Keine Falle.« Uerik, Terik und Serik zögerten nicht lange und kamen seiner Aufforderung nach. Anschließend stiegen auch die anderen durch die Öffnung. Sie blickten zur Pyramide hoch. »Ehrlich gesagt habe ich gar nicht damit gerechnet, daß wir die Pyramide jetzt schon erreichen«, erklärte Asparg. Seine Augen leuchteten. »Ich glaube, wir haben es bald geschafft.« Neben der nach oben führenden Rampe befanden sich sieben
halbkreisförmige Holztore, von denen einige nur angelehnt waren. Durch sie konnte man in das Innere der Pyramide gelangen. »Wie geht es weiter?« fragte Fiothra. »Müssen wir unbedingt die Rampe hinaufsteigen? Können wir es nicht durch eines der Tore versuchen?« »Das wäre zu gefährlich«, antwortete Asparg. Er entfernte sich einige Schritte von den anderen und näherte sich vorsichtig einem der Tore. Zwei Schritte davor blieb er stehen und neigte den Oberkörper nach vorn. Er lauschte. Erschrocken fuhr er zurück, als sich das Tor überraschend öffnete und ihm ein verwahrlost aussehender Techno entgegentrat. Asparg blickte den Mann voller Abscheu an. Die schwarzen Haare hingen dem Fremden weit über die Schultern bis fast zu den Hüften. Sie waren fettig und verklebt. Der Mann war muskulös und sah so aus, als sei er in einem Zweikampf nicht so leicht zu besiegen. Seine Kleidung aber war völlig verwahrlost, und er war so verdreckt, als habe er seit Wochen kein Wasser mehr gesehen. Er legte den Kopf zur Seite und grinste Asparg an. Aus dem geöffneten Tor klangen rhythmische Musik, Gelächter und das Klirren von Gläsern, die aneinandergestoßen werden. Es waren die typischen Geräusche einer gutbesetzten Bar, in der eine ausgelassene Stimmung herrschte. »Komm herein, Blauauge«, sagte der Techno mit rauher Stimme. »Hier gibt es alles, was du willst. Ich biete dir ein üppiges Essen und reichlich Getränke dazu.« Asparg wich vor ihm zurück. »Was ist denn?« fragte der Techno lachend. Er säuberte sich die Zähne mit den Fingernägeln. »Hast du Angst vor mir? Na gut, ich sehe ein bißchen heruntergekommen aus, aber was spielt das schon für eine Rolle. Dafür sind die Speisen und Getränke, die ich anzubieten habe, um so besser.« Als der Magier nicht so reagierte, wie der Techno es erhofft hatte, wandte sich dieser Atlan zu. Er schüttelte den Kopf und verdrehte
die Augen, um anzuzeigen, daß er von dem Geisteszustand Aspargs nicht gerade begeistert war. »Was ist mit dir, Rotauge?« fragte er und rülpste hinter der vorgehaltenen Hand. »Hast du etwas gegen ein saftiges Steak und einen guten Wein einzuwenden? Da drinnen sitzen mehr als zwanzig Gäste, die sich ausgezeichnet amüsieren.« »Verschwinde«, erwiderte der Arkonide. »Geh zu deinen Gästen und laß uns in Ruhe.« »Komischer Kauz. Ich habe euch beobachtet. Ihr seid durch das Labyrinth gekommen und habt alle Fallen überwunden. Ich weiß, daß eure Kehlen trocken und eure Mägen leer sind. Wieso wollt ihr nichts essen und trinken? Glaubt ihr, daß ihr hier irgendwo sonst noch etwas bekommt? Jämmerlich geht ihr zugrunde, wenn ihr nichts zu euch nehmt.« »Ich finde, er hat recht«, sagte Uerik. »Ich habe bereits Magenkrämpfe, weil ich seit Tagen nicht mehr vernünftig gegessen habe. Und ich kann kaum noch sprechen, weil ich mindestens ebenso lange nichts mehr getrunken habe.« »Du bleibst hier«, befahl Atlan. »Das ist eine Falle. Wenn du mit ihm gehst, bist du so gut wie tot.« Uerik lachte. »Du bist ein Idiot«, stellte der Techno fest. Er strich sich das Haar aus den Augen. »Du hast das System nicht begriffen. Die innere Logik dieser Anlage ist dir fremd. Dabei ist sie ganz einfach. Nachdem ihr eine Reihe von Fallen überwunden habt, steht euch eine Belohnung zu. Ihr könnt bedenkenlos mit mir kommen. Ich verspreche euch bei meinem Leben, daß ihr die Bar wieder heil und gesund verlassen werdet. Ihr müßt euch stärken, wenn ihr die weiteren Gefahren überstehen wollt.« »Ich finde, das klingt vernünftig«, sagte Uerik. »Wenn dieser Kerl sauber und adrett wäre, dann würde ich auf keinen Fall mitgehen. Aber er ist heruntergekommen und sieht alles andere als einladend aus. Er ist eher abschreckend. Und gerade darum vertraue ich ihm.
Was ist deine Meinung, Zerik?« Der Anführer der Kemmas rieb sich unschlüssig das Kinn. Er wußte nicht, wie er sich entscheiden sollte. Auch er litt unter Hunger und Durst, und er hatte Mühe, der Versuchung zu widerstehen. »Irgendwann müßt ihr aufhören, leichtsinnig zu sein«, sagte Atlan. »Yerik, Werik und Xerik sind tot. Es ist seltsam, daß die Opfer nur aus euren Reihen kommen, nicht aus unseren. Vielleicht denkt ihr einmal darüber nach, warum das so ist.« »Keiner von uns ist absichtlich gestorben«, erwiderte Zerik heftig. »Nur Yerik hatte keine andere Wahl. Die anderen sind Opfer der tückischen Fallen geworden, die es in der Kuppel überall gibt.« »Sie würden noch leben, wenn sie auf unseren Rat gehört hätten«, bemerkte Razamon. »Aber wenn ihr unbedingt wollt, dann lauft doch in euer Verderben.« Der Techno lachte dröhnend. »Freunde«, sagte er. »Mein Name ist Glutrynger, und ich schwöre euch, daß nicht die geringste Gefahr für euch besteht. Wartet, ich bringe euch einen Krug Wein. Ich werde davon trinken, und ihr sollt ihn danach kosten. Er wird euch davon überzeugen, daß es wirklich gefahrlos für euch ist, hier einzutreten und die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen.« »Was wollt ihr eigentlich noch mehr?« fragte Uerik. »Ich glaube, daß alles in Ordnung ist.« Der Techno schlurfte grinsend durch das Tor und verschwand im Dunkel. Unmittelbar darauf kehrte er mit einem großen Steinkrug zurück. Er hob das Gefäß an die Lippen und trank, wobei er den Krug so hoch stemmte, daß ihm der Wein über die Wangen und das Kinn lief. Er versucht dich zu täuschen. Er trinkt nicht. Danach hielt Glutrynger Atlan den Wein hin. »Nun, Rotauge, wie stehtʹs mit deinem Durst? Meinst du nicht, daß du etwas trinken solltest?«
Der Arkonide schob den Krug mit der Hand zur Seite. »Verschwinde, Techno. Ich habe genug von dir. Keiner von uns wird trinken, und keiner von uns wird mit dir durch das Tor gehen.« Schallendes Gelächter tönte aus dem geheimnisvollen Raum, aus dem Glutrynger gekommen war. Es schien, als wollten dessen Gäste damit auf Atlans Worte antworten. »Du kannst über dich selbst bestimmen«, sagte Uerik, »über mich jedoch nicht. Ich gehe.« »Du bleibst«, entgegnete der Arkonide. »Und wenn ich dich festhalten muß.« Er streckte die Hände nach dem Kemma aus, doch dieser wich vor ihm zurück und rannte auf das Tor zu. »Nein, Uerik«, schrie Fiothra. »Nicht.« Der Zwerg lachte schrill. Er ließ sich nicht aufhalten. Glutrynger eilte hinter ihm her. Auch er lachte, aber sein Lachen klang anders. Es war unangenehm und drohend. Er holte Uerik kurz vor dem Tor ein, aus dem er gekommen war. Ein Schuß fiel. Uerik brach zusammen. Von der Wucht des Treffers wurde er herumgerissen. Er stürzte der Länge nach hin, und alle konnten sehen, daß er tot war. Glutrynger lachte erneut. Er bückte sich, packte Uerik am Bein und zerrte ihn mit sich. »Nein«, rief Atlan und rannte auf ihn zu. In diesem Augenblick erschienen vier weitere Technos in dem Tor. Sie alle sahen ähnlich verwahrlost aus wie Glutrynger. Sie hielten fremdartige Waffen in den Händen und schossen sofort. Atlan hörte, wie die Kugeln an ihm vorbeiflogen. Eine von ihnen fuhr ihm durch das Haar, ohne ihn jedoch zu verletzen. Er erkannte, daß er nicht die geringste Chance gegen diese bewaffnete Übermacht hatte, kehrte um und flüchtete zu den anderen zurück. Diese versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Razamon blutete aus einer Verletzung an der Schulter. Gehetzt blickte Fiothra sich um. Sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. »Die Rampe hoch«, entschied der Arkonide und zerrte sie mit sich. Die Technos schossen unaufhörlich. Glücklicherweise waren sie schlechte Schützen, denn die meisten Geschosse verfehlten ihr Ziel. Einige aber trafen. Razamon schrie auf, als ihm ein Geschoß in den Oberschenkel drang. Atlan fühlte einen Schlag gegen die Schulter, und seine Hand wurde blutig, als er sie gegen die Wunde legte. Ein Streifschuß riß die Wange der Magierin auf, und Asparg brach mit einem Knieschuß zusammen. Der Arkonide kniete sich neben ihm hin, hob ihn hoch und trug ihn die Rampe hinauf, während die drei Kemmas sich an ihm vorbeidrängten. Endlich stellten die Technos das Feuer ein. Sie zogen sich durch das dunkle Tor zurück, und es wurde still in der Halle.
6. Atlan und seine Begleiter erreichten das Ende der Rampe, die zur ersten Stufe der Pyramide hinaufführte. Eine hüfthohe Stahlwand faßte eine kleine Plattform halbkreisförmig ein. Auf ihr ließ Atlan Asparg sinken. Er sah sich die Schußwunde an, die der Magier erlitten hatte, und erschrak. »Wie sieht es aus?« fragte Razamon. »Das Knie ist zerschmettert«, antwortete der Unsterbliche, nachdem er festgestellt hatte, daß der Magier das Bewußtsein verloren hatte. Er blickte zu Fiothra hinüber, deren Gesicht und Schulter blutüberströmt waren. Sie bemühte sich, die Schußwunde mit einem Tuch abzudecken. »Schlimmer hätte es kaum kommen können«, stellte Zerik niedergeschlagen fest. »Es tut mir leid. Ich war fest davon überzeugt, daß Uerik nichts passieren würde.« »Du hast ihm nicht erlaubt, durch das Tor zu gehen«, erwiderte Atlan. »Aber es hat nicht viel daran gefehlt, und ich hätte es getan. Dabei hätte ich alles tun müssen, ihn davor zurückzuhalten. Jetzt ist es zu spät. Er ist tot, und nur noch Serik, Terik und ich leben. Es ist wahr. Wir bringen die Opfer. Aber das wollen wir nicht. Wir möchten ebenso leben wie ihr auch.« »Es wäre besser gewesen, wenn es mich erwischt hätte«, sagte Asparg mit gepreßter Stimme. Er richtete sich stöhnend auf und hielt sich das zerschossene Knie. »Rede nicht so einen Unsinn«, fuhr ihn Razamon an. Der Magier schüttelte den Kopf. Sein junges Gesicht war gezeichnet von den Schmerzen, die er litt. »Ihr wißt genau, daß ich nur eine Last für euch bin, wenn ich so schwer verletzt bin. Niemand kann das Knie so versorgen, wie es sein müßte. Es ist, als ob ich schon tot wäre.«
»Schluß damit«, sagte Atlan. »Wir schaffen das schon irgendwie. Gib dich nicht auf.« Atlan strich sich über die verletzte Schulter. Verwundert stellte er fest, daß die Wunde sich geschlossen hatte. Er blutete nicht mehr. Dabei hatte der Zellaktivator seine Tätigkeit nicht beschleunigt. Razamon kniete sich neben Asparg auf den Boden. Atlan sah, daß seine Kleidung am Oberschenkel blutbefleckt war, aber auch der Berserker blutete nicht mehr. Der Arkonide richtete seine Blicke auf Fiothra. Die Magierin lehnte ruhig und entspannt an der halbkreisförmigen Stahlwand. Die Wunde an ihrer Wange wurde ständig kleiner. Sie verheilte so schnell, daß Atlan den Heilungsprozeß mit den Augen verfolgen konnte. Dabei blieb keine Narbe zurück. Als etwa drei Minuten verstrichen waren, sah die Magierin so aus, als sei sie niemals von einer Kugel getroffen worden. Asparg lag auf dem Boden. Er atmete auffallend schnell. Razamon, der neben ihm kniete, wandte sich Atlan zu. Er deutete auf das Knie des Magiers. Der Arkonide gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, daß er aufstehen sollte. Razamon erhob sich und kam zu ihm. »Was macht dein Oberschenkel? Ich erinnere mich daran, daß du getroffen worden bist.« Razamon blickte überrascht an sich herab. »Ich spüre überhaupt nichts mehr«, erwiderte er. Sichtlich verwirrt tastete er seinen Oberschenkel ab. »Es ist alles in Ordnung.« »Steh auf, Asparg«, sagte der Arkonide. »Es geht wieder.« Das Gesicht des Magiers verzerrte sich. »Willst du mich verhöhnen?« fragte er. »Nein«, erwiderte der Arkonide. »Ein Wunder geschieht. Sieh Fiothra an. Eben noch hatte sie eine große Wunde an der Wange. Razamons Oberschenkel ist getroffen worden, aber er spürt nichts mehr.« Asparg richtete sich langsam auf. Ängstlich tastete er sein Knie ab.
Doch das Knie war bereits wieder verheilt. »Das begreife ich nicht. Wozu schießen die Technos auf uns, wenn ihre Treffer wirkungslos bleiben? Ob Ueriks Wunden sich auch geschlossen haben? Ob er wieder lebt?« »Das glaube ich nicht«, sagte Zerik leise. »Mag sein, daß unsere Wunden verheilen, aber Tote erwachen nicht wieder zum Leben. Die Techno‐Falle wollte ein Opfer. Das hat sie bekommen. Wir bleiben für die anderen Fallen reserviert.« »Du tust ja gerade so, als ob die Fallen lebende Wesen wären, die denken und fühlen«, bemerkte der Berserker. »Das geht ein wenig zu weit.« »Warum?« fragte Asparg, der nun aufstand und ein paar Schritte hin und her ging, um sein Knie zu prüfen. »Fiothra und ich haben festgestellt, daß viele Fallen eine magische Ausstrahlung haben. Dadurch konnten wir sie aufspüren. Es mag sein, daß sich durch diese Ausstrahlung so etwas wie Leben zeigt.« »Wie lange wollen wir hier noch herumstehen und diskutieren?« fragte Terik. »Glaubt ihr, daß wir dadurch unserem Ziel näher kommen?« Er zeigte auf den Säulentempel, der sich auf der Spitze des Tempels erhob. »Du hast recht«, erwiderte Atlan. »Es wird tatsächlich Zeit, daß wir von hier verschwinden.« Er blickte zum Fuß der Pyramide zurück. Dort erschien in diesem Moment der Techno Glutrynger. Er hielt eine langläufige Schußwaffe in den Händen. Grinsend richtete er sie auf Atlan. Der Arkonide wich zurück. Glutrynger schoß, verfehlte jedoch sein Ziel. Die Kugel strich unter dem Arm Atlans hindurch. »Weg hier. Schnell«, rief Terik. »Wer weiß, ob die Wunden wieder so gut verheilen.« Er schwang sich über die Stahlwand hinweg – und verschwand. Schockiert eilte Razamon zu der Stelle, an der sich der Kemma eben noch befunden hatte. Er blickte über die Stahlwand hinweg,
aber Terik war nicht mehr dort. Glutrynger lachte schallend. Er feuerte mehrere Kugeln ab, ohne jedoch zu treffen. »Wohin?« fragte Zerik verzweifelt. »Wir können nicht hier bleiben. Atlan – sag doch endlich, wie es weitergeht.« »Das kann ich dir beantworten«, erklärte Razamon. Er nahm einen kurzen Anlauf und schmetterte seinen rechten Fuß mit voller Wucht gegen die Stahlwand. Fiothra schrie auf. Sie glaubte, der Berserker müsse sich bei diesem Kraftakt den Fuß brechen. Doch ihre Sorge war unnötig. Die Stahlwand zerbarst, und eine Lücke entstand. Razamon ließ sich auf die Knie fallen und kroch hindurch, wobei er darauf achtete, daß seine Schultern sich unter der oberen Kante der Stahlwand befanden. Unversehrt erreichte er die andere Seite der Wand. Hier richtete er sich auf. Verwirrt blickte er sich um. »Wo seid ihr?« fragte er. »Ich kann euch nicht sehen.« »Du stehst direkt vor uns«, entgegnete der Arkonide. »Warte. Wir kommen.« Nacheinander krochen die anderen nun durch die Lücke, die Razamon in den Stahl geschlagen hatte. Überrascht stellten sie fest, daß sie die Wand von der anderen Seite aus nicht sehen konnten. Die Rampe lag frei vor ihnen, so als ob kein Hindernis zwischen ihnen und ihr vorhanden gewesen wäre. Auch der Techno Glutrynger war nicht mehr da. »Ich bin eigentlich nur darüber überrascht, daß ich noch nicht den Verstand verloren habe«, sagte Razamon. »Was man nicht hat, kann man nicht verlieren«, antwortete Zerik. Der Berserker lächelte. Er war keineswegs beleidigt. »Dies ist wirklich nicht der Zeitpunkt für dumme Witze«, sagte Serik erbost. »Yerik, Xerik, Werik, Uerik und Terik sind tot. Als nächster bin ich wohl dran. Ihr solltet euch also nicht gegenseitig foppen, sondern lieber überlegen, wie ihr meinen Tod verhindern könnt.«
»Unsinn«, erwiderte Zerik verärgert. »Es stimmt, daß die anderen tot sind, aber das bedeutet noch lange nicht, daß du der nächste bist. Durch nichts ist bewiesen, daß es so kommen muß. Nur eines hat sich erneut bestätigt. Terik ist gestorben, weil er zu leichtsinnig war. Er hat den gleichen Fehler gemacht wie die anderen auch. Er ist über die Wand gesprungen, ohne nachzudenken.« »Wenn er es nicht getan hätte, hätte es ein anderer getan«, sagte Atlan. »Wir sind nur dadurch auf die Falle aufmerksam geworden, daß er hinübergesprungen ist.« Vier Stufen lagen noch vor ihnen. Die Rampen, die zu ihnen hinaufführten, sahen glatt und harmlos aus, so als sei es gefahrlos, sie zu betreten. Atlan war jedoch davon überzeugt, daß sie das ganz gewiß nicht waren. Er begann damit, die nächste Rampe zu untersuchen. Asparg und Fiothra kamen hinzu und halfen ihm. »Hier scheint nichts zu sein«, sagte der Magier nach einer Weile. »Ich spüre nichts.« »Aber ich«, bemerkte Fiothra. »Da ist irgend etwas. Laßt uns lieber zu einer anderen Rampe gehen. Vielleicht ist es da weniger gefährlich.« »Eine gute Idee«, erwiderte der Arkonide. »Wenn nicht alles täuscht, führen auf jeder der vier Seiten der Pyramide Rampen nach oben.« Razamon war schon ein Stück vorausgegangen. Vorsichtig tastete er sich an der grauen Wand der Pyramide entlang. Die anderen folgten ihm nun. Von der ersten Stufe herab konnten sie das Labyrinth überblicken. Atlan verfolgte den Weg, den sie genommen hatten, mit den Augen. Einige Stellen erkannte er wieder, andere nicht. Das Labyrinth schien sich verändert zu haben. Der Boden unter den Füßen von Atlan und seinen Begleitern war glatt und eben. Er schien leicht zu federn, so daß es angenehm war, darauf zu gehen. Schritt für Schritt tastete sich Razamon, der nach wie vor an der
Spitze ging, voran. Atlan schloß zu ihm auf. Beide waren sicher, daß sie früher oder später auf eine weitere Falle stoßen und daß sie nur überleben würden, wenn sie diese rechtzeitig erkannten. Als sie die Pyramide fast ganz umrundet hatten und die letzte Rampe vor jener erreichten, von der sie gekommen waren, glaubten sie, sich einer Falle zu nähern. An der nach oben führenden Rampe, die etwa zwanzig Meter lang war, lagerte allerlei Gerümpel. Unschlüssig blieben sie davor stehen. Unter dem Abfall befanden sich ein weitgehend zerstörter Schrank, einige Eisenstangen, Kisten, leere Dosen und alte Kleider. »Wir rühren nichts davon an«, sagte Atlan. »Warum gehen wir nicht weiter?« fragte Zerik. »Was ist denn, wenn auf halber Höhe der Rampe eine Falle auf uns wartet?« entgegnete Serik. »Es sieht nicht so aus, als wäre eine da.« Atlan setzte seinen Fuß auf die Rampe und versuchte, hochzugehen, doch er rutschte aus und stürzte, weil der Untergrund so glatt war. Razamon betrat die Rampe ebenfalls, doch auch er glitt aus. Mühsam fing er sich ab. »Der Boden ist zu glatt. Wir schaffen es nicht.« »Bei den anderen Rampen war er es nicht«, bemerkte Fiothra. »Wir sollten umkehren und es bei ihnen probieren.« »Genau das wäre der Fehler«, widersprach der Arkonide. Er entschloß sich nun doch, das Gerümpel zu durchsuchen. Er nahm eine armlange Eisenstange auf und bohrte sie am Ende der Rampe in den Boden. Dann wuchtete er den Schrank auf die Rampe und stützte ihn mit der Eisenstange ab, so daß er nicht wegrutschen konnte. Jetzt endlich begriffen die anderen. Sie machten sich über das Gerümpel her und schichteten es auf der Rampe auf, bis eine Strecke von etwa sechzehn Metern damit bedeckt war. Anschließend kletterte Atlan über das Gerümpel nach
oben und schob sich über die Spitze des Abfallbergs hinauf auf die Rampe. Diese war auch hier so glatt, daß er sich kaum darauf halten konnte. Razamon kroch behutsam über ihn hinweg und versuchte, sich an seinen Schultern abzustützen. Er war jedoch nicht vorsichtig genug. Er glitt aus und stürzte gegen das aufgebaute Gerümpel. Krachend brach das mühsam errichtete Werk zusammen und rutschte bis zum Fuß der Rampe. Zerik und Serik sprangen im letzten Moment zur Seite, um nicht begraben zu werden. Atlan und seine Begleiter ließen sich jedoch nicht entmutigen. Sie wiederholten das Experiment, und dieses Mal hatten Razamon und Atlan mehr Glück. Nun kämpfte sich der Magier vorsichtig über sie hinweg, bis er mit Razamons Hilfe das Ende der Rampe erreichte. Fiothra und die beiden Kemmas gelangten ebenfalls über diese Brücke nach oben. Sie legten sich zusammen mit Asparg auf den Boden, reichten Razamon die Hände und zogen ihn und Atlan zu sich herauf. »Das wäre geschafft«, sagte Zerik erleichtert. »Fast hätte das Gerümpel mich erschlagen.« »Das wäre zu schade um dich gewesen«, spöttelte Serik boshaft. »Und welche Enttäuschung für eine der nächsten Fallen.« Zerik trat ihm wütend gegen das Schienbein und bog sich anschließend vor Lachen, als Serik darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem anderen Bein tanzte. »Hört auf mit dem Unsinn«, befahl Atlan. »So etwas können wir uns wahrhaftig nicht leisten.« »Er hat angefangen«, schrie Zerik mit hochrotem Gesicht. Das tulpenähnliche Gebilde auf seinem Kopf nahm eine violette Farbe an. »Es ist völlig egal, wer den Streit angefangen hat. Wichtig ist nur, daß jetzt Schluß damit ist.« Der Arkonide ließ Zerik nicht zu Wort kommen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn mit sanfter Gewalt vor sich her. Er ging zur nächsten Rampe, die sich
rechts von ihnen befand, und die anderen schlossen sich ihm an. Zerik verzichtete darauf, gegen Atlans Beschluß zu protestieren. Er schob jedoch die Hand des Arkoniden zur Seite, um allein zu gehen. Als sie sich der nächsten Ecke näherten, öffnete sich plötzlich die Wand neben ihnen, und ein monströser Roboter stürzte auf sie zu. Die Maschine lief auf zwei klobigen Beinen. Sie hatte fünf mit scharfen Werkzeugen versehene Arme und einen zylinderförmigen Kopf, der mit zahllosen Linsen besetzt war. Darauf drehte sich eine fächerförmige Antenne, von der ein schriller Alarmton ausging. An dem kugelförmigen Körper leuchteten mehrere Lampen, die ein seltsam düsteres Licht ausstrahlten. Der Roboter griff mit ausgestreckten Händen an. Atlan, Razamon, Zerik, Asparg und Fiothra warfen sich zur Seite. Sie konnten der Maschine gerade noch ausweichen. Serik aber nicht. Entsetzt beobachtete der Arkonide, wie der Automat den Kemma ergriff, hoch über den Kopf hob und in die Tiefe schleuderte. Serik flog schreiend durch die Luft. Er schlug mit Armen und Beinen um sich, als könne er sich noch irgendwo halten, und stürzte in einen Graben des Labyrinths. Er prallte dreißig Meter unter dem Roboter auf, durchbrach den Boden des Grabens und verschwand in einer dunklen Öffnung. Bevor Atlan und seine Begleiter sich von ihrem Schrecken erholt hatten, griff die Maschine erneut an. Dieses Mal hatte sie sich Fiothra ausgesucht, und für die anderen bestand nicht der geringste Zweifel daran, daß sie versuchen würde, die Magierin ebenfalls in den Tod zu schleudern. »Diese Bestie«, schrie Zerik außer sich vor Zorn. »Tut doch etwas gegen sie.« Als sie die Magierin beinahe erreicht hatte, als sie ihre Greifwerkzeuge schon nach ihr ausstreckte, warf sich ihr Razamon plötzlich vor die Füße. Der Berserker setzte all seine Kräfte ein und riß eines der Metallbeine nach hinten. Gleichzeitig stieß Atlan das Mädchen zur Seite und rettete sich zur anderen Seite.
Der Automat begann laut zu heulen. Er kippte nach vorn und versuchte, sich mit einem Arm abzustützen, doch er griff ins Leere. Die künstliche Hand glitt über die Kante der Pyramidenstufe hinaus, und die Maschine stürzte hinterher. Razamon ließ das Metallbein los, und Atlan warf sich auf ihn, damit er nicht in letzter Sekunde mit in die Tiefe gerissen wurde. Sie blickten hinter dem Roboter her, den nun das gleiche Schicksal ereilte wie zuvor Serik. Die Maschine flog jedoch nicht über die Pyramidenstufe hinaus, sondern prallte fünfzehn Meter unter den beiden Männern auf hartem Gestein auf. Sie zerbrach in mehrere Teile. Einer der Metallarme kroch einige Meter weit über den Boden, kehrte dann zu dem Rumpfkörper zurück und explodierte, als er ihn berührte. Fiothra sank schluchzend neben Atlan auf den Boden. »Danke«, sagte sie mit tränenfeuchten Augen. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich diesem Ding entkomme.« »Wir haben Glück gehabt«, erwiderte Razamon lapidar. * Seleinghont schlug die Scheren krachend zusammen. »Nun, Denker vom Stamme der Paparer, was sagst du? Der Weißhaarige lebt noch immer. Dir ist es lediglich gelungen, einige Kemmas zu töten.« »Was auch nicht gerade unwichtig ist.« »Das gebe ich zu. Doch wir hatten gewettet, daß es dem Weißhaarigen ans Leben geht. Hast du das vergessen?« »Ich vergesse nichts«, erwiderte Eigna ärgerlich. »Wenn du nicht eingegriffen und dafür gesorgt hättest, daß die Wunden verheilen, die Glutrynger ihnen beigebracht hat, wäre vielleicht schon alles vorbei.« »Glutrynger scheint nicht gerade deine stärkste Figur zu sein«,
spöttelte Seleinghont. »Er hat unseren Freunden nur Schußwunden beigebracht und lediglich den Zwerg erschossen. Seine Qualitäten als Schütze sind also nicht besonders hoch.« »Ich gebe zu, daß ich mit einem tödlichen Treffer gerechnet habe«, gestand Eigna. »Es war jedoch nicht nötig, die Wunden verschwinden zu lassen.« »Läppisch«, entgegnete Seleinghont. »Wir mindern den Reiz unserer Wette, wenn wir die Beteiligten zunächst schwächen und erst dann konzentriert angreifen. Nein – es war besser so. Aber jetzt wird es Zeit. Sie haben es nicht mehr weit bis zum Tempel, und bis dorthin sollte eigentlich alles erledigt sein.« »Der Weißhaarige wird den Tempel nicht erreichen«, versprach Eigna. »Tatsächlich nicht?« Seleinghont hob sich die magische Krone, die er gewonnen hatte, auf den Chitinschädel. Die mit Edelsteinen und exotischen Metallen verzierte Krone funkelte und leuchtete so hell, daß Eigna geblendet die Stielaugen zur Seite bog. »Du wirst sehen. Es ist bald vorbei.« »Gehst du darauf eine Wette ein?« »Selbstverständlich. Ich setze mein Leben gegen das des Weißhaarigen.« Seleinghont seufzte. »Jetzt wird es wirklich spannend«, sagte er. »Ich will wissen, wie es weitergeht. Dabei gebe ich zu, daß ich eigentlich nicht daran interessiert bin, daß du die Wette verlierst. Schließlich würde mir dann ein Gesprächspartner fehlen.« »Wenn es so ist, dann greife nicht noch einmal ein.«
7. Die letzte Stufe lag vor Atlan, Razamon, Fiothra, Asparg, Grizzard und Zerik. Ohne durch weitere Fallen aufgehalten zu werden, war die Gruppe bis zu dieser Rampe vorgedrungen. Nun trennten sie nur noch etwa zwanzig Meter von der obersten Stufe der Pyramide. Nichts deutete darauf hin, daß irgendwo ein Hindernis war, doch durch den Augenschein ließ Atlan sich nicht täuschen. Er erinnerte sich noch gut an die halbkreisförmige Stahlwand, die von der einen Seite zu sehen, von der anderen Seite aber unsichtbar war. Und er dachte daran, wie es gewesen war, als sie sich das letzte Stück im Labyrinth vorgearbeitet hatten. Die Parallelen waren deutlich gewesen. Auch im Labyrinth hatten sie über eine lange Strecke hinweg keine Falle vorgefunden, bis dann plötzlich der Dorn aus der Wand gebrochen war, der jeden von ihnen aufgespießt hätte, wenn Zerik die Falle nicht vorzeitig ausgelöst hätte. Atlan stutzte. Unter dem Druck der Ereignisse hatte er etwas übersehen. Er blieb stehen und wandte sich an den Kemma. »Woher wußtest du eigentlich, daß ein Dorn aus der Wand hervorbrechen würde?« Zerik blickte ihn verwundert an. »Das wußte ich nicht«, antwortete er. »Ich wußte lediglich, daß da etwas war, dem ich nur entgehen konnte, wenn ich mich flach auf den Boden legte.« »Und wieso war dir das bekannt?« »Du gibst nicht auf, wie?« »Sollte ich?« »Deine Fragen stören mich nicht. Ich habe nichts zu verbergen.« »Dann solltest du endlich antworten.« »Was hattest du noch gefragt?« Atlan blickte den Kemma schweigend an. Zerik fuhr sich mit
gespreizten Fingern durch den Bart und verdrehte die Augen, als könne er die Hartnäckigkeit des Arkoniden nicht verstehen. »Also gut«, sagte er, als er erkannte, daß er die Frage nicht einfach übergehen konnte. »Ich habe euch von Anfang an nicht darüber im unklaren gelassen, daß wir Kemmas schon einmal hier in der Halle waren. Ich habe euch erklärt, daß wir allein das Labyrinth mit seinen vielen Fallen nicht überwinden können. Inzwischen dürfte jeder von euch begriffen haben, daß wir die Wahrheit gesagt haben. Nur ich lebe noch von den Kemmas, die mit euch gegangen sind.« »Du warst also schon einmal hier. Wie lange ist das her?« »Viele Jahre. Ich glaube, daß es mehr als fünfzig Jahre her ist. So genau weiß ich es nicht mehr.« »Und was habt ihr hier gemacht?« »Das werde ich dir später beantworten«, entgegnete Zerik unwillig. »Wie du willst.« Atlan wandte sich der letzten Rampe zu. Nachdenklich blickte er an ihr hoch. Sie bestand aus einem grauen Stein, und sie war so glatt, als habe noch niemals jemand seinen Fuß darauf gesetzt. Äußerlich unterschied sie sich durch nichts von den anderen drei Rampen, die zum Tempel hinaufführten. »Irgendwann müssen wir uns entscheiden«, sagte Asparg. »Ich werde vorangehen.« »Wir nehmen diese Rampe«, erwiderte Atlan. »Spürt ihr irgend etwas?« »Nichts«, antwortete Fiothra. »Vielleicht haben wir bereits alle Fallen überwunden. Vielleicht gibt es nun nichts mehr, was uns aufhalten könnte, und wir machen uns unnötige Sorgen.« Asparg nickte und betrat die Rampe. Die anderen zögerten noch. Als der Magier etwa zehn Meter weit gegangen war, drehte er sich lächelnd um. »Hier ist wirklich nichts«, sagte er. »Ihr könnt kommen.«
Sie schlossen langsam zu ihm auf, während er weiter nach oben stieg. Plötzlich blieb Fiothra stehen und begann leise zu singen. Atlan blickte sie verwundert an. »Was ist los?« fragte er. »Hat das irgend etwas zu bedeuten?« Sie sang lächelnd weiter und strich sich das Haar aus der Stirn. Ihre intensiv blau leuchtenden Augen öffneten sich weiter als gewöhnlich. Razamon setzte sich auf die Rampe und begann sich wie ein Affe zu kratzen. Zugleich knurrte er und verteidigte etwas Unsichtbares, was er in den Händen zu halten glaubte. Zerik warf sich auf den Boden und legte die Stirn auf die verschränkten Arme. Seine Schultern zuckten, und er schluchzte leise. Asparg tanzte mit langsamen Schritten und in würdevoller Haltung auf den Rand der Rampe zu. Seine Augen waren geschlossen. Er schien sich dessen nicht bewußt zu sein, daß ein ungefähr zehn Meter tiefer Abgrund vor ihm lag. Grizzard hatte sich der Länge nach auf den Boden gelegt. Er verhielt sich völlig ruhig. Offenbar lähmte ihn die abergläubische Furcht vor dem ihm unerklärlichen Geschehen. Atlan sah rote Feuer vor seinen Augen kreisen. Der Mund wurde ihm so trocken, daß er kaum noch atmen konnte. Und eine Stimme flüsterte ihm zu, daß er sich von der Rampe in die Tiefe stürzen sollte. Vertraue mir, flüsterte die Stimme. Sie klang weich und freundlich. Du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts geschehen. Ich fange dich auf. »Ich habe keine Angst«, antwortete er laut, und er lachte, obwohl er es gar nicht wollte. Narr! signalisierte das Extrahirn. Siehst du die Falle nicht? Dies ist keine Falle. Du hast es geschafft. Du bist am Ziel. Nur noch wenige Schritte, und du hast alles erreicht, was du erreichen wolltest.
Nur noch einen Schritt, und du bist tot, stellte das Extrahirn fest. Atlan blickte auf seine Füße herab. Kalt lief es ihm über den Rücken, als er sah, daß er nur noch Zentimeter von der Kante der Rampe entfernt war. Wenn er weiterging, stürzte er ab. Du wirst langsam und weich fallen wie eine Feder im Wind. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Dir wird nichts geschehen. Kümmere dich um Fiothra, Asparg, Razamon und Zerik, befahl das Extrahirn. Sie brauchen deine Hilfe. Ohne dich sind sie in dieser Falle verloren. Das gilt ganz besonders für Grizzard. Mit äußerster Mühe und unter Aufbietung aller Willenskraft zog der Arkonide sich von der Kante der Rampe zurück. Er bemerkte, daß seine Begleiter nur noch etwa zwei Meter von ihm entfernt waren. Ihre Augen waren leer und blicklos. Ihre Lippen lächelten, und ihre Hände streckten sich nach ihm aus. Die Stimme befiehlt ihnen, dich über die Kante zu stoßen. Paß auf. Du mußt gegen sie kämpfen. Niemand wird gegen dich kämpfen. Der Kampf ist längst zu Ende. Du hast gewonnen. Sieh doch. Sie lächeln. Es sind deine Freunde. Sie sind für dich da. Fiothras Hand berührte seine Schulter. Zerik trat lächelnd an ihn heran. Die Magierin soll dich umstoßen, und er wird dir ein Bein stellen, so wie ihr es mit dem Roboter gemacht habt. Atlan warf sich nach vorn. Er schlug gezielt um sich, schleuderte Fiothra zur Seite und traf Asparg am Kinn, so daß der Magier bewußtlos zusammenbrach. Zerik stürzte sich auf ihn und umklammerte seine Beine, um ihn bei seinem Kampf zu behindern. Dann griff der Berserker ein, während Grizzard sich ruhig verhielt. Schon sein erster Schlag traf Atlan und warf ihn zurück. Der Arkonide ließ sich geistesgegenwärtig fallen. Er rutschte bis an die
Kante der Rampe zurück, und er erkannte, daß Razamon ihn mit dem nächsten Schlag töten würde, wenn er an dieser Stelle blieb. Daher verzichtete er darauf, sich gegen die Schläge des Berserkers zu verteidigen. Er rollte sich über den Boden, wälzte sich herum und schnellte sich mit aller Kraft auf sicheren Boden. Erst als er sich etwa in der Mitte der Rampe befand, richtete er sich blitzschnell auf, fintierte und betäubte den Freund mit einem sorgfältig vorbereiteten Dagorschlag. Dann umklammerte er die Magierin und trug sie die Rampe hinauf. Sie wehrte sich heftig, kratzte und biß, konnte sich jedoch nicht aus seinen Armen befreien. Als Atlan die oberste Plattform erreichte, wurde sie jedoch plötzlich ruhig, und die fremde Stimme, die in den letzten Sekunden lauter und lauter geworden war, verstummte plötzlich. Der Unsterbliche bemerkte, daß Grizzard ihm gehorsam wie ein Hund gefolgt war und sich nun neben die Magierin setzte. Der Terraner sah verwirrt aus. »Was ist los?« fragte die Magierin. »Nichts weiter. Bleib hier und warte auf uns. Geh nicht weg.« Sie begriff und setzte sich auf den Boden. Atlan rannte zu Asparg, Razamon und Zerik zurück. Der Kemma bemühte sich um die beiden Bewußtlosen. Er versuchte, sie mit Hilfe von Herzmassagen zu beleben. Der Arkonide stieß ihn zur Seite, packte Razamon an den Handgelenken und schleifte ihn über den Boden. Zerik stürzte sich kreischend auf ihn, um ihn zurückzuhalten, doch Atlan ließ sich nicht beirren. Die Stimme in ihm wurde immer lauter und schriller. Er glaubte, sie nicht mehr ertragen zu können, und er hatte das Gefühl, daß ihm der Kopf platzen werde. Laß dich nicht beirren. Das ist der einzige Weg, der Falle zu entkommen, stellte der Logiksektor fest. Seine Blicke trübten sich. Er glaubte, grüne Schatten neben Fiothra erkennen zu können. Einer von ihnen glich einem mittelalterlichen
Henker. Er hielt ein riesiges Beil in den Händen und holte zum tödlichen Schlag gegen die Magierin aus, die nichts davon bemerkte. »Fiothra«, schrie der Arkonide und ließ Razamon los. Narr! Es sind Halluzinationen. Der Berserker kam zu sich. Er schlug die Augen auf und versuchte, auf die Beine zu kommen. Atlan packte seinen rechten Arm, verdrehte ihn und zwang ihn ihm in den Rücken. Dann stieß er Razamon voran bis hoch zu Fiothra. Dabei umklammerte Zerik nach wie vor seine Beine, ohne ihn jedoch wesentlich behindern zu können. »Ich werde Asparg holen«, erklärte Razamon, der ebenso wie die Magierin zuvor plötzlich frei wurde. »Auf keinen Fall«, widersprach Atlan. »Du bleibst hier. Paß auf Zerik und Grizzard auf.« Bevor Razamon noch etwas sagen konnte, lief er erneut die Rampe hinunter und setzte sich abermals dem wütenden Geschrei der körperlosen Stimme aus, die ihn in den Tod treiben wollte. Doch auch jetzt überwand er sie mit Hilfe seines Extrahirns, das verhinderte, daß er den Versprechungen oder den sich anschließenden Drohungen erlag. Als er den Magier neben Razamon zu Boden sinken ließ, war er selbst dem Zusammenbruch nahe. Er fühlte, daß der Zellaktivator rasend schnell arbeitete. Die Impulse kamen in ungewöhnlich schneller Folge. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, daß er überaus stark belastet gewesen war. »Noch so eine Pyramide von dieser Art, und ich bin geschafft«, sagte Zerik. »Ich hätte nicht gedacht, daß es ganz zum Schluß so gefährlich werden würde.« »Ganz zum Schluß? Bist du sicher, daß wir am Ziel sind?« fragte Razamon. »Natürlich sind wir es. Was jetzt noch kommt, ist ein Kinderspiel.« Der Kemma wandte sich dem Säulentempel zu, der in der Mitte der Plattform stand. Der Raum hinter den Säulen war leer. »Laßt mich
nun für einige Zeit allein. Ich muß nachdenken. Es ist lange her, daß ich hier war, und ich weiß nicht mehr genau, was ich nun tun muß.« Zerik setzte sich auf den Boden, verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. Die Blütenblätter des tulpenähnlichen Gebildes fielen schlaff herab und verhüllten seinen Kopf. Jetzt sahen die anderen, daß sich im Innern der Pseudoblüte ein sternförmiger Kristall verborgen hatte, der etwa faustgroß war. »Ist er tot?« fragte Fiothra. »Nein – ich denke nach«, tönte es dumpf unter den Blättern hervor. Razamon lachte. »Laßt ihn. Wir haben anderes zu tun.« Die vier Männer und das Mädchen näherten sich dem Tempel. Grizzard verhielt sich schweigend. Atlan kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er von abergläubischer Furcht erfüllt war. Wenngleich er nicht Amok gelaufen war, so hatte die körperlose Stimme doch einen starken Einfluß auf ihn gehabt. Atlan zweifelte nicht daran, daß sie vor allem seelische Nachwirkungen bei dem Terraner hatte. »Jemand hat ein großes Auge auf den Boden des Tempels gemalt«, sagte Razamon, der das Gebäude als erster erreicht hatte. »Die Pupille scheint der Eingang zu einem Schacht zu sein.« Atlan machte seine Begleiter auf hellblaue Kristalle aufmerksam, die in Augenform geschliffen und hoch oben in die Säulen eingefügt waren. Diese Kristallaugen waren auf den Schacht gerichtet. Grizzard blieb stehen. Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er mit belegter Stimme. »Geht nicht weiter. Laßt uns umkehren.« Atlan bemerkte, daß der Freund zitterte. Grizzard war nahe daran, die Kontrolle über sich zu verlieren. Die tiefverwurzelten Ängste brachen auf und lähmten ihn, so daß er kaum noch Herr seiner selbst war. »Du weißt, daß wir nicht umkehren können, bevor wir erreicht
haben, was wir wollen«, erwiderte Atlan. Er legte Grizzard eine Hand auf die Schulter und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Er wußte, daß er damit beruhigend auf ihn wirkte. »Wir müssen wissen, wohin sich Dorkh bewegt, sonst könnte es wirklich bald zu spät für uns sein.« »Ja, du hast recht«, sagte der Terraner, »aber dieser Ort gefällt mir nicht.« »Wir müssen in den Tempel«, stellte Razamon ruhig fest. »Wir müssen im Schacht nach unten, wenn wir die ›Seele‹ erreichen wollen.« »Wir hätten doch eines der Tore wählen sollen«, entgegnete Grizzard halsstarrig. »Trotz Glutrynger. Hätten wir es getan, hätten wir nicht in diesen Schacht gehen müssen. Wer weiß, ob wir darin nicht abstürzen?« Atlan und Razamon betraten den Tempel. Asparg und Fiothra folgten ihnen, ohne zu zögern. Grizzard aber blieb bei einer Säule stehen und hielt sich an ihr fest. Seine Hände zitterten. Er war am Ende mit seinen Kräften. Noch immer glaubte er, die körperlose Stimme zu hören, und er fürchtete sich vor ihr. Vergeblich suchte er nach stichhaltigen Argumenten, mit denen er die Freunde zum Rückzug bewegen konnte. Ihm fiel nichts mehr ein. Seine Lippen bewegten sich zuckend, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Atlan erreichte den schwarzen Schacht und blickte hinein. »Es ist alles in Ordnung, Grizzard«, sagte er. »Du siehst, uns passiert nichts.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als aus einigen der augenförmigen Kristalle in den Säulen ein intensiv blaues Licht hervorschoß und die drei Männer und die Magierin umhüllte. Wie gelähmt vor Entsetzen beobachtete Grizzard, wie die vier zusammenbrachen. Atlan versuchte, sich in seine Richtung zu werfen und dadurch zu retten. Doch es war zu spät für ihn. Das blaue Licht paralysierte ihn. Er stürzte zu Boden.
Grizzard zögerte. Es zog ihn mit aller Macht zu Atlan und den anderen hin. Noch aber war die Furcht vor dem Unbekannten zu groß. Er wagte den ersten Schritt nicht. Als er sich aber endlich dazu entschlossen hatte, Atlan und den anderen zu helfen, geschah abermals etwas, was er nicht begriff. Atlan und Razamon glitten wie von Geisterhand getragen zur Schachtöffnung und verschwanden darin. Grizzard rannte auf die Schachtöffnung zu, erreichte sie jedoch nicht, denn seine Füße gerieten in ein unsichtbares Hindernis. Er stolperte und fiel. Neben den beiden Magiern blieb er liegen. Er erkannte, daß er Atlan und Razamon nicht mehr retten konnte, und entschloß sich, wenigstens Fiothra und Asparg in Sicherheit zu bringen. Da er fürchtete, daß sie auch noch in den Schacht gleiten und darin verschwinden würden, er aber nicht beide zugleich tragen konnte, faßte er sie an den Händen und schleifte sie über den Boden bis zu den Säulen hin. »Wo bin ich?« fragte die Magierin, als sie nach wenigen Minuten aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte. »Was ist passiert?« »Du erinnerst dich nicht daran?« »Nein, Grizzard.« Sie blickte sich erstaunt um, als sehe sie den Tempel zum ersten Mal. »Was ist mit Asparg? Schläft er?« Der Magier stöhnte leise und strich sich mit den Händen über das Gesicht. Dann schlug er die Augen auf. Auch er wußte nicht, was geschehen war. »Wo sind Atlan und Razamon?« forschte er. »Sie sind in die Schachtöffnung geglitten und darin verschwunden«, antwortete der Terraner. Er mußte noch einiges mehr erklären, bevor Asparg und Fiothra die Zusammenhänge erfaßten. Allmählich kehrte dabei ihre Erinnerung zurück. Sie erhoben sich und blickten in den Tempel. »Bleibt hier«, rief Grizzard. »Geht nicht hinein.« Doch er konnte sie nicht aufhalten. Sie schoben seine Hand mit
sanfter Gewalt zurück, als er sie daran hindern wollte, den Tempel zu betreten, und gingen weiter. »Der Schacht ist verschlossen«, hörte Grizzard Fiothra wenig später sagen. Er folgte ihnen bis an die Säulen, so wie er es vorher auch getan hatte, und sah, daß sie auf dem gemalten Auge standen. Dort, wo vorher die Schachtöffnung gewesen war, befand sich nun eine massive Fläche. * Atlan erwachte übergangslos aus seiner Ohnmacht. Er lag auf dem Boden. Erschrocken erhob er sich. Neben ihm richtete sich Razamon auf. Auch er zeigte nicht die geringste Spur von Benommenheit. Auch er wußte, daß sie eben noch in dem Tempel auf der Spitze der Pyramide gewesen und von blauem Licht überflutet worden waren. »Es hat uns erwischt«, sagte der Berserker. »Und jemand hat uns in das Innere der Pyramide gebracht.« Er drehte sich langsam im Kreis. Sie befanden sich in einer weiten Halle, aus der es Hunderte von Ausgängen gab, die alle mit Türen verschlossen waren. »Die Halle hat einen Durchmesser von mindestens zweihundert Metern«, gab Atlan zu bedenken. »Das kann nicht das Innere der Pyramide sein. Entweder sind wir unter der Pyramide oder überhaupt nicht mehr im SCHLOSS.« Sie entschieden sich, zu einem Tor zu gehen, das größer war als die anderen Ausgänge. Schweigend schritten sie nebeneinander her. Auf dem Boden der Halle lagen verstreut die Knochen von nichthumanoiden Wesen. Ein eigenartiger Geruch ging von ihnen aus. Über den beiden Männern wölbte sich eine schwarze Decke, an der keine Einzelheiten zu erkennen waren. Zwischen den
Ausgängen befanden sich einige punktförmige Lichtquellen, die nur wenig Helligkeit verbreiteten. An einigen Stellen der Halle stiegen pilzförmige Gebilde aus dünnen Glasfasern aus dem Boden. Von ihnen ging etwas mehr Licht aus, jedoch auch nicht sonderlich viel, so daß die Halle in einem geisterhaften Dunkel blieb, in dem sich zahllose Schattengestalten zu verbergen schienen. Immer wieder meinten die beiden Männer, Bewegungen wahrzunehmen. Dann verharrten sie auf der Stelle und versuchten, das Dunkel mit ihren Blicken zu durchdringen. Razamon hustete einige Male. »Ich habe Durst«, sagte er. »Ich brauche bald etwas zu trinken.« Mit einem Fußtritt schleuderte er einen Knochen von sich. Dann ächzte er unwillig und ging weiter. Atlan wußte, was in dem Freund vorging. Der Berserker glaubte nicht mehr daran, daß sie aus dieser Halle entkommen konnten. Allzu viele Vorgänger waren offenbar in ihr gescheitert, wie ihre Überreste deutlich verrieten. Ein Wispern ertönte. Eine fremde Stimme schien unmittelbar hinter ihnen aus dem Nichts zu kommen. Die beiden Männer blieben stehen und drehten sich um. Sie sahen, daß einige Schritte von ihnen entfernt ein Glaserfasergebilde in heftige Bewegungen geriet, so als sei eine Hand hindurchgefahren und habe die Fasern durcheinandergewirbelt. Jetzt aber war das Wispern seitlich von ihnen. Narr! Fällst du auf ein Echo herein? Atlan lachte lautlos. »Unsere Nerven spielen uns einen Streich«, sagte er. »Wir sind allein. Verlaß dich drauf.« Er wartete einen kurzen Moment ab. Dann vernahm er das flüsternde Echo seiner Worte. »Mir scheint, wir werden langsam nervös«, sagte Razamon und ging weiter. Sie näherten sich einigen Ausgängen und erkannten, daß die Türen aus verschiedenen Metallen bestanden. Vor fast allen Türen
lagen die Überreste von fremdartigen Lebewesen. Vor einigen häuften sich die Knochen und Schädel geradezu. Etwa zehn Meter vor den Türen blieben Atlan und Razamon stehen. »Das sieht nicht gerade tröstlich aus«, sagte der Berserker. »Wenn wir nicht aufpassen, liegen unsere Knochen auch bald hier.« Der Arkonide antwortete nicht. Seine Blicke glitten an den Türen entlang. So weit er nach links und rechts sehen konnte, bot sich überall das gleiche Bild. Vor den reich verzierten Metalltüren lagen die Reste derer, die vor ihnen in diese Halle gekommen waren. »Zerik wußte genau, warum er nicht mit uns gegangen ist«, fuhr der Berserker fort. »Ich will verdammt sein, wenn er uns nicht verraten hat. Er kennt sich hier aus, aber jetzt ist er am Ziel, und was aus uns wird, interessiert ihn nicht mehr. Er hat uns in eine Falle laufen lassen.« Atlan schüttelte lächelnd den Kopf. »Warum so pessimistisch, Razamon? Gewiß, hier liegen eine Menge Knochen herum, aber das heißt noch lange nicht, daß hier wirklich so viele Unglückliche gescheitert sind. Nach allem, was wir bisher hier unter der Kuppel erlebt haben, halte ich es für möglich, daß irgend jemand diese Knochen von außen hereingebracht hat, um diejenigen zu beeindrucken, die unbefugt hier eindringen.« Razamon antwortete nicht sogleich, sondern dachte einige Zeit über diese Worte nach. Dann nickte er zustimmend. »Wenn es so ist, dann gibt es nur einen Ausgang, den wir benutzen dürfen. Nur eine Tür führt wirklich zum Ziel.« »Die anderen sind gefährlich«, ergänzte der Arkonide. »Wer unbedacht versucht, irgendeine von ihnen zu öffnen, gerät in eine Falle.« Der Berserker blickte an der Reihe der Türen entlang und versuchte, ihre Zahl zu schätzen. »Es müssen Hunderte sein. Wenn wir die richtige Tür finden wollen, müssen wir uns beeilen, sonst sind wir verhungert und
verdurstet, bevor wir alle Türen untersucht haben.« Er stieß angewidert einen Schädel von sich, dessen Augenhöhlen fluoreszierten. »Trennen wir uns?« »Nein«, erwiderte der Arkonide. »Das wäre ein Fehler. Wir untersuchen die Türen gemeinsam. Vier Augen sehen mehr als zwei.« Nachdem Razamon einige Beinknochen zu einer kleinen Pyramide zusammengestellt hatte, um eine Markierung zu schaffen, schritten sie an den Türen entlang, um sich zunächst einmal alle anzusehen. Bald fanden sie heraus, daß die Knochen nach einem bestimmten Muster vor den Türen lagen. Die Schädel und die Knochen von Rumpf und Extremitäten bildeten Symbole, deren Sinngehalt ihnen jedoch verschlossen blieb. Einige Male stießen sie auf ganze Skelette, die so angeordnet waren, als wollten die Toten noch miteinander kämpfen. Dann fanden sie eine meterhohe Pyramide, die aus Schädeln und Brustknochen von echsenartigen Wesen aufgebaut worden war. Vor einer golden schimmernden Tür duckte sich das Skelett eines großen Raubtiers, als wolle es jeden Moment angreifen. »Wie im Museum«, kommentierte Razamon geringschätzig. »Wen will man eigentlich damit beeindrucken?« »Auf dich macht das alles offenbar nur wenig Eindruck«, stellte der Arkonide fest. »Jetzt jedenfalls nicht mehr«, antwortete Razamon. »Das ganze Theater läßt mich mittlerweile kalt. Ich denke nur noch daran, daß ich Durst habe.« Staub wirbelte auf, als habe sich irgendwo eine Tür geöffnet, und als sei dadurch ein Luftzug entstanden. Die beiden Männer gingen an vielen Türen vorbei, vor denen gar keine Knochen lagen. Sie befaßten sich gar nicht erst mit ihnen. Atlan und der Berserker waren sich einig darin, daß die Tür, die sie suchten, durch etwas Besonderes gekennzeichnet sein mußte.
Als sie die Halle umrundet hatten, und die Knochenpyramide erreichten, mit der Razamon ihren Ausgangspunkt markiert hatte, faßten sie ihre Eindrücke zusammen und sprachen sie durch. »Zunächst einmal können wir alle Türen ausschalten, vor denen keine Knochen liegen«, stellte Atlan fest. »Das bedeutet, daß wir uns nur noch mit etwa hundertzwanzig Türen befassen müssen. Mehr als hundert kommen dagegen nicht in Frage.« Sie sprachen über einige weitere Türen, die in die engere Wahl kamen, und sortierten auch sie aus. »Was glaubst du, welche Tür es ist?« fragte Atlan schließlich. Razamon lächelte. »Eine Tür ist mir besonders aufgefallen. Vor ihr liegen nur Schädel. Schädel in allen denkbaren Größen und Formen.« Atlan nickte. »Genau diese Tür meine ich auch«, erwiderte er, ohne zu verraten, daß sein Logiksektor sich zuvor schon für diese Tür entschieden hatte. Razamon und er waren an einigen anderen Türen vorbeigegangen, vor denen ebenfalls gleichartige Überreste von Lebewesen aller Art zu lagern schienen. Dieser Eindruck hatte sich ihnen immer wieder aufgedrängt. Wenn sie jedoch genau hingesehen hatten, dann waren immer irgendwelche Abweichungen vorhanden gewesen. So hatte Atlan in einem Berg von Rumpf Skeletten die Überreste einer Hand gesehen. Sie paßte nicht zu dem sonst einheitlichen Bild, war jedoch so versteckt gewesen, daß ein nicht allzu sorgfältiger Beobachter sie übersehen mußte. Anders bei dem Schädelberg. Dort hatten sie nur Kopfknochen gefunden. Dennoch hatten sie sich nicht spontan für die durch diese Überreste gekennzeichnete Tür entschieden, sondern waren weitergegangen, um auch die anderen Türen zu überprüfen. Ihre Zuversicht stieg. Sie hofften, die Halle bald verlassen zu können. Noch einmal untersuchten sie den Schädelberg. Sie räumten Kopf für Kopf zur Seite, um sicher sein zu können, daß sie
nichts übersehen hatten.
8. »Wir müssen Atlan und Razamon helfen«, sagte Grizzard. »Wie denn?« fragte Fiothra und stampfte mit dem Fuß auf die geschlossene Fläche, unter der sich der Schacht befand. »Wenn es stimmt, was du sagst, sind die beiden in den Schacht entführt worden. Wir können ihnen nicht folgen.« »Wir müssen es trotzdem versuchen.« Grizzard wandte sich ab und eilte zum Rand der Rampe, wo Zerik noch immer kauerte und meditierte. Er stieß den Kemma an. Langsam hoben sich die Blütenblätter und schlossen sich wieder über dem Kopf. Zerik blickte den Terraner fragend an. Dieser merkte, daß sich etwas geändert hatte. Das zwergenhafte Wesen wirkte ruhig und gelassen. Zerik hatte seinen inneren Frieden gefunden. Hastig schilderte Grizzard, was geschehen war. »Wir müssen ihnen helfen«, sagte er anschließend. »Wenn du wissen solltest, was wir tun können, dann heraus damit.« »Was regst du dich auf? Der Kreis hat sich geschlossen. Das Leben findet kein Ende.« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte Grizzard. »Willst du Atlan und Razamon nun helfen oder nicht?« »Wenn du meinst, daß es notwendig ist, muß ich es wohl. Komm.« Er erhob sich und betrat die nach unten führende Rampe. »Was soll das?« fragte Grizzard verwirrt. Er zeigte auf den Tempel. »Dort sind die beiden verschwunden. Willst du nicht da ansetzen?« »Der Schacht führt nach unten«, antwortete Zerik. »Wenn er an seinem oberen Ende verschlossen ist, dann müssen wir eben tiefer ansetzen.« »Das hört sich vernünftig an«, bemerkte Asparg, der sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte, und auch Fiothra war dafür, dem Kemma zu folgen.
Vorsichtig schritten sie die Rampe hinab, jeden Moment darauf gefaßt, von der körperlosen Stimme angesprochen zu werden. Doch diese blieb stumm. Niemand versuchte, sie in den Abgrund zu führen oder sie anderweitig zu beeinflussen. Auch auf dem weiteren Weg nach unten gab es keine Schwierigkeiten. Erst als sie die Stelle erreichten, an der sie die unsichtbare Stahlwand wußten, blieben Zerik, die beiden Magier und Grizzard stehen. »Ich weiß nicht, wie es weitergeht«, gestand der Kemma. »Wir müssen die Lücke in der Wand suchen.« Grizzard ließ sich auf den Boden sinken und tastete sich vorsichtig voran. Er erinnerte sich recht gut daran, an welcher Stelle sie durch die Lücke gekrochen waren, und er fand sie schon nach kurzer Zeit wieder. »Hier ist sie«, rief er und verschwand zugleich mit dem Oberkörper im Nichts. »Kommt hinter mir her.« Zerik und die beiden Magier sahen, wie sich ihre Beine aufzulösen schienen. Grizzard wurde vollends unsichtbar, doch sie hörten seine Stimme noch. »Worauf wartet ihr?« fragte er. »Ich kann euch nicht sehen, und wahrscheinlich könnt ihr mich auch nicht sehen. Aber sonst ist alles in Ordnung.« Jetzt endlich kamen sie hinter ihm her, und dann sahen sie die Stahlbrüstung hinter sich. Grizzard blickte zu der Rampe hoch, die sie nur mit Hilfe des Gerümpels hatten überwinden können. Sie waren auf ihr heruntergerutscht, ohne daß es Schwierigkeiten dabei gegeben hätte. Jetzt brach der aufgeschichtete Abfall zusammen. Einige Kisten und der Schrank stürzten polternd über die Kante der Plattform in die Tiefe, ohne Schaden anzurichten. Asparg tippte den Terraner an. »Paß auf«, bat er. »Laß dich nicht ablenken. Ich fürchte, dieser Glutrynger mit seinen Freunden taucht gleich wieder auf. Dann
könnte es gefährlich werden.« Sie schritten die Rampe hinunter, ständig bereit, umzukehren und durch die Lücke in der Stahlwand zu fliehen, falls der Techno sie angreifen sollte. Doch alles blieb still. Glutrynger tauchte nicht auf. Asparg, Fiothra und Grizzard erwarteten, daß Zerik nun auch die nächste Rampe hinuntergehen würde, doch sie irrten sich. Der Kemma näherte sich einem der Tore, durch die der Techno gekommen war. »Was hast du vor?« fragte die Magierin. »Wir dürfen hier nicht bleiben.« »Im Gegenteil. Wir sind hier genau richtig«, behauptete Zerik. »Von hier aus kommen wir zu dem Schacht. Von hier aus können wir Atlan und Razamon folgen.« »Nein.« Asparg war nicht damit einverstanden, daß Zerik versuchen wollte, eines der Tore zu öffnen. »Wir wissen alle, wie gefährlich es hier ist. Ich glaube dir nicht, daß du Atlan und Razamon wirklich helfen willst.« »Du beleidigst mich.« »Das ist nicht meine Absicht, Zerik. Ich will nur nicht, daß wir einen Fehler machen.« Grizzard schob Zerik zur Seite. Er war fest entschlossen, Razamon zu helfen. Er dachte daran, daß er noch eine alte Schuld zu tilgen hatte. Das konnte er dadurch tun, daß er den Berserker befreite. »Wir haben nur diese eine Möglichkeit«, sagte er daher. »Ich werde das Tor öffnen, das Zerik mir zeigt. Wenn es euch zu gefährlich ist, könnt ihr euch ja in Sicherheit bringen. Ich jedenfalls werde Razamon nicht aufgeben.« »Hast du vergessen, was hier geschehen ist?« fragte Fiothra. »Willst du auch durch eine Kugel sterben?« Grizzard lächelte und legte seine Hand auf den armdicken Türgriff, der sich in einer Höhe von nahezu zwei Metern befand und so schwer war, daß er ihn kaum bewegen konnte. »Geht«, bat er. »Ich mache das allein.«
Asparg und Fiothra zogen sich einige Schritte weit zurück. Zerik blieb bei ihm. Er deutete auf den Türgriff. »Das ist wiederum so eine Sache, die wir Kemmas allein nicht hätten bewältigen können«, erklärte er. * Atlan legte die Hand an das Stellrad, mit dem die Tür geöffnet wurde, als Razamon ihn plötzlich zurückrief. »Warte. Ich habe etwas gefunden.« Er zeigte auf einen fingerlangen Knochen, der in einem langgestreckten Schädel lag. Der Knochen endete in einem Gelenk. Dadurch stand zweifelsfrei fest, daß er nicht zu dem Schädel gehörte, den die beiden Backengelenke waren vollständig. »Also doch nicht nur Schädel«, sagte der Berserker. »Fast wären wir darauf hereingefallen. Wir müssen weitersuchen. Diese Tür ist es nicht.« Atlan schob die rechte Hand in den Schädel und nahm den Knochen heraus. Er betrachtete ihn. »Er ist ziemlich sauber«, stellte er fest. »Es ist kaum Staub daran. Im Schädel aber liegt Staub. Siehst du – hier. Ein Abdruck, den dieser Knochen hinterlassen hat.« »Was willst du damit sagen?« fragte Razamon. »Daß jemand den Fingerknochen, oder was das ist, erst vor kurzem hineingelegt hat, um uns oder jemand anderen zu täuschen.« Der Berserker runzelte die Stirn. Er war noch nicht überzeugt. Doch dann zeigte ihm Atlan einige andere Schädel, die alle etwa das gleiche Alter hatten, und die seit undenkbaren Zeiten nicht mehr berührt oder bewegt worden waren. Alle hatten die gleichen Staubschichten. »Es gibt nur diese eine Möglichkeit«, schloß er und ging erneut zur
Tür. »Du hast recht«, sagte der Berserker. »Die Fallen sind vermutlich ein Testsystem, mit dessen Hilfe alle, die nicht bevollmächtigt sind, abgefangen werden, ehe sie der ›Seele‹ zu nahe kommen.« »Genau. Dieser Ansicht bin ich auch. Was hinter uns liegt, war mit einigem Geschick zu meistern, aber irgendwann werden wir wohl auf etwas oder jemanden treffen, der uns Fragen stellt und sich nicht mit Ausflüchten abspeisen läßt.« »Ja, das meine ich auch. Bevollmächtigt sind aber nur Wesen, die irgendwie mit dem Dunklen Oheim in Verbindung stehen.« »Also – dann.« Der Arkonide drehte das Stellrad, und die Tür schwang auf. Ein hell erleuchteter Gang lag vor ihnen, der etwa zehn Meter lang war und an einem schimmernden Vorhang endete. Die beiden Männer betraten den Gang. Als sie sich dem Vorhang näherten, glitt dieser zur Seite, und eine alte Frau trat ihnen entgegen. Sie war wesentlich kleiner als die beiden Männer, hatte dünnes, weißes Haar und ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht. Sie trug ein einfaches Gewand, das sie mit zwei Bändern an den Hüften zusammenhielt. Mit überraschend wachen Augen blickte sie Atlan und Razamon an. »Willkommen, die Herren«, sagte sie krächzend. »Würden Sie mir freundlicherweise Ihre Wünsche aufgeben? Ich will sie Ihnen gern erfüllen.« Atlan hütete sich, auf eine derartige Frage einzugehen. Grüße aus dem Kreis des immerwährenden Lebens, brachte das Extrahirn in Erinnerung. »Ich habe den Auftrag, Grüße aus dem Kreis des immerwährenden Lebens zu bestellen«, erwiderte er daher. Chirmor Flog hatte ihm diese Formel verraten. Ein strahlendes Lächeln ging über das Gesicht der alten Frau. Sie streckte die Hände aus.
»Ich bin Segapyrh«, rief sie. »Ich freue mich, daß ihr den Weg zu mir gefunden habt. Tretet ein, Freunde des Kreises. Ihr seid mir willkommen.« Die beiden Männer kamen der Aufforderung nach. Die Alte führte sie in einen weiten Raum, der mit allerlei fremdartigen Geräten gefüllt war. Atlan, der sich nur flüchtig umblickte, sah bizarr geformte Maschinen, die aus einer längst vergessenen Epoche zu stammen schienen, neben Apparaturen, die auch in einem modernen, terranischen Raumschiff hätten stehen können. Seltsam geschwungene Metallbänder stiegen vom Boden zur Decke auf. Sie waren breit und offensichtlich schwer und machten dennoch den Eindruck, als seien sie von aller Schwerkraft befreit. Zwischen den Maschinen lagen und hingen allerlei Tierfelle. Auf teils primitiven Feuerstätten dampften Töpfe, die aus einem exotischen Metall bestanden. Unmittelbar daneben aber arbeitete ein vollautomatisches Labor. Zwischen den Maschinen saßen verhutzelte, weißhaarige Gestalten, die alle eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau besaßen, die sie empfangen hatte. Atlan bemerkte, daß darunter zahlreiche Kinder waren, deren Gesichter jedoch ebenso alt wirkten wie die der Erwachsenen. Offenbar war Segapyrh viel jünger, als er zunächst angenommen hatte, da selbst die Kinder so faltige Gesichter und weißes Haar hatten. »Walte deines Amtes, Gesandter des Dunklen Oheims«, rief Segapyrh. »Wir sind deine Diener.« Die anderen klatschten begeistert in die Hände. Die Kinder sprangen auf und umringten Razamon und Atlan lärmend. Einige von ihnen betasteten sie neugierig, als seien sie Wesen von einer anderen Welt. Vorsicht, signalisierte das Extrahirn. Wenn sie den Gesandten des Dunklen Oheims in dir sehen, solltest du so gut informiert sein, daß du auf alle Fragen antworten kannst, die sie dir stellen. Atlan hatte keine andere Wahl. Er mußte das Risiko auf sich
nehmen, den Argwohn Segapyrhs zu erregen. Er war hier, weil er dringend Informationen benötigte, die er sich nirgendwo sonst beschaffen konnte. »Bevor ich irgend etwas unternehme, muß ich mehr über die Lage in Dorkh erfahren«, erklärte der Arkonide. »Das wird euch überraschen, aber es ist eine Tatsache, daß nicht einmal der Dunkle Oheim bisher weiß, was sich zugetragen hat.« Diese Worte riefen bei Segapyrh und den anderen erhebliche Unruhe hervor. »Wir haben erwartet, daß ihr aus einem anderen Grund zu uns kommt«, sagte Segapyrh. »Es tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfülle. Jetzt geht es darum, herauszufinden, was los ist. Dazu sind wir hier, und wir hoffen, daß ihr uns helfen werdet.« Die runzeligen Bewohner des höhlenartigen Raumes diskutierten flüsternd miteinander. Atlan vermied es, Razamon anzusehen, weil er mit keinem Zeichen Unsicherheit verraten wollte. Die Taktik ist richtig, stellte der Logiksektor nüchtern fest. Atlan ging zu einer Maschine, die etwa einen halben Meter hoch war, und setzte sich darauf. Einige Kinder brachten ein Gefäß mit Wasser und reichten es ihnen. Trink! Er merkte, daß Segapyrh und die anderen sie verstohlen beobachteten. Sie warten darauf, daß du dieses einfache Geschenk annimmst. Atlan setzte das Gefäß an die Lippen und trank. Dann reichte er es Razamon weiter, der ebenfalls nicht zögerte, sondern seinen Durst stillte. * Seleinghont ließ eine seiner Scheren krachend auf den Boden fallen.
»Du hast verloren, mein Lieber«, rief er. »Denker der Paparen. Der Weißhaarige lebt immer noch. Hast du vergessen, was du zu tun hast?« Eigna legte sich flach auf den Boden, so daß die Kniegelenke seinen Rumpf überragten. »Bedenke, welche Konsequenzen seine Forderung hat«, sagte er. »Ich gebe zu, daß ich die Wette verloren habe. Sollte man jedoch nicht noch einmal darüber reden, was jetzt zu tun ist?« Seleinghont schnaubte verächtlich. »Damit habe ich gerechnet«, erwiderte er. »Du wettest, aber du bist nicht bereit, die Vereinbarungen einzuhalten, wenn du verlierst.« »Also schön«, sagte Eigna. »Wie du willst. Ich stehe zu meinem Wort.« Der lange Schwanz bog sich hoch, und das Schwanzende mit dem Giftdorn senkte sich auf seinen Kopf herab. Eigna zögerte noch einige Sekunden. Er hoffte, daß Seleinghont im letzten Moment verzichten würde, doch der andere schwieg. Da preßte er das Schwanzende entschlossen herab. Der Dorn bohrte sich durch eine Lücke im Chitinpanzer. Eigna stöhnte schmerzgepeinigt auf, ließ jedoch nicht nach. Das Gift strömte in seinen Körper, und nach abermals einigen Sekunden war der Denker vom Stamme der Paparen tot. »Typisch für diesen alten Querschädel«, sagte Seleinghont. »So war er immer. Nie wollte er zu seinem Wort stehen. Immer mußte man ihn zwingen, das zu tun, wozu er freiwillig nicht bereit war.« Er schlug belustigt die Scheren zusammen. »Jedenfalls hat er jetzt keine arthritischen Schmerzen mehr.« Er verharrte nahezu eine Stunde auf der Stelle, tief in Gedanken versunken. Dann richtete er seine Blicke auf den Toten. »Schade«, schnarrte er. »Jetzt habe ich keinen Gesprächspartner mehr. Das ist irgendwie bedauerlich, wenngleich wir uns nach so langer Zeit eigentlich gar nichts mehr zu sagen hatten. Dennoch
wird es ohne ihn unerträglich langweilig sein. Wozu sollte ich mich dieser Langeweile aussetzen?« Das Schwanzende bog sich herauf, und der Giftdorn bohrte sich durch eine Lücke im Chitinpanzer. Seleinghont stöhnte nicht, als er den schmerzhaften Einstich spürte. Er war schon immer schmerzunempfindlicher gewesen als Eigna. * Grizzard erstarrte vor Schreck, als er plötzlich Glutrynger vor sich sah. Der Techno blickte ihn grinsend an. Mit dem Handrücken fuhr er sich über den Mund und das Kinn, die von dem Wein troffen, den er aus einem Krug getrunken hatte. Sie beide standen auf einem schmalen Steg, der durch ein schwarzes Nichts zu führen schien. Glutrynger sah jedoch nicht mehr so aus wie vorher. Er hatte sich vielmehr in einer Weise verändert, die Grizzard zutiefst erschreckte. Er glich einer alten Terrakottafigur. Sein Gesicht wurde von lauter dünnen Rissen durchzogen. Und auch seine Hände sahen aus als bestünden sie aus gebranntem Ton. Der Techno war mitten in der Bewegung erstarrt. Blaues Licht leuchtete pulsierend aus einer nicht erkennbaren Quelle herab. In diesem Licht wurden zahlreiche Gestalten erkennbar, die hinter Glutrynger mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden hockten. Sie alle sahen aus wie uralte, von Rissen überzogene Terrakottafiguren. Und alle waren Kemmas! Grizzard spürte, daß etwas Fremdes in ihn einzudringen versuchte. Er erkannte die Gefahr, in der er sich befand. Das blaue Licht drohte, ihn ebenfalls in eine solche Figur zu verwandeln. Obwohl er die Wahrheit jedoch erfaßte, war er nicht in der Lage sich zu bewegen. Das blaue Licht gab ihn nicht frei. Während er beobachtete, daß die Weintropfen am Kinn des Technos trockneten, fühlte er, daß sich in ihm etwas veränderte.
Maßloser Zorn stieg in ihm auf. Er machte Glutrynger dafür verantwortlich, daß sie genarrt worden waren, und er dachte daran, wie er auf sie geschossen hatte. Mit einem Schrei stürzte er sich auf ihn und schlug ihn nieder. Glutrynger leistete nicht den geringsten Widerstand. Er kippte wie eine leblose Figur um und stürzte neben dem Steg ins Nichts. Zugleich vernahm Grizzard ein leises Kichern, und er sah, wie Zerik sich an ihm vorbeischob. »Laß mich durch, alter Freund«, sagte der Kemma. »Endlich habe ich es geschafft. Ich bin heimgekehrt in die Halle unserer Ahnen. Die Prophezeiung des Arthezkon Ennispok hat sich erfüllt. Der letzte der Kemmas tritt ein in die Halle der Ehre. Sechs Opfer hat es gekostet. Auch so steht es geschrieben, und von nun an wird die ›Seele‹ nicht mehr ganz so frei sein wie bisher. Sie wird etwas weniger rebellisch sein und nicht mehr so häufig für Verzögerungen sorgen. Nach dem Tod der SCHLOSSHERREN hätte die ›Seele‹ dem Dunklen Oheim direkt unterstehen sollen, aber das war nicht möglich, weil die Zahl der Kemmas in dieser Halle nicht vollzählig war. Verstehst du? Ein Kemma fehlte – so konnte der Befehl nicht zu der ›Seele‹ durchdringen, und selbst ein Beauftragter des Dunklen Oheims wäre nicht in der Lage gewesen, die Blockade zu beseitigen, selbst dann nicht, wenn er das Schlüsselwort nennt.« Grizzard verstand so gut wie nichts. Er verfolgte Zerik mit seinen Blicken, wie er zu den Figuren der anderen Kemmas ging und sich zu ihnen setzte. Er sah, wie das blaue Licht auf ihn herabflutete und ihn veränderte. Ein zufriedenes Lächeln lag auf dem Gesicht Zeriks, als er zu einer steinartigen Masse erstarrte. Der Terraner aber fühlte sich plötzlich frei. Der Druck, der auf ihm gelastet hatte, wich. Er fuhr herum und rannte zum Tor zurück. Er stürzte ins Freie und schloß die Tür hinter sich. Dann eilte er zu Asparg und Fiothra, die auf ihn gewartet hatten. »Ich glaube, Zerik hat Atlan und Razamon mehr geholfen als wir«,
sagte er. »Er hat dafür bezahlt, daß er uns begleiten durfte.« * Das Wasser war kühl und schmeckte erfrischend. Atlan reichte den Krug an Segapyrh zurück. Sie nahm ihn lächelnd entgegen und rief den anderen etwas zu. Ihre Worte lösten Heiterkeit aus. Der Arkonide merkte jedoch, daß Segapyrh und die anderen nicht über ihn lachten, sondern, daß sie sich darüber freuten, daß er das Wassergeschenk angenommen hatte. Niemand schien ihnen noch zu mißtrauen. Nach einigen Fragen, die zögernd beantwortet wurden, gab Segapyrh ihre Zurückhaltung ganz auf. Sie erklärte Atlan und Razamon, daß die »Seele« von Dorkh schon immer ein wenig rebellisch gewesen war. Sie hatte sich niemals gegen einen Befehl gewehrt, wohl aber für allerlei Verzögerungen gesorgt. »Nach der Zerstörung der intakten Stadt Tirn verweigerte sie völlig den Gehorsam«, erklärte die Alte. »Die SCHLOSSHERREN konnten zwar mit Hilfe der Seelenwächter die Rückkehr in die Schwarze Galaxis erzwingen, doch dann war es endgültig mit dem Gehorsam vorbei.« Segapyrh kauerte sich auf den Boden. Sie deutete hin und wieder auf einige Maschinen in der Halle, wenn sie Atlans Fragen beantwortete, ohne zu erklären, welche Bedeutung diese hatten. Der Arkonide vermutete, daß sie zumindest ein Teil der »Seele« waren. »Manchmal ertrug die ›Seele‹ den auf ihr lastenden Druck kaum noch. Dann bebte ganz Dorkh und drohte, in den Dimensionskorridor abzugleiten. Solange die Uleb jedoch am Leben waren, konnte die ›Seele‹ standhalten. Allein die Uleb waren berechtigt, Befehle zu erteilen, andererseits waren sie ganz offensichtlich nicht mehr bei Verstand, denn sonst hätten sie Tirn
nicht zerstört.« Segapyrh blickte Atlan fragend an. Er nickte zustimmend, und ihre Augen leuchteten zufrieden auf. »Nach dem Tod der SCHLOSSHERREN hätte die ›Seele‹ dem Dunklen Oheim direkt unterstehen sollen, aber irgend etwas hat nicht geklappt. Ich weiß nicht, was«, fuhr die Alte fort. »Der Befehl drang nicht durch, und auch wir konnten nicht erreichen, daß die ›Seele‹ sich dem Dunklen Oheim unterstellte.« Einer der Männer kam zu ihr und kniete neben ihr nieder. »Ein Wunder ist geschehen«, berichtete er. »Der Seelenstabilisator, der seit Jahrzehnten im Ungleichgewicht war, hat sich ausgeglichen.« Segapyrh sprang auf und eilte davon. Kurz darauf kehrte sie zurück. Ihre Augen leuchteten, und ihr Gesicht glühte vor Erregung. »Beauftragter«, sagte sie. »Du kannst die Blockade beseitigen. Nenne mir das Schlüsselwort. Bitte.« Atlan wechselte einen kurzen Blick mit Razamon. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Er mußte jedoch etwas sagen, wenn er sich nicht einer tödlichen Gefahr aussetzen wollte. Segapyrh und ihre Leute würden fraglos ihr Verhalten radikal ändern, wenn sie merkten, daß er kein Beauftragter des Dunklen Oheims war, sondern dessen erklärter Feind. In diesem Moment der höchsten Gefahr klang eine Stimme in Atlan und Razamon auf. Es war die Stimme der »Seele«! Ich weiß, daß ihr Rebellen und Feinde des Dunklen Oheims seid. Gebt es ruhig zu. Tausend Gedanken schossen Atlan durch den Kopf. Dann antwortete er laut: »Wir machen kein Geheimnis daraus.« Segapyrh wich vor ihm zurück. Ehrfurchtsvoll flüsterte sie mit den anderen. Sie kann die telepathischen Worte nicht hören, stellte der Logiksektor fest. Aber sie weiß, daß die Seele spricht.
Nun, dann will ich nicht verschweigen, daß ich selbst die Blockade heraufbeschworen habe. Ich bin gar nicht mehr fähig, das zu tun, was der Dunkle Oheim verlangt. Daran ändert auch nichts, daß die Zahl der Kemmas wieder dem stabilen Gleichgewicht entspricht, was mir keineswegs gefällt. Daraus kann ich euch jedoch keinen Vorwurf machen. Ihr konntet nicht wissen, daß die Kemmas mich einschnüren. »Wir wußten in der Tat nicht, in welchem Zusammenhang die Kemmas mit dir stehen«, antwortete Atlan laut, »sonst hätten wir ihnen nicht geholfen, hierher zu kommen.« Der Dunkle Oheim verliert allmählich die Geduld. Ich kann es mir denken. Er wird Dorkh vernichten lassen, wenn es sich nicht endlich in Bewegung setzt. Ich bin also auf deine Hilfe angewiesen. Ich kenne das Schlüsselwort. Aber es muß in diesem Raum, in dem du dich befindest, laut ausgesprochen werden – und zwar von einem Wesen, das nicht in Dorkh geboren ist. Es lautet: Lebensblase. Nenne es, damit die Bürger von Dorkh noch eine Chance bekommen! Abermals blickten Atlan und Razamon sich kurz an. Der Berserker hatte die telepathische Botschaft ebenso gehört wie Atlan. Daher wußte er auch, daß ihnen nun keine andere Wahl mehr blieb. Sie mußten das Schlüsselwort nennen, auch wenn sie nicht wußten, welche Konsequenzen sich für sie daraus ergaben. »Lebensblase«, erwiderte der Arkonide und nannte damit das Schlüsselwort, das das geisterhafte Etwas ihm selbst verraten hatte. »Damit erteile ich dir den Befehl, Kurs auf den Sitz des Dunklen Oheims zu nehmen.« Er erwartete irgendeine Reaktion der »Seele«, einen bestätigenden Impuls, ein Wort der Zustimmung oder der Versuch einer erneuten Auflehnung. Doch die »Seele« schwieg, als habe er nichts gesagt. Segapyrh und ihre Leute umringten Atlan und Razamon dagegen voller Begeisterung. Sie waren offensichtlich hochzufrieden. »Ihr müßt jetzt gehen und draußen die nötigen Vorbereitungen treffen«, sagte die Alte. »Meine Leute werden Speisen und Getränke für euch mitnehmen, damit ihr euren Durst löschen und den
Hunger stillen könnt. Und einer von uns wird euch durch das Labyrinth begleiten, obwohl nun keine Gefahr mehr für euch besteht. Keine der Fallen wird euch noch gefährlich werden.« Segapyrh hielt ihr Versprechen. Nachdem Atlan und Razamon gegessen und getrunken hatten, verabschiedete sie die beiden Männer. Ein wie ein Greis aussehender Jüngling übernahm es, Atlan und Razamon mit Speisen und Getränken zu versorgen und nach draußen zu führen, wo sie bald darauf mit den beiden Magiern und Grizzard zusammentrafen. Diese berichteten ihnen aufgeregt, was mit Zerik geschehen war. Atlan ließ ihnen Zeit, sich alles von der Seele zu reden, was sie belastete, dann erzählte er, wie es Razamon und ihm ergangen war. Als sie sich an einem Ausgang der Kuppel von ihrem Führer verabschiedet hatten, blickte Razamon zurück. »Um ehrlich zu sein – ich habe ganz erheblich daran gezweifelt, daß wir wieder heil aus der Pyramide herauskommen, als die ›Seele‹ uns wissen ließ, daß sie wußte, wer wir waren. Ich dachte, alles sei vorbei.« Während die Gruppe sich anschickte, die Kuppel zu verlassen, beruhigte sich das Land, das bis dahin von ständigen Beben erschüttert worden war, und ein gleichmäßiges Rauschen verkündete, daß Dorkh nun in voller Fahrt auf sein unerfreuliches Ziel zuraste. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 469 von König von Atlantis mit: Im Zeichen der Apokalypse von Horst Hoffmann