Ulrich Franke Die Nato nach 1989
Ulrich Franke
Die Nato nach 1989 Das Rätsel ihres Fortbestandes
Bibliografische I...
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Ulrich Franke Die Nato nach 1989
Ulrich Franke
Die Nato nach 1989 Das Rätsel ihres Fortbestandes
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17773-1
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
8 I. Einführung
1
Einleitung 1.1 Erörterung der Fragestellung 1.2 Gang der Untersuchung 1.3 Besondere Sprachregelungen
11 12 14 17
2
Darstellung des Forschungsstands 2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus 2.1.1 Neorealismus 2.1.2 Neoliberalistischer Institutionalismus 2.1.2.1 Ökonomischer Institutionalismus 2.1.2.2 Politischer Institutionalismus 2.1.3 Neo-Neo-Synthese 2.2 Die reflektivistische Herausforderung 2.2.1 Liberalistischer Wertegemeinschaftskonstruktivismus 2.2.2 Wertedifferenzen-Realismus 2.2.3 Post-Paradigmatistische Wertegemeinschaftskonzeptionen 2.3 Zwischentöne 2.3.1 Klassischer Liberalismus 2.3.2 Optimistischer Realismus 2.3.3 Postmodernismus 2.4 Postparadigmatismus 2.5 Fazit
19 21 22 25 26 29 33 34 35 37 39 41 42 43 45 46 48
II. Vorbereitung des Forschungsprozesses 3
Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen 3.1 Vorbemerkung 3.2 Das (sozial-) theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik 3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik 3.3.1 Sequenzanalyse, Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung 3.3.2 Regulative Prinzipien objektiv hermeneutischer Sinninterpretation 3.3.2.1 Aufrichtigkeits- und Sparsamkeitsregel 3.3.2.2 Sequentialitätsprinzip 3.3.2.3 Totalitäts- und Wörtlichkeitsprinzip 3.3.2.4 Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes, Einstellungswechsel und künstliche Naivität 3.3.3 Methodologische Implikationen
53 53 56 62 62 66 66 67 69 70 72
6
Inhalt
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik 3.4.1 Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit 3.4.2 Kritik am regulativen Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes 3.4.3 Das Problem der Analyse fremdsprachiger Texte 3.4.4 Das Problem der Ontologisierung. Zum Verhältnis von protokollierter Wirklichkeit und Wirklichkeit des Protokolls 3.4.5 Die Forderung nach Methodenpluralismus 3.4.6 Das Problem der Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen 3.4.7 Falsifikationismus vs. Fallibilismus 3.4.8 Der Wahrheitsbegriff der objektiven Hermeneutik 3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik mit der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen 3.5.1 Anti-Positivismus: Rekonstruktion statt Subsumtion 3.5.2 Transparenz des Forschungsprozesses 3.5.3 Verknüpfung der objektiven Hermeneutik mit der Diskussion in den Internationalen Beziehungen 3.6 Zusammenfassung 4
Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO – Einrichtung des Untersuchungsgegenstands und Auswahl der Fälle 4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands 4.1.1 Die Suche nach angemessenen Datentypen 4.1.2 Heuristische Gliederung des politischen Prozesses im Rahmen der NATO 4.1.3 Ein Plädoyer zugunsten der Analyse manifester Ergebnisse 4.1.3.1 Über die Möglichkeit einer Analyse des Entscheidungsfindungsprozesses 4.1.3.2 Einigung und Nichteinigung als Kehrseiten gemeinschaftlichen Handelns 4.2 Entwurf des Universums der Fälle 4.3 Konkurrierende Kriterien für eine Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle 4.3.1 Die Strategischen Konzepte 4.3.2 Das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern 4.3.3 (Groß-)Theorien der Internationalen Beziehungen 4.3.4 Krisen und Routinen im der NATO als NATO zuschreibbaren Handeln 4.4 Die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle 4.4.1 Operationalisierung 4.4.2 Erörterung möglicher Einwände 4.5 Fallbestimmung 4.6 Zusammenfassung
74 74 75 77 78 80
80 82 83
84 85 87 88 91 94 94 95 96 99 103 104 106 108 109 110 111 111 114 115 117 119 120
7
Inhalt
III. Durchführung der Untersuchung 5
Fall 1: Nordatlantikvertrag 5.1 Sequenzanalyse 5.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
125 125 162
6
Fall 2: Bosnien 6.1 Sequenzanalyse 6.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
169 169 198
7
Fall 3: Veränderung der internen Strukturen 7.1 Sequenzanalyse 7.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
203 203 245
8
Fall 4: Irak 8.1 Sequenzanalyse 8.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
250 250 275
9
Fall 5: 50 Jahre NATO 9.1 Sequenzanalyse 9.2 Zusammenfassung
280 280 301 IV. Fazit
10 Beantwortung der Forschungsfrage 10.1 Darstellung der rekonstruierten Handlungsprobleme und Handlungsregeln 10.2 Zusammenhänge zwischen den Handlungsproblemen und chronologische Auffälligkeiten 10.3 Abgleich mit den Ergebnissen der Untersuchung des Nordatlantikvertrages 10.4 Rückbindung zentraler Befunde an den Forschungsstand 10.5 Beantwortung der Forschungsfrage
307
11 Methodenreflexion
321
307 310 313 315 317
V. Anhang Bibliographie Nachweis der analysierten Dokumente
328 337
Vorbemerkung
Bei diesem Buch handelt es sich – mit geringfügigen Änderungen – um meine im Februar 2008 eingereichte Dissertationsschrift. Die darin enthaltenen Mängel habe ich selbstverständlich allesamt allein zu verantworten. Alles andere als selbstverständlich ist dagegen das immens hohe Maß an Kollegialität, das mir während des Forschungsprozesses zu Teil wurde und für das ich mich an dieser Stelle bei mehreren Menschen bedanken möchte. Hier ist zunächst Gunther Hellmann zu nennen, der mich zu der vorliegenden Arbeit ermutigt hat. Er und auch James Davis fanden immer wieder Zeit für wertvolle Ratschläge und haben mit der Begutachtung einer nicht gerade knapp ausgefallenen Dissertation manche Mühe auf sich genommen. Überdies gebührt beiden, ebenso wie Ulrich Oevermann, Dank dafür, dass sie mir die Möglichkeit gaben, Teile der Arbeit in diversen Kolloquien und Gesprächsrunden an den Universitäten Frankfurt/M. und St. Gallen zu diskutieren. Kaum in Worte zu fassen vermag ich den Dank, den ich meinem Kollegen Ulrich Roos schulde. Stets konnte ich mit ihm jeden Gedanken erörtern, der in dem vorliegenden Buch manifest geworden ist oder wieder verworfen wurde. Er hat sämtliche Bestandteile des Manuskripts kritisch gelesen und wurde niemals müde, mich zur Fertigstellung des Ganzen anzuspornen. In sehr intensivem und höchst fruchtbarem Austausch über meine Arbeit stand ich zudem mit Benjamin Herborth, Ralph Weber, Ursula Jasper und Gabi Schlag. Ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre Hilfsbereitschaft und die vielen wertvollen Anregungen, die sie mir gegeben haben, werde ich ihnen nicht vergessen. Darüber hinaus bin ich auch Kaspar Schiltz, Julian Eckl, Martin Beckstein, Roland Portmann und Bernd Bucher zu großem Dank verpflichtet. Sie haben Teile der Arbeit kritisch gelesen und mich in manchen Diskussionen zur Klärung meiner Argumente gezwungen. Besonderen Dank schulde ich schließlich meinen Eltern, Irmtrud und Manfred Franke. Von Ihnen habe ich vor allem gelernt, ausdauernd zu sein und den eigenen Weg auch bei Gegenwind fortzusetzen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Bielefeld im März 2010
I. Einführung
1 Einleitung
Das Lösen von Rätseln ist für Thomas Kuhn gleichbedeutend mit der von einem einzigen Paradigma beherrschten, normalen Entwicklung der (Natur-)Wissenschaft. Wer einem Paradigma anhänge, erachte nur eine bestimmte Menge an Rätseln für relevant und lösbar. Krisen infolge des Bewusstwerdens von Anomalien zögen jedoch wissenschaftliche Revolutionen nach sich, an deren Ende die Dominanz eines neuen Paradigmas stehe. Dieses ermögliche bessere Erklärungen der Anomalien, bei denen es sich letztlich um neue Entdeckungen handele.1 Kuhns Konzeptualisierung der Differenz zwischen normaler und revolutionärer Wissenschaft zieht die Frage nach sich, weshalb nicht auch die Erklärung von Anomalien als eine Form des Rätsellösens angesehen werden sollte. Dazu bedarf es nicht mehr als einer Stärkung des ausgedünnten, auf die Fragestellungen innerhalb eines Paradigmas reduzierten Rätsel-Begriffs und, spiegelbildlich dazu, einer Abschwächung von Kuhns rigidem Paradigma-Begriff, der die Alleinherrschaft eines Erklärungsansatzes symbolisiert. Auf diese Weise würde auch das möglicherweise entscheidende Hindernis für eine Übertragung von Kuhns Thesen auf die Sozialwissenschaften aus dem Weg geräumt; denn sein Eingeständnis, dass offen bleibe, „welche Teilgebiete der Sozialwissenschaft überhaupt schon solche Paradigmata erworben haben“2, dürfte sich im Falle einer weniger rigiden Auffassung dieses Begriffs als hinfällig erweisen. Die Ausweitung des Lösens von Rätseln auf das gesamte Spektrum wissenschaftlichen Arbeitens wirft zweifellos einige Fragen auf – insbesondere die folgenden: Ergeben sich Rätsel aus der Lektüre wissenschaftlicher Abhandlungen oder eher aus der (vermeintlich untheoretischen) müßigen Betrachtung der Welt? Über welche Zeiträume erweisen sich Lösungen eines Rätsels als stabil? Und nicht zuletzt: Geht mit der Lösung von Rätseln wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Fortschritt einher? Während derlei Fragen recht schnell zu heftigen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen führen, genügt es für den Augenblick festzuhalten, dass der Versuch, Rätsel zu lösen, hier als eine Kernaufgabe aller Wissenschaft angesehen werden soll. Seit dem Beginn der 1990er Jahre kreist eines der großen Rätsel der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB) um die NATO, um jene Organisation also, die auf der Grundlage des Nordatlantikvertrages entstanden ist, der am 4. April 1949 in Washington von Vertretern der USA, Kanadas sowie zehn europäischer Staaten unterzeichnet wurde. Konkret sind es die Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands des atlantischen Bündnisses nach dem Ende der Konfrontation zwischen den beiden Supermächten (einschließlich ihrer „Machtblöcke“), mit denen sich viele Vertreter des Faches beschäftigen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, das Rätsel des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation zu lösen. Was es mit dieser Fragestellung und den Charakteristika ihrer Bearbeitung im Detail auf sich hat, wird im nächsten Abschnitt erörtert (1.1). Anschließend werden 1 Vgl. Thomas S. Kuhn (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (2. revidierte Auflage), insbesondere S.49ff.; [1962/70]. 2 Vgl. Thomas S. Kuhn (1976): Struktur, S.30.
12
1. Einleitung
der Gang der Untersuchung skizziert (1.2) und einige besondere Sprachregelungen erläutert, die für die Arbeit gelten sollen (1.3).
1.1 Erörterung der Fragestellung Das Rätsel des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation treibt die Vertreter der Internationalen Beziehungen seit nunmehr knapp zwanzig Jahren um. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre waren es Anhänger des „neorealistischen Paradigmas“, insbesondere John Mearsheimer und Kenneth Waltz, die prognostizierten, dass die Tage des atlantischen Bündnisses nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gezählt seien. Gleichsam zur Bestätigung seiner Vorhersagen wartete Waltz im Jahr 2000 sogar mit der Behauptung auf, die NATO habe bereits aufgehört zu existieren.3 Ein „Rätsel“ ist der Fortbestand des atlantischen Bündnisses somit in erster Linie aus der Perspektive des Neorealismus, der das Fach – zumindest in den Vereinigten Staaten – lange Zeit dominiert hat. Angesichts der Erklärungsnot, in die ein vermeintlicher Deutungsmonopolist geraten ist, vermag es indes nicht zu überraschen, dass der – schwer zu leugnende – Fortbestand der NATO von den Widersachern des Neorealismus innerhalb der Theoriedebatte(n) der Internationalen Beziehungen zum Anlass genommen worden ist, um den Nachweis der Überlegenheit der eigenen Erklärungskraft und Prognosefähigkeit anzutreten. Die ersten, die diese Gelegenheit zu ergreifen suchten, waren die „neoliberalistischen Institutionalisten“ – neben Robert Keohane, Joseph Nye und Celeste Wallander nicht zuletzt auch Helga Haftendorn. Das Hauptargument der Institutionalisten lautet, dass die Modifikation bestehender Einrichtungen zur Koordination von nationalstaatlichem Handeln einfacher und kostengünstiger ist als die Neuschöpfung solcher Zusammenschlüsse. Bald darauf schalteten sich auch „Konstruktivisten“ wie Thomas Risse und Emanuel Adler in die Diskussion ein. Im Anschluss an Karl Deutschs Konzept einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft konzeptualisieren sie die NATO als einen Zusammenschluss auf der Grundlage gemeinsamer demokratischer Normen und Werte, dessen Bestehen (mittlerweile) vom Vorliegen existentieller Bedrohungen unabhängig und ein Selbstzweck sei. Neben den Vertretern der großen theoretischen Strömungen beteiligen sich jedoch auch die Anhänger mehr oder weniger innovativer Außenseiterpositionen an der Debatte – „Postmodernisten“ und „optimistische Realisten“ ebenso wie „Postparadigmatisten“, deren Arbeiten vom Streben nach einer (produktiven) Überwindung von zu eng gezogenen Grenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen innerhalb des Faches gekennzeichnet sind.4 Trotz der meist recht schlüssigen und für sich genommen durchaus überzeugenden Argumentation handelt es sich bei den bislang vorgelegten Arbeiten, die als eine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation aufgefasst werden können, fast ausnahmslos entweder um Aufsätze, deren Verfasser primär darauf zielen, den aktuellen politischen Diskurs auf 3 Vgl. Kenneth N. Waltz (2000): Structural Realism after the Cold War, in: International Security, 25: 1, S.5-41, hier: S.19. 4 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass rein völkerrechtliche oder organisationssoziologische Antwortversuche auf die vorliegende Fragestellung nicht in dieser Arbeit berücksichtigt werden. Der Vorwurf, eine zu enge politikwissenschaftliche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand gewählt zu haben, sollte sich gleichwohl als ungerechtfertigt erweisen (vgl. etwa die Kapitel 3 und 4).
1.1 Erörterung der Fragestellung
13
der Grundlage einer privilegierten Sprecherposition in eine den eigenen Überzeugungen entsprechende Richtung zu lenken, oder um Forschungsleistungen, die auf dezidiert subsumtionslogische Art und Weise zustande gekommen sind. Darunter ist zu verstehen, dass der Untersuchungsgegenstand nicht von innen heraus aufgeschlossen, also nicht rekonstruktionslogisch erforscht, sondern unter Kategorien subsumiert wird, die formuliert wurden, bevor eine detaillierte Auseinandersetzung mit konkreten Erfahrungsdaten des Untersuchungsgegenstands stattgefunden hat. Die Möglichkeit, anhand einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit seinen Manifestationen zu neuen Erkenntnissen über den Forschungsgegenstand zu gelangen, wird somit deutlich erschwert. Stattdessen wird der Forschungsprozess (fast wie bei einer Wette) auf die Frage reduziert, ob die vorab getroffenen Annahmen zutreffen oder nicht. Auch bald zwei Jahrzehnte nachdem sein einstiger Gegner die Bühne der Weltpolitik verlassen hat, stellt das Überdauern des transatlantischen Bündnisses somit einen nicht nur theoretisch, sondern auch methodisch spannenden, höchst umstrittenen Fall dar. Weil das „Rätsel“ der NATO, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihres Fortbestands nach dem Ende der Blockkonfrontation, also noch immer hinreichend Raum für eine kreative Bearbeitung bietet, soll es im Rahmen der vorliegenden Arbeit zugleich darum gehen, eine gegenstandsbezogene Alternative zur größtenteils positivistisch verfahrenden Forschung in den Internationalen Beziehungen zu entwickeln. Um diesen Anspruch überhaupt einlösen zu können, ist es zunächst angezeigt, die Kernidee positivistischer Sozialforschung zu skizzieren. Diese besteht im Streben nach empirischen Generalisierungen über die Phänomene der gesetzesförmig organisierten sozialen Welt. Mit anderen Worten: Es geht darum, mithilfe von abhängigen und unabhängigen Variablen nach über Zeit stabilen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu suchen, die in die Form von Erklärungen und (vor allem?) von Prognosen gebracht werden können. Während die auf diesem Wege gewonnenen und nicht selten als „wissenschaftlich gesichert“ angesehenen Ergebnisse dann gerne für eine technokratische Bevormundung der sozialen (und insbesondere der politischen) Praxis genutzt werden, ist die hier vorgeschlagene alternative Vorgehensweise auf anderen Idealen gegründet. So wird der Annahme der Gesetzesförmigkeit der sozialen Welt die Prämisse von deren grundsätzlicher Kontingenz entgegengestellt. Aufgrund ihrer Reflexionsfähigkeit ist es Menschen, die als per se in einen sozialen Zusammenhang eingebettet gelten, möglich, bestehende Strukturen aufzubrechen und Neues hervorzubringen. An die Stelle empirischer Generalisierungen treten somit die Reproduktion und Transformation von (Sinn-) Strukturen, die als intersubjektiv vermittelte Bedeutungsgehalte verstanden werden. Dass sich Transformationen empirisch weitaus seltener ergeben als Reproduktionen, mag erklären helfen, warum Letztere bisweilen für gesetzesförmig gehalten werden, ficht die Annahme der prinzipiellen Veränderbarkeit der sozialen Welt gleichwohl nicht an.5
5 Dass die permanente Möglichkeit einer Transformation von Strukturen die sozialwissenschaftliche Prognosefähigkeit stark beeinträchtigt, liegt nahe. Um auch auf der Grundlage nicht-positivistischer Forschung dennoch Vorhersagen treffen zu können, unterscheidet Hellmann – unter Verweis auf Geoffrey Hawthorn – zwischen allen möglichen und vielen plausiblen Zukünften (vgl. Gunther Hellmann (2006): A Brief Look at the Recent History of NATO’s Future, in: Ingo Peters (Hg.): Transatlantic Tug-of-War. Prospects for US-European Cooperation (Festschrift in Honor of Helga Haftendorn), Münster: Lit-Verlag, S.181-215, hier: S.207/08). Wie aus Kapitel 10 hervorgehen wird, hält sich der Autor der vorliegenden Arbeit mit Blick auf Prognosen eher bedeckt. Dass in diesen Dingen besser geübte Kolleginnen und Kollegen auf der Grundlage der hier rekonstruierten Ergebnisse mutigere
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1. Einleitung
Darüber hinaus wird der Versuch, die soziale Welt mithilfe von (abhängigen und unabhängigen) Variablen zu erfassen – ein Vorhaben, das in aller Regel in einer bloßen Subsumtion des Forschungsgegenstands unter vorab formulierte und von außen an ihn herangetragene Kategorien mündet –, durch eine gewissermaßen von innen nach außen operierende Vorgehensweise ersetzt. Deren Ziel besteht in einer Rekonstruktion der sich beständig in einem Prozess der Reproduktion oder Transformation befindenden intersubjektiv vermittelten Sinnstrukturen, welche die zu analysierende Manifestation des Forschungsgegenstands konstituiert und im Sinne eines Musters wiedererkennbar charakterisiert. Die radikale Offenheit dieses Forschungsprozesses, der an den Idealen der Transparenz und der intersubjektiven Nachprüfbarkeit orientiert ist, ermöglicht es, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die vorab gar nicht (in Form einer zu testenden Hypothese oder einer zu erhebenden Variable zum Beispiel) hätten formuliert werden können. Dass die Geduld des Lesers im Rahmen dieses Vorgehens mitunter auf eine harte Probe gestellt wird, bleibt nicht aus.
1.2 Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist in elf Kapitel gegliedert, die sich auf vier Abschnitte verteilen. Bei diesen handelt es sich um die Einführung (I, Kapitel 1 und 2), die Vorbereitung des Forschungsprozesses (II, Kapitel 3 und 4), die Durchführung der Untersuchung (III, Kapitel 5-9) und das Fazit (IV, Kapitel 10 und 11). Im Anschluss an dieses Einleitungskapitel, das in erster Linie dem Zweck dient, die Forschungsfrage zu erörtern und den Leser damit vertraut zu machen, worin das zu lösende Rätsel besteht und auf welche Art und Weise es „gelöst“ werden soll, wird in Kapitel 2 der Forschungsstand zur Frage des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation dargestellt. Den Anfang machen dabei die Positionen der Neorealisten und der neoliberalistischen Institutionalisten, die sich im Rahmen der so genannten Neo-Neo-Debatte gegenüberstehen. Während die Neorealisten davon ausgehen, dass die Tage des atlantischen Bündnisses (als einer effektiven Organisation) gezählt sind, halten die Neoinstitutionalisten, die in einen eher ökonomisch und einer eher politisch argumentierenden Flügel unterteilt werden können, daran fest, dass (internationale) Institutionen auch dann fortbestehen und zur Lösung von Handlungsproblemen der Beteiligten beitragen können, wenn der Grund für ihre Schaffung entfallen ist. Nach der Präsentation von Versuchen, eine Synthese aus Realismus und Institutionalismus zu bilden, wird die „reflektivistische Herausforderung“ dieser beiden Varianten des rationalistischen Paradigmas in den Internationalen Beziehungen vorgestellt. Hierzu zählen in erster Linie jene liberalistischen Wertegemeinschaftskonstruktivisten, die in der atlantischen Allianz einen Zusammenschluss auf der Basis gemeinsamer liberaler und demokratischer Werte erkennen. Solche Realisten, die eine Zunahme transatlantischer Wertedifferenzen beobachten, gehören ebenso in diesen Kontext wie die Wertegemeinschaftsverfechter der zweiten Generation, die vor allem die diskursive bzw. praktische Erzeugung der atlantischen Wertegemeinschaft betonen.
Vorhersagen zu formulieren imstande sind, ist indes recht plausibel; denn bei der Formulierung von Prognosen handelt es sich nicht um eine Funktion des Forschungsdesigns.
1.2 Gang der Untersuchung
15
Darauf folgen die Einschätzungen von drei Gruppierungen, die nicht unmittelbar im Zentrum der Debatte stehen. Dies sind die klassischen Liberalisten, die den Fokus auf die Binnenentwicklung der beteiligten Staaten legen, die optimistischen Realisten, die den Fortbestand der NATO für möglich (und wünschbar) erachten, und die Postmodernisten, die, ähnlich den Wertegemeinschaftsverfechtern der zweiten Generation, soziologisch und sprachwissenschaftlich informierte Arbeiten zum Thema beisteuern. Am Ende der Darstellung stehen postparadigmatistische Ansätze, deren Vertreter darum bemüht sind, die Grenzen zwischen den theoretischen Strömungen der Internationalen Beziehungen zu überwinden. Vor dem Hintergrund der Vielstimmigkeit der angebotenen Antworten auf die Forschungsfrage, vor allem aber im Lichte der handwerklichen Einseitigkeit von deren fast ausnahmslos positivistischer, empiristischer oder schlichtweg ideologischer Bearbeitung, ist der aus den Kapiteln 3 und 4 bestehende zweite Abschnitt der vorliegenden Arbeit der gründlichen Vorbereitung eines alternativen Forschungsprozesses gewidmet. Dieser beruht auf der Idee, das Rätsel des Fortbestands der NATO auf dem Weg der Interpretation von Texten zu lösen – auf dem Weg der Interpretation von Texten gemäß den regulativen Prinzipien der „objektiven Hermeneutik“. Kapitel 3 dient daher dem Ziel einer umfassenden Erörterung des (sozial-) theoretischen Fundaments und der Verfahrensweisen dieser Methodologie, die unter Federführung des Soziologen Ulrich Oevermann im Kontext der Bearbeitung sozialisationstheoretischer Fragen in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Während sich das Adjektiv im Namen der objektiven Hermeneutik auf den Untersuchungsgegenstand bezieht, den der Forscher bei der Analyse in Form von zu rekonstruierenden latenten Sinn- und objektiven Bedeutungsstrukturen vor sich hat, liegt der Methodologie ein erweiterter Textbegriff zugrunde. Dass im Laufe der vorliegenden Arbeit nur schriftsprachliche Texte im engeren Sinne – Verlautbarungen des Nordatlantikrats als dem höchsten Entscheidungsgremium des Bündnisses – untersucht werden, ändert nichts daran, dass mithilfe der Verfahren der objektiven Hermeneutik alles, was Sinn und Bedeutung hat, als Text untersucht werden kann. Zu den konstitutiven Prinzipien der objektiven Hermeneutik gehören die Transparenz und intersubjektive Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses sowie ein streng rekonstruktionslogisches Vorgehen. Letzteres äußert sich in dem Anspruch, den Gegenstand in der Sprache des Falles und nach Möglichkeit ohne die Verwendung fallspezifischen Vorwissens von innen heraus aufzuschließen. Zu diesem Zweck wird der zu untersuchende Text in seine kleinsten Sinn und Bedeutung tragenden Partikel zerlegt und Sequenz für Sequenz interpretiert. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass im Verlauf des Forschungsprozesses lediglich vorab formuliertes gegenstandsspezifisches Wissen reproduziert wird; im Modus einer „tabula rasa“ erfolgt die Untersuchung gleichwohl nicht. Darüber hinaus geht einer (Text-) Analyse gemäß den Verfahren der objektiven Hermeneutik stets die Einrichtung des Untersuchungsgegenstands voraus. Dieser Schritt, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit in Kapitel 4 vollzogen wird, dient in erster Linie einer Bestimmung der Datentypen, die detailliert erforscht werden sollen. Im Grunde genommen geht es dabei also um eine Antwort auf die Fragen, was der Fall ist, woraus das Universum der Fälle besteht und nach welchen Kriterien die Auswahl der Fälle vorgenommen wird. Die Bestimmung des Datentyps, der am besten für eine Untersuchung geeignet ist, erfolgt auf der Grundlage eines heuristischen Modells des politischen Prozesses innerhalb der NATO, das es ermöglicht, die Ebene des dem Bündnis zuschreibbaren Handelns von der
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1. Einleitung
Ebene jener individuellen (Sprech-) Akte zu unterscheiden, die von den Vertretern der Mitgliedstaaten in ihrer „nur“ nationalen Rolle getätigt werden. Aufgrund ihrer kollektiven Verbindlichkeit erweisen sich die vom Nordatlantikrat, dem Quasigesetzgeber der Allianz, veröffentlichen Dokumente als Datentyp erster Wahl. Zur Bestimmung der konkreten Untersuchungsobjekte wird (ebenfalls in Kapitel 4) das Kriterium der pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle entwickelt. Da sich zentrale Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO in jedem ihr zuschreibbaren Akt finden lassen sollten, kann es – zumindest unter der Bedingung einer Analyse verbindlicher Dokumente der höchsten Entscheidungsgremien – prinzipiell als bedeutungslos angesehen werden, welche Fälle ausgewählt werden. Das Fallauswahlkriterium stellt also vor allem ein Zugeständnis an die eher positivistisch geprägte Mehrheit der Vertreter der Internationalen Beziehungen dar. Es dient dem Ziel, dem Vorwurf entgegenzuwirken, die interpretierten Fälle oder Texte könnten im Lichte des Interesses an einer Bestätigung eigener theoretischer Präferenzen (manipulativ) ausgewählt worden sein. Gleichzeitig steigert es jedoch auch das Fallibilitätspotential der Untersuchungsreihe, d.h. es erhöht die Chance, dass sich die in einer Analyse gewonnenen Teilergebnisse als fallibel erweisen. Konkret besagt das Kriterium einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle, dass zwischen dem Teilergebnis des zuletzt analysierten Falles, das als am relevantesten oder spannendsten eingeschätzt wird, und dem Fall, der als nächstes untersucht werden soll, ein möglichst maximaler Kontrast bestehen möge. Dass sowohl die Einschätzung der Relevanz der erzielten Ergebnisse als auch die Vorabeinschätzung des Folgefalles auf Vorwissen verweist, sei es in der Form von allgemeinen Überlegungen oder von Kenntnissen über den Forschungsstand, befindet sich gleichwohl nicht in Widerspruch zum Prinzip einer rekonstruktiven, auf die Operationalisierung von Vorwissen über den Gegenstand verzichtenden Analyse. Die Auswahl eines Falles darf nicht mit dessen Untersuchung verwechselt werden. Die Festlegung der Fallzahl auf einen Wert > 1 dient schließlich dazu, den Gebrauch der (in sozialisationstheoretischen Kontexten entwickelten) Verfahren der objektiven Hermeneutik an makrosoziale Fragestellungen anzupassen. So wird es möglich, die Gegenstandsadäquatheit des Forschungsprozesses zu erhöhen und Entwicklungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu erfassen. Insgesamt sollen in dieser Arbeit fünf „Fälle“ untersucht werden. Die Durchführung der Untersuchung erfolgt dann im dritten Abschnitt der Arbeit, der aus den Kapiteln 5-9 besteht. Hier erfolgt die Analyse von fünf Dokumenten, die den höchsten Entscheidungsgremien der NATO zugeschrieben werden können. Bei diesen handelt es sich um den am 4. April 1949 unterzeichneten Nordatlantikvertrag (Kapitel 5; Fall 1: Nordatlantikvertrag), ein am 30. Mai 1995 vom Nordatlantikrat herausgegebenes Kommuniqué zur Situation im ehemaligen Jugoslawien (Kapitel 6; Fall 2: Bosnien), einen Auszug aus der Rigaer Gipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs vom 29. November 2006 (Kapitel 7; Fall 3: Strukturreform), ein „Entscheidungsblatt“ des Verteidigungsplanungsausschusses vom 16. Februar 2003 über die Unterstützung der Türkei (Kapitel 8; Fall 4: Irak) und schließlich um den Anfang des Washingtoner Gipfelkommuniqués der Staats- und Regierungschefs vom 24. April 1999 (Kapitel 9; Fall 5: 50 Jahre NATO). Im unmittelbaren Anschluss an jede der fünf Analysen werden deren zentrale Befunde zusammengefasst. Dies erfolgt entlang der die untersuchten Dokumente prägenden Handlungsprobleme und Hand-
1.3 Besondere Sprachregelungen
17
lungsregeln. Letzteren folgen, bewusst oder unbewusst, die Träger der politischen Verantwortung für den Inhalt der Dokumente, um ein von ihnen wahrgenommenes (und gemeinsam adressiertes) Handlungsproblem zu lösen. Auf der Grundlage der Zusammenfassungen der fünf Analysen wird in Kapitel 10, der ersten Hälfte des vierten und letzten Teils der Arbeit, die Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation beantwortet. Dazu sind fünf Schritte erforderlich. Nach einer Darstellung der im Rahmen der Teilanalysen rekonstruierten Handlungsprobleme und der dazugehörigen Handlungsregeln werden die Zusammenhänge zwischen den Handlungsproblemen sowie Auffälligkeiten in Bezug auf deren chronologische Entwicklung diskutiert. In einem dritten Schritt werden die Befunde mit dem Ergebnis der Untersuchung des Nordatlantikvertrages abgeglichen, bevor die Teilresultate an den Forschungsstand zurückgebunden werden. Im Lichte dieser Gesamtschau der insgesamt fünf rekonstruierten Handlungsprobleme – dem Entwurf eines Selbstbildes, der Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung, der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, dem Nachweis der Legitimität und der Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen – kann die Forschungsfrage schließlich beantwortet werden. Den zweiten Teil des Fazits und zugleich das Ende der vorliegenden Arbeit markiert Kapitel 11. Mit der Rekonstruktionsmethodologie der objektiven Hermeneutik und dem Prinzip der pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle werden darin die beiden mutmaßlich innovativsten Aspekte auf der Ebene der Methodologie noch einmal kritisch beleuchtet.
1.3 Besondere Sprachregelungen Die vorliegende Arbeit enthält einige besondere Sprachregelungen, über die vorab aufzuklären den Vorteil hat, diesbezügliche Irritationen der Leser zu reduzieren. So ist zuallererst zuzugestehen, dass im Folgenden darauf verzichtet wird, männliche Formen eines personalisierten Substantivs um deren weibliche Pendants zu ergänzen. Statt der Vertreterinnen und Vertreter, der Vertreter/-innen oder der VertreterInnen (einer theoretischen Strömung der Internationalen Beziehungen, zum Beispiel) wird in der Regel allein von den Vertretern die Rede sein. Dass damit immer auch die Vertreterinnen gemeint sein sollen, hat in erster Linie pragmatische Gründe und sollte nicht als politische Stellungnahme verstanden werden. Der Autor dieser Arbeit ist sich bewusst, dass die Beherrschung des weiblichen durch das männliche Geschlecht eines der stabilsten Muster der Weltgeschichte darstellt. Allein, ob es hilfreich ist, die strukturelle Benachteiligung der weiblichen Hälfte der Menschheit mithilfe von tendenziell technokratischen Eingriffen in die (Schrift-) Sprache verbessern zu wollen, wird hier bezweifelt. Darüber hinaus wird die Auseinandersetzung zwischen den „Supermächten“, welche die Weltpolitik in den Jahren von 1945 bis 1989/91 entscheidend prägte, im Folgenden weder als „Kalter Krieg“ noch als „Ost-West-Konflikt“ bezeichnet. Als das kleinere Übel soll stattdessen der Ausdruck „Blockkonfrontation“ gelten, der auf die Teilung der Welt in konkurrierende Machtblöcke verweist. Neben den beiden Blöcken, die von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion samt ihren jeweiligen Verbündeten gebildet wurden, kann so auch die sich im Zuge der Dekolonisierung als dritte Kraft etablierende Bewegung der
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1. Einleitung
„Blockfreien Staaten“ begrifflich erfasst werden. Gegen die Bezeichnung „Kalter Krieg“ spricht, dass damit am treffendsten einzelne Phasen im Laufe der insgesamt viereinhalb Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung benannt werden – so etwa die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Auseinanderbrechen der Viermächtekoalition bis zum Beginn des so genannten „Tauwetters“ nach Stalins Tod 1953, die Krisen um Berlin und Kuba in den frühen 1960er Jahren oder die erneute Verschärfung der Gegensätze im Zuge der Nachrüstungsdebatte und des Einmarschs sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979. Angesichts der geographischen Lage von Kuba im Westen und der von Japan und Südkorea im Osten spricht gegen den Namen „Ost-West-Konflikt“ derweil vor allem dessen Ungenauigkeit.6 Weiterhin sei angemerkt, dass, obwohl die Internationalen Beziehungen hier als Teildisziplin der Politikwissenschaft verstanden werden, der Einfachheit halber mitunter auf beide als „Fach“ rekurriert wird. Die zugrundegelegte Relation zwischen Teil und Ganzem soll damit gleichwohl nicht außer Kraft gesetzt werden. Dass die NATO zudem häufiger als „Bündnis“ denn als „Allianz“ bezeichnet wird, ist indes keine theoretische Vorentscheidung zugunsten einer Charakterisierung des atlantischen Zusammenschlusses, die gemeinsame Werte stärker betont als gemeinsame Interessen. Überdies wird hier bei geographischen Eigennamen im Genitiv kein „s“ angehängt; statt „des Nordatlantiks“ heißt es also stets „des Nordatlantik“. Auch werden verdinglichende und vermenschlichende Formulierungen nach Möglichkeit vermieden. Sollte dem Bündnis anstelle der Wendung „der NATO zuschreibbare Tätigkeiten“, die in Kapitel 4 eingeführt wird, dennoch ab und an Akteursstatus in der Form „Die NATO handelt“ eingeräumt werden, so ist dies allein einer Vereinfachung des Satzbaus geschuldet und stellt keine Revision der im Rahmen der Einrichtung des Untersuchungsgegenstandes folgenden Überlegungen dar. Schließlich wird auf ein Abkürzungsverzeichnis verzichtet. Zum einen sind die Großbuchstabenkombinationen NATO, UN und EU so gängig, dass sie keiner Erklärung bedürfen, zum andern werden weniger gebräuchliche Abkürzungen, wenn überhaupt, erst dann verwendet, nachdem sie in ausgeschriebener Form im Text erläutert worden sind. Dass auf die Vereinten Nationen und ihre Organe nicht mithilfe des Kürzels „VN“, sondern vermittels der englischen Variante „UN“ verwiesen wird, möge dem Autor nachgesehen werden. Der Leser sei jedoch versichert, dass Anglizismen im Rahmen der vorliegenden Arbeit ansonsten nach Möglichkeit vermieden werden.
6 Für eine sehr instruktive Diskussion einer anderen ebenso populären wie problematischen Benennung eines Konflikts mithilfe einer geographischen Formel siehe Julian Eckl/Ralph Weber (2007): North-South? Pitfalls of dividing the world by words, in: Third World Quarterly, 28: 1, S.3-23. Julian Eckl sei an dieser Stelle zugleich für seine Anregung gedankt, das NATO-Rätsel als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihres Fortbestands zu konzeptualisieren. Auf diese Weise wird es nicht nur möglich, dem heiklen Dualismus zu entgehen, der in den Internationalen Beziehungen zwischen klassische Kausalität suggerierenden Warum-Fragen und sich auf Praktiken kaprizierenden Wie-Fragen besteht, sondern auch, den erkenntnistheoretischen Implikationen der dieser Arbeit zugrunde liegenden Vorgehensweise besser gerecht zu werden (vgl. Kapitel 3 und 4).
2 Darstellung des Forschungsstands
Das Einleitungskapitel hat bereits deutlich gemacht, dass die Formulierung einer Forschungsfrage nicht losgelöst von der Entwicklung der theoretischen Strömungen jenes Faches erfolgt, zu dem die Beantwortung dieser Frage einen Beitrag leisten soll. Fraglichkeiten werden stets im Lichte einer bestimmten (Forschungs-)Perspektive aufgeworfen, während sie sich auf Basis einer konkurrierenden Betrachtungsweise möglicherweise gar nicht stellen würden. Wenn die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation hier also als ein „Rätsel“ bezeichnet wird, handelt es sich dabei immer schon um ein Tribut an den (neo-)realistischen Theoriestrang innerhalb der Internationalen Beziehungen. Denn noch bevor sich die Sowjetunion im Dezember 1991 auflöste, waren es Vertreter dieser Richtung, die das Szenario eines Niedergangs des atlantischen Bündnisses für den Fall einer Beendigung des „Kalten Krieges“ entworfen hatten.1 Aufgrund des langjährigen Übergewichts des (Neo-)Realismus – zumindest in den das Fach ihrerseits langjährig dominierenden Vereinigten Staaten2 – sollte es allerdings gerechtfertigt sein, den Topos vom „Rätsel“ des NATO-Fortbestands aufzugreifen, ohne deshalb sogleich als ein Anhänger dieses Paradigmas zu gelten. Vor diesem Hintergrund macht es die Verankerung der Forschungsfrage in einer Disziplin erforderlich, zunächst einmal solche Arbeiten in den Blick zu nehmen, die sich bereits an einer Antwort versucht haben. Nur so können die eigenen Ergebnisse später überhaupt an den Fachdiskurs angebunden werden. Diese Verpflichtung zieht jedoch zwei grundlegende Fragen nach sich. Erstens muss geklärt werden, auf der Grundlage welcher Kriterien die schon bestehenden Antworten auszuwählen sind und zweitens, nach welchem Gestaltungsprinzip dann deren Darstellung organisiert werden soll. Hinsichtlich der ersten dieser Fragen liegt es nahe, vor allem die Fachkollegen im engeren Sinne zu Wort kommen zu lassen – jene Vertreter der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internatonalen Beziehungen also, die sich der Entwicklung des atlantischen Bündnisses nach 1989/91 angenommen haben. Die Publikationen der einschlägigen NATO-Spezialisten machen daher den Löwenanteil der konsultierten Fachliteratur aus. Darüber hinaus werden jedoch auch Arbeiten berücksichtigt, deren Hauptaugenmerk auf die transatlantischen Beziehungen in toto oder auf die Strategiedebatte in den Vereinigten Staaten gerichtet ist. Ebenso wie allianztheoretische Ansätze allgemeiner Art spielen sie aber nur dann eine Rolle, wenn sie explizit zur Herleitung von Argumenten im Rahmen der Auseinandersetzung um den Fortbestand der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation dienen. Was nun zweitens die Bestimmung eines Gestaltungsprinzips betrifft, so erfolgt die Präsentation des gegenwärtigen Stands der Forschung in Anlehnung an Strukturierungsvorschläge von Ole Wæver, Gunther Hellmann und Harald Müller. Wæver zufolge mündete 1 Vgl. etwa John J. Mearsheimer (1990): Back to the Future. Instability in Europe After the Cold War, in: International Security, 15: 1, S.5-56, hier: S.5 und Kenneth N. Waltz (1991): Statement, in: Relations in A Multipolar World. Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States Senate, 101st Congress, 2nd Session, Nov. 26, 28 and 30, 1990 Part 1. Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, S.208-224, hier: S.210. 2 Vgl. Ole Wæver (1998): The Sociology of a Not So International Discipline. American and European Developments in International Relations, in: International Organization, 52: 4, S.687-727.
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2. Darstellung des Forschungsstands
die dritte große Debatte in den Internationalen Beziehungen – die so genannte Interparadigma-Debatte zwischen Realisten, Liberalisten und „Radikalen“ bzw. Marxisten – im Laufe der 1980er Jahre in eine heftige Kontroverse zwischen Neorealisten und neoliberalistischen Institutionalisten, die auch als Neo-Neo-Debatte bekannt wurde.3 Im Zuge einer wachsenden Sensibilität für ontologische, epistemologische und methodologische Fragen verschoben sich die Fronten in den späten 1990er Jahren dann abermals, als von der Intensität der Neo-Neo-Debatte marginalisierte Stimmen, nicht zuletzt Poststrukturalisten in der Nachfolge der „radikalen“ Widersacher von Realismus und Liberalismus, gegen die sich zu verfestigen drohende Vorherrschaft dieser beiden Strömungen Position bezogen. Zur semantischen Verdeutlichung der neuen innerdisziplinären Konfliktlinie werden neorealistische und neoliberalistische Ansätze seither häufig auch als rationalistisches Paradigma der Internationalen Beziehungen bezeichnet, wohingegen dessen Herausforderer unter dem Label Reflektivismus oder „Konstruktivismus“ (streng genommen einem Sammelbegriff für primär soziologisch beeinflusste (Meta-) Theoriebildung in den IB) zusammengefasst werden.4 Gleichzeitig orientiert sich die Darstellung an Hellmanns Kritik einer Überbetonung der Grenzen zwischen den einzelnen Paradigmen der Internationalen Beziehungen, die sich exemplarisch an der Debatte um den Fortbestand der NATO festmachen lasse. Auf diese Weise wird es schließlich möglich, Müllers eher konventionelle Einteilung der die sicherheitspolitische Zusammenarbeit von Staaten thematisierenden Ansätze in die fünf Theoriestränge Realismus, (Neo-) Institutionalismus, Liberalismus, Konstruktivismus und Postmodernismus, an der zunächst zumindest im Kern festgehalten wird, zu überwinden.5 Auf der Grundlage der Überlegungen von Wæver, Hellmann und Müller erfolgt die Präsentation des Forschungsstands in vier Etappen. Den Anfang bildet jener Teil der NeoNeo-Debatte, der die Zukunft des transatlantischen Bündnisses zum Gegenstand hat (2.1). Neben den weitgehend paradigmatistischen Positionen der – „NATO-pessimistischen“ – Neorealisten (2.1.1) und ihrer optimistischeren Widersacher, den neoliberalistischen Institutionalisten (2.1.2), die in einen eher ökonomisch und einen eher politisch argumentierenden Flügel unterteilt werden können, umfasst dieser Abschnitt auch solche Versuche, die auf dem Wege einer Synthese von Realismus und Institutionalismus – zumindest tendenziell – nach einer Überwindung enger Paradigmengrenzen streben (2.1.3). Danach wird die reflektivistische Herausforderung der beiden Varianten des rationalistischen Paradigmas in den Blick genommen (2.2). Einer Darlegung der Argumente jener „liberalistischen Wertegemeinschaftskonstruktivisten“, die in der NATO in erster Linie den Zusammenschluss liberaler Demokratien sehen (2.2.1), folgen die bisweilen als Antwort darauf zu lesenden Positionen solcher Realisten, die – spürbar weniger paradigmatistisch gesinnt als ihre orthodox 3
Vom gängigen Sprachgebrauch in den Internationalen Beziehungen abweichend, ist hier nicht von liberalen oder neoliberalen, sondern stets von liberalistischen oder neoliberalistischen Ansätzen die Rede. Die theoretische Position innerhalb einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung soll auf diese Weise klarer von einer politischen Haltung unterschieden werden. 4 Vgl. Ole Wæver (2004): Isms, paradigms, traditions and theories – but why also ‘schools’ in IR? Prolegomena to a Posthumous Textbook: How should we teach (IR?) theory in a post-international age?, Paper prepared for the Standing Group on International Relations (ECPR), 5th Pan-European International Relations Conference, The Hague, September 9-11, 2004. 5 Vgl. Gunther Hellmann (2006): A Brief Look at the Recent History of NATO’s Future, in: Ingo Peters (Hg.): Transatlantic Tug-of-War. Prospects for US-European Cooperation (Festschrift in Honor of Helga Haftendorn). Münster: Lit-Verlag, S.181-215 und Harald Müller (2002): Security Cooperation, in: Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth A. Simmons (Hg.): Handbook of International Relations. London: Sage, S.369-391.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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neorealistischen Kollegen – eine Zunahme transatlantischer (Werte-) Differenzen konstatieren (2.2.2). Stimmen, welche die (habituelle) Institutionalisierung der friedlichen Konfliktlösung unter den Mitgliedern der atlantischen Wertegemeinschaft und andere Implikationen von deren praktischer bzw. diskursiver Erzeugung in den Vordergrund stellen, komplettieren die zweite Etappe der Darstellung des Forschungsstands (2.2.3). Den dritten Abschnitt bildet sodann die Präsentation solcher „Zwischentöne“, die sich nicht unmittelbar im Zentrum der Auseinandersetzung um den Fortbestand der NATO befinden (2.3). Zu dieser Gruppe zählen die den Fokus auf innerstaatliche Entwicklungen legenden klassischen Liberalisten (2.3.1), die optimistischen Realisten (2.3.2) und die Postmodernisten (2.3.3). Letztere vereinen soziologisch und sprachwissenschaftlich informierte Arbeiten zum Thema und weisen daher eine gewisse Affinität zur zweiten Stufe des Wertegemeinschaftsansatzes auf. Im Anschluss daran erfolgt mit der Vorstellung der postparadigmatistischen Ansätze die vierte und letzte Etappe der Darstellung (2.4), ehe die wichtigsten Implikationen des Kapitels zusammengetragen werden (2.5). Nachdem nun also geklärt werden konnte, welche der schon bestehenden Antworten auf die Forschungsfrage ausgewählt und nach welchem Gestaltungsprinzip sie dargestellt werden sollen, bleibt nur noch darauf hinzuweisen, dass bei der Zuordnung der Autoren zu den einzelnen Abschnitten primär argumentationslogische Zusammenhänge im Vordergrund stehen. Über die Einteilung entscheiden in der Regel nicht etwaige Selbstzuschreibungen, sondern die Anschlussfähigkeit der vorgebrachten Argumente an bestehende theoretische Strömungen. Mit diesem Vorgehen korrespondiert, dass der Darstellung – wie (implizit) auch bei Wæver – ein zweiphasiger Debattenbegriff zugrunde liegt. Als Debatte gilt hier nicht erst das Vorliegen einer offenen Auseinandersetzung im Sinne von Rede und Gegenrede – wie dies am deutlichsten anhand der Neo-Neo-Debatte in der Zeitschrift International Security beobachtet werden kann –, sondern bereits das von der Intention eines Autors, eine Debatte führen zu wollen, unabhängige, bloße Vorhandensein von aufeinander beziehbaren kontroversen Argumenten im Diskursraum der Internationalen Beziehungen.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus Vor dem Hintergrund des Epochenbruchs von 1989/91 streiten Neorealisten und neoliberalistische Institutionalisten seit Beginn der 1990er Jahre heftig über die Zukunft der NATO. Der Fortbestand des atlantischen Bündnisses ist dabei schnell in das Zentrum einer theoretischen Auseinandersetzung geraten, die – nach ihren Protagonisten – auch als Neo-NeoDebatte bekannt wurde. Während namhafte Neorealisten sehr bald einen letztlich in ihrer Auflösung mündenden Reputations- und Bedeutungsverlust der NATO prophezeiten, da dem Bündnis mit dem Bedrohungspotential der Sowjetunion sein es allein zusammenhaltender „Kitt“ abhanden gekommen sei, zeigen sich die Anhänger des neoliberalistischen Institutionalismus sehr viel optimistischer. Unter der Bedingung gemeinsamer Interessen der beteiligten Staaten könnten Institutionen wie die NATO auch dann fortbestehen, wenn der Grund für ihre Errichtung entfallen sei. Institutionen dienten nicht bloß staatlichen Interessen, sondern seien auch zu deren Beeinflussung in der Lage.6 Im Folgenden werden 6 Eine gute Einführung bieten nach wie vor Gunther Hellmann/Reinhard Wolf (1993): Neorealism, Neoliberal Institutionalism and the Future of NATO, in: Security Studies, 3: 1, S.3-43 und dies. (1993): Wider die schlei-
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2. Darstellung des Forschungsstands
nun die Positionen der Neorealisten, zwei Varianten des neoliberalistischen Institutionalismus und Versuche einer Synthese aus beiden Ansätzen dargestellt.
2.1.1 Neorealismus Im Zentrum der neorealistischen Argumentation steht die Struktur des anarchischen, also über keine effektive zentrale Erzwingungsgewalt verfügenden, internationalen Systems. Während die Stabilität der NATO zu Zeiten der Blockkonfrontation als ein Produkt der bipolaren Systemstruktur verstanden wird, die gemeinsame Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten nach sich gezogen habe, sei es nach der Auflösung der Sowjetunion nur eine Frage der Zeit, bis das internationale System in einen multipolaren Zustand überwechsle und die NATO zusammenbreche.7 Die Jahre des atlantischen Bündnisses seien gezählt, verkündete Kenneth Waltz, die Galionsfigur des strukturellen Realismus, daher bereits im November 1990 im Rahmen einer Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuss des USSenats.8 Als Stabilisator in Zeiten schnellen Wandels hätte die Fortführung der NATO für eine Übergangsperiode zwar noch Sinn, nicht aber auf lange Sicht: Allianzen seien stets gegen eine wahrgenommene Bedrohung organisiert – die Sowjetunion, die das atlantische Bündnis geschaffen habe, sei nun aber zerfallen.9 Als die von ihm gewährte Übergangsfrist auch knapp ein Jahrzehnt nach dem Ende der bipolaren Ära noch nicht vorüber zu sein scheint und die NATO nicht nur noch immer besteht, sondern sogar neue Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa aufnimmt, schlägt Waltz forschere Töne an: „I expected NATO to dwindle at the Cold War’s end and ultimately to disappear. In a basic sense, the expectation has been borne out.“10
Das atlantische Bündnis, so Waltz, habe seinen Zweck überlebt. Da keine Antwort mehr auf die Frage möglich sei, gegen wen die NATO eine Garantie bilde, könne sie kein Garantievertrag mehr sein. Gleichzeitig erklärt Waltz das „Überleben“ und die Erweiterung der Institution damit, dass Menschen ihre Arbeitsplätze behalten wollten und die US-Regierung in der NATO ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Beherrschung der Außen- und Militärpolitik europäischer Staaten sähe. Als eine Militärallianz hätte die NATO allerdings nur solange bestanden, wie die Sowjetunion ihren Mitgliedern als eine direkte Bedrohung erschienen sei.11
chende Erosion der NATO: Der Fortbestand des westlichen Bündnisses ist nicht selbstverständlich, in: Jahrbuch für Politik, 1993, 3. Jg., 2. Halbband. Baden-Baden: Nomos, S.285-314. 7 Vgl. Glenn H. Snyder (1984): The Security Dilemma in Alliance Politics, in: World Politics, 36: 4, S.461-495, hier: S.485 und ders. (1990): Alliance Theory. A Neorealist First Cut, in: Journal of International Affairs, 44: 1, S.103-123, hier: S.121. 8 Vgl. Kenneth N. Waltz (1991): Statement, S.224. 9 Vgl. Kenneth N. Waltz (1993): The Emerging Structure of International Politics, in: International Security, 18: 2, S.44-79, hier: S.75/76. 10 Kenneth N. Waltz (2000): Structural Realism after the Cold War, in: International Security, 25: 1, S.5-41, hier: S.19. 11 Vgl. Kenneth N. Waltz (2000): Structural Realism, S.18-25.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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Ganz ähnlich argumentiert John Mearsheimer.12 Während das Zusammenwirken der drei Faktoren Bipolarität, militärisches Gleichgewicht und Existenz von Nuklearwaffen für die Stabilität der Jahre von 1945 bis 1990 gesorgt habe, ziehe das Ende des „Kalten Krieges“ und der damit einhergehende Übergang des internationalen Systems in einen Zustand der Multipolarität einen Anstieg der Kriegswahrscheinlichkeit in Europa nach sich. Die sowjetische Bedrohung habe die NATO zusammengehalten. Nach dem Ende der Blockkonfrontation in Form eines vollständigen Rückzugs der sowjetischen Truppen aus Osteuropa würden auch die USA ihre Soldaten aus Europa abziehen und sich die NATO auflösen: „NATO and the Warsaw Pact then dissolve; they may persist on paper, but each ceases to function as an alliance.“13
Stephen Walt bringt ebenfalls strukturelle Entwicklungen, die den Zusammenhalt der atlantischen Allianz unterminieren würden, in Anschlag.14 Neben der Abwesenheit einer Bedrohung, die in internem Konflikt resultiere, nennt er noch die Verlagerung der amerikanischen Aufmerksamkeit von Europa, das zunehmend als wirtschaftlicher Rivale angesehen werde, nach Asien sowie innenpolitische Veränderungen auf beiden Seiten des Atlantik – den Aufstieg einer neuen Politikergeneration und die Abnahme des Sinns für Gemeinsamkeiten etwa. Zwar sei die Struktur der NATO weitgehend intakt, die militärische Zusammenarbeit nehme jedoch ab. Auch wenn eine Fortsetzung der Vorherrschaft der USA in Verbindung mit dem hohen Institutionalisierungsgrad des Bündnisses geeignet sei, die NATO de facto am Leben zu erhalten, könne letztlich nur verzögert, nicht aber verhindert werden, dass innere und internationale Kräfte die transatlantische Allianz auseinander rissen. Ohne eine gemeinsame Bedrohung hätten die Verbündeten nicht mehr genügend Gründe, um sich zu einigen, so dass die NATO der Aufrechterhaltung ihrer organisatorischen Routinen zum Trotz „tot“ zu sein drohe, bevor dies überhaupt bemerkt werden würde. Varianten der Argumente von Snyder, Waltz, Mearsheimer und Walt finden sich auch bei einer Reihe anderer Autoren, die daher ebenfalls dem neorealistischen Spektrum zugeordnet werden können. So hält Meyer die Zeit der NATO in Anbetracht des veränderten Sicherheitsumfelds für abgelaufen – es bestehe heute kein legitimer Grund mehr für ihre Existenz. Nach dem Wegfall der es rechtfertigenden Bedrohung habe das Bündnis seine Relevanz verloren und sei keine Militärallianz mehr.15 Bei de Santis und Hughes heißt es, dass die NATO nach dem Ende der bipolaren Weltordnung nicht unbegrenzt fortbestehe, sondern überflüssig werde – ein Anachronismus, der schrittweise verschwinde. Eine gerechte transatlantische Lastenteilung, Sicherheit und Stabilität, sowie die – langfristig den geostrategischen Interessen der USA dienende – Selbstverantwortung Europas seien dage-
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Vgl. John J. Mearsheimer (1990): Back to the Future, S.5 und 52. John J. Mearsheimer (1990): Back to the Future, S.5. 14 Vgl. Stephen M. Walt (1997): Why Alliances Endure or Collapse, in: Survival, 39: 1, S.156-179 und ders. (1998/99): The Ties That Fray. Why Europe and America are Drifting Apart, in: The National Interest, 54, S.3-11. 15 Vgl. Steven E. Meyer (2003/04): Carcass of Dead Policies. The Irrelevance of NATO, in: Parameters. Journal of the US Army War College, 33: 4, S.83-97. 13
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2. Darstellung des Forschungsstands
gen am besten auf dem Wege einer gezielten Stärkung der Westeuropäischen Union erreichbar.16 Layne stützt seine Behauptung, dass die NATO als Militärallianz ausgedient habe, auf die Annahme, dass Bündnisse weder durch gemeinsame Werte noch durch eine geteilte Kultur, sondern durch gemeinsame Interessen zusammengehalten würden und dass das negative gemeinsame Interesse der atlantischen Verbündeten im „Kalten Krieg“ die Angst gewesen sei. Die angebliche neue NATO sei ein Misserfolg. Die mageren militärischen Fähigkeiten der Europäer zeigten dies ebenso wie die europäische Zurückhaltung im Umgang mit Bedrohungen außerhalb des Bündnisgebiets und das Bestreben der USA, ihre strategische Handlungsfähigkeit zu maximieren. Dass die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Erhaltung der NATO verfolgten, obwohl deren militärischer Nutzen abnehme, offenbare den hegemonialen Charakter der amerikanischen Großstrategie. Deren Ziel bestehe darin, Europa und insbesondere Deutschland zu kontrollieren und die strategische Autonomie Europas zu verhindern. Für die USA sei die neue NATO jedoch ein schlechter Tausch, da auf diesem Wege die Unterordnung Europas auf Dauer gestellt und die transatlantischen Beziehungen vergiftet würden.17 Rupp diagnostiziert ebenfalls einen abnehmenden Wert des atlantischen Bündnisses und führt dies darauf zurück, dass die Mitglieder keine Bedrohungswahrnehmung mehr miteinander teilten. Dies sei aber die entscheidende Bedingung der Kooperation. Ohne eine Einigung über die Hauptbedrohungen sei keine erfolgreiche Transformation der NATO möglich. Auch aufgrund der divergierenden militärischen Fähigkeiten und der Zunahme politischer Streitigkeiten gelte es daher, die zunehmende Ineffektivität des Bündnisses anzuerkennen und neue Sicherheitsarrangements zu schaffen. Zwar könnte die NATO noch lange Jahre fortbestehen, ihr Ende als effektive militärische Allianz sei jedoch gekommen.18 Konsequent als Militärallianz begreift auch Menon die NATO. Ihr schleichender Substanzverlust könne wirksam nur mithilfe einer Transformation der militärischen Fähigkeiten der europäischen Mitglieder aufgehalten werden. Ohne einen solchen Schritt sei das Bündnis nurmehr von geringer Bedeutung für die Sicherheitsinteressen der USA und nahezu irrelevant. Menon hält das Zeitalter der Eindämmungspakte aus der Zeit der Blockkonfrontation für beendet und sieht eine Ära flexibler Vereinbarungen heraufziehen. Im Unterschied zu den meisten Vertretern des neorealistischen Paradigmas räumt er allerdings ein, dass sich sein Argument als falsch herausstellt, falls auch im Jahr 2020 noch US-Truppen in Europa, Japan und Südkorea stationiert sein sollten.19 Beachtung verdienen überdies die Arbeiten von Krasner, Kahler und Link, die sich darum bemühen, innerhalb der Grenzen des neorealistischen Paradigmas eigene Akzente zu setzen. So prognostiziert Krasner eine Normalisierung der internationalen Politik in Form einer reduzierten, ökonomisch und militärisch weniger ambitionierten Rolle der USA in Europa. Die Integration der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik entkleide die Ver16
Vgl. Hugh de Santis (1991): The Graying of NATO, in: The Washington Quarterly, 14: 4, S.51-65 und ders./Robert C. Hughes (1992): The Case for Disestablishing NATO, in: William D. Wharton (Hg.): Security Arrangements for a New Europe. The Fourteenth NATO Symposium, Spring 1991. Washington, D.C.: National Defense University Press, S.109-118. 17 Vgl. Christopher Layne (2003): Casualties of War. Transatlantic Relations and the Future of NATO in the Wake of the Second Gulf War, in: Policy Analysis, 483, S.1-18. 18 Vgl. Richard E. Rupp (2006): NATO after 9/11. An Alliance in Continuing Decline. New York: Palgrave Macmillan, S.3, 8, 11, 22 und 209ff. 19 Vgl. Rajan Menon (2007): The End of Alliances. New York: Oxford University Press, S.95ff., 187 und 200.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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einigten Staaten ihrer Funktion als Sicherheitsgarant Europas. Trotz der Erosion der Macht der USA und der Sowjetunion sowie des endgültigen Niedergangs der NATO halte der „lange Frieden“ (John Lewis Gaddis) im industrialisierten „Norden“ aber an. Als Gründe hierfür nennt Krasner die Existenz von Nuklearwaffen und die Politik einer Sicherung des Wohlstands durch Handel statt durch Invasion.20 Kahler rechnet nach dem Ende der Sowjetunion vor allem mit der Abschwächung des „internationalistischen Mythos“, der die transatlantischen Beziehungen seit 1945 unterstützt habe. Dieser sei „ein Teil der ‚Überlieferungen‘ der amerikanischen Außenpolitik geworden und half, das Bild des amerikanischen Engagements in und seine Verpflichtung gegenüber Europa während des Kalten Krieges aufrechtzuerhalten.“ Kahler ist der Ansicht, dass der dichte und formale Charakter der existierenden Strukturen der Zusammenarbeit für kooperative transatlantische Beziehungen nicht erforderlich sei und vermutet, dass die NATO „in gemeinsamen Sicherheitsfragen wahrscheinlich nicht mehr das optimale Mittel der Zusammenarbeit“21 sei. Link hält ebenfalls eine transatlantische Stabilisierungspolitik ohne feste Allianz für möglich. Am Ende der schrittweisen Neustrukturierung der transatlantischen Beziehungen könnte ein symmetrisches, balanciertes Allianzverhältnis stehen, gekennzeichnet von kooperativer Machtbalance und kompetitiver Kooperation.22 Konsequent neorealistisch argumentiert schließlich auch Kaplan, der nur einen „Kalten Krieg“ im Pazifik für geeignet hält, um die seiner Ansicht nach derzeit lediglich Trainingsmissionen durchführende NATO wieder zu beleben. Da Chinas Aufstieg die USA bedrohe, werde das 21. Jahrhundert von der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Staaten geprägt sein.23
2.1.2 Neoliberalistischer Institutionalismus Die mehr oder weniger pessimistischen Szenarien der Neorealisten blieben erwartungsgemäß nicht lange unwidersprochen. Die ersten, die das Wort erhoben, waren die Anhänger des neoliberalistischen Institutionalismus. Sie argumentieren unter anderem, dass zwischenstaatliche Einrichtungen wie die NATO unter der Bedingung gemeinsamer Interessen der Beteiligten auch dann fortbestehen und zur Lösung von Handlungsproblemen beitragen können, wenn der Grund für ihre Schaffung entfallen sei. Internationale Institutionen werden somit nicht nur als reine Ausführungsorgane staatlicher Interessen verstanden. Sie seien auch dazu imstande, auf die Staaten zurückzuwirken, von deren Repräsentanten sie errichtet wurden. Zur besseren Strukturierung soll im Folgenden grob zwischen einer eher ökonomisch und einer eher politisch argumentierenden Variante des (Neo-)Institutionalismus differenziert werden. Während für die Vertreter der ersten – etwa Robert Keohane, Todd Sandler und Celeste Wallander – charakteristisch ist, Konzepte der politischen Ökonomik auf die 20
Vgl. Stephen D. Krasner (1993): Power, Polarity, and the Challenge of Disintegration, in: Helga Haftendorn/Christian Tuschhoff (Hg.): America and Europe in an Era of Change. Boulder, CO: Westview, S.21-42. Miles Kahler (1995): Revision und Vorausschau: Historische Interpretation und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen, in: ders./Werner Link: Europa und Amerika nach der Zeitenwende – die Wiederkehr der Geschichte. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S.9-48, hier: S.35 und 47. 22 Vgl. Werner Link (1995): Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis – Folgerungen für die Zukunft, in Kahler/ders.: Europa und Amerika, S.49-164. 23 Vgl. Robert D. Kaplan (2005): How we would fight China, in: The Atlantic Monthly, 295: 5, S.49-64. 21
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2. Darstellung des Forschungsstands
internationale Politik zu übertragen, kennzeichnet die zweite Gruppe, der beispielsweise John Duffield und Helga Haftendorn angehören, primär ein Denken in Kategorien der Übernahme von politischen Funktionen. Da beide Spielarten auf eine gemeinsame utilitaristische Wurzel zurückgehen, sind sie jedoch nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden.
2.1.2.1 Ökonomischer Institutionalismus Die ökonomische Variante des (Neo-) Institutionalismus, der neoliberalistische Institutionalismus im engeren Sinne, ist geprägt von der Verwendung von Begriffen und Konzepten der politischen Ökonomik. Aktiva, Anreize und Management gehören ebenso dazu wie Kosten-Nutzen-Kalkulationen und das Theorem der öffentlichen Güter. Als Begründer dieses Ansatzes können Mancur Olson und Richard Zeckhauser gelten, die bereits Mitte der 1960er Jahre die in ihren Augen ineffiziente Organisation von Allianzen und anderen internationalen Institutionen damit erklärt haben, dass die großen Mitglieder aufgrund einer höheren absoluten Wertschätzung des bereitzustellenden Guts einen unverhältnismäßig hohen Anteil der anfallenden Lasten tragen würden.24 Eine gewisse Skepsis in Bezug auf die interne Struktur des atlantischen Bündnisses legen auch Sandler/Hartley an den Tag. Ihr Ansatz, der Konzepte der Spieltheorie mit der neuen Institutionenökonomik verbindet und dabei weitestgehend der quantitativen Spielart der Theorie der rationalen Wahlhandlungen verpflichtet ist, führt politische Fragen konsequent auf ein ökonomisches Kalkül, d.h. auf Kosten-Nutzen-Erwägungen der Entscheidungsträger, zurück. Um auch in Zukunft eine Rolle zu spielen, müsse die NATO ihre Organisationsstruktur und ihren Entscheidungsapparat verändern und sicherstellen, dass alle Beteiligten einen Nettonutzen aus ihrer Mitgliedschaft im Bündnis ziehen.25 Die übrigen Vertreter des ökonomischen (Neo-) Institutionalismus zeichnen sich gegenüber den Neorealisten aber vor allem durch ihre deutlich optimistischere Einschätzung der Möglichkeit eines Fortbestands der NATO als einer auch nach dem Ende der Blockkonfrontation effektiven Organisation aus. So argumentieren Wallander/Keohane, dass die NATO aufgrund ihrer Institutionalisierung sowie ihres hybriden Charakters, d.h. der gleichzeitigen Konzentration auf äußere Bedrohungen und interne Risiken, die entscheidenden Vorbedingungen erfüllt habe, um sich im Kontext eines veränderten Sicherheitsumfelds ohne Bedrohungen erfolgreich von einer Allianz in eine SicherheitsmanagementInstitution verwandeln zu können. Der Rückgriff auf bestehende Institutionen, so wird daraus gleichsam als einer der Kernsätze des neoliberalistischen Institutionalismus abgeleitet, sei günstiger bzw. wirksamer als die Schaffung von neuen Einrichtungen: „Because NATO has already developed rules, procedures, and structures for security management among states, it is more efficient to rely upon them than to create new institutions from scratch.“26 24
Vgl. Mancur Olson/Richard Zeckhauser (1966): An Economic Theory of Alliances, in: Review of Economics and Statistics, 48: 3, S.266-279. 25 Vgl. Todd Sandler/Keith Hartley (1999): The Political Economy of NATO: Past, Present, and into the 21st Century. Cambridge et al.: Cambridge University Press, S.2, 15-20 und 267. 26 Celeste A. Wallander/Robert O. Keohane (1999): Risk, Threat, and Security Institutions, in: Helga Haftendorn, Robert O. Keohane und Celeste A. Wallander (Hg.): Imperfect Unions. Security Institutions over Time and Space.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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In einem Beitrag für die Zeitschrift International Organization arbeitet Wallander dieses Argument weiter aus. Zu diesem Zweck differenziert sie zwischen allgemeinen und spezifischen Aktiva („assets“) einer Institution: „Whether an institution adapts to change depends on whether its assets – its norms, rules, and procedures – are specific or general, and on whether its mix of assets matches the kinds of security problems faced by its members.“27
Da die Flexibilität einer Organisation negativ mit der Spezifizität ihrer Aktiva korreliere, könne zur Erklärung des Fortbestands des atlantischen Bündnisses angeführt werden, dass es der NATO gelungen sei, im Umgang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen ihre allgemeinen Aktiva, insbesondere die politische Konsultation und die integrierte Kommandostruktur, zu mobilisieren. Aufgrund der Qualität ihrer allgemeinen Aktiva habe sich die NATO in Zeiten einer Veränderung des Sicherheitsumfelds und der Herausbildung neuer Sicherheitsprobleme somit als eine effektive politisch-militärische Sicherheitsinstitution erweisen können und sei heute eine der am meisten entwickelten Institutionen des internationalen Systems.28 Auch Keohane/Hoffmann heben die Belastbarkeit, Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit der NATO hervor, die sich vom Schutz gegen eine glaubwürdige Bedrohung in eine Rückversicherung gegen Unsicherheit verwandelt habe. Vor diesem Hintergrund erweise sich die Signifikanz internationaler Institutionen sowohl in ihrem Nutzen für die Staaten, von deren Interessen sie abhingen – die sie aber ebenso verstärken könnten – als auch in ihrer Fähigkeit zur Veränderung von Realitäten und Erwartungen.29 Überdies hegt Keohane die Erwartung, dass die NATO durch den Einsatz ihrer organisatorischen Ressourcen und eine Änderung ihrer Aufgaben auch nach dem Verschwinden der Bedingungen ihrer Gründung fortbestehen könne. Als weitere Faktoren nennt er organisatorische Trägheit, Reputationsüberlegungen und den Einfluss der Innenpolitik.30 Darüber hinaus finden sich Anleihen bei Begrifflichkeiten der politischen Ökonomik auch bei Coker und Brown. Während Coker das Bündnis als eine dem Risikomanagement, d.h. der Versicherung gegen neue Unsicherheiten, dienende Risikogemeinschaft versteht, plädiert Brown dafür, aus der NATO kein Anti-Terror-Instrument zu machen, da die Verluste in diesem Falle größer als die Gewinne wären. Das Bündnis übernehme bereits wich-
Oxford: Oxford University Press, S.21-47, hier: S.45. Die Behauptung, dass die Aufrechterhaltung und Anpassung einer Institution günstiger sei als ihre Schaffung findet sich schon bei Keohane/Nye. Vgl. Robert O. Keohane/Joseph S. Nye (1993): Introduction: The End of the Cold War in Europe, in: dies. und Stanley Hoffmann (Hg.): After the Cold War. International Institutions and State Strategies in Europe, 1989-1991. Cambridge, MA/London: Harvard University Press, S.1-19, hier: S.19. 27 Celeste A. Wallander (2000): Institutional Assets and Adaptability: NATO After the Cold War, in: International Organization, 54: 4, S.705-735, hier: S.706. 28 Vgl. Celeste A. Wallander (2000): Institutional Assets and Adaptability, S.708, 726, 731 und 733. Keohane/Nye bezeichnen die NATO gar als die erfolgreichste und höchst institutionalisierte multilaterale Allianz der Geschichte. Vgl. Robert O. Keohane/Joseph S. Nye (1993): Introduction, in: dies./Hoffmann (Hg.): After the Cold War, S.2. 29 Vgl. Robert O. Keohane/Stanley Hoffmann (1993): Conclusion, in: dies./Nye (Hg.): After the Cold War, S.382384 und 392. 30 Vgl. Robert O. Keohane (1993): Institutional Theory and the Realist Challenge after the Cold War, in: David A. Baldwin (Hg.): Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate. New York: Columbia University Press, S.269-300.
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2. Darstellung des Forschungsstands
tige Aufgaben in Afghanistan und auf dem Balkan und solle daher sein bestehendes „Portfolio“ pflegen, anstatt sich neuen Herausforderungen zuzuwenden.31 Wie schwierig es ist, die beiden auf eine gemeinsame utilitaristische Wurzel zurückgehenden Spielarten des (Neo-) Institutionalismus voneinander zu unterscheiden, verdeutlichen die Arbeiten von Chernoff und Wolf. Sie enthalten sowohl ökonomische als auch politisch-funktionale Argumente und bilden damit den Grenzbereich der beiden Varianten. In einem kurzen Aufsatz über die Frage, ob die NATO „Opfer des eigenen Erfolgs“ geworden sei, argumentiert Wolf zunächst, dass dem Nutzen des Bündnisses – die Möglichkeit eines Gebrauchs der Ressourcen anderer – Kosten in Form schwindender Autonomie aufgrund der gegenseitigen Beistandsverpflichtung gegenüberstehen würden. Da ein Nachlassen der Bedrohung aber eine relative Erhöhung der politischen Kosten des Bündnisses nach sich ziehe, könnte es ohne neue Bedrohung zu einer schleichenden Auflösung der NATO kommen – und das Bündnis somit seinem eigenen Erfolg zum Opfer fallen. In einem zweiten Schritt stellt Wolf dann die politischen Funktionen des atlantischen Bündnisses heraus. Die NATO diene nicht nur als Vorkehrung gegen Russland, sondern erfülle mit der Legitimierung der US-Truppenpräsenz in Europa und der Verhinderung einer Geopolitisierung der wirtschaftlichen Rivalität zwischen den USA und Westeuropa auch zwei wichtige Binnenfunktion. Da es im europäischen Interesse liege, das Bündnis als eine „Versicherungsgemeinschaft gegen Instabilität“ zu bewahren, empfiehlt Wolf schließlich, den Nutzen der NATO auf dem Wege einer Intensivierung der militärischen Integration zu erhalten.32 Derweil hält Chernoff den Fortbestand des atlantischen Bündnisses in Abwesenheit einer äußeren Bedrohung für möglich, da die Verbündeten angesichts ihrer früheren Kooperationserfolge erwarten würden, dass sie weiterhin zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeiten werden. Neben positiven Erfahrungen verbesserten aber auch gemeinsame ökonomische Interessen, der geteilte Wunsch nach Einsparungen im Staatshaushalt, ähnliche soziale und kulturelle Werte, die Minderung der Verwundbarkeit kleiner Staaten und eine Führungsrolle der USA die Chancen für eine Fortsetzung der transatlantischen Zusammenarbeit. Da sie mit der Gewährleistung einer effizienten Verteidigung, einer Disziplinierung der Mitglieder, dem Schutz gegen Unruhen in Mittel- und Osteuropa, sowie der Garantie eines europäischen Engagements zugunsten der neuen Demokratien zudem zentrale politische Funktionen der westlichen Koalition erfülle, sei es der NATO möglich, für Stabilität in Europa zu sorgen. Zwar werde sich das Bündnis zu einer loseren Planungsinstanz entwickeln, mit seiner Auflösung ist laut Chernoff jedoch erst zu rechnen, sobald andere Strukturen seine Aufgaben besser erledigen sollten. Auf absehbare Zeit sei die NATO zur Durchführung militärpolitischer Aufträge allerdings am besten geeignet.33
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Vgl. Christopher Coker (2002): Globalisation and Insecurity in the Twenty-First Century. NATO and the Management of Risks, Adelphi Papers, 345. London et al.: Oxford University Press, S.9/10, 70/71 und 95 sowie David Brown (2006): ‘The War on Terrorism would not be Possible without NATO’: A Critique, in: Martin A. Smith (Hg.): Where is NATO Going? London/New York: Routledge, Taylor & Francis, S.23-43. 32 Vgl. Reinhard Wolf (1992): Opfer des eigenen Erfolgs? Perspektiven der NATO nach dem Kalten Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42: 13, S.3-16. 33 Vgl. Fred Chernoff (1995): After Bipolarity. The Vanishing Threat, Theories of Cooperation, and the Future of the Atlantic Alliance. Ann Arbor, MI: Michigan University Press, S.261 und 270 sowie ders. (1992): Can NATO Outlive the USSR?, in: International Relations, 11: 1, S.1-16.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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2.1.2.2 Politischer Institutionalismus Die eher politisch argumentierenden Institutionalisten betrachten das atlantische Bündnis in erster Linie im Lichte der Funktionen, die es – für seine Mitglieder – erfüllt. Grundkonzepte der politischen Ökonomik können dabei mitunter zwar auch eine Rolle spielen, im Unterschied zu den meisten Arbeiten der Vertreter der ökonomischen Variante haben sie – wie bei Helga Haftendorn, Otto Keck und Christian Tuschhoff – aber vor allem eine eher metaphorische denn analytische Bedeutung und sind weniger zentral. Zu den produktivsten Vertretern dieser Gruppe zählt ohne Frage Helga Haftendorn, die sich auf der Ebene der theoriesprachlichen Einkleidung ihrer detaillierten Kenntnisse über das atlantische Bündnis zwar spürbar an Keohane orientiert, ihren Begrifflichkeiten aber zumeist einen etwas stärker politisch-funktionalen Anstrich verpasst. So behauptet sie, dass der Fortbestand der NATO davon abhänge, ob der Nutzen der Kooperation den Nutzen einer autonomen Sicherheitspolitik übersteige, argumentiert jedoch auch, dass das Bündnis immer eine hybride Organisation gewesen sei, die sowohl militärische als auch politische Funktionen ausgeübt habe.34 Die Fortdauer der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation führt Haftendorn in erster Linie darauf zurück, dass sich das Bündnis gewandelt, d.h. seine Funktionen, Formen und Rollen verändert habe: Die Abwehr einer akuten Bedrohung durch Abschreckung und kollektive Verteidigung sei der Zusammenarbeit mit ehemaligen Gegnern und dem selektiven Krisenmanagement gewichen. Mit dieser Entwicklung hin zu einer Sicherheitsmanagement-Institution gehe allerdings einher, dass die NATO ein loserer Verbund geworden sei. Während die spezifischen Funktionen des Bündnisses aus der Zeit der Systemauseinandersetzung – Abschreckung, Verteidigung nach außen und Sicherheit vor Deutschland im Innern – an Bedeutung verlören, sei seine allgemeine Funktion als transatlantisches Kooperationsforum nach wie vor von größter Wichtigkeit; insbesondere da die geographische Entgrenzung des Tätigkeitsbereichs zu einer Zunahme von Interessenkonflikten unter den Mitgliedern führen könne. Weitere Faktoren, die den Fortbestand von Sicherheitsinstitutionen wie der NATO nach dem Verlust ihrer ursprünglichen Funktion begünstigen, sind Haftendorn zufolge das Vorliegen einer residualen Bedrohung, der hybride Charakter der Organisation, also die Ausübung von mehreren spezifischen Funktionen zugleich, sowie der Einfluss von Interessengruppen und das bürokratische Beharrungsvermögen.35 Angesichts der „relative[n] Bedeutungslosigkeit der NATO in der Anti-Terror-Kampagne“36 nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und den unter Präsident George W. Bush offen zu Tage tretenden verschiedenen Weltordnungsvorstellungen zwischen Amerika und seinen (kontinental)europäischen Verbündeten hat sich der Schwerpunkt der Analysen von Haftendorn allerdings merklich verschoben. Waren es in den 1990er Jahren vor allem die Gründe des 34
Vgl. Helga Haftendorn (1997): The Post-Cold War Transformation of the Atlantic Alliance, The Madeline Feher European Scholar Lecture. Ramat Gan: The Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Vgl. Helga Haftendorn (1997): Sicherheitsinstitutionen in den internationalen Beziehungen. Eine Einführung, in: dies./Otto Keck (Hg.): Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung. Sicherheitsinstitutionen in den internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos, S.11-33, hier: S.27ff. Zur Illustration des Beharrungsvermögens von Organisationen verweist Haftendorn auf den „Sperrklinkeneffekt“ (Keohane/Wallander), demzufolge der Institutionalisierungsgrad bei nachlassender Bedrohung weniger stark sinke als er bei zunehmender Bedrohung steige. 36 Helga Haftendorn (2003): Die Krise der transatlantischen Beziehungen und die Transformation der NATO, in: Bernd W. Kubbig (Hg.): Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas. Frankfurt/New York: Campus, S.217-223, hier: S.219. 35
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2. Darstellung des Forschungsstands
Fortbestands des atlantischen Bündnisses nach dem Ende der Blockkonfrontation, die im Zentrum ihres Interesses stehen, so sind es inzwischen eher die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, um die NATO auch weiterhin zu erhalten. So weist Haftendorn im Anschluss an Josef Joffes Charakterisierung der USA als „Befrieder Europas“ darauf hin, dass die Europäer die NATO mehr bräuchten als die USA dies täten und betont, dass sich das Bündnis der militärischen Risikoversorgung und der Terrorbekämpfung annehmen müsse, um seiner Irrelevanz zu entgehen.37 Um die von ihr diagnostizierte Krise der Anpassung an die veränderten internationalen Rahmenbedingungen zu lösen und den Fortbestand des Bündnisses zu gewährleisten, aber auch um seine Glaubwürdigkeit und seine Rolle als zentrales Instrument der Sicherheitspolitik zu bewahren, müssten die Partner zu einer gemeinsamen Risiko-Einschätzung zurückkehren, wieder Kompromissbereitschaft und gegenseitigen Respekt an den Tag legen und auf ihre Kerninteressen Rücksicht nehmen.38 Im Umfeld von Helga Haftendorn werden ähnliche Schlüsse gezogen. Ausgehend von der These, dass – als „Sätze von Regeln“ verstandene – internationale Institutionen kein Wert an sich seien, aber dadurch auf staatliches Handeln wirken würden, dass sie die Situation transformieren, „in der die Staaten agieren“, gelangt etwa Otto Keck zu dem Ergebnis, dass die Anpassung der NATO an die neue Situation nach 1989 auf die Lösung bzw. Milderung von Kooperationsproblemen mithilfe eines vorhandenen institutionellen Regelwerks einschließlich dessen Modifikation zurückgeführt werden könne. Das Bündnis habe sich zu einer Organisation kollektiver Sicherheit gewandelt.39 Olaf Theiler, der die beiden zentralen Aufgaben der NATO als einer Sicherheitsinstitution in der Beantwortung internationaler sicherheitspolitischer Herausforderungen und der Lösung von Kollaborations- und Koordinationsproblemen sieht, rückt den Fortbestand des Bündnisses ebenfalls mit dessen Fähigkeit zum internen Wandel in einen Zusammenhang. Es habe seine alten Funktionen – die transatlantische Kooperation, die kollektive Verteidigung und die Einbindung (West-) Deutschlands – verändert und mit dem Krisenmanagement und der Stabilisierung des europäischen Umfelds neue Funktionen definiert.40 Eng an Haftendorn angelehnt ist auch die Argumentation von Jutta Koch, die unter Verweis auf die Anbindung der USA, die Einbindung Deutschlands und die kollektive Verteidigung illustriert, dass die NATO immer schon eine hybride, vielfältigen Funktionen dienende Institution gewesen sei. Zwar habe das Bündnis erfolgreich in eine Sicherheitsmanagement-Institution transformiert werden können, doch weiche kollektives Handeln zunehmend flexiblen Zweckkoalitionen. Zudem führten Konflikte zwischen dem Autonomiestreben der Europäer und dem Anspruch der USA auf Bewahrung ihrer Führungsrolle ebenso zu Spannungen wie die Fragen, ob die Aktivitäten des Bündnisses auf Europa beschränkt oder global ausgedehnt und ob die Verbündeten auch ohne ein Mandat der Vereinten Nationen tätig werden sollten.41 37
Vgl. Helga Haftendorn (2002): Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik, 57: 4, S.49-54. Vgl. Helga Haftendorn (2005): Das Atlantische Bündnis als Transmissionsriemen atlantischer Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 55: 38/39, S.8-15, hier: S.14/15. 39 Vgl. Otto Keck (1997): Sicherheitsinstitutionen und der Wandel des internationalen Systems, in: Haftendorn/ders. (Hg.): Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung, S.253-270, hier: S.254/55, 259 und 262. 40 Vgl. Olaf Theiler (1997): Der Wandel der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, in: Haftendorn/Keck (Hg.): Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung, S.101-136, hier: S.104/05 und 134. 41 Vgl. Jutta Koch (2000): Erweiterung und Führung: Die NATO-Politik der USA, in: Peter Rudolf/Jürgen Wilzewski (Hg.): Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. BadenBaden: Nomos, S.109-124. 38
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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Christian Tuschhoff, der zunächst argumentierte, dass institutionelle Praktiken wie die gegenseitige Überwachung der Einhaltung der gemeinsamen Regeln und Abmachungen, der beständige Austausch von Informationen, die Erleichterung von Konzessionen und Kompromissen, sowie die Erzwingung der gegenseitigen Verteidigungsverpflichtung zu einer Zunahme des Bündniszusammenhalts führen würden, musste nach dem 11. September zwar zugestehen, dass die Kohäsion der NATO im „Kalten Krieg“ stärker gewesen und der Automatismus einer militärischen Reaktion im Angriffsfall nun primär politischer Solidarität gewichen sei; aufgrund eines „gegenseitigen Verteidigungsreflexes“ sei die NATO jedoch weit davon entfernt, irrelevant zu sein, sondern übe weiterhin entscheidenden Einfluss auf die Politik ihrer Mitglieder aus.42 Die politisch-funktionale Spielart des (Neo-) Institutionalismus ist jedoch keineswegs auf Autoren aus dem deutschsprachigen Raum beschränkt. Zu den prominentesten angelsächsischen Vertretern dieses „Paradigmas“ können etwa Ronald Asmus, John Duffield und Philip Gordon, aber auch Charles Weston oder David Yost gezählt werden. So führt Duffield den Fortbestand des atlantischen Bündnisses zurück auf die Kontinuität von – abnehmenden – externen Bedrohungen, die institutionelle Anpassung an die neuen Herausforderungen in Gestalt der Stabilisierung der ehemaligen Sowjetunion und der Beilegung militarisierter Konflikte in Mittel- und Osteuropa, sowie auf die Erfüllung wertvoller Binnenfunktionen wie die Linderung des Sicherheitsdilemmas zwischen den Mitgliedern und die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik. Da sie für ihre Mitglieder also mehrere wertvolle Sicherheitsfunktionen erfülle, sei es zu früh, um die NATO abzuschreiben, zu der es zudem keine klare vorteilhafte Alternative gebe.43 Weston kommt gar auf sieben Funktionen, die das atlantische Bündnis übernehmen würde – die Verhinderung der sicherheitspolitischen Isolation seiner Mitglieder, politische Zusammenarbeit, die Einbindung des deutschen Militärpotentials, die Aufrechterhaltung der politischen und militärischen Stabilität in Europa, die Rückversicherung gegen eine Remilitarisierung der Ost-West-Beziehungen, die Aufwertung seiner politischen Rolle durch die Kooperation mit den Vereinten Nationen auf der Ebene der Erhaltung und Schaffung von Frieden, sowie die Abstimmung der Politik Europas und Amerikas gegenüber internationalen Krisen und Gefährdungen. Da die NATO das einzige zur Krisenbeherrschung fähige überregionale Bündnis sei, bildeten die Förderung von Stabilität in Mittelund Osteuropa sowie das Krisen- und Konfliktmanagement ihre beiden wichtigsten neuen Aufgaben.44 Yost, der mit der Zusammenarbeit mit Nichtmitgliedern und ehemaligen Gegnern sowie dem Krisenmanagement und Friedensoperationen zwei neue Rollen des Bündnisses identifiziert, sieht die NATO vor der großen Herausforderung, Klarheit in das Verhältnis von kollektiver Verteidigung, ihrer langjährigen Kernfunktion, und ihren neuen Aufträgen zur Förderung kollektiver Sicherheit zu bringen. In Bezug auf den Fortbestand des atlantischen Bündnisses nach dem Ende des „Kalten Krieges“ verweist er auf die Wirksamkeit der NATO im Rahmen der Erfüllung interner Funktionen, der Fortführung ihrer
42 Vgl. Christian Tuschhoff (1999): Alliance Cohesion and Peaceful Change in NATO, in: Haftendorn, Keohane und Wallander (Hg.): Imperfect Unions, S.140-161 und ders. (2003): Why NATO is still relevant, in: International Politics, 40: 1, S.101-120. 43 Vgl. John S. Duffield (1994/95): NATO’s Functions after the Cold War, in: Political Science Quarterly, 109: 5, S.763-787. 44 Vgl. Charles Weston (1993): Transatlantische Neuorientierung. Amerikanisch-europäische Bündnispolitik nach der Ära des Kalten Krieges. München: Olzog, S.149-151, 153/54 und 217.
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2. Darstellung des Forschungsstands
kollektiven Verteidigungsaufgaben und der Übernahme neuer sicherheitspolitischer Verpflichtungen.45 Indes unterstreicht Gordon die „beeindruckende Anpassungsfähigkeit“ der NATO an die Veränderungen ihrer geopolitischen Umwelt, betont aber auch, dass der technologische Vorsprung der USA eine beschleunigte Anpassung der militärischen Fähigkeiten des Bündnisses an die neuen Aufträge erfordere – insbesondere die Entwicklung von AntiTerror-Kapazitäten sei unerlässlich. Gemeinsam mit Shapiro vertritt Gordon zudem die These, dass der Fortbestand der NATO von einer Fortsetzung der Anpassung an neue Bedrohungen und Herausforderungen in Form einer Reform ihrer Strukturen und Werkzeuge abhänge. Trotz der Differenzen im Kontext des Irakkrieges seien die Interessen und Werte der transatlantischen Verbündeten noch immer sehr ähnlich. Mehr noch: Die entscheidenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – vom Kampf gegen Terrorismus und Proliferation, über die Transformation des Nahen Ostens, bis hin zum Schutz der Umwelt und der Verbreitung von Demokratie und freien Märkten – bedürften der engen Kooperation zwischen den beiden weltgrößten Zentren an demokratischen Werten und wirtschaftlicher Stärke. Da es schwieriger sei, Institutionen zu schaffen als zu verändern, sei es ratsam, die NATO so zu erneuern, dass sie künftig eine vitale Rolle bei der Aufrechterhaltung von internationalem Frieden und Wohlstand spielen werde. Dabei sei es die vordringlichste Aufgabe, die militärischen Fähigkeiten der Europäer zu stärken.46 Zur Sicherung der Erträge des „Kalten Krieges“ und um die NATO mit den Mitteln auszustatten, derer sie zur Handhabung der Probleme in Europa, d.h. der Projektion kollektiver Verteidigung sowie der Befriedung und Demokratisierung der Krisenbögen im Osten und Süden des Kontinents, bedarf, plädierten Asmus und seine Mitstreiter bereits 1993 für eine neue strategische Übereinkunft und den Aufbau einer neuen Partnerschaft zwischen Amerika und Europa. Drei Jahre später begründete Asmus seinen Appell für eine neue transatlantische Sicherheitsübereinkunft damit, dass auf diesem Wege der Verlust an Stärke und Effektivität, den das Bündnis infolge einer divergierenden Wahrnehmung nationaler Interessen und der Nichtübereinstimmung strategischer Prioritäten hinzunehmen hatte, kompensiert werden könnte. Dem vollen Engagement der USA in Europa sollte künftig eine gerechte Teilung der Lasten und Risiken gegenüberstehen. Das Bündnis habe nur dann eine Chance fortzubestehen, wenn es sich an die neue geopolitische Situation anpasse und die Partner ihre Prioritäten, Fähigkeiten, vitalen Interessen und Bedrohungswahrnehmungen koordinierten.47 Die Beantwortung von Bedrohungen, die jenseits der eigenen Grenzen entstehen, hält Asmus für den zentralen neuen Auftrag und die Schlüsselherausforderung des Bündnisses. So wie sich die NATO im Zuge ihres Sieges auf dem Balkan und der erfolgreichen Erweiterung als Sicherheitsgarant ganz Europas neu geschaffen habe, symbolisiere auch der „Krieg gegen den Terrorismus“ die Notwendigkeit kontinuierlicher Veränderung und die Vollendung der Neuschaffung des Bündnisses für eine neue Ära. Um den neuen Herausfor45 Vgl. David S. Yost (1998): NATO Transformed. The Alliance’s New Roles in International Security. Washington, D.C.: United States Institute of Peace Press, S.3/4. 46 Vgl. Philip H. Gordon (2001/02): NATO After 11 September, in: Survival, 43: 4, S.89-106 und ders./Jeremy Shapiro (2004): Allies at War: America, Europe, and the Crisis over Iraq. New York: McGraw-Hill, S.5/6, 186/87, 199 und 218/19. 47 Vgl. Ronald D. Asmus, Richard L. Kugler und F. Stephen Larrabee (1993): Building a New NATO, in: Foreign Affairs, 72: 4, S.28-40 und Ronald D. Asmus, Robert D. Blackwill und F. Stephen Larrabee (1996): Can NATO Survive?, in: The Washington Quarterly, 19: 2, S.79-101.
2.1 Die Neo-Neo-Debatte: Neorealismus vs. neoliberalistischer Institutionalismus
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derungen der Entwicklung einer Agenda für Osteuropa und den (weiteren) Nahen Osten sowie den neuen Aufgaben der Friedensbewahrung und des demokratischen Wiederaufbaus außerhalb Europas gerecht zu werden, bedarf es Asmus zufolge der engen Konsultation und Zusammenarbeit zwischen den Partnern. Dem Westen als Ganzem mangele es nicht an militärischen Fähigkeiten, sondern an effektiven Transformationsstrategien – zum Beispiel mit Blick auf demokratische politische Alternativen in der arabischen Welt. Während die USA Europa als den Partner ihrer Wahl anerkennen und ein pro-atlantisches Europa unterstützen müssten, dürfe Europas Einheit nicht auf Anti-Amerikanismus gegründet und nicht als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten konzipiert werden. Europa müsse die Macht der USA als Gelegenheit und nicht als Problem begreifen und dürfe zudem nicht auf der alleinigen Legitimierung von NATO-Einsätzen durch die Vereinten Nationen beharren.48
2.1.3 Neo-Neo-Synthese Im Rahmen der Neo-Neo-Debatte war es darum gegangen, die Überlegenheit der neorealistischen bzw. neoliberalistisch-institutionalistischen Welterklärungen nachzuweisen. Zu diesem Zweck wurden die Differenzen zwischen den Paradigmen von den Beteiligten mitunter ein wenig überbetont. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sind jedoch auch einige Versuche zu verzeichnen, zu eng gezogene Grenzen zu überwinden und die beiden Strömungen einander anzunähern. Zu den Vertretern einer solchen Synthese gehören beispielsweise Matthias Dembinski und Robert McCalla. Da die Neorealisten in der Regel keine Aussage darüber machen würden, wie viel Zeit bis zu der von ihnen prognostizierten Auflösung der NATO verstreichen werde, schlägt McCalla eine Ergänzung des Neorealismus um organisationstheoretische und institutionalistische Einsichten vor. Bürokratisches Eigeninteresse müsse zur Erklärung des Fortbestands des atlantischen Bündnisses ebenso herangezogen werden wie die Begebenheit, dass die Umformung von institutionalisierten Herrschaftsformen leichter zu bewerkstelligen sei als deren Schaffung. Zudem könne der hohe Institutionalisierungsgrad der NATO nicht nur mithilfe von Bedrohungen erklärt werden. Vor diesem Hintergrund rät McCalla zu zwei Modifikationen des neorealistischen Ansatzes. Die Binnenentwicklung und Eigeninteressen der Organisation müssten ebenso berücksichtigt werden wie die Lokalisierung der Allianz im Zentrum eines institutionalisierten Herrschaftssystems, d.h. eines aus Normen, Verfahren und Funktionen bestehenden Regimes. Die „Überlebensstrategie“ der NATO bestehe darin, Bedrohungen umzudefinieren und Zusatzfunktionen wie die integrierte Verteidigung zu niedrigeren Kosten zu übernehmen.49 Eine kreative Erweiterung des neorealistischen Hauptarguments, dass wahrgenommene äußere Bedrohungen Allianzen zusammenhielten, liefert auch Weitsman. Sie behauptet, dass Allianzen primär dem Management interner Konflikte dienten und nicht nur von gemeinsamen, sondern auch von miteinander in Konflikt liegenden Interessen der Partner gekennzeichnet seien. Ein Mangel an Zusammenhalt zeuge sowohl von der Abwesenheit 48 Vgl. Ronald D. Asmus (2002): Opening NATO’s Door. How the Alliance remade itself for a new era. New York: Columbia University Press, S.125 und 305 sowie ders. (2003): Rebuilding the Atlantic Alliance, in: Foreign Affairs, 82: 5, S.20-31. 49 Vgl. Robert B. McCalla (1996): NATO’s Persistence After the Cold War, in: International Organization, 50: 3, S.445-475.
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2. Darstellung des Forschungsstands
einer einigenden äußeren Bedrohung als auch von einem großen Ausmaß an interner Bedrohung. Die NATO sollte daher beachten, dass die Aufnahme früherer Gegner zu einer Zunahme der internen Bedrohung und einem Nachlassen des Zusammenhalts führen werde.50 Während Masala der Überzeugung ist, dass die Gleichzeitigkeit von Adaption und Transformation des Bündnisses auf der einen sowie dessen militärischer Bedeutungsverlust nach den Anschlägen des 11. September und im Zuge der engeren Anbindung Russlands auf der anderen Seite am besten mithilfe einer Verknüpfung neorealistischer und institutionalistischer Annahmen erklärt werden könne, deuten auch Haftendorn und Theiler ihre – die Lockerung des Zusammenhalts der NATO ebenso wie die Wirkung von Institutionen und deren Umgestaltung enthaltenden – Befunde im Sinne des Erfordernisses, eine Synthese aus Neorealismus und Neoinstitutionalismus zu formulieren.51 In eine ähnliche Richtung weisen auch die Arbeiten von Dembinski. In Gestalt der Übernahme neuer Funktionen, der Erweiterung der Mitgliedschaft und der Reform der internen Strukturen diagnostiziert er zwar einen dreifachen Anpassungsprozess des atlantischen Bündnisses an die neue weltpolitische Lage, hält die Umwandlung der NATO in eine sicherheitspolitische Organisation auf der Basis von ad hoc-Koalitionen allerdings für wahrscheinlich. Mehr noch: „Wenn der europäische Einfluss auf die USA weiter sinkt, die unilateralen Tendenzen der amerikanischen Politik sich verstärken und die Westeuropäer im Gegenzug die Eigenständigkeit der ESVP stärker betonen, wäre selbst eine fortschreitende Aushöhlung der NATO vorstellbar. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass das Akronym NATO in Zukunft eine ganz neue Bedeutung bekommen könnte: Now Almost Totally Obsolete.“52
2.2 Die reflektivistische Herausforderung Folgt man der zu Beginn dieses Kapitels skizzierten Erzählung der Disziplinengeschichte nach Wæver, so gelang es im Laufe der 1990er Jahre jenen Stimmen innerhalb der Theoriedebatte der Internationalen Beziehungen, die sich von der intensiven Auseinandersetzung zwischen Neorealisten und neoliberalistischen Institutionalisten marginalisiert wähnten, 50
Vgl. Patricia A. Weitsman (1997): Intimate Enemies: The Politics of Peacetime Alliances, in: Security Studies, 7: 1, S.156-192. 51 Vgl. Carlo Masala (2002): Von der hegemonialen zur balancierten Allianz – Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen und die NATO, in: Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hg.): Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung. München: Olzog, S.351-365; Helga Haftendorn (1999): Der Wandel des Atlantischen Bündnisses nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Monika Medick-Krakau (Hg.): Außenpolitischer Wandel in theoretischer und vergleichender Perspektive: Die USA und die Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden: Nomos, S.257-284 und Olaf Theiler (2003): Die NATO im Umbruch. Bündnisreform im Spannungsfeld konkurrierender Nationalinteressen. Baden-Baden: Nomos, S.299ff. 52 Matthias Dembinski (2002): NATO – Auf dem Weg von der kollektiven Verteidigungsorganisation zur offenen Sicherheitsgemeinschaft?, in: Mir A. Ferdowsi (Hg.): Internationale Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Herausforderungen und Hindernisse einer stabilen Sicherheits- und Friedensordnung, München: Fink, S.277-292, hier: S.291. Deutliche Spuren von Skepsis auf Basis einer neorealistische und neoinstitutionalistische Positionen vereinenden Synthese sind auch in den jüngsten Veröffentlichungen Dembinskis zum Thema enthalten: 2005 konstatierte er, dass die transatlantische Zusammenarbeit „offenbar schwieriger geworden“ sei und das Bündnis ohne Reform keine Zukunft habe, im Jahr darauf, dass die funktionale und geographische Entgrenzung der NATO eine Überforderung darstelle. Vgl. Matthias Dembinski (2005): Eine Zukunft für die NATO?, HSFK-Standpunkte, 6/2005, S.2 und 12 sowie ders. (2006): Die Transformation der NATO. Amerikanische Vorstellungen und Risiken für Europa, HSFK-Report, 11/2006, S.4.
2.2 Die reflektivistische Herausforderung
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diese beiden Strömungen als „rationalistisches Paradigma“ zusammenzufassen und sich davon unter dem Rubrum „Reflektivisten“ (oder „Konstruktivisten“) abzugrenzen. Bezüglich der Frage nach dem Fortbestand der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation schlug sich diese Entwicklung in der Formierung eines dritten Pols in der Debatte nieder, der hier als „Wertegemeinschaftskonstruktivismus“ bezeichnet wird. Die Anhänger dieses Paradigmas sehen das atlantische Bündnis vor allem als einen Zusammenschluss von liberalen Demokratien an, die ihre geteilten Überzeugungen zu externalisieren versuchen. Ihnen antworten Realisten, die teilweise recht deutliche (Werte-) Differenzen über den Atlantik hinweg feststellen. Wertegemeinschaftsverfechter, welche die diskursive bzw. praktische Erzeugung der transatlantischen Union in den Vordergrund rücken, komplettieren diesen Abschnitt.
2.2.1 Liberalistischer Wertegemeinschaftskonstruktivismus Ungeachtet der Trennung in Rationalismus und Reflektivismus verbindet den Neoinstitutionalismus und den Wertegemeinschaftskonstruktivismus, dass im Fokus ihrer Analysen nicht das internationale System, sondern die NATO selbst steht – eine, mit Waltz ausgedrückt, von den das System bevölkernden Einheiten, den Staaten, abgeleitete Größe also. Insofern weist das von Thomas Risse, der neben Emanuel Adler/Michael Barnett als die dominante Figur des Wertegemeinschaftskonstruktivismus gelten kann, häufig zur Spezifizierung dieses Paradigmas gewählte Attribut „liberal“ durchaus in die richtige Richtung.53 Um die theoretische Position von einer politischen Haltung zu unterscheiden, wird hier jedoch weiterhin – wie schon zur Kennzeichnung der Institutionalisten – der Ausdruck „liberalistisch“ gebraucht. Im Anschluss an Begrifflichkeiten, die Karl W. Deutsch und seine Kollegen vor rund fünf Jahrzehnten im Rahmen ihrer Erforschung der besten Voraussetzungen für Frieden geprägt haben, bezeichnen Risse und Adler/Barnett die NATO bzw. den nordatlantischen Raum als eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft.54 Eine solche ist Deutsch zufolge dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder – formal unabhängige Staaten – sich nicht physisch bekämpfen, sondern ihre Streitigkeiten mit andern Mitteln beilegen. Diese von den einzelnen Mitgliedern einer Gruppe geteilte Überzeugung, dass gemeinsame soziale Probleme auf dem Wege friedlichen Wandels gelöst werden müssten und könnten, nennt Deutsch „Gemeinschaftssinn“.55 Risse macht daraus ein Konglomerat aus den drei Faktoren Konsultationsnormen, innenpolitischer Druck und transgouvernementale bzw. transnationale Koalitionen. Für ihn ist die NATO eine Wertegemeinschaft, eine institutionalisierte pluralistische Sicherheitsgemeinschaft liberaler Demokratien, deren kollektive Identität die 53 Vgl. Thomas Risse-Kappen (1995): Cooperation Among Democracies. The European Influence on U.S. Foreign Policy. Princeton, NJ: Princeton University Press, S.24-41. Zur Unterscheidung von System und Einheiten bei Waltz vgl. Kenneth N. Waltz (1979): Theory of International Politics. New York et al.: McGraw-Hill, S.60-78. 54 Vgl. Thomas Risse-Kappen (1995): Cooperation Among Democracies, S.30/31; Emanuel Adler (1998): Seeds of peaceful change: the OSCE’s security community-building model, in: ders./Michael Barnett (Hg.): Security Communities. Cambridge: Cambridge University Press, S.119-160, hier: S.143 und Emanuel Adler/Michael Barnett (1998): A framework for the study of security communities, in: dies. (Hg.): Security Communities, S.2965, hier: S.30. 55 Vgl. Karl W. Deutsch et al. (1969): Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in the Light of Historical Experience. New York: Greenwood, S.5/6 [1957].
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2. Darstellung des Forschungsstands
Schaffung kooperativer Institutionen für spezifische Zwecke ermöglicht. Der vornehmste dieser Zwecke bestehe in der Externalisierung demokratischer (Konsultations-) Normen und Entscheidungsfindungsprozeduren. Gleichzeitig begünstige die erfolgreiche Durchsetzung der geteilten Normen und Regeln wiederum die Zunahme des Gemeinschaftssinns und der kollektiven Identität der Partner.56 Eine kollektive Identität in Gestalt geteilter liberaler Werte, komplexe interdependente Interaktionen zwischen den Partnern und ein hoher Grad an Strukturen inter- bzw. transnationalen Regierens mithilfe institutionalisierter Beziehungen machen laut Risse die drei Dimensionen des „demokratischen Friedens“ innerhalb von Sicherheitsgemeinschaften aus. Zusammengesetzt aus hochgradig industrialisierten liberalen und kapitalistischen Demokratien, die dazu neigten, ihre internen Strukturen zu externalisieren, bildeten Sicherheitsgemeinschaften die dominante Sozialstruktur der Epoche nach dem „Kalten Krieg“. Den konstitutiven Normen und Werten einer Sicherheitsgemeinschaft, den Menschenrechten und dem Prinzip einer offenen internationalen Wirtschaftsordnung etwa, schreibt Risse gar einen hegemonialen Charakter zu. Zwar bedeuteten geteilte Werte und Normen nicht die Abwesenheit von Konflikten, diese seien jedoch nur temporär. Mehr noch: Gegenseitige Kritik zeuge von der Reife der Beziehungen. Dies gelte insbesondere für den Nordatlantik, die am engsten verbundene Sicherheitsgemeinschaft überhaupt.57 Eine zentrale Erfolgsbedingung der NATO sieht Risse darin, dass Streitfragen zumeist geklärt wurden, bevor Entscheidungen getroffen worden seien. Entsprechend sinke mit einer abnehmenden Konsultationsdichte die Relevanz des Bündnisses. Vor diesem Hintergrund konstatiert Risse im Zuge der Irakkrise 2002/03 ein Nachlassen der kollektiven Identifikation der Partner. Während die gemeinsame Wertebasis aber weiterhin intakt sei und sich auch an der starken transatlantischen Interdependenz nichts geändert habe, bestünden die größten Herausforderungen für die gemeinsamen Institutionen und konstitutiven Normen – und damit die Konfliktursachen – in der Innenpolitik der beteiligten Staaten. Konkret hätten unterschiedliche Weltsichten der je dominanten außenpolitischen Koalitionen die gegenwärtige Krise zu verantworten, deren Hauptkonfliktlinie entlang der Verpflichtung zum Multilateralismus verlaufe. Da die Normen, welche die Sicherheitsgemeinschaft steuerten, erodieren würden, sei zur Sicherung ihres „Überlebens“ eine neue Abmachung erforderlich. Diese müsse enthalten, dass die Weltordnungsprobleme starker transatlantischer Beziehungen bedürften.58 Unter Verweis auf Deutsch et al. kommt dem als Kern pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften verstandenen Gemeinschaftssinn auch bei Adler/Barnett entscheidende Bedeutung zu. Gemeinschaften würden primär von geteilten Identitäten, Werten und Bedeutungen konstituiert. Adler kommt gar zu dem Schluss, dass die NATO vermittels der Durchführung gemeinschaftsbildender Praktiken die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nachahme. Der Bedarf der osteuropäischen Staaten an Legitimation, geteilter Identität und Sicherheit habe eine institutionelle Transformation des atlanti56 Vgl. Thomas Risse-Kappen (1995): Cooperation Among Democracies, S.4 und 204ff. sowie Thomas Risse (1996): Collective Identity in a Democratic Community: The Case of NATO, in: Peter J. Katzenstein (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics. New York: Columbia University Press, S.357399. 57 Vgl. Thomas Risse (2002): U.S. Power in a Liberal Security Community, in: G. John Ikenberry (Hg.): America Unrivaled. The Future of the Balance of Power. Ithaca, NY: Cornell University Press, S.260-283. 58 Vgl. Thomas Risse (2003): Beyond Iraq. The Crisis of the Transatlantic Security Community, in: Die Friedenswarte, 78: 2-3, S.173-193.
2.2 Die reflektivistische Herausforderung
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schen Bündnisses bewirkt: Gleichgewichtsdenken und Abschreckung seien der Aufrechterhaltung des Friedens auf dem Wege kooperativer sicherheitspolitischer Maßnahmen und der Ausdehnung der euro-atlantischen pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft nach Osten gewichen. Folglich sei die NATO heute ein janusköpfiges Gebilde, gezeichnet von realistischer Machtpolitik auf der einen und von Idealismus sowie einer Sicherheitsgemeinschaft auf der anderen Seite.59 Variationen der Argumente von Risse, Adler/Barnett und Deutsch finden sich überdies bei einer ganzen Reihe anderer Autoren. So bedienen sich auch Schweigler, Spanger und Thamm des Begriffs „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“, um den friedlichen Umgang der Verbündeten miteinander, ihre Vertrautheit und ihr gegenseitiges Vertrauen sowie das Teilen demokratischer Werte und Normen zu beschreiben – und die dauerhaft hohe Stabilität sowie die Anpassungsfähigkeit des Bündnisses auf Basis einer gemeinsamen Sicherheitsidentität durch gemeinsame Werte zu erklären.60 Bereits 1992 diagnostizierte Hennes einen verborgenen Funktionswandel der NATO, der – unter Führung der USA – 1950 eingesetzt, mit dem Golfkrieg 1991 seinen Kulminationspunkt erreicht und die immer stärkere Zusammenarbeit der Verbündeten außerhalb des Vertragsgebiets zum Gegenstand habe. Aus dem Bündnis auf Zeit des Jahres 1949 sei so eine Schicksalsgemeinschaft zur Verteidigung westlicher Interessen in regionalen Krisen geworden. 61 Eine theoretisch-konzeptionell kreative Weiterentwicklung des wertegemeinschaftskonstruktivistischen Ansatzes stammt schließlich von Gheciu. Sie legt dar, dass die NATO ihre Macht auch auf dem Weg des Lehrens liberaler demokratischer Normen auszuüben vermag. Das atlantische Bündnis sei inzwischen als eine Organisation anerkannt, die signifikantes Wissen über liberal-demokratische Normen auf dem Feld der Sicherheit verkörpere, so dass es ihm mithilfe systematischer Praktiken des Lehrens und Überzeugens im Zuge eines Sozialisationsprozesses gelinge, die Eliten der Transformationsstaaten dazu zu bringen, ihre Vorstellungen über Identität und Interessen umzudefinieren.62
2.2.2 Wertedifferenzen-Realismus Auf negative Resonanz stößt die transatlantische Euphorie der Wertegemeinschaftskonstruktivisten bei einer Gruppe von Realisten, die davon überzeugt sind, dass die Beziehungen zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten in zunehmendem Maße von (Werte-) Differenzen gekennzeichnet seien. Zu den Vertretern dieser Gruppe, die gleichwohl weniger streng paradigmatistisch argumentieren als die meisten ihrer neorealistischen
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Vgl. Emanuel Adler/Michael Barnett (1998): Security communities in theoretical perspective, in: dies. (Hg.): Security Communities, S.3-28, hier: S.7; Emanuel Adler/Michael Barnett (1998): A framework, S.31 und Emanuel Adler (1998): Seeds of peaceful change, S.120 und 143. 60 Vgl. Gebhard Schweigler (1995): Driftet die atlantische Gemeinschaft auseinander?, in: Internationale Politik, 51: 6, S.53-60; Hans-Joachim Spanger (1997): Die NATO auf dem Weg zu einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft, in: Friedhelm Solms, Reinhard Mutz und Bruno Schoch (Hg.): Friedensgutachten 1997. Münster: LitVerlag, S.42-53 und Sascha Thamm (2002): Institutionelle Reaktionen der NATO auf die Krisen des Bündnisses. Von der Gründung bis zum NATO-Doppelbeschluss. Osnabrück: Der Andere Verlag, insbesondere S.161-163. 61 Vgl. Michael Hennes (1992): Ist die NATO eine Schicksalsgemeinschaft?, in: Europäische Sicherheit, 41: 12, S.651-656, hier: S.656. 62 Vgl. Alexandra I. Gheciu (2005): Security Institutions as Agents of Socialization? NATO and the ‘New Europe’, in: International Organization, 59: 4, S.973-1012.
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2. Darstellung des Forschungsstands
Kollegen, können unter anderem Sean Kay, Charles Kupchan und Dominique Moïsi gerechnet werden. So behauptet Kay, dass die Annahme einer Sicherheitsgemeinschaft problematisch sei, da Institutionen in Macht- und Interessenrealitäten wurzelten. Er warnt davor, dass institutionelle Irrelevanz und militärische Nutzlosigkeit der NATO die transatlantischen Beziehungen gefährden würden und sieht in der Aufrechterhaltung der seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA und ihren europäischen Verbündeten entwickelten institutionalisierten Sicherheitskooperation – trotz geteilter Interessen – die größte Herausforderung für die europäische Sicherheit im 21. Jahrhundert. Während der Fortbestand des atlantischen Bündnisses schlicht auf den Willen der Mitglieder zurückzuführen sei, laute die entscheidende Frage, wie die Relevanz der NATO und das Engagement der USA konserviert werden könnten. Sollte es nicht gelingen, die internen Verfahrensregeln und Entscheidungsfindungsprozeduren des Bündnisses zu reformieren, so bleibe als Alternative nur eine Stärkung der Europäischen Union. Übernähmen die Europäer die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit, läge dies Kay zufolge durchaus im Interesse der USA. Zweifelsfrei stelle die transatlantische Drift in Gestalt der unterschiedlichen Bewertung von Bedrohungen und unterschiedlicher Herangehensweisen aber ein strategisches Dilemma dar.63 Gegen die Stoßrichtung des Wertegemeinschaftskonstruktivismus argumentiert auch Kupchan, für den Wertedifferenzen ein zentrales Element der atlantischen Entzweiung darstellen. Sowohl unterschiedliche Werte und ökonomische Interessen als auch unterschiedliche politische Kulturen und Schwerpunktsetzungen, etwa der Fokus der EU auf Europa einerseits, jener der USA auf den Rest der Welt andererseits, führten zu einer Teilung des Westens und dem potentiellen Zusammenbruch der NATO. Der Aufstieg Europas und Asiens besiegelte das Ende der US-Hegemonie und mündete in einer multipolaren Welt, in der die USA und Europa nicht länger einen einzigen, sondern zwei Pole bilden würden und in der Europa zum wichtigsten Wettbewerber Amerikas avancieren werde.64 Kupchans Position weist einige Parallelen zur Argumentation von Kagan auf. Dieser vertritt die Ansicht, dass Amerika und Europa ihren gemeinsamen Weg verlassen hätten und über keine gemeinsame Sicht der Welt mehr verfügen würden. Neben fundamentalen Differenzen im Bereich der strategischen Kultur diagnostiziert Kagan sich gegenseitig verstärkende Diskrepanzen auf den Ebenen der Macht und der Ideologie; die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen und Handlungsweisen der Amerikaner und Europäer – Maximierung der Handlungsfreiheit hier, Multilateralismus und Anerkennung des Völkerrechts dort – folgten deren unterschiedlicher Machtposition. Aus diesem Grund resultiere auch Europas größere Bedrohungstoleranz aus seiner Schwäche. Dass jedoch die Macht der USA als Bedrohung der „postmodernen“ europäischen Mission empfunden werde, entbehrt Kagan zufolge nicht der Ironie, da die europäische Sicherheit von außen garantiert werde und Macht aus dieser Perspektive gar nicht nötig zu sein scheine. Angesichts dieser fundamentalen Differenzen habe die NATO genug damit zu tun, nach geteilten Herausforderun-
63 Vgl. Sean Kay (1998): NATO and the Future of European Security. Boulder, CO: Rowman and Littlefield, S.810 und 147/48 sowie ders. (2005): What went wrong with NATO?, in: Cambridge Review of International Affairs, 18: 1, S.69-83. 64 Vgl. Charles A. Kupchan (2002): The End of the West, in: The Atlantic Monthly, 290: 4, S.42-44 und ders. (2003): The End of the American Era: U.S. Foreign Policy and the Geopolitics of the Twenty-First Century. New York: Vintage, S.62, 120, 159 und 334ff.
2.2 Die reflektivistische Herausforderung
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gen und Bedrohungen zu suchen, so dass sich auch die – vor dem „Kalten Krieg“ ohnehin niemals gestellte – Frage nach einer gemeinsamen Strategie des Westens erledigt habe.65 Eine eigene Position im Streit um transatlantische (Werte-) Differenzen vertritt schließlich auch Dominique Moïsi. Europa und die USA seien zwar noch immer durch demokratische Werte und tiefe gemeinsame Interessen vereint, aber weniger vertraut und kompetitiver in ökonomischen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten – wenn nicht sogar in Fragen der Ethik. Zur Erklärung dieses Befunds verweist Moïsi auf das Ende des Kalten Krieges, die Veränderung der „Natur“ Europas und die Globalisierung. Dass weder der islamische Fundamentalismus und der internationale Terrorismus noch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen eine einigende Wirkung vom Ausmaß der früheren Bedrohung durch die Sowjetunion erzielen würden, resultiere in zunehmenden Differenzen bezüglich der Frage, wie diesen Phänomenen begegnet werden solle. In Verbindung mit politischen und sozialen Veränderungen hätten geopolitische Trends nach dem 11. September 2001 einen Rollentausch nach sich gezogen: Mit ihrer Konzentration auf militärische Macht imitierten die USA den Bismarck-Stil der Europäer im späten 19. Jahrhundert, wohingegen Europas Mäßigung und Prinzipientreue bei der Handhabung von Interventionen dem USIdealismus im frühen 20. Jahrhundert ähnele. Trotz unterschiedlicher Interessen, Werte und Sensibilitäten bräuchten beide Seiten einander aber noch immer.66
2.2.3 Post-Paradigmatistische Wertegemeinschaftskonzeptionen Eine dritte und letzte Gruppe im Rahmen der Auseinandersetzung über die Bedeutung von gemeinsamen und trennenden Werten an beiden Ufern des Nordatlantik bilden jene Wertegemeinschaftsverfechter, die ein Interesse an der Wirkmächtigkeit von Sprache eint. Das Hauptaugenmerk der in diesem Abschnitt versammelten Autoren – Veronica Kitchen, Vincent Pouliot, Frank Schimmelfennig und Michael Williams/Iver Neumann – liegt daher auf der diskursiven und praktischen, d.h. im konkreten (diplomatischen) Handeln sich vollziehenden Erzeugung transatlantischer Gemeinsamkeiten. Ihre Motivation ist nicht darauf beschränkt, dem Pessimismus der Neorealisten auf der inhaltlichen Ebene die Stirn zu bieten, sondern sie fordern ihn auch auf den Feldern Ontologie, Epistemologie und Methodologie heraus. Während Williams/Neumann und Kitchen die metatheoretischen Implikationen des Konstruktivismus ernster nehmen als die Anhänger der liberalistischen Variante des Wertegemeinschaftskonzepts dies tun, zeugt Schimmelfennigs Arbeit von einer gewissen Annäherung in der Auseinandersetzung zwischen Rationalisten und Reflektivisten. Pouliot dagegen versucht eine Perspektive zu entwickeln, die dieser Auseinandersetzung vorgeordnet ist.67 65 Vgl. Robert Kagan (2002): Power and Weakness. Why the United States and Europe see the world differently, in: Policy Review, 113, S.1-19 und ders. (2002/03): One Year After: A Grand Strategy for the West?, in: Survival, 44: 4, S.135-139. 66 Vgl. Dominique Moïsi (2001): The Real Crisis Over the Atlantic, in: Foreign Affairs, 80: 4, S.149-153 und ders. (2003): Reinventing the West, in: Foreign Affairs, 82: 6, S.67-73. 67 Da die Autoren dieses Teilabschnitts also auch eine Bereitschaft zur Überwindung von zu eng gezogenen Grenzen zwischen den einzelnen Paradigmen der Internationalen Beziehungen miteinander teilen, werden sie hier als „post-paradigmatistisch“ bezeichnet. Dieses Prädikat verbindet sie mit den Ansätzen, die in Abschnitt 2.4 vorgestellt werden. Was beide Gruppen voneinander unterscheidet, ist, dass die Autoren dieses Abschnitts (2.2.3) unmittelbar mit der „Wertegemeinschaftsdebatte“ in Beziehung gesetzt werden können.
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2. Darstellung des Forschungsstands
Anhand der Beziehungen zu Russland demonstrieren Williams und Neumann im Kontext der Erweiterungsdebatte den Einsatz einer neuen Machtressource durch das atlantische Bündnis. Dabei handelt es sich um die Kraft, sich als qualitativ neue Sicherheitsgemeinschaft zu präsentieren. Daher wird der Fortbestand der NATO mit dem Besitz „narrativer Ressourcen“ in einen Zusammenhang gerückt; die dem Bündnis häufig zugeschriebene Transformation bedeute vor allem, dass seine Identität und Geschichte neu artikuliert und zivilisatorische Gemeinsamkeiten wie das gemeinsame demokratische Fundament der Mitglieder betont würden. Dass die NATO zunehmend als kulturelle oder zivilisatorische Einheit dargestellt und zum militärischen Ausdruck einer kulturellen oder zivilisatorischen Struktur umdefiniert werde, die keine Gegner mehr nötig habe um fortzubestehen, charakterisieren Williams und Neumann als „rhetorische Entterritorialisierung“. Auf diese Weise sei es gelungen, das Bündnis als hochgradig integrierte kulturelle Gemeinschaft darzustellen.68 Eine besonders elaborierte Variante des Wertegemeinschaftsansatzes der zweiten Generation findet sich derweil bei Kitchen. Ausgehend von den Annahmen, dass Sicherheit und Identität untrennbar miteinander verwoben und dass Argumente über Sicherheitspolitik Teil des Prozesses der Identitätskonstruktion einer Gemeinschaft seien, behauptet sie, dass die atlantische Sicherheitsgemeinschaft aus zwei Teilen bestehe. Zum einen sei dies eine weitere, auch Staaten wie Australien, Neuseeland, Japan und Mexiko umfassende, identitätsbasierte „kein Krieg“-Gemeinschaft, in der das Sicherheitsdilemma außer Kraft gesetzt sei und Rüstungsschritte anderer Staaten nicht als Bedrohung empfunden würden, zum andern eine enger gefasste Gemeinschaft, die sich auf ein Verständnis von Identität im Sinne von Normen gegenseitiger Verteidigung, gemeinsamen Werten und einem reflexiven Gemeinschaftsbewusstsein der Mitglieder gründe. Während Kitchen das von ihr als „Atlantizismus“ bezeichnete, aus geteilten Werten und Bedeutungen, langfristiger Reziprozität und einem engen Geflecht an Beziehungen bestehende Konglomerat der kollektiven Identität dieser engeren Gemeinschaft, d.h. der NATO, konzeptionell ganz explizit an Adler/Barnett anlehnt, geht sie doch einen entscheidenden Schritt über den liberalistischen Wertegemeinschaftskonstruktivismus hinaus, indem sie die argumentative Erzeugung der Gemeinschaft in den Vordergrund rückt. Da sich eine Zerstörung der Gemeinschaft der NATO-Staaten als die Bedrohung herausgestellt habe, vor der sich die Mitglieder am meisten fürchteten, empfänden sie eine Verpflichtung, politische Debatten auch weiterhin in den Kontext der atlantischen Gemeinschaft zu rücken. Das „Überleben“ der atlantischen Gemeinschaft steht Kitchen zufolge daher in einem engen Zusammenhang mit deren öffentlicher (Re-) Artikulation durch Argumente von Seiten der Mitglieder, insbesondere auf dem Wege der sprachlichen Erzeugung einer gemeinsamen Identität durch erfolgreiches Argumentieren in Krisen.69 Pouliot arbeitet sich ebenfalls an dem von Deutsch entwickelten und von Risse sowie Adler/Barnett in die Debatte über den Fortbestand der NATO eingeführten Konzept der Sicherheitsgemeinschaft ab. Da die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft maßgeblich von „institutionalisierten Prozeduren“ (Deutsch) der friedlichen Beilegung von Konflikten am Leben erhalten werde, könne sie auch als eine Gemeinschaft verstanden werden, die 68 Vgl. Michael C. Williams/Iver B. Neumann (2000): From Alliance to Security Community: NATO, Russia, and the power of identity, in: Millennium: Journal of International Studies, 29: 2, S.357-387, hier: S.366-372 und 385/86. 69 Vgl. Veronica M. Kitchen (2006): Arguing identity and security: out-of-area intervention and change in the Atlantic community, Dissertation, Brown University, Providence, Rhode Island, S.2-12, 31, 190 und 257ff.
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von der Praxis der Diplomatie konstituiert werde. Solange Diplomatie von den relevanten Sicherheitspolitikern als selbstverständliches Mittel zur Lösung von zwischenstaatlichen Streitigkeiten angesehen werde, herrsche Frieden unter den Mitgliedern. Zur Beantwortung der Frage, wie die Praxis der Diplomatie einen solchen Status als selbstverständliches Mittel der Konfliktbeilegung innerhalb der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft habe erlangen können, lehnt Pouliot das aus seiner Sicht konventionelle konstruktivistische Argument einer Internalisierung von Normen ab und verweist stattdessen auf das Konzept der „symbolischen Macht“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Demnach sei es den dominanten transatlantischen Sicherheitspolitikern durch das wie selbstverständliche Praktizieren von Diplomatie möglich gewesen, ihrem friedlichen Miteinander den Status normalen und nicht weiter zu hinterfragenden Handelns zu verleihen.70 Die Pointe von Schimmelfennigs Arbeit besteht schließlich darin, dass der NATO aus der Gemeinschafts- und Solidaritätsrhetorik ihrer führenden Repräsentanten eine argumentative Selbstverpflichtung zur Aufnahme neuer Mitglieder erwachsen sei. Vor dem Hintergrund ihrer Selbstbeschreibung als liberale und demokratische Gemeinschaft auf der Basis einer kollektiven Identität in Gestalt liberaler Werte und Normen, aufgrund der zahlreichen Bekundungen, mithilfe dieser Werte und Normen einen stabilen Frieden in Mittel- und Osteuropa sowie eine demokratische und solidarische internationale Gemeinschaft aufzubauen und nicht zuletzt in Anbetracht der vielen Erklärungen, die liberale Demokratie und den Multilateralismus stärken zu wollen, habe die NATO die Erweiterung schon deshalb vollziehen müssen, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren.71
2.3 Zwischentöne Der klassische, primär die innere Verfasstheit der Mitgliedstaaten in den Blick nehmende Liberalismus, eine eher optimistische Variante des Realismus und die Arbeiten all jener Postmodernisten, die sich nicht auf den Gemeinschaftsaspekt des Bündnisses beschränken, gehören zu den theoretischen Positionen, die nicht unmittelbar im Zentrum der Debatte um den Fortbestand der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation stehen, weil sie – anders als der Neorealismus, der neoliberalistische Institutionalismus und der Wertegemeinschaftskonstruktivismus – seltener und weniger explizit von den Anhängern konkurrierender Paradigmen herausgefordert werden. Da diese Ansätze dennoch eigenständige Antworten auf die Forschungsfrage liefern, werden sie im Folgenden nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit kurz dargestellt. 70
Vgl. Vincent Pouliot (2006): The Alive and Well Transatlantic Security Community: A Theoretical Reply to Michael Cox, in: European Journal of International Relations, 12: 1, S.119-127, hier: S.120/21 und ders. (2008): The Logic of Practicality: A Theory of Practice of Security Communities, in: International Organization, 62: 2, S.257-288, hier: S.278-83. Zu Diplomatie als Praxis vgl. auch Iver Neumann (2002): Returning Practice to the Linguistic Turn: The Case of Diplomacy, in: Millennium: Journal of International Studies, 31: 3, S.627-651. Das Argument, dass Sicherheitsgemeinschaften von bestimmten Praktiken konstituiert würden, findet sich inzwischen auch bei Adler. Vgl. Emanuel Adler (2008): The Spread of Security Communities: Communities of Practice, Selfrestraint, and NATO’s Post-Cold War Transformation, in: European Journal of International Relations, 14: 2, S.195-230. 71 Vgl. Frank Schimmelfennig (1999): NATO Enlargement: A Constructivist Explanation, in: Glenn Chafetz, Michael Spirtas und Benjamin Frankel (Hg.): The Origins of National Interests. London/Portland, OR: Frank Cass, S.198-234 und ders. (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge: Cambridge University Press, S.77-111 und 229-264.
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2. Darstellung des Forschungsstands
2.3.1 Klassischer Liberalismus Nach dem neoliberalistischen Institutionalismus und dem liberalistischen Wertegemeinschaftskonstruktivismus wird nun eine dritte Gruppe von Autoren vorgestellt, deren Arbeiten eine „liberalistische“ Perspektive auf die internationalen Beziehungen kennzeichnet. Zu dieser gehören neben Ivo Daalder beispielsweise auch Harald Müller, Peter Rudolf und Reinhard Wolf. Im Unterschied zu den beiden zuvor behandelten Varianten richtet sich der für den Liberalismus charakteristische Binnenfokus in diesem Fall aber nicht primär auf die zwischenstaatliche Institution NATO, sondern eher auf deren Konstituenten. Dabei wird zumeist zwischen den USA auf der einen und „Europa“ auf der andern Seite differenziert. Geradezu klassisch liberalistisch argumentiert Wolf, dass der Zusammenhalt siegreicher Allianzen in erster Linie von der Harmonie der Präferenzen der involvierten Staaten abhänge; nicht die internationale Machtverteilung oder der Einfluss von Institutionen, sondern das Akteursinteresse sei entscheidend. Vor dem Hintergrund einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen den Siegern der Napoleonischen Kriege und der beiden Weltkriege kommt Wolf zu dem Ergebnis, dass der Zerfall erfolgreicher Koalitionen nicht unvermeidlich sei und zeigt sich mit Blick auf den Zusammenschluss, dem es gelungen ist, die Sowjetunion erfolgreich einzudämmen, zuversichtlich, dass der liberale Charakter der USA, Japans und Westeuropas einer Fortsetzung ihrer partnerschaftlichen Beziehungen zuträglich sei.72 Das Hauptaugenmerk von Müller und Rudolf liegt indes auf der Innenseite der Außenpolitik der Vereinigten Staaten. So macht Rudolf ein neues strategisches Paradigma der USA aus, das die Bewahrung der überlegenen Machtposition mit dem Streben nach strategischer Unabhängigkeit und der Durchführung von Präventivschlägen verbinde. Das Unbehagen der amerikanischen Konservativen gegenüber der Abschreckung, die Hypersensibilität in Bezug auf Bedrohungen, die vorhandene Macht zur vorbeugenden Ausschaltung von potentiellen künftigen Bedrohungen und das Streben nach absoluter Sicherheit mündeten in ein imperiales Projekt mit ungewissem Ausgang.73 Auch Müller, der bereits 1991 prognostiziert hatte, dass die NATO weniger wichtig und auf die Abstimmung der Militärpolitik der Mitglieder reduziert werde, da trotz gemeinsamer Interessen unterschiedliche Auffassungen über Instrumente, Schwerpunkte und die Kostenverteilung im Bündnis vorherrschten, beobachtet die Entwicklung in den Vereinigten Staaten mit einiger Sorge. Nachdem bereits in den 1970er Jahren eine Rechtsverschiebung der das politische Spektrum dominierenden Strömungen eingesetzt habe, werde die Regierung von George W. Bush nun von äußerst rechten Kräften getragen. Trotz einer gemeinsamen liberalen Grundlage könnten sich Amerikaner und Europäer nicht darüber verständigen, wie Demokratie und Menschenrechte weltweit durchzusetzen seien. Während die Neokonservativen in den USA zu diesem Zweck nicht vor der Anwendung von Gewalt zurückschreckten, favorisiere eine breite Mehrheit in Europa kooperative Lösungen und die Einhaltung des Rechts. Vor diesem Hintergrund gelangt Müller zu der Schlussfolgerung,
72 Vgl. Reinhard Wolf (2000): Was hält siegreiche Verbündete zusammen? Machtpolitische, institutionelle und innenpolitische Faktoren im Vergleich, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 7: 1, S.33-78, hier: S.68-71. 73 Vgl. Peter Rudolf (2003): Der 11. September, die Neuorientierung amerikanischer Politik und der Krieg gegen den Irak, in: Zeitschrift für Politik, 50: 3, S.257-280, hier: S.258/59 und 280.
2.3 Zwischentöne
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dass sich der transatlantische Dissens „mangels eines klar identifizierbaren Feindes“ nun voll auf die politischen Beziehungen der NATO-Partner auswirke.74 Derweil konstatiert Daalder, dass das atlantische Bündnis zwar noch immer eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft konstituiere, in Ermangelung einer einigenden Bedrohung inzwischen aber weniger zentral sei als während der Blockkonfrontation. Wachsende Unterschiede hinsichtlich der außenpolitischen Prioritäten und Ansätze hätten zu einer Vertrauenskrise geführt, die durch den Aufstieg einer neuen Politikergeneration, den Gegensatz zwischen einer konservativen US-Administration und europäischen Mitte-LinksRegierungen, die zunehmende Differenz der relativen Machtposition und das Ende des „Kalten Krieges“ noch verstärkt worden sei. Mit Blick auf Europas Präferenz für diplomatische und friedenserhaltende Lösungen und dem auf Terrorismus, „Schurkenstaaten“ und Massenvernichtungswaffen fixierten Fokus der USA erklärt Daalder, dass politische Auseinandersetzungen innerhalb der NATO keineswegs neu seien – neu sei allerdings, der jeweils anderen Weltsicht beinahe ohne jede Toleranz zu begegnen.75
2.3.2 Optimistischer Realismus Wie der Liberalismus präsentiert sich im Kontext der Debatte über den Fortbestand der NATO nach dem Ende der Systemauseinandersetzung auch das realistische Paradigma der Internationalen Beziehungen durchaus facettenreich. Seine Anhänger argumentieren keineswegs nur zugunsten eines unausweichlichen Zerfalls des atlantischen Bündnisses, sondern gelangen – wie zum Beispiel David Calleo und Charles Glaser – auch zu optimistischeren Einschätzungen. „Unipolaristen“ wie William Wohlforth treten derweil das Erbe der Theorie der hegemonialen Stabilität an, deren Vertreter das Bestehen internationaler Institutionen in der „westlichen“ Hemisphäre zur Zeit der Blockkonfrontation auf das Wirken des Hegemons USA zurückgeführt haben. Glaser empfiehlt den Erhalt der NATO, da er sie für geeignet hält, mit dem vollen Spektrum der post-sowjetischen Herausforderungen umzugehen. Zu ihren Qualitäten rechnet er den Schutz gegen ein wiedererstarkendes Russland, die effektive Ausdehnung von Sicherheitsgarantien auf die Staaten Mittel- und Osteuropas, die Fähigkeit zur Durchführung „humanitärer Interventionen“, den Erhalt einer amerikanischen Präsenz in Europa, den effektiven Schutz westlicher Interessen in Zentraleuropa und nicht zuletzt eine kluge Versicherungspolitik gegen Bedrohungen aus dem Osten und gegen Sicherheitswettbewerb im Westen.76 Rynning, der sich als einen klassischen, die Bedeutung von Ideen anerkennenden Realisten bezeichnet, sieht die Bündnispartner aufgrund geopolitischer Interessen gar zu einer Aufrechterhaltung der transatlantischen Zusammenarbeit verpflichtet. Der Kampf
74 Vgl. Harald Müller (1991): Primat Europas? Europapolitische Konzeptionen in den USA, in: Bernd W. Kubbig (Hg.): Transatlantische Unsicherheit. Die amerikanisch-europäischen Beziehungen im Umbruch. Frankfurt/M.: Fischer, S.233-248, hier: S.240 und 248 sowie ders. (2004): Das transatlantische Risiko – Deutungen des amerikanisch-europäischen Weltordnungskonflikts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 54: 3-4, S.7-18, hier: S.15/16. 75 Vgl. Ivo H. Daalder (2001): Are the United States and Europe Heading for Divorce?, in: International Affairs, 77: 3, S.553-567 und ders. (2003): The End of Atlanticism, in: Survival, 45: 2, S.147-166. 76 Vgl. Charles Glaser (1993): Why NATO is still best, in: International Security, 18: 1, S.5-50.
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2. Darstellung des Forschungsstands
gegen den Terrorismus habe der NATO zudem eine neue Daseinsberechtigung verliehen, die in der Erweiterung und Verteidigung einer Zone demokratischen Friedens bestehe.77 Während Mastanduno die NATO nach dem 11. September 2001 als ein starkes, mit seiner Herausforderung wachsendes Bündnis wahrnimmt und auch Grieco nur wenige wirkliche Hindernisse für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit, nur wenige Probleme, die zu einem wirklichen Interessenkonflikt führen könnten, dafür aber grundlegend konvergierende Werte und Interessen der Verbündeten ausmacht, skizziert Art einen transatlantischen Kompromiss auf Basis der Annahme, dass Macht und Sicherheit als Motive der westeuropäischen Staaten weiterhin ernst genommen werden müssten. Arts Vorschlag sieht vor, dass die USA militärisch in Europa engagiert bleiben und einen europäischen Pfeiler in der NATO akzeptieren sollten, sofern die (West-) Europäer den Primat des atlantischen Bündnisses in Angelegenheiten der europäischen Sicherheit und Verteidigung anerkennen würden. Auf diesem Weg gelänge es den Vereinigten Staaten nicht nur, einer Schwächung des westeuropäischen Zusammenhalts durch äußere Bedrohungen und interne Ängste entgegenzuwirken, die europäischen Einheitsbestrebungen zu unterstützen und Vorkehrungen gegen ein erneutes Erstarken des Nationalismus in Europa zu treffen, sondern auch, den politisch-ökonomischen Zusammenhalt über den Atlantik zu bewahren und eine nukleare Bewaffnung Deutschlands ebenso zu verhindern wie den Ausbruch eines europäischen Sicherheitswettbewerbs.78 Indes hält Wohlforth die Fortsetzung der amerikanisch-europäischen Partnerschaft für die Standardoption in einem unipolaren System. Um die seit dem Ende der Sowjetunion bestehende absolute Dominanz der Vereinigten Staaten zu konservieren, halten Brooks und er es für erforderlich, auch weiterhin ein Interesse an den Interessen anderer zu demonstrieren.79 Expliziter und weniger wohlwollend als die „Unipolaristen“ um Wohlforth rückt Calleo die einzigartige Machtposition der USA in einen Zusammenhang mit dem Fortbestand des atlantischen Bündnisses. Bei seiner Argumentation handelt es sich gewissermaßen um eine kritische Variante der realistischen Theorie der hegemonialen Stabilität. Bereits 1989 charakterisierte Calleo die NATO als ein auf europäischen Wunsch hin geschaffenes hegemoniales US-Protektorat, das zu hohe Kosten verursache und somit für den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten mitverantwortlich sei. Im Kern hat Calleo diese Einschätzung über die Jahre nicht geändert. Um den Zusammenbruch der Sowjetunion zu überdauern, bedürfe es nach wie vor einer Neuausbalancierung der gesamten transatlantischen Beziehungen: Nur wenn die Verbündeten künftig selbst für ihre Sicherheit aufkämen, sei es möglich, dass die USA vom hegemonialen Schutzherrn zum unterstützenden Partner Europas würden. Während das US-Militärbudget grotesk groß und fehlgerichtet sei und der Unilateralismus nur die Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten erhöhe, liege ein starkes Europa ganz im amerikanischen Interesse. Wenn die EU als vitaler Teil des weltpo77 Vgl. Sten Rynning (2005): NATO Renewed. The Power and Purpose of Transatlantic Cooperation. Houndmills: Palgrave, S.169 und 178-84. 78 Vgl. Michael Mastanduno (2002): Die euro-atlantischen Beziehungen und die unilaterale Herausforderung, in: Meier-Walser/Luther (Hg.): Europa und die USA, S.197-204, hier: S.200; Joseph M. Grieco (2002): Starke Gemeinsamkeiten bei der Lösung globaler Fragen – Ein zuversichtlicher Blick auf die euro-atlantische Kooperation, in: Meier-Walser/Luther (Hg.): Europa und die USA, S.267-278, hier: S.277/78 und Robert J. Art (1996): Why Western Europe Needs the United States and NATO, in: Political Science Quarterly, 111: 1, S.1-39. 79 Vgl. William C. Wohlforth (2002): Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen in einer unipolaren Welt, in: Meier-Walser/Luther (Hg.): Europa und die USA, S.305-318, hier: S.313 und Stephen G. Brooks/ders. (2002): American Primacy in Perspective, in: Foreign Affairs, 81: 4, S.20-33.
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litischen Konzepts der USA und die USA als Stabilisator der EU sich gegenseitig ausbalancierten, könnte die unplausible und dysfunktionale unipolare Welt durch ein globales Konzert auf Basis der bereits bestehenden tiefen transatlantischen Freundschaft ersetzt werden.80
2.3.3 Postmodernismus Unter dem keineswegs pejorativ zu verstehenden Sammelbegriff „Postmodernismus“ werden nun noch einige eher heterogene Beiträge zur Auseinandersetzung über den NATOFortbestand versammelt, für die kennzeichnend ist, dass sich ihre Autoren – etwa Bradley Klein und Mikkel Vedby Rasmussen – recht deutlich von den die Fachdebatte bestimmenden realistischen, institutionalistischen und liberalistischen Ansätzen abgrenzen. An das Theorem einer diskursiven Erzeugung der atlantischen Sicherheitsgemeinschaft, das die Wertegemeinschaftsverfechter der zweiten Generation vertreten, lassen sie sich allerdings auch nicht unmittelbar anschließen. Neben Klein, der in den Praktiken der NATO die Selbst-Konstitution des Westens ausmacht, das Bündnis für seine Rhetorik der Sicherung des westlichen Lebensstils schilt und der strategischen Forschung – den „strategic studies“ – vorwirft, kulturelle Konstruktionen wie die westliche Kultur zu reifizieren, gehört in diesen Kreis auch Cronin, der um den Nachweis bemüht ist, dass transnationale Identitäten den Schlüssel zur Erklärung der Entstehung zusammenhaltender Sicherheitsarrangements darstellen.81 Rasmussen vertritt derweil die These, dass die NATO nach dem „Kalten Krieg“ ihren Sicherheitsbegriff und ihre Identität umdefiniert habe. Indem es sich selbst neu erfunden und ein westliches Forum für die Neuerfindung von Sicherheit bereitgestellt habe, sei das atlantische Bündnis zur zentralen Institution beim Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur geworden. Auf der Grundlage einer Konzeptualisierung des Gegenstands der Sicherheit als „Herausforderungen und Risiken“ habe die NATO nicht nur ihren eigenen Sicherheitsbegriff ausgedehnt, sondern auch das neue Sicherheitsumfeld geprägt. Inmitten eines Geflechts aus Sicherheitsthemen, Interessen und Institutionen präsentiere sich das Bündnis als stabile Sicherheitsstruktur – und seine eigene Politik nicht nur als Fortsetzung eines „beständigen Zwecks“, sondern auch als neues sicherheitspolitisches Handeln.82 Besondere Beachtung hat schließlich ein Aufsatz von Peter van Ham verdient, der als einer der wenigen Nicht-Neorealisten zu einer eindeutig negativen Einschätzung der Aussichten des NATO-Fortbestands kommt. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Bedrohungen, auseinanderdriftende „Gouvernementalitäten“ (Michel Foucault) sowie veränderte Erfahrungen und Präferenzen zögen einen Wandel der Identitäten nach sich, der sich auch auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Verbündeten auswirke. Konkret umfasst das 80
Vgl. David P. Calleo (1989): The American Role in NATO, in: Journal of International Affairs, 43: 1, S.19-28; ders. (1989): Die Zukunft der westlichen Allianz. Die NATO nach dem Zeitalter der amerikanischen Hegemonie. Stuttgart: Bonn Aktuell, S.9, 15 und 22; ders. (2003): Transatlantic Folly: NATO vs. the EU, in: World Policy Journal, 20: 3, S.17-24 sowie ders. (2004): The Broken West, in: Survival, 46: 3, S.29-38. 81 Vgl. Bradley Klein (1990): How the West was One: Representational Politics of NATO, in: International Studies Quarterly, 34: 3, S.311-325 und Bruce Cronin (1999): Community under anarchy: transnational identity and the evolution of cooperation. New York: Columbia University Press, S.125 und 140/41. 82 Vgl. Mikkel Vedby Rasmussen (2001): Reflexive Security: NATO and International Risk Society, in: Millennium: Journal of International Studies, 30: 2, S.285-309.
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2. Darstellung des Forschungsstands
Faktorenbündel, das van Ham zur Unterstützung seiner These, dass die NATO nicht fortbestehen werde, anführt: divergierende Einstellungen der Partner zu militärischer Macht und internationalem Recht, die Abwesenheit einer spezifischen Bedrohung, die Ausweitung kultureller transatlantischer Diskrepanzen bis hin zur Unterminierung der kulturellen Basis des Bündnisses, das Schwinden von dessen praktischer Relevanz aufgrund der Entfaltung militärischer Strukturen der EU, sowie ein Prozess der „OSZE-isierung“.83
2.4 Postparadigmatismus Die letzte Stufe der Darstellung des Forschungsstands bleibt jenen Ansätzen vorbehalten, die in keiner der voranstehenden Kategorien wirklich gut aufgehoben wären. Zwar mag dies auch für einige der Erklärungsangebote gelten, die zuvor dennoch einer Rubrik zugeordnet worden sind, doch charakterisiert die in diesem Abschnitt präsentierten Autoren darüber hinaus noch ein gewisser Antrieb, für „produktive Irritation“ zu sorgen und allzu eng gezogene Grenzen zwischen den Theorien der Internationalen Beziehungen zu überwinden. In besonderem Maße gilt dies für Hellmann, der unmissverständlich Kritik an der paradigmatistischen Behandlung von Schlüsselphänomenen der internationalen Beziehungen übt. Anstelle der kontraproduktiven Rivalität der Paradigmen, die sich bezüglich der NATO in deren Charakterisierung durch die drei Hauptdenkschulen als Allianz (Realismus), Sicherheitsmanagement-Institution (Institutionalismus) und Sicherheitsgemeinschaft (Konstruktivismus) erschöpfe, empfiehlt er, das atlantische Bündnis als ein Phänomen „sui generis“ zu begreifen. Mithilfe seiner Alternative eines „transparadigmatistischen Pragmatismus“ hofft er, die Hauptantriebskräfte der NATO zu analysieren und so die möglichen und plausiblen Zukünfte des Bündnisses skizzieren zu können.84 Auf kreative Weise überwinden auch Sjursen, Thomas, Jackson, Hemmer/Katzenstein und Kratochwil die Paradigmengrenzen der Internationalen Beziehungen. So weist Sjursen darauf hin, dass gemeinsame Normen und Regeln noch keine demokratischen Praktiken garantieren. Entgegen der Illusion demokratischer Legitimität sei die NATO kein Kantischer Friedensbund und verfüge weder über ein demokratisches Mandat noch über eine demokratische Entscheidungsstruktur. Sjursen charakterisiert das Bündnis als ein multilaterales Sicherheitsarrangement, das demokratischen Prinzipien nur auf fragile Art und Weise verpflichtet sei. Während Sicherheit in der NATO eine höhere Priorität genieße als demokratisches Regieren, sei auch die Beachtung multilateraler Prinzipien an das Wohlwollen der Mitglieder gebunden. Gleichwohl könne das Bündnis als eine Schicksalsgemeinschaft charakterisiert werden, die von einem gemeinsamen Ethos, einer gemeinsamen Geschichte und von Dankbarkeit gegenüber den USA geprägt sei und deren Fortbestand nicht nur von relativen Kostenvorteilen der Aufrechterhaltung gegenüber einer institutionellen Neuschaffung, sondern auch von einem Wiedererstarken des gegenseitigen Vertrauens abhänge. Thomas rückt das „Überleben“ der NATO derweil mit ihrem formbaren Charakter in einen 83
Vgl. Peter van Ham (2001): Security and Culture, or, why NATO won’t last, in: Security Dialogue, 32: 4, S.393406. 84 Vgl. Peter Feaver, Gunther Hellmann, Randall Schweller, Jeffrey Taliaferro, William Wohlforth, Jeffrey Legro und Andrew Moravcsik (2000): Correspondence. Brother, Can You Spare a Paradigm? (Or Was Anybody Ever a Realist?), in: International Security, 25: 1, S.165-193 und Gunther Hellmann (2006): A Brief Look.
2.4 Postparadigmatismus
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Zusammenhang. Seine Wandlungsfähigkeit habe es dem Bündnis ermöglicht, den veränderten Anforderungen des internationalen politischen Lebens zu entsprechen. Er charakterisiert die NATO als eine relativ demokratische und kooperative Organisation, der es zwar an formalen Regeln und Wahlverfahren mangele, die dafür aber über die Fähigkeit verfüge, veränderbare Konzepte ihrer selbst zu entwerfen. Dazu gehöre vor allem die Veränderung der Formulierung jener politischen Ziele, welche die NATO befürworte und ablehne.85 Während Jackson behauptet, dass die NATO bei ihrer Gründung die westliche Zivilisation als Referenzgemeinschaft in Anspruch genommen habe und Hemmer/Katzenstein die Schaffung der nordatlantischen Gemeinschaft mithilfe der Konzepte Identität, materielle Faktoren und instrumentelle politische Kalkulationen als Kodifizierung einer seit Jahrhunderten bestehenden politischen Gemeinschaft erklären, betont Kratochwil, dass es sich bei der NATO nicht um eine Wertegemeinschaft, bei der transatlantischen Öffentlichkeit aber um eine Illusion handele. Das atlantische Bündnis folge einem Interessenfokus – doch dürften Präferenzen nicht als extern gegeben missverstanden werden.86 Borinski, Weber und Nau vertreten ebenfalls eklektisch-synthetische Positionen. So versteht Borinski das atlantische Bündnis einerseits zwar als eine Gemeinschaft, in der bestimmte Normen ein Eigenleben führen, verbindet dies mithilfe der drei Annahmen einer Hegemonie der USA, der Eindämmung Deutschlands und der Möglichkeit zu „Trittbrettfahrerei“ auf Kosten des Hegemons andererseits aber eng mit typischen Erklärungsfaktoren realistischer Ansätze. Ähnlich sieht auch Weber in der NATO sowohl eine Allianz als auch eine Sicherheitsgemeinschaft, die neue Funktionen übernehme und spezifische Fähigkeiten entwickle, um (Sicherheits-) Risiken zu reduzieren. Die gemischte institutionelle Struktur des atlantischen Bündnisses bringe einen Kompromiss zum Ausdruck, der es ermöglicht, Westeuropa gegen Aggressionen von außen zu verteidigen und Gewalt unter den Mitgliedern zu verhindern.87 Geleitet von der Annahme, dass Identität die Bestimmungsgröße für Macht, Bedrohungen und Interessen sei, hält Nau einen Mentalitätswandel in den USA, der weltweites Engagement auch ohne akute militärische Bedrohungen erlaubt, für eine zentrale Voraussetzung der Aufrechterhaltung des atlantischen Bündnisses. Wenn die Vereinigten Staaten lernten, Macht und Verantwortung mit den reifen Demokratien in Europa und Asien zu teilen, dann würden ihre Kerninteressen im 21. Jahrhundert unangreifbar sein („unassailable“). Ein gemäßigter und respektvoller Umgang miteinander sei dazu jedoch unerlässlich.88 Für produktive Irritation im Sinne einer Infragestellung enger Grenzen zwischen den theoretischen Strömungen innerhalb der Internationalen Beziehungen sorgen schließlich 85 Vgl. Helene Sjursen (2004): On the identity of NATO, in: International Affairs, 80: 4, S.687-703 und Ian Q. R. Thomas (1997): The Promise of Alliance: NATO and the Political Imagination. Lanham, MD: Rowman & Littlefield, S.7, 177 und 182/83. 86 Vgl. Patrick Thaddeus Jackson (2003): Defending the West. Occidentalism and the Formation of NATO, in: The Journal of Political Philosophy, 11: 3, S.223-252; Christoph Hemmer/Peter J. Katzenstein (2002): Why is there no NATO in Asia? Collective Identity, Regionalism, and the Origins of Multilateralism, in: International Organization, 56: 3, S.575-607 und Friedrich V. Kratochwil (2002): ‚Sand im Getriebe des transatlantischen Motors‘ – Die Zukunft der euro-atlantischen Beziehungen, in: Meier-Walser/Luther (Hg.): Europa und die USA, S.235-242. 87 Vgl. Philipp Borinski (2002): Die zweite Chance der NATO seit 1990: ‚Furcht‘ als Erklärungsfaktor, in: MeierWalser/Luther (Hg.): Europa und die USA, S.186-196; Steve Weber (1992): Does NATO have a future?, in: Beverly Crawford (Hg.): The Future of European Security. Berkeley, CA: University of California Press, S.360395 und ders. (o.J.): NATO Expansion, CIAO Draft. 88 Vgl. Henry R. Nau (2002): At Home Abroad: Identity and Power in American Foreign Policy. Ithaca, NY: Cornell University Press, S.6, 42 und 259.
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2. Darstellung des Forschungsstands
auch Lepgold und Huysmans, die Konzepte fruchtbar zu machen suchen, die in der politischen Ökonomik und der Soziologie beheimatet sind. So betont Lepgold, dass sich die NATO in den 1990er Jahren neu definiert habe und daher nicht nur den Kern einer erweiterten Sicherheitsgemeinschaft in West- und Zentraleuropa, sondern auch ein Werkzeug zum Management von Konflikten darstelle. Um die in der effektiven und verlässlichen Ausführung multilateraler Friedensoperationen bestehende neue Aufgabe erfolgreich auszufüllen, sei es erforderlich, für größere Koinzidenz zwischen den Handlungsanreizen auf Seiten des Bündnisses und jenen auf Seiten seiner Mitglieder zu sorgen. Auf der Grundlage einer Konzeptionalisierung von Friedensoperationen als einem Problem kollektiven Handelns im Kontext der Bereitstellung öffentlicher Güter empfiehlt Lepgold, die erforderlichen Anreize auf dem Wege einer Übertragung von Verantwortung auf die Mitgliedstaaten zu schaffen.89 Im Anschluss an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu vertritt Huysmans schließlich die These, dass es der NATO im Kosovo gelungen sei, „humanitäres Kapital“ zu entwickeln. Neben seinem sozialen, organisatorischen und symbolischen Vermögen sei dafür vor allem die Konversion des militärischen Kapitals des Bündnisses verantwortlich. Trotz der zunehmenden Identifikation aufgrund von geteilten Werten habe die politische Relevanz des militärischen Vermögens eine Schlüsselrolle in diesem Prozess gespielt. Im Zuge der Konversion von militärischem in politisches und humanitäres Kapital sei es dem Bündnis nicht nur gelungen, seine Reputation und Autorität zu stärken, sondern auch, den humanitären Wert militärischer Fähigkeiten zu demonstrieren.90
2.5 Fazit Aus der obigen Darstellung, die, von der ein oder anderen Nuance zu Zwecken der besseren Differenzierung einmal abgesehen, den konventionellen Selbstbeschreibungen des Faches folgt, geht zunächst einmal hervor, dass viele der bislang vorgelegten Arbeiten zum Fortbestand der NATO recht schlüssig und für sich genommen durchaus überzeugend sind. Gleichwohl gilt insbesondere für die Erklärungsversuche der drei die Debatte prägenden Großtheorien Neorealismus, Neoinstitutionalismus und liberalistischer „Konstruktivismus“, dass sie alles andere als unproblematisch sind. So müssen sich die pessimistischen Neorealisten – ungeachtet aller Reibungspunkte, die ihr Ansatz auf der Ebene seiner Prämissen bieten mag – vor allem die Fragen gefallen lassen, welchen Zeitraum sie bis zum Eintritt ihrer negativen Prognosen veranschlagen und worin sich eine temporäre Krise der NATO von deren dauerhafter Irrelevanz unterscheidet. Den meisten Vertretern dieser Denkschule mangelt es an der Courage ihres Kollegen Rajan Menon, der eine Stationierung von US-Truppen in Europa, Südkorea und Japan im Jahr 2020 zum Indikator für die (Un-) Richtigkeit seiner These vom Ende der Epoche der Eindämmungspakte macht. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Kenneth Waltz, der die Beistandserklärung des Bündnisses im Jahr 2000 für obsolet und die NATO damit für „verschwunden“ erklärt hat. Doch angesichts der Aktivierung des Bündnisfalles, die am 4. Ok89 Vgl. Joseph Lepgold (1998): NATO’s Post-Cold War Collective Action Problem, in: International Security, 23: 1, S.78-106. 90 Vgl. Jef Huysmans (2002): Shape-shifting NATO: humanitarian action and the Kosovo refugee crisis, in: Review of International Studies, 28: 3, S.599-618.
2.5 Fazit
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tober 2001 im Zuge der Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September erfolgte, dürfte diese Aussage – trotz aller Unwägbarkeiten, die der Anti-Terror-Kampf mit sich gebracht hat – inzwischen hinfällig geworden sein. Derweil besteht das Hauptproblem der ökonomischen, teilweise aber auch der politischen Variante des Neoinstitutionalismus darin, dass seine Anhänger dazu tendieren, politische Entscheidungen auf Kosten-Nutzen-Erwägungen zu reduzieren. Politik läuft damit jedoch stets Gefahr, in den Rang einer „Magd der Ökonomie“ herabgestuft zu werden. Darüber hinaus wird bei den institutionalistischen Ansätzen oft nicht klar, ob es sich bei der Mehrung eines Nutzens oder der Erfüllung einer politischen Funktion um die Intention handelnder Akteure, um eine Strukturnotwendigkeit, oder um einen analytischen Befund handelt. Die Protagonisten des liberalistischen Wertegemeinschaftskonstruktivismus setzen sich schließlich dem Verdacht aus, ein allzu idealistisches Bild des atlantischen Bündnisses zu zeichnen. Vor dem Hintergrund der starken Stellung des türkischen Militärs und der nach wie vor höchst prekären Lage in den Kurdengebieten im Südosten des Landes, aber auch angesichts der Nachsicht der Verbündeten gegenüber der griechischen Militärdiktatur in den Jahren 1967-1974 und dem bis 1974 herrschenden faschistischen Regime in Portugal wird deutlich, dass von einer demokratischen Wertegemeinschaft allenfalls mit der Einschränkung gesprochen werden kann, dass sich die Bündnispartner den Status einer Demokratie bisweilen recht großzügig zugestehen. Weniger weit ausholend könnte zudem – mit Helene Sjursen – argumentiert werden, dass das gemeinsame Ethos einer sicherheitspolitischen Schicksalsgemeinschaft etwas anderes ist als gemeinsame demokratische Prinzipien. Jenseits dieser inhaltlichen Einwände liegt mit dem methodischen Vorgehen – der Art und Weise, wie die hier zusammengetragenen Antworten auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation erzeugt worden sind – allerdings noch eine zweite Ebene der Kritik. Auf dieser können die meisten der berücksichtigten Arbeiten in zwei Gruppen unterteilt werden. Die etwas kleinere dieser Gruppen umfasst Essays in praxisnahen Zeitschriften, die größere Exemplare subsumtionslogisch operierender Forschung. Während die einen – Asmus, Kupchan, Kagan, Moïsi und Daalder etwa – in erster Linie ihre politische Meinung über die Perspektiven des atlantischen Bündnisses kundtun (möglicherweise mit dem Ziel, öffentliche Diskussionen in eine von ihnen favorisierte Richtung zu lenken), subsumieren die anderen – Waltz und Mearsheimer ebenso wie Keohane, Wallander, Risse und Adler – den Untersuchungsgegenstand unter vorab formulierte Kategorien, die sie von außen an ihn herantragen. Damit berauben sie sich jedoch vieler Möglichkeiten, um im Rahmen einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung neue Erkenntnisse über ihren Gegenstand zu gewinnen. Das Phänomen subsumtionslogischer Forschung kennzeichnet alle hier präsentierten theoretischen Strömungen; auch die Postparadigmatisten, die zu eng gezogene Grenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen der Internationalen Beziehungen kreativ zu überwinden suchen, sind davon nicht ausgenommen. Für eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Autoren – unabhängig davon, in welche Rubrik sie eingeordnet wurden und wie gut sie dort im Einzelnen aufgehoben sind – scheint die Erforschung eines politikwissenschaftlichen Gegenstands vor allem Folgendes zu bedeuten: Zunächst wird eine Idee ersonnen, ehe die Äußerung eines Politikers, die Stelle eines Dokuments oder eine politische Maßnahme herausgesucht wird, die dieser Idee entspricht.
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2. Darstellung des Forschungsstands
Obwohl sich eine Mehrheit der in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze als theoretisch informiert und recht suggestiv erwiesen hat, bleiben also erhebliche Zweifel daran, ob der Fortbestand der NATO auch hinreichend, d.h. im Sinne einer systematischen Bearbeitung von empirischem Material, erforscht worden ist. Vor diesem Hintergrund soll in den beiden folgenden Kapiteln eine Vorgehensweise vorgeschlagen werden, die nicht nur von sich beansprucht, dem Forschungsprozess besondere Transparenz zu verleihen, sondern auch, den konkreten Forschungsgegenstand von innen heraus aufzuschließen, anstatt ihn unter vorgefertigte Kategorien zu subsumieren, die von außen an ihn herangetragen werden.
II. Vorbereitung des Forschungsprozesses
3 Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Nachdem der Forschungsstand präsentiert wurde, gilt es nun aufzuzeigen, wie die hier thematische Forschungsfrage konkret bearbeitet werden soll. Der Arbeit liegt die Idee zugrunde, das Rätsel des Fortbestands der NATO auf dem Weg der Interpretation von Texten zu lösen – auf dem Weg der Interpretation von Texten gemäß den regulativen Prinzipien der „objektiven Hermeneutik“. Welche Texte dies sein und nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden, ist Gegenstand von Kapitel 4. Zuvor muss es jedoch erst einmal darum gehen, eine umfassende Einführung in die Methodologie der objektiven Hermeneutik und die von ihr explizierten Verfahrensweisen zu geben. Zu diesem Zweck ist das vorliegende Kapitel in sechs Abschnitte gegliedert. Nach einer kurzen Vorbemerkung (3.1) werden das (sozial-)theoretische Fundament (3.2) und die Methoden der objektiven Hermeneutik vorgestellt (3.3). Anschließend werden potentielle Kritikpunkte aufgegriffen und erforderliche Modifikationen erörtert (3.4). In Verbindung mit einer kritischen Würdigung folgt dann der Versuch, die objektive Hermeneutik mit dem Diskurs innerhalb der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen zu verknüpfen (3.5). Am Ende des Kapitels werden die wichtigsten Aspekte der Darstellung noch einmal kurz zusammengefasst (3.6).
3.1 Vorbemerkung Da die Entscheidung zugunsten einer Methodologie namens objektive Hermeneutik in der Regel bereits Verwunderung auslöst und Kritik nach sich zieht, bevor deren Prämissen und die Operationsweise der zugehörigen Methoden expliziert worden sind, dürfte es gleich zu Beginn der Darstellung angebracht sein, die gängigsten Vorurteile zu entkräften und ein paar einführende Hinweise auf ihren Entstehungskontext und ihre Grundideen zu geben. Am vordringlichsten ist dabei, das Adjektiv im Namen der Methodologie nicht falsch zu verstehen. In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen dem objektiv Gesagten, über das eine intersubjektive Verständigung unmittelbar möglich ist, und dem subjektiv Gemeinten, das zunächst allenfalls dem Sprecher selbst klar ist, bezieht sich Objektivität hier auf den Forschungsgegenstand – und dient nicht dazu, die Äußerungen des Forschers auszuzeichnen. Es soll damit also keineswegs suggeriert werden, dass diejenigen, die mit der objektiven Hermeneutik arbeiten, Forschungsergebnisse erzielen, die objektiv sind im Sinne von unbestreitbar richtig oder (ewig) wahr. Darüber hinaus markiert die Bezeichnung zugleich das Anliegen einer pointierten Abgrenzung von den Varianten einer etwa an Schleiermacher, Dilthey oder Lorenzer orientierten Hermeneutik, die den Nachvollzug und die Übernahme der subjektiven Dispositionen und Perspektiven des Gegenstands oder das Verstehen des Fremdpsychischen zum Programm haben. Denn während sich jene dem Nachempfinden des subjektiv gemeinten Sinns verschrieben haben, zielt die objektive Hermeneutik zuvörderst auf die Rekonstruktion der
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
latenten Sinn- und objektiven Bedeutungsstrukturen, die diesen subjektiven Sinn überhaupt erst ermöglichen.1 Im Lichte ihres Entstehungskontexts – der Bearbeitung sozialisationstheoretischer Grundfragen im Arbeitsbereich des Soziologen Ulrich Oevermann an der Frankfurter Goethe-Universität Mitte der 1970er Jahre – kann die objektive Hermeneutik als ein Ergebnis des Versuchs betrachtet werden, eine Alternative zu den für die Beantwortung weiterführender Fragen als immer weniger tragfähig sich erweisenden so genannten quantitativen Forschungsmethoden zu entwickeln, ohne deshalb qualitativer Beliebigkeit oder einer Tendenz zur Szientifizierung der Sozialwissenschaften, also einer Orientierung an naturwissenschaftlichen Exaktheitsidealen, anheim zu fallen.2 In Anbetracht der hier vertretenen Perspektive ist die unglücklicherweise zur Routine gewordene Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Methoden ohnehin höchst fragwürdig, da sie sich ohne Not immer schon die Anerkennung der unhaltbaren Behauptung eingehandelt hat, dass die operationalisierten Kategorien und Hintergrundannahmen der quantitativen Sozialforscher nicht auf einer Interpretationsleistung beruhen und keiner Begründung bedürfen würden. Dieser „Lebenslüge des Empirismus“3 ist jedoch entgegenzuhalten, dass jede Konstruktionsleistung eines Menschen – an der Akademie und außerhalb – stets auf einer bewussten oder unbewussten Interpretation seiner Umwelt beruht. Zu den leitenden Prinzipien der objektiven Hermeneutik gehört darüber hinaus ein Verständnis des Forschungsprozesses, das innerhalb der Politikwissenschaft bisweilen dem Streben nach einer Lieferung von Ergebnissen um der Ergebnisse willen nachgeordnet oder gar zugunsten einer Verbesserung der Aussicht auf eine (stärkere) Einbeziehung des Forschers in politische Entscheidungsfindungsprozeduren aufgegeben wird: die Einlösung der Forderung nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse und ihres Zustandekommens in Verbindung mit einer Maximierung der Chance, dass sich diese Ergebnisse als fallibel erweisen können. Diese Idee ist eng verknüpft mit einer streng rekonstruktiven, entschieden anti-subsumtionslogischen Orientierung des methodischen Vorgehens. Konkret äußert sich dies in dem Anspruch, den Gegenstand in der Sprache des Falles und nach Möglichkeit ohne die Verwendung fallspezifischen Vorwissens von innen her aufzuschließen und ihn nicht unter vorgefertigte, von außen an ihn herangetragene Kategorien zu subsumieren. 1 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Konzeptualisierung von Anwendungsmöglichkeiten und praktischen Arbeitsfeldern der objektiven Hermeneutik. (Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung), o.O.: Unveröffentlichtes Manuskript, S.5. Eine Begründung der Unterscheidung von objektivem und subjektivem Sinn findet sich in Abschnitt 3.2; der Inhalt der nun folgenden Absätze wird dagegen im Abschnitt 3.3 vertieft. Aufgrund gemeinsamer Vorarbeiten zu diesen beiden Abschnitten im Rahmen des Studiums an der Goethe-Universität Frankfurt/M. weiß sich der Autor der vorliegenden Arbeit Benjamin Herborth zu besonderem Dank verpflichtet. 2 Vgl. Ulrich Oevermann et al. (1976): Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen Interaktion. Theoretische und methodologische Fragen der Sozialisationsforschung, in: Manfred Auwärter/Edit Kirsch/Manfred Schröter (Hg.): Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.371-403; Ulrich Oevermann et al. (1979): Die Methodologie einer ‚objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozialund Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, S.352-434 und Stefan Aufenanger/Margrit Lenssen (1986): Einleitung: Zum Programm der objektiven Hermeneutik, in: dies. (Hg.): Handlung und Sinnstruktur. Bedeutung und Anwendung der objektiven Hermeneutik. München: Kindt, S.1-15. 3 Ferdinand Zehentreiter (2001): Systematische Einführung. Die Autonomie der Kultur in Ulrich Oevermanns Modell einer Erfahrungswissenschaft der sinnstrukturierten Welt, in: Roland Burkholz, Christel Gärtner und Ferdinand Zehentreiter (Hg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück, S.11-104, hier: S.12.
3.1 Vorbemerkung
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Zu diesem Zweck wird der zu untersuchende Text4 in seine kleinsten Sinn und Bedeutung tragenden Partikel zerlegt und Sequenz für Sequenz interpretiert. Dieses Festhalten an einer rekonstruktionslogischen Verfahrensweise soll verhindern, dass im Rahmen des Forschungsprozesses lediglich vorab formulierte fallspezifische Theorien, Hypothesen oder andere „Vorurteile“ reproduziert oder reifiziert werden. Gleichwohl erfolgt die Untersuchung nicht im Modus einer „tabula rasa“: Zunächst einmal muss der Forschungsgegenstand eingerichtet werden. Dazu gehört, dass die für eine detaillierte Analyse in Frage kommenden Texte (im weiteren Sinne) in eine Ordnung gebracht und dass Überlegungen darüber angestellt werden, welche Texte sich zur Erfassung des Gegenstands der Fragestellung besonders eignen – eine Aufgabe, deren Komplexität mit dem Aggregationsniveau des Untersuchungsgegenstands zunimmt.5 Darüber hinaus wird bei der Analyse fallunspezifisches, potentiell universell gültiges Wissen wie die Regeln der Universalgrammatik, der Sprechakterzeugung oder des logischen Schließens immer schon in Anspruch genommen. Schließlich kann auch der Forscher, der einen Text mithilfe der Verfahren der objektiven Hermeneutik untersucht, nicht garantieren, dass kein fallspezifisches Vorwissen in seine Analyse mit einfließt. Um dem Ideal einer möglichst immanenten Textrekonstruktion ohne Berücksichtigung von Kontextwissen dennoch gerecht zu werden, orientiert sich die Interpretation an regulativen Prinzipien wie der Ausblendung des äußeren Kontextes bzw. der Analyse im Modus künstlicher Naivität. Die Einhaltung dieser regulativen Prinzipien ist es auch, an der sich letztlich die Güte der Interpretation bemisst. Da die Analyse auf den konkret vorliegenden Text verpflichtet ist (und somit für „materialgesättigte“ Theoriebildung am Text selbst, in der Sprache des Falles also, geöffnet wird), werden die in die Interpretation mit eingeflossenen bewussten und unbewussten Vorannahmen des Forschers im Rahmen der Untersuchung sichtbar und intersubjektiv nachprüfbar. Damit geht wie selbstverständlich einher, dass alle Formen von Wissensbeständen, die bei der Analyse Verwendung finden – ganz gleich, ob es sich dabei um quasi-universelles Regelwissen oder um fallspezifisches Vorwissen handelt – in hohem Maß fallibel werden; denn alle im Lauf einer Interpretation generierten Lesarten müssen sich in den weiteren Sequenzen am untersuchten Text selbst bewähren.6 Neben der großen Transparenz des rekonstruktionslogischen Vorgehens dürfte auch die damit einhergehende Aussicht auf eine Fokussierung von bislang nicht als relevant wahrgenommenen Aspekten eines Falls, mutiger formuliert: die Aussicht auf neue Erkenntnisse, geeignet sein, um die Entscheidung für Interpretationen gemäß den regulativen Prinzipien der objektiven Hermeneutik zu rechtfertigen. Dass dieser Schritt angesichts des traditionellen politikwissenschaftlichen Methodenarsenals als gehörige Irritation, möglicherweise sogar als Provokation, erscheinen mag, wird damit nicht in Abrede gestellt. Schließlich könnte die – in den folgenden Abschnitten nun detaillierter nachzuzeichnende – hermeneutisch-rekonstruktive Vorgehensweise auch zu einer weiteren Öffnung politikwissenschaftlicher Forschung für die häufig als „sprachphilosophische Wende“ apostrophierten Bewegungen beitragen, die in den letzten Jahrzehnten auf der Ebene der 4 Der objektiven Hermeneutik liegt, wie in Abschnitt 3.2 noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, ein erweiterter Textbegriff zugrunde, der nicht nur schriftsprachliche Ausdrucksgestalten umfasst. 5 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die konkrete Einrichtung des vorliegenden Untersuchungsgegenstands NATO im ersten Abschnitt von Kapitel 4 erfolgt. 6 Die intersubjektive Nachprüfbarkeit des Forschungsprozesses und das Prinzip der Nichteinbeziehung von fallspezifischem Vorwissen stehen also durchaus in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Vgl. hierzu Abschnitt 3.4.2.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
allgemeinen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Orientierung stattgefunden haben. Denn ungeachtet seines Siegeszuges auf dem Terrain der Philosophie7 trifft der so genannte „linguistic turn“ innerhalb der Internationalen Beziehungen noch immer auf die Ignoranz jener, die einem positivistischen Wissenschaftsverständnis anhängen und dem Vorrang vermeintlich harter und unumstößlicher außersprachlicher Fakten das Wort reden, die dem Konstruktionsvermögen des Menschen entzogen sind.8
3.2 Das (sozial-) theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik Eine angemessene Darstellung des theoretischen Unterbaus einer Vorgehensweise dient nicht nur der Rechtfertigung, sondern vor allem auch einem besseren Verständnis dessen, was im Laufe des konkreten Forschungsprozesses vor sich geht. Aus diesem Grund bietet es sich an, einer Erläuterung der zur objektiven Hermeneutik gehörenden Verfahrensweisen die Betrachtung der (sozial-) theoretischen Konzeption voranzustellen, die diese Methodologie unverwechselbar macht. Höchste Priorität genießt dabei eine Explikation des Konzepts der latenten Sinnstrukturen, das den intellektuellen Kern der objektiven Hermeneutik bildet.9 Es basiert auf der Annahme, dass objektive Sinnstrukturiertheit das konstitutive Merkmal der Gegenstände des daher auch als Erfahrungswissenschaft von der sinnstrukturierten Welt bezeichneten Ensembles der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ist. Oevermann zufolge verweisen latente Sinnstrukturen auf den Aspekt der „objektiven Bedeutung von Ausdrucksgestalten einer Praxis“ und sind „konstitutiver Bestandteil der zu untersuchenden Wirklichkeit selbst.“10 Aus diesem Grund gelten latente Sinnstrukturen auch als der zentrale empirische Gegenstand der Methodologie der objektiven Hermeneutik; ihre intersubjektiv überprüfbare Rekonstruktion ist das unmittelbare Ziel des Forschungsprozesses. Im Unterschied zu den zu analysierenden Hinterlassenschaften oder Spuren, „in denen sich uns die psychische, soziale und kulturelle Erfahrungswelt präsentiert“11, im Unterschied zu jenen Trägern der latenten Sinnstrukturen also, die Oevermann mit dem aus der Romantik stammenden Begriff „Ausdrucksgestalt“ bezeichnet, sind die latenten Sinnstrukturen selbst jedoch sinnlich nicht wahrnehmbar. „Sie sind weder hörbar, noch sichtbar, noch riech-, schmeck- oder fühlbar; sie können nur gelesen werden und sind insofern nicht konkret, sondern abstrakt.“12 Latente Sinnstrukturen konstituieren somit nicht nur den Ge7 Diese Einschätzung findet sich zum Beispiel bei Graeser, der behauptet, dass „die Sprachphilosophie heute als die philosophische Disziplin schlechthin gilt.“ Vgl. Andreas Graeser (2002): Positionen der Gegenwartsphilosophie. Vom Pragmatismus zur Postmoderne. München: Beck, S.30. 8 Als prominente Vertreter dieser Auffassung können noch immer gelten: Gary King/Robert O. Keohane/Sidney Verba (1994): Designing Social Inquiry. Scientific Inference in Qualitative Research. Princeton, NJ: Princeton University Press. 9 Oevermann gebraucht die Begriffe latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen häufig synonym. Der Einfachheit halber wollen wir uns hier auf den Ausdruck latente Sinnstrukturen beschränken. Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.4.4. 10 Ulrich Oevermann (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Klaus Kraimer (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.58-156, hier: S.91. 11 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.1. Im Folgenden sollen die psychische, kulturelle usw. als Teil der sozialen Erfahrungswelt verstanden werden. 12 Ulrich Oevermann (2001): Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung, in: Sozialer Sinn, 2: 1, S.35-81, hier: S.40 (Fußnote 3). Da ein Text natürlich nicht mit geschlossenen Augen gelesen werden
3.2 Das (sozial-) theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik
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genstandsbereich der objektiven Hermeneutik, sondern fungieren aufgrund ihrer ausschließlichen Lesbarkeit „epistemologisch gesehen“ zugleich auch als „Bedingung der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis.“13 Dieser Doppelcharakter der latenten Sinnstrukturen als empirische, aber sinnlich nicht wahrnehmbare, abstrakte Gebilde ermöglicht es der objektiven Hermeneutik, den alten, von Locke und Hume zum obersten Grundsatz des Empirismus erhobenen Empiriebegriff hinter sich zu lassen, demzufolge „nichts im Verstande sei, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist.“14 Als empirisch gilt der objektiven Hermeneutik stattdessen alles, „was sich durch Methoden der Geltungsüberprüfung nachweisen läßt.“15 Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Forscher nicht unmittelbar auf die ihn umgebende Wirklichkeit zugreifen kann. Da die Flüchtigkeit des Augenblicks methodischen Erkenntnisoperationen entzogen ist, muss zunächst der Untersuchungsgegenstand fixiert werden. Zu diesem Zweck wird strikt zwischen der sozialen Realität und den allein analysierbaren Hinterlassenschaften, den Ausdrucksgestalten dieser Realität, unterschieden. Methodisches Verstehen im Sinne der objektiven Hermeneutik, d.h. die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen anhand von Ausdrucksgestalten, die ihrerseits als eigenlogische Realitätsebene verstanden werden, erfolgt daher „unter der Bedingung des Herausspringens aus der Praxisperspektive“16, es ist „praxisentlastet.“ Praktisches Verstehen stellt dagegen eine Abkürzung des methodischen Verstehens unter Zeitdruck dar.17 Um dem Anspruch der objektiven Hermeneutik gerecht zu werden, latente Sinnstrukturen „intersubjektiv überprüfbar je konkret an der les-, hör- und sichtbaren Ausdrucksgestalt zu entziffern“18, unterscheidet Oevermann mithilfe der Begriffe Text und Protokoll zwei Dimensionen einer Ausdrucksgestalt. Der „abstrakt-bedeutungshafte“19 Textaspekt bezieht sich auf die Lesbarkeit einer Hinterlassenschaft der sozialen Realität und nimmt deren „Trägerschaft von Sinn und Bedeutung“20 in den Blick. Aufgrund des methodologisch erweiterten Textbegriffs der objektiven Hermeneutik verfügen über lesbare latente Sinnstrukturen jedoch „nicht nur die schriftsprachlichen Texte der Literaturwissenschaften, sondern alle Ausdrucksgestalten menschlicher Praxis bis hin zu Landschaften, Erinnerungen und Dingen der materialen Alltagskultur.“21 Die Textförmigkeit und Lesbarkeit eines könnte, bildet die sinnliche Wahrnehmung gleichwohl eine Art notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung der Sinnerschließung. Sinnlich wahrnehmbar ist nur die Ausdrucksmaterialität, in der sich die latenten Sinnstrukturen manifestieren, also etwa die Schwärze gedruckter Buchstaben oder der Klang von Wörtern. 13 Ulrich Oevermann (2001): Deutungsmuster, S.39. 14 Vgl. Ulrich Oevermann (2001): Deutungsmuster, S.40 (Fußnote 3) und Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.2. Popper zufolge äußerte sich übrigens bereits Parmenides ironisch bis kritisch über den oben paraphrasierten Satz: Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu. Vgl. Karl R. Popper (1973): Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg: Hoffmann und Campe, S.15. 15 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.2. 16 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.91. 17 Diese Form der Differenzierung zwischen Wissenschaft und Praxis unterscheidet sich deutlich von jener Hypostasierung der Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erkennen und Handeln, wie Dewey sie zu Recht am Beispiel der „Zuschauertheorie des Erkennens“ kritisiert hat. Vgl. John Dewey (1998): Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkennen und Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.27; [1929]. 18 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.1. 19 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.85 (Fußnote 16). 20 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.2. 21 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.2. Da sie „viel stärker sinnlich wahrgenommen [werden] als die schriftsprachlichen Texte“, können nicht-schriftsprachliche Ausdrucksgestalten – zu denen insbesondere auch Kunstwerke, Fotografien oder Luftaufnahmen gehören – jedoch „nur in metaphorischem Sinne ‚gelesen‘ werden“ (Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.108). Der Wahrnehmungsinhalt bedarf daher zunächst der Über-
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
sozialen Gebildes hängen nach diesem Verständnis also allein davon ab, ob es prinzipiell versprachlichbar ist. Der „konkret-ausdrucksmateriale“22 Protokollaspekt thematisiert hingegen die Objektivierung und Konservierung von Ausschnitten der sozialen Realität durch die Ausdrucksgestalt. Nur unter der Bedingung seiner Protokollierung überdauert der protokollierte Vorgang das flüchtige „Hier und Jetzt des unmittelbaren Erlebens“23 als potentieller Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. In Analogie zur Erweiterung des Textbegriffs sind auch Protokolle mehr als schriftliche Zusammenfassungen des Verlaufs oder der Ergebnisse einer Handlung. Auf der Grundlage einer analytischen Trennung des Inhalts eines Protokolls in die protokollierte bzw. zu protokollierende Wirklichkeit auf der einen und die Protokollierungshandlung bzw. den Protokollierungsvorgang auf der anderen Seite unterscheidet Oevermann primär zwischen technisch aufgezeichneten und edierten oder gestalteten Protokollen. Während aufgezeichnete Protokolle weitestgehend durch „eine nichtintelligente, rein technische Prozedur ohne eigene interpretierende oder erkennende Subjektivität, also ein Film- oder Fotogerät, ein Tonbandgerät oder auch ein Meßgerät“ erzeugt werden, hat sich die zu protokollierende Wirklichkeit im Falle von edierten Protokollen im Zuge der subjektiven Gestaltung des Wahrgenommenen immer schon in „eine Wirklichkeit des Protokollierenden verwandelt“.24 Als Verfahren zur Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen basiert die objektive Hermeneutik also auf der Idee, dass jede als Ausdrucksgestalt bezeichnete Hinterlassenschaft oder Spur der sozialen Erfahrungswelt aufgrund ihrer Eigenschaft als Träger von Sinn und Bedeutung als Text untersucht werden kann, sofern sie in Form eines der Flüchtigkeit des Augenblicks entrissenen, methodisch gesicherten Protokolls vorliegt. Da alle prinzipiell versprachlichbaren Ausdrucksgestalten als Texte gelesen werden können, stellt das Vorhaben, die vorliegende Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO über das Ende der Blockkonfrontation hinaus auf dem Wege einer Interpretation von Texten zu beantworten, per se keine Einschränkung dar. Um auf Ausschnitte des nie versiegenden realweltlichen Handlungs- und Ereignisstroms methodisch zugreifen zu können, müssen wir sie in Form eines textförmigen, also lesbaren, ihr Hier und Jetzt überdauernden Protokolls vor uns bringen – ganz gleich, ob es sich dabei um den Abwurf von Bomben oder um eine Sitzung des Nordatlantikrats handelt. Ohne konkret zu interpretierende Protokolle sind eine intersubjektive Überprüfung der Forschungsergebnisse und des Weges, der bis zu ihrem Vorliegen zurückgelegt wurde, nicht möglich. Angesichts ihrer Zentralität im Rahmen der (sozial-) theoretischen Fundierung der objektiven Hermeneutik stellt sich natürlich die Frage nach der Entstehung der latenten Sinnstrukturen. Mit anderen Worten: Wie kommen objektiver Sinn und objektive Bedeutung in die Welt? Zur adäquaten Beantwortung dieser Frage macht Oevermann einige, teils recht setzung in Form einer Versprachlichung. Der Text dieser „implizite[n] Interpretation“ (a.a.O., S.109) kann dann mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik analysiert werden. 22 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.85 (Fußnote 16). 23 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.3. 24 Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.84. Eine besondere Form von gestalteten Protokollen bilden Kunstwerke, da bei ihnen „die Protokollierungshandlung und die zu protokollierende Wirklichkeit als Praxis gewissermaßen zusammenfallen“ (a.a.O., S.83). Darüber hinaus können Protokolle noch danach unterschieden werden, ob sie ausschließlich zu Analysezwecken entstanden sind (inszenierte vs. naturwüchsige Protokolle), ob sie von der protokollierten Praxis oder einer externen Instanz angefertigt wurden (Eigen- vs. Fremdprotokollierung) oder ob es sich bei der Protokollierungshandlung oder der protokollierten Wirklichkeit um eine Routine oder um eine Außeralltäglichkeit handelt (vgl. a.a.O., S.87/88).
3.2 Das (sozial-) theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik
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implizite Anleihen bei George Herbert Mead (1863-1931), der neben Charles Sanders Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952) zu den bedeutendsten Vertretern der ersten Generation der pragmatistischen Philosophie zählt. Anhand der Gestenkommunikation zweier kämpfender Hunde verdeutlicht Mead, dass, verallgemeinert ausgedrückt, bereits die Reaktion von B auf eine (vokale) Geste von A diese Geste zu etwas Objektivem macht, zu etwas, das objektiven Sinn oder objektive Bedeutung besitzt; denn unabhängig davon, was A mit seiner Geste subjektiv zum Ausdruck bringen wollte, hat sie ja allein aufgrund ihres objektiven Vorliegens eine Reaktion von B bewirkt. Objektiver Sinn und objektive Bedeutung emergieren also im Rahmen von Handlungen, an denen zumindest zwei Mitglieder einer Gattung beteiligt und die somit soziale Handlungen sind. Sobald eine vokale Geste bei dem Exemplar einer Gattung, das sie ausübt, die gleiche Bedeutung hervorruft wie bei jenem, das auf sie reagiert, ist die Geste – in der Terminologie Meads – zu einem „signifikanten Symbol“ geworden, „zu dem, was wir ‚Sprache‘ nennen.“25 Erst wenn sie diese Stufe der innergesellschaftlichen Verständigung erreicht haben, ist es den Mitgliedern einer Gattung möglich, die Haltung der anderen gegenüber ihren eigenen signifikanten Gesten einzunehmen sowie „die objektive Sinnstruktur zu archivieren, zu internalisieren, zu identifizieren und sie auf die Ebene der Intentionalität zu heben.“26 Dies impliziert, dass objektiver Sinn und objektive Bedeutung der subjektiven – intentionalen oder bewussten – Repräsentation von Sinn und Bedeutung vorausgehen – ganz so wie nach pragmatistischem Verständnis auch der soziale Akt der Einzelhandlung vorausgeht.27 Im Anschluss an Mead können also zwei Formen von Sinn unterschieden und in ein Bedingungsverhältnis gebracht werden. Während objektiver Sinn, dessen Vorhandensein mit der Sozialität „immer schon gegeben“28 ist, Handlungen ermöglicht, dient der diesem gattungsgeschichtlich nachfolgende und konstitutionslogisch nachgeordnete, an Sprache – die Kommunikation mittels signifikanter Symbole – gebundene subjektive Sinn dazu, Handlungen zu motivieren. Oevermann greift diese Differenz auf, wenn er latente Sinnstrukturen beschreibt als „eine logisch von der Intentionalität und den psychischen Repräsentanzen der je konkret handelnden Subjekte unabhängige und entsprechend auch nicht notwendigerweise aktual psychisch repräsentierte Realität“29 – die also „unabhängig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv“30 gilt. 25
George Herbert Mead (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.85; [1934]. Hans-Josef Wagner (2001): Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts. Weilerswist: Velbrück, S.29. 27 „Der Pragmatismus löst…das cartesianische Amalgam von Bewußtsein und Sinn auf“, heißt es dazu bei Wagner (Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.16). Philosophiegeschichtlich verhält sich, stark vereinfacht, die objektive Hermeneutik zur Nachvollzugshermeneutik also wie der Pragmatismus zu Descartes und der Bewusstseinsphilosophie; beide, objektive Hermeneutik und Pragmatismus, haben statt Bewusstsein und subjektivem Sinn – vergleichsweise späten Produkten „der Evolutionsgeschichte auf der Ebene der menschlichen Gattung“ (ebd.) – soziales Handeln an den Anfang ihrer Überlegungen gestellt. 28 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.23. 29 Ulrich Oevermann (2001): Deutungsmuster, S.41. 30 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.1. Latente Sinnstrukturen entsprechen also dem objektiven Sinn. Daraus abzuleiten, dass sich die objektive Hermeneutik nicht für Phänomene der Subjektivität interessieren würde, wäre jedoch ein Fehler. Es geht hier allein um den konstitutionstheoretischen Nachweis, dass objektiver Sinn subjektiven Sinn überhaupt erst ermöglicht und dass aus diesem Grund die Analyse des subjektiv gemeinten Sinns eine Rekonstruktion der latenten objektiven Sinnstrukturen zur Voraussetzung hat. Vgl. Ulrich Oevermann (1993): Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich 26
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Über die unmittelbare Evidenz des Strukturbegriffs hinaus wird die an der pragmatistischen Sozialtheorie orientierte Verknüpfung von objektivem Sinn und sozialem Handeln – die Verankerung der latenten Sinnstrukturen in der Sozialität – gleichzeitig auch mithilfe strukturalistischer Begrifflichkeiten erfasst. Die Charakterisierung der latenten Sinnstrukturen als „durch bedeutungsgenerierende Regeln erzeugt“31 macht diese Synthese von Pragmatismus und Strukturalismus deutlich. Sinn ist demnach nicht nur an gesellschaftliches Handeln gebunden und somit immer schon gesellschaftlich vermittelt (Pragmatismus), sondern wird – wie das Handeln selbst – zudem als regelgeleitet erzeugt konzeptualisiert (Strukturalismus). Dabei beruft sich Oevermann auf den französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908-2009), der anhand des Inzestverbots als den Übergang von Natur zu Kultur ermöglichender universaler Regel das Hervorgehen von „Regelhaftigkeit aus der Sozialität“ nachgewiesen und die „Basisregel der Sozialität als einer zweckfrei sich reproduzierenden Reziprozität, das heißt einer universalen Strukturierungsgesetzlichkeit“32 etabliert habe. Darüber hinaus verweist die Annahme der regelgeleiteten Erzeugung der latenten Sinnstrukturen (und damit des sozialen Handelns, an dessen als Protokoll verstandener und als Text lesbarer Ausdrucksgestalt sie greifbar werden) auf einen konstitutiven Regelbegriff. Pate für diese Etappe der (sozial-) theoretischen Fundierung der Methodologie der objektiven Hermeneutik steht also der Sozialphilosoph John Searle (geb. 1932), der die von John Austin (1911-1960) formulierte Sprechakttheorie weiterentwickelt hat. Konstitutive Regeln, so Searles klassische Definition, „konstituieren (und regeln damit) eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch abhängig ist.“33 Wie der objektive Sinn darf somit auch die konstitutive Regel nicht mit ihrer subjektiven Repräsentation verwechselt werden. Sinn und Regel zählen nach dem Verständnis der objektiven Hermeneutik zu den Konstitutionsbedingungen von Handeln; aufgrund ihres Gebundenseins an Sozialität gehen sie ihrem – auf Sprache angewiesenen – bewussten Begriffenwerden voraus. Jede soziale Praxis ist regelgeleitet, da sie in einen Raum regelerzeugter Möglichkeiten hinein vollzogen wird. Zur Illustration sei kurz auf das Beispiel der Begrüßung verwiesen, das zugleich die Differenz von Regel und Norm verdeutlicht. Jemandes Begrüßung nicht zu erwidern mag eine Norm verletzen, bricht aber keine Regel. Gemäß den Regeln, die eine Begrüßung konstituieren, gibt es nämlich immer (mindestens) zwei Möglichkeiten, um auf eine Begrüßung zu reagieren: zurückgrüßen oder nicht zurückgrüßen.34 Dass es vielerorts als unhöfeine Kritik der Tiefenhermeneutik, in: Thomas Jung/Stefan Müller-Doohm (Hg.): ‚Wirklichkeit‘ im Deutungsprozeß: Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.106-189. 31 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.1. 32 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.42. 33 John Searle (1997): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/M.: Suhrkamp (7. Auflage), S.55; [Speech Acts, 1969]. Regulative Regeln beziehen sich demgegenüber auf Gegenstände, die bereits unabhängig von der Regel Bestand hatten. Zur Illustration wählt Searle den Imperativ „Offiziere haben beim Essen eine Krawatte zu tragen“ (ebd.) als Beispiel für eine regulative Regel – Offiziere, Essen und Krawatten gibt es unabhängig von der Regel; die Bestimmungen des Fußball- oder Schachspiels (a.a.O., S.54) gelten ihm indes als Exempel für konstitutive Regeln, ohne die das von ihnen hervorgebrachte Handeln nicht als ein solches denkbar wäre. 34 So zu tun, als habe man nicht bemerkt, begrüßt worden zu sein, stellt auf den ersten Blick natürlich eine dritte Möglichkeit dar. Auf diese Weise wird das durch die Begrüßung aufgeworfene konkrete Handlungsproblem – zurückgrüßen oder nicht – jedoch lediglich auf den Zeitpunkt einer späteren Begegnung verschoben. Das Begrüßungsbeispiel findet sich in: Ulrich Oevermann (1999): Strukturale Soziologie und Rekonstruktionsmethodologie, in: Wolfgang Glatzer (Hg.): Ansichten der Gesellschaft. Frankfurter Beiträge aus Soziologie und Politikwissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S.72-84, hier: S.72-74; für eine besonders ausführliche Explikation siehe:
3.2 Das (sozial-) theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik
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lich gelten mag, eine Begrüßung nicht zu erwidern, spielt dabei keine Rolle. Denn so wie objektiver Sinn und objektive Bedeutung subjektivem Sinn und subjektiver Bedeutung, geht auch die Regel nicht nur ihrer subjektiven Repräsentation, sondern jeder Form sozialer Normierung konstitutionslogisch voraus. Vor diesem Hintergrund kann die objektiv hermeneutische Rekonstruktion von latenten Sinn- und objektiven Bedeutungsstrukturen daher auch als ein Prozess des Aufspürens von Regeln verstanden werden – jenen Regeln nämlich, die an der Erzeugung des für forschungsrelevant erachteten Ausschnitts sozialer Praxis „beteiligt“ gewesen sind. Die Befähigung, latente Sinnstrukturen mithilfe der Regeln zu rekonstruieren, die sie erzeugt haben, führt Oevermann auf ein implizites Regelbewusstsein zurück. Damit knüpft er unmittelbar an den Kompetenzbegriff an, den der Linguist Noam Chomsky (geb. 1928) im Rahmen seiner Sprachtheorie entwickelt hat. Im Unterschied zur Sprachverwendung (Performanz), dem „aktuelle[n] Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen“35, verweist die (Sprach-)Kompetenz auf die Möglichkeit, „durch eine endliche Anzahl von Regeln eine unendliche Anzahl bisher nie formulierter Sätze zu erzeugen“36; Sätze, die mit den Regeln der Grammatik übereinstimmen wohlgemerkt. Chomsky zufolge basiert diese Fähigkeit auf der individuellen Aneignung des generativen Regelsystems einer Grammatik im Rahmen der frühkindlichen Verarbeitung wahrgenommener Daten der Sprachverwendung. Die performative Beherrschung grammatikalischer Regeln durch die Sprecher einer Sprache bedeutet jedoch nicht, dass sie diese Regeln auch explizieren können müssen; es handelt sich hier zu einem guten Teil um implizites Wissen in Form von intuitiven Urteilen der Angemessenheit auf Basis der Kompetenz. Solchen Angemessenheitsurteilen auf der Grundlage impliziten Regelwissens bedient sich nun auch der Forscher, der die latenten Sinnstrukturen von Ausdrucksgestalten sozialer Praxis mithilfe der Verfahren der objektiven Hermeneutik analysiert. Zu diesem Zweck überträgt Oevermann nicht nur Chomskys Kompetenzbegriff auf alle sozialen Handlungen, sondern übernimmt auch dessen generativen Regelbegriff. In Anlehnung an das Modell der generativen Grammatik als eines Regelsystems, „das auf explizite und wohldefinierte Weise Sätzen Struktur-Beschreibungen zuordnet“37, soll so die prinzipiell unendliche Menge Ulrich Oevermann (1983): Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.234-289. 35 Noam Chomsky (1969): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt/Berlin: Suhrkamp/Akademie-Verlag; [1965], S.14. 36 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.40. Ganz explizit beruft sich Chomsky hierbei auf Wilhelm von Humboldts „Ansicht, daß die Sprache ‚von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen muß‘ und daß ihre Grammatik den Prozeß, der dies ermöglicht, beschreiben muß“ (Noam Chomsky (1969): Aspekte, S.9). Gestützt auf die moderne Linguistik und Mathematik war es jedoch erst Chomsky möglich, empirisch nachzuweisen, „daß die universalgrammatischen Regeln auf der Ebene von Phonologie und Syntax im Sinne eines rekursiven Algorithmus funktionieren“ (Wagner (2001): Bildung, S.41). Im Gegensatz zu Chomsky geht Oevermann jedoch davon aus, dass kommunikative Kompetenz nicht einfach angeboren ist, sondern in der praktischen Teilhabe am Dialog im Rahmen der frühkindlichen Sozialisation erworben wird. Dem Dilemma, dass nicht der Dialog die Voraussetzung für den Erwerb der Kompetenz und zugleich die kommunikative Kompetenz Voraussetzung des Dialogs sein kann, entkommt Oevermann dabei mithilfe der pragmatistisch inspirierten Annahme, dass „die für den Prozess der Sozialisation dialogkonstituierende[n] Bedingungen außerhalb des kindlichen Subjekts in den Struktureigenschaften der sozialisatorischen Interaktion“ wurzeln. Vgl. Ulrich Oevermann (1979): Sozialisationstheorie. Ansätze zu einer soziologischen Sozialisationstheorie und ihre Konsequenzen für die allgemeine soziologische Analyse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 21. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.143168, hier: S.162. 37 Noam Chomsky (1969): Aspekte, S.19.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
von Hinterlassenschaften der sozialen Erfahrungswelt auf eine endliche Menge an sie erzeugenden Regeln zurückgeführt werden können. Vor diesem Hintergrund ist auch die Behauptung zu verstehen, dass latente Sinnstrukturen „auf das Operieren algorithmischer Regeln zurückzuführen“38 seien. Hinsichtlich der zu rekonstruierenden Regeln differenziert Oevermann schließlich zwischen Typen unterschiedlicher Reichweite. Zu den „konstitutionstheoretisch zentralen, material als solche nicht kritisierbaren universalen Regeln“39 zählt er die Regeln des logischen Schließens, der Sprechakterzeugung und der Universalgrammatik, Moralkompetenz im Sinne Piagets sowie die Regeln der sozialen Kooperation (verstanden als Reziprozität von Sozialität im Sinne von Lévi-Strauss). Bei der Analyse von Regeln des zweiten Typs, den historisch-spezifischen Regeln der verschiedensten partikularen Lebenswelten, werden nun die universalen Regeln immer schon in Anspruch genommen.40
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik Im Lichte der vorstehenden Ausführungen wird deutlich, dass die von der objektiven Hermeneutik explizierten Verfahrensweisen auf eine Rekonstruktion von regelgeleitet entstandenen Sinnstrukturen gerichtet sind, die aus den wie einen Text zu behandelnden protokollförmigen Hinterlassenschaften der ontologisch vorgängigen sozialen Praxis herausgelesen werden. Wie dies konkret geschieht, ist Gegenstand dieses Unterkapitels, das in drei Teile gegliedert ist. Den Anfang macht eine Darstellung der drei, streng genommen nur nominell unterscheidbaren, im konkreten Forschungsprozess aber ineinander übergehenden Modi objektiv hermeneutischer Sinnerschließung, d.h. der Sequenzanalyse, der Fallrekonstruktion und der Strukturgeneralisierung (3.3.1). Darauf folgt eine Erörterung der regulativen Interpretationsprinzipien, welche die drei genannten Operationen der Sinnrekonstruktion, insbesondere die Sequenzanalyse, anleiten (3.3.2). Abschließend werden einige methodologische Implikationen zusammengetragen, die sich aus der Explikation der Verfahrensweisen ergeben (3.3.3).
3.3.1 Sequenzanalyse, Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung Das Herzstück der objektiven Hermeneutik bildet gewissermaßen die Sequenzanalyse. Sie beruht auf der Annahme, „daß alle Erscheinungsformen von humaner Praxis durch Sequenziertheit strukturiert bzw. konstituiert“41 und somit regelgeleitet erzeugt sind. Darin kommt zum Ausdruck, dass jeder Vollzug einer Handlung zugleich als Schließung zuvor eröffneter Möglichkeiten und als Eröffnung eines Spielraums neuer Handlungsmöglichkeiten gedacht wird.42 Diese dezidiert nicht-deterministische Konzeption von Handeln wird von der Se38
Ulrich Oevermann (2001): Deutungsmuster, S.41. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.66 (Fußnote 8). Die Behauptung der materialen Nichtkritisierbarkeit der universalen Regeln dürfte Widerspruch hervorrufen. Das Beispiel der Grammatik zeigt jedoch, dass diese Formulierung vor allem auf ein Paradox reagiert; denn wer versucht, die Regeln einer Grammatik material zu kritisieren, muss sich ihrer immer schon bedienen. Damit wird aber ihre Geltung unweigerlich anerkannt und ihrer Kritik der Boden entzogen. 41 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.64. 42 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.5 und Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.64. 39 40
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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quenzanalyse aufgegriffen, deren Gegenstand – Protokolle sozialer Handlungen – die in der Praxis vorgenommene sequentielle Strukturierung überhaupt erst methodisch zugänglich macht; denn so wie das sich in ihm manifestierende soziale Geschehen wird dabei auch der zu analysierende (Handlungs-) Text als regelhafte Verkettung von „Selektionsknoten“ gedacht. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Oevermann mit den Erzeugungsregeln und den Auswahlprinzipien zwei Parameter einer jeden Sequenz, die in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie Möglichkeiten und – als Realisierung einer dieser Möglichkeiten verstandene – Wirklichkeiten. Der erste Parameter setzt sich zusammen aus den bedeutungserzeugenden Regeln, zu denen „die Regeln der sprachlichen Syntax, aber auch die pragmatischen Regeln des Sprechhandelns und die logischen Regeln für formale und für material-sachhaltige Schlüssigkeit“43 gehören. Indem sie immer wieder aufs Neue den Spielraum aller an eine gegebene Sequenz sinnlogisch anschließbaren Handlungsmöglichkeiten abstecken, zeichnen die Erzeugungsregeln für die regelhafte Verknüpfung von Handlungssequenzen verantwortlich und legen damit jeweils vorweg die Bedeutung des die nächste Sequenzstelle füllenden Elements fest. Demgegenüber reguliert der zweite Parameter einer Sequenz die konkrete Auswahl aus dem von den Erzeugungsregeln eröffneten Spielraum an Handlungsmöglichkeiten. Er besteht aus dem von Oevermann als „Fallstruktur“ bezeichneten Ensemble von Dispositionsfaktoren, das, in klassischen sozialwissenschaftlichen Termini, all jene „Motivationen, Wertorientierungen, Einstellungen, Weltbilder, Habitusformationen, Normen, Mentalitäten, Charakterstrukturen, Bewußtseinsstrukturen, unbewußte[n] Wünsche u.a.“ umfasst, welche „die Entscheidungen einer konkreten Lebenspraxis auf wiedererkennbare, prägnante Weise systematisch“ strukturieren.44 In der kumulativen und immanenten Rekonstruktion dieser spezifischen Fallstrukturen der analysierten Ausdrucksgestalt sozialer Praxis besteht das vorrangige Ziel einer Sequenzanalyse. Der gesamte Prozess, in den die Realisierung dieses Ziels eingebettet ist, soll nun auf der Basis des im Vorstehenden dargestellten operativen Grundprinzips der Sequenzanalyse beschrieben werden. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, die drei zentralen Modi objektiv hermeneutischer Sinnerschließung als (sich überlappende) Phasen des Forschungsprozesses zu begreifen. Die Sequenzanalyse bildet die erste Phase. Sie wird zumeist recht schnell von der Phase der Fallrekonstruktion überlagert, in welcher der zu bearbeitende Text jedoch weiterhin sequentiell untersucht wird. Der Modus der Strukturgeneralisierung, der seinerseits auf der Sequenzanalyse und der Fallrekonstruktion gründet und zugleich deren Ergebnisse sichert, kennzeichnet schließlich die etwas deutlicher markierte dritte und letzte Etappe. Gleichsam als Phase Null geht dem gesamten Prozess die so genannte Fallbestimmung voraus. Anstelle der Vorabformulierung einer zu testenden Hypothese im Rahmen positi43
Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.7. Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.65. Sozialtheoretisch entspricht der Dialektik von Öffnung und Schließung einer Sequenz auf der methodischen Ebene die Dialektik von Emergenz und Determiniertheit, auf die George Herbert Mead mithilfe der Begriffe „I“ und „me“ verweist (vgl. Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Jenseits der Utopie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.267-336, hier: S.297-302). In den Sprachgebrauch der Internationalen Beziehungen eingeführt wurde diese Dialektik als „Akteur-Struktur-Problem“. Vgl. Alexander E. Wendt (1987): The agent-structure problem in international relations theory, in: International Organization, 41: 3, S.335-370 und Benjamin Herborth (2004): Die via media als konstitutionstheoretische Einbahnstraße. Zur Entwicklung des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander Wendt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 11: 1, S.61-87. 44
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
vistischer Forschungsdesigns dient sie einer möglichst unmissverständlichen Darlegung des Forschungsinteresses und der Forschungsfrage sowie der Suche nach jenen Ausdrucksgestalten sozialer Praxis, die den interessierenden Fall repräsentieren.45 Die Notwendigkeit einer Fallbestimmung rührt daher, dass ein Protokoll oder eine Ausdrucksgestalt „immer mehr als nur eine Fallstruktur“46 verkörpert. So enthält zum Beispiel eine Verlautbarung des Nordatlantikrats nicht nur Hinweise auf den vereinbarten gemeinsamen Standpunkt und die individuellen Positionen der Mitgliedstaaten, sondern auch auf die interne Funktionsweise des Bündnisses, die weltpolitischen Ordnungsvorstellungen der beteiligten Spitzenpolitiker, die Besonderheiten internationaler Kooperation auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und nicht zuletzt auch auf die sprachlichen Eigentümlichkeiten von politischen Stellungnahmen oder die kulturelle Prägung der an der Formulierung des Dokuments beteiligten Personen. Angesichts dieser Vielfalt der potentiellen inhaltlichen Dimensionen eines zu analysierenden Protokolls ist es von entscheidender Bedeutung, sich vor Beginn der Untersuchung darüber klar zu werden, woraufhin, d.h. mit Blick auf welche Fallstruktur, der vorliegende Text interpretiert werden soll. Bei Wernet heißt es dazu programmatisch: „Erst die Fragestellung macht aus dem Protokoll der Wirklichkeit einen Fall.“47 Im Anschluss an die Bestimmung dessen, was der Fall ist und worin er sich ausdrückt, kann die Sequenzanalyse eines Textes beginnen. Der erste von drei Schritten der Untersuchung einer jeden Sequenz besteht darin, die pragmatischen Erfüllungsbedingungen des sie konstituierenden Akts zu explizieren. Das heißt, es werden möglichst vielfältige hypothetische Antworten auf die Frage entworfen, welche Handlungen an den in der gegebenen Sequenz enthaltenen Akt sinnvoll und regelgeleitet angeschlossen werden können. Nach dieser Generierung kompatibler Lesarten wird dann in einem zweiten Schritt die Bedeutung des tatsächlich folgenden Sequenzelements ausgelegt, ehe während des dritten und letzten Schritts der Versuch unternommen wird, diese aus einem Spektrum von Alternativen heraus erfolgte Auswahl sinnlogisch zu motivieren und damit auf fallspezifische Muster zurückzuführen – auf die Fallstruktur im Sinne des oben erwähnten zweiten Parameters einer Sequenz also.48 Auf diese Weise stößt der Forscher im Laufe seiner Untersuchung auf eine prägnante, wiedererkennbare spezifische Strukturiertheit des interessierenden Falles. Da die Beschaffenheit dieser Fallstruktur darüber entscheidet, welche der von den Erzeugungsregeln einer Sequenz eröffneten Möglichkeiten seitens jener Handlungsinstanz realisiert werden, deren Tun die zu untersuchende Ausdrucksgestalt protokolliert, kommt die besondere Strukturiertheit eines Falles mit jeder weiteren analysierten Sequenz immer klarer zum Vorschein. Die kontinuierliche Durchführung der Sequenzanalyse bildet somit die Grundlage der als Explikation historisch konkreter Fälle verstandenen Fallrekonstruktion, in die sie übergeht und von der sie sodann überlagert wird. Mit der sequentiellen Erschließung eines konkreten Falles geht indes immer auch die Rekonstruktion jener Strukturdynamik einher, die ihn in seiner Besonderheit hervorbringt. 45 Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2. Auflage), S.53/54. Die Fallbestimmung wird hier deshalb nicht als Phase Eins in das skizzierte Modell des Forschungsprozesses aufgenommen, weil ihr im Rahmen der Methodologie der objektiven Hermeneutik eine vergleichsweise untertheoretisierte Rolle zukommt. Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.4.6. 46 Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. 47 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.57. 48 Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.68-70.
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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Zur Veranschaulichung ihrer Wirkmächtigkeit sowie ihrer allgemeinen und regelgeleiteten Operationsweise versieht Oevermann diese Dynamik mit der Bezeichnung „Fallstrukturgesetzlichkeit“.49 Die Fallstrukturgesetzlichkeit regelt das Zusammenspiel und den Einfluss des als Fallstruktur bekannten Ensembles der Dispositionsfaktoren und bewirkt so nicht nur die Bildung eines Falles, sondern auch dessen Reproduktion oder Transformation über Zeit. Aufgrund dieser unmittelbaren Einwirkung auf seine historisch konkrete und motivierte Entstehung aus einem Spielraum alternativer Entwicklungsmöglichkeiten heraus gilt die Fallstrukturgesetzlichkeit als „Quelle der Geschichtlichkeit“50 eines Falles. Mithilfe der Analyse zeitlich vorausgehender Textsegmente kann zudem festgestellt werden, ob sich eine Fallstruktur reproduziert oder transformiert.51 Sofern eine Handlungsinstanz andere Optionen aus dem ihr offenstehenden Spielraum an Handlungsmöglichkeiten realisiert, wird dies als Transformation bezeichnet, während die Vermeidung einer solchen Transformation als Reproduktion gilt. Kurzum: Die Fallstrukturgesetzlichkeit expliziert nicht nur den einzigartigen inneren Zusammenhang, sondern – indem sie die allgemeinen Prinzipien von deren Genese und Entwicklung zur Geltung bringt – auch die Systematik und Regelmäßigkeit einer Fallstruktur.52 Gleichzeitig bildet die sequenzanalytisch rekonstruierte Fallstrukturgesetzlichkeit auch die Grundlage der Strukturgeneralisierung – der letzten der drei eng miteinander verflochtenen Verfahrensweisen und damit auch der letzten Phase des objektiv hermeneutischen Forschungsprozesses. Die Strukturgeneralisierung hat die Erschließung der allgemeinen Struktureigenschaften des Untersuchungsgegenstands und die Formulierung einer empiriegesättigten, sachhaltigen Theorie in der Sprache des interpretierten Falles selbst zum Ziel. Dieser Anspruch ist auf die Annahme gegründet, dass jeder untersuchte Fall „immer schon allgemein und besonders zugleich“53 ist. Während sich seine Besonderheit in der konkreten Selektivität der getroffenen Auswahlentscheidungen manifestiert, rührt die Allgemeinheit eines Falles daher, dass er sich auf der Basis geltender Regeln gebildet hat. Im Zuge dieser Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit eines Falles erfolgt Theoriebildung im Sinne der objektiven Hermeneutik also weder deduktiv noch induktiv. Oevermann zufolge stellt die Strukturgeneralisierung vielmehr ein Analogon zur Abduktion im Sinne von Charles S. Peirce dar, „dem für die Konstitution von Erfahrung und Erkenntnis einzig relevanten, logisch aufklärbaren und explizierbaren Schlußmodus.“54 Ein wich49
Wernet zufolge bringt der Terminus Fallstrukturgesetzlichkeit zum Ausdruck, „dass die strukturierende Kraft nicht minder gewichtig ist, als die Wirkkraft eines Gesetzes und dass die methodische Kontrolle und Überprüfung der Explikation einer Fallstruktur in derselben Verbindlichkeit vorgenommen werden kann, wie die Überprüfung einer Gesetzeshypothese.“ Ein Gesetz, „aus dem sich dann deduktiv das soziale Handeln ableiten ließe“, ist damit gleichwohl nicht gemeint. Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.15/16. 50 Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, S.271. 51 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.12. 52 Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.73/74 und 119-124. 53 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.19. Zur Dialektik von Allgemeinheit und Besonderung der Fallstruktur vgl. auch Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, S.272/73. 54 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.118. Zu Peirce’ Verständnis von Abduktion als Schlussverfahren zur Erkenntnis von Neuem, als Vorgang der Bildung einer erklärenden Hypothese, als blitzartigen Einfällen vergleichbare Vermutung und als Rekonstruktion eines bislang verborgenen, inneren Zusammenhangs einer Sache siehe Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.108-113; vgl. hierzu auch Hans Joas (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.198. Für die von Wagner unter Bezugnahme auf Oevermann erwähnte Differenzierung der frühen und späten Bestimmung der Abduktion bei Peirce (vgl. Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.112) siehe dessen Aufsätze Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen und Deduktion, Induktion, Hypothese, in: Charles Sanders Peirce (1967): Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Herausgegeben von
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
tiges Hilfsmittel der Strukturgeneralisierung stellen – in Anlehnung an Peirce’ Terminologie – die so genannten Fallstrukturhypothesen dar. Bei diesen handelt es sich um „Schlussfolgerungen über die besondere Beschaffenheit des Falles“,55 die anhand der erschlossenen, sukzessive an Evidenz gewinnenden Sinnmuster gegen Ende einer Fallrekonstruktion auf der Basis der zuvor durchgeführten Fallbestimmung formuliert werden können.
3.3.2 Regulative Prinzipien objektiv hermeneutischer Sinninterpretation Das Ziel des vorangegangenen Abschnitts war es, das Grundprinzip der Sequenzanalyse – die fallspezifische Motivierung von realisierten Handlungsoptionen, die aus einem Spielraum regelgeleitet erzeugter Möglichkeiten ausgewählt wurden – und ihre enge Verflechtung mit der Fallrekonstruktion und der Strukturgeneralisierung, den beiden anderen Modi objektiv hermeneutischer Sinnerschließung, vermittels eines Phasenmodells des Forschungsprozesses zu veranschaulichen. Dabei wurde deutlich, dass die Sequenzanalyse die Basis der Fallrekonstruktion bildet, auf der wiederum – vermittels der im Laufe der Untersuchung freigelegten Fallstrukturgesetzlichkeit – die Strukturgeneralisierung gegründet ist. An welchen konkreten Verfahrensregeln die Durchführung des Deutungsprozesses orientiert ist, wurde in diesem Zusammenhang jedoch noch nicht ausgeführt. Die als regulative Prinzipien verstandenen Analyseregeln der objektiven Hermeneutik sollen daher im Folgenden dargestellt werden.56 Dazu gehören die Aufrichtigkeits- und die Sparsamkeitsregel (3.3.2.1), das Sequentialitätsprinzip (3.3.2.2), die komplementären Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit (3.3.2.3) sowie der Konnex aus Nichteinbeziehung des äußeren Kontexts, Einstellungswechsel und künstlicher Naivität (3.3.2.4).
3.3.2.1 Aufrichtigkeits- und Sparsamkeitsregel Als Grundprinzip einer jeden Interpretation kann die Aufrichtigkeitsregel gelten. Sie verlangt, dass das unter dem Aspekt seiner Textförmigkeit zu untersuchende Gebilde ernst zu nehmen und als Ausdruck einer aufrichtigen Lebensäußerung aufzufassen ist. Daraus folgt nun gerade nicht, dass sich heitere, unernste oder unseriöse Texte einer Deutung entziehen, sondern – paradox gewendet – die Anerkennung der Seriosität des Unseriösen, das Ernstnehmen auch des Unernsten also. Die Aufrichtigkeitsregel kann somit als Vorkehrung gegen eine vorschnelle Einordnung der analysierten Ausdrucksgestalt als unglaubwürdig, unauthentisch oder widersprüchlich angesehen werden.
Karl-Otto Apel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.184-231 und 373-394 sowie Aus den Pragmatismus-Vorlesungen und den Brief An Signor Calderoni, in: Charles Sanders Peirce (1967): Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.299-388 und 539-547. 55 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.37. 56 Der Ausdruck regulative Prinzipien kann hier durchaus im Sinne von C.J. Hookway aufgefasst werden, der ihn in seinem Beitrag für den Oxford Companion to Philosophy unter Verweis auf Kant und Peirce als Anleitung unseres Handelns definiert, über deren Richtigkeit wir uns nicht sicher sein können. Vgl. The Oxford Companion to Philosophy (1995). Herausgegeben von Ted Honderich. Oxford und New York: Oxford University Press, S.753. Den Vorschlag einer Konzeptualisierung der Interpretationsmaximen als regulative Prinzipien verdankt der Autor Ralph Weber.
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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In diesem Punkt trifft sich die Aufrichtigkeitsregel mit der Sparsamkeitsregel, die verhindern soll, „dem Fall voreilig und textlich unbegründet ‚Unvernünftigkeit‘, ‚Regelverletzung‘ oder ‚Pathologie‘ zu unterstellen.“57 Indem sie fordert, dass jede Deutung an der vorliegenden Textsequenz überprüfbar sein muss und dass keine Lesarten gebildet werden dürfen, die über den Text hinaus zusätzliche Annahmen über den Fall nötig machen, beschränkt die Sparsamkeitsregel die Interpretation auf die vom untersuchten Text selbst erzwungenen Lesarten. Auf diese Weise wird der Forscher auf den – regelgeleitet erzeugten und wohlgeformten – Text verpflichtet, d.h. auf „die Explikation einer Textbedeutung entlang geltender Regeln.“58 Lesarten, die nicht anhand des vorliegenden Textes überprüft werden können, müssen deshalb nicht falsch sein, sind jedoch „für einen Akt der überprüfbaren interpretatorischen Erschließung wertlos und hinderlich“59, da sie keiner textmethodischen Operation entsprungen sind. Die Sparsamkeitsregel dient also hauptsächlich als ein Instrument zur methodischen Kontrolle, das den – gleichwohl gebotenen – Entwurf möglichst riskanter Deutungen mit der Auflage versieht, an den konkret vorliegenden Text zurückgebunden zu sein.
3.3.2.2 Sequentialitätsprinzip Das Prinzip der Sequentialität besagt, dass die Bedeutung eines Textes Sequenz für Sequenz zu erschließen ist. Damit wird nicht nur der zu interpretierende Text als Text ernst genommen, sondern auch die von ihm protokollierte soziale Realität, auf deren Wirken die sinnlogisch motivierte Anordnung der Sequenzen zurückgeht. Erst die Beachtung der sequentiellen Positioniertheit der Sprechakte, heißt es diesbezüglich bei Wernet, „führt dazu, die Strukturlogik der Interaktion zu rekonstruieren.“60 Willkürlich innerhalb des Textes umher zu springen und nur jene Stellen zu interpretieren, die den bewussten oder unbewussten Vorüberlegungen des Forschers besonders zuträglich zu sein versprechen, verträgt sich ebenso wenig mit dem Sequentialitätsprinzip wie die Einbeziehung von Textstellen, die erst nach der zu analysierenden Sequenz folgen.61 Diese Forderung nach einer Ausblendung der möglichen Kenntnis des weiteren Textes und, wie noch zu zeigen sein wird, des äußeren Kontextes einer Handlung, wird damit begründet, dass beide Arten von (Vor-) Wissen die Geltung einer Deutung nicht zu stärken vermögen, sondern ganz im Gegenteil zu – in den Worten Oevermanns – „schlechter Zirkularität“ führen können. Die Möglichkeit, zu neuen Einsichten zu gelangen wird so erheblich eingeschränkt. Die strikte Einhaltung des Prinzips der Sequentialität hat demgegenüber den Vorteil, dass jedes Sequenzelement – immanent und kumulativ – im Rahmen des inneren Kontextes der Bedeutung jener Sequenzen interpretiert wird, die ihm vorausgegangen sind. Somit wird der folgende Text „in die vorangegangene Textbedeutung eingebettet“ und eine Rekonstruktion der sequentiellen „Entfaltung der Bedeutungsstruktur“62 ermöglicht. Eng mit einer Darstellung des Sequentialitätsprinzips verbunden sind drei forschungspraktische Fragen, die nun kurz erörtert werden sollen. Bei ihnen handelt es sich um die 57
Andreas Wernet (2006): Einführung, S.37. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.36. 59 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.37. 60 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.28. 61 Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.28. 62 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.29. 58
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Fragen nach i) der Größe der einzelnen Sequenzen, ii) der richtigen Anfangssequenz sowie iii) der Behandlung von besonders umfangreichen Texten. Zur ersten Frage: Die objektive Hermeneutik kennt kaum explizite Vorschriften über die optimale Größe einer Sequenz. Es bietet sich jedoch an, die Sequenzen – zumindest am Anfang der Analyse – eher klein zu halten. Sobald sich die Spuren der zu rekonstruierenden Fallstrukturgesetzlichkeit verdichtet haben, können die Sinn und Bedeutung tragenden Elemente eines Textes ohne Probleme zu größeren – durchaus ganze Sätze beinhaltenden – Sequenzen zusammengefasst werden. In nicht unerheblichem Maße geht es bei der Bestimmung der Größe der einzelnen Sequenzen aber immer auch um die Übersichtlichkeit der Darstellung; je größer eine Sequenz, desto umfangreicher die Explikation ihrer potentiellen Bedeutungen. Die Gefahr, sich bei der Auslegung kleiner Sequenzen zu „verheddern“, ist entsprechend geringer – für den Interpreten ebenso wie für den potentiellen Leser.63 Mit Blick auf die richtige Anfangssequenz einer Analyse – der zweiten der oben aufgeworfenen Fragen – wird empfohlen, sich an der Eröffnung der protokollierten Praxis selbst zu orientieren. Zwar befindet sich eine Fallstruktur permanent im Prozess ihrer Reproduktion oder Transformation, so dass die Sequenzanalyse prinzipiell an jeder beliebigen Stelle des Protokolls beginnen kann, die universelle Pragmatik von Öffnungen und Schließungen stiftet jedoch „eine naturwüchsige Geordnetheit des sozialen Lebens“64 und stellt insofern immer eine gute Wahl für den Beginn der Untersuchung dar. Diese Frage ist auch deshalb von Interesse, da das Sequentialitätsprinzip und die übrigen Regeln der Interpretation erst eingehalten werden müssen, nachdem der Ausgangspunkt der Sequenzanalyse bestimmt worden ist und die Untersuchung beginnt.65 Spiegelbildlich dazu endet eine Sequenzanalyse spätestens dann, wenn der Schluss des zu interpretierenden Textes erreicht worden ist. Diese Überlegungen führen nun unmittelbar zur dritten Frage nach der Behandlung besonders umfangreicher Texte, deren vollständige Sequenzanalyse zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. In einem solchen Fall wird der sequentiellen Untersuchung eine Segmentierung des Textes vorgeschaltet – eine Art zusammenfassender Grobgliederung seines Inhalts, die als Entscheidungsgrundlage für die Auswahl der dann im Detail zu analysierenden Textausschnitte dient. Generell kommen dabei neben den Eingangssequenzen sowohl inhaltlich besonders relevante oder zufällig ausgewählte, als auch schwierige oder rätselhafte Stellen für eine Sequenzanalyse in Frage; wichtig ist aber vor allem, dass, wie noch zu diskutieren sein wird, die ausgewählten Textsegmente möglichst maximal miteinander kontrastieren.66
63 Wernet weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich immer erst nach der Durchführung der Analyse einer Sequenz erweist, ob die Wahl ihrer Größe angemessen gewesen ist. Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.65. 64 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.76. 65 Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.31. 66 Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.97-100 und Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.18-20. In Zusammenhang mit der Auswahl der Datenbasis wird uns das Kriterium der maximalen Kontrastierung im folgenden Kapitel noch einmal begegnen, wenn es um die Entwicklung eines geeigneten Kriteriums für die Zusammenstellung der zu untersuchenden Fälle geht. Dann wird sich das Problem jedoch nicht mehr nur hinsichtlich ein- und desselben Textes stellen, sondern in Bezug auf das Universum aller Fälle bzw. Texte, die für eine Analyse potentiell in Frage kommen (vgl. Abschnitt 4.4).
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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3.3.2.3 Totalitäts- und Wörtlichkeitsprinzip Wie die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille verweisen die beiden Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit unmittelbar aufeinander. Während das Totalitätsprinzip verlangt, noch die kleinsten und unscheinbarsten Partikel des ausgewählten Protokollabschnitts in die Sequenzanalyse einzubeziehen und als sinnlogisch motiviert zu bestimmen, fordert das Wörtlichkeitsprinzip, den zu analysierenden Text „beim Wort zu nehmen“ und – wie wir es schon von der Sparsamkeitsregel kennen – nur das in den Deutungsprozess aufzunehmen, was vom Text selbst erzwungen ist.67 In Kurzform heißt dies für den Forscher, im Rahmen der Interpretation keine Textbestandteile auszulassen, aber auch keine hinzuzufügen. Jenseits dieser recht unmissverständlichen Handlungsanweisungen auf der methodischen Ebene ergeben sich aus den Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit auch einige methodologische Implikationen. So kann das Totalitätsprinzip als gewollte Rehabilitation des Hegelschen Totalitätsbegriffs verstanden werden, der von Popper als vergeblicher Versuch einer erschöpfenden Beschreibung missverstanden und im Positivismusstreit daher scharf kritisiert wurde.68 Im Totalitätskonzept der objektiven Hermeneutik manifestiert sich jedoch eine strukturanalytische und sinnlogische Vorstellung des Ganzen eines zu interpretierenden textförmigen Gebildes und nicht der Anspruch auf eine bloß deskriptive, umfangslogische Erfassung von dessen vielfältigen Erscheinungsformen.69 Es geht hier also, resümiert Wagner, „nicht um eine vollständige klassifikatorische Beschreibung, sondern um die Rekonstruktion eines inneren gesetzmäßigen Sinnzusammenhangs“.70 Vor diesem Hintergrund setzt das Totalitätsprinzip der willkürlichen Auswahl und Auslassung von Textstellen die detaillierte, sinnlogisch erschöpfende Deutung geringer Textmengen entgegen.71 Für die Güte einer Analyse ist dabei nicht die Quantität des einbezogenen Datenmaterials entscheidend, sondern die Qualität der Interpretation, die von der Durchführung einer extensiven Feinanalyse in Form des geduldigen Interpretierens der einzelnen Sequenzen abhängig ist. Im Lichte des Prinzips der Totalität kann somit der Anspruch, im Rahmen der vorliegenden Arbeit allein aufgrund der Untersuchung weniger und zudem relativ kurzer Texte weitreichende Aussagen über die Gründe des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation treffen zu wollen, mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass die Untersuchung dieser Texte „extensiv“ und „total“ sein wird. Demgegenüber ermöglicht das Wörtlichkeitsprinzip, indem es den Forscher penibel auf den genauen Wortlaut des zu interpretierenden Textes verpflichtet, die intersubjektive 67
Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.100-104. Vgl. Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.121. Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.32/33. 70 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.121. Dass Oevermann in der mit dem Totalitätsprinzip korrespondierenden lückenlosen Einbeziehung aller Sinn und Bedeutung tragenden Elemente einer Sequenz in den Deutungsprozess und dem dadurch ermöglichten Erschließen des inneren gesetzmäßigen Zusammenhangs der Fallstruktur die methodologische Einlösung von Adornos Vorstellung von Mimesis als dem Sich-Anschmiegen an die „Natur der Dinge“ bzw. die „Sache selbst“ zu erkennen vermag (vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.101), sei hier nur am Rande erwähnt. Der Faden des (Selbst-) Verständnisses der objektiven Hermeneutik als dialektischer Sozialforschung im Sinne von Adorno wird jedoch gegen Ende dieses Kapitels wieder aufgenommen (vgl. Abschnitt 3.5.1). 71 Dieser Absatz orientiert sich an der Darstellung von Wernet, der das Totalitätsprinzip mutmaßlich aufgrund seines stärkeren Interesses an den methodentechnischen Aspekten der objektiven Hermeneutik als Prinzip der Extensivität bezeichnet. Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.32-35. 68 69
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Überprüfbarkeit des objektiv hermeneutischen Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse. Eine wörtliche Auslegung ist immer eine transparente und sich nicht gegen Kritik immunisierende Auslegung. Auch bei der Suche nach möglichen „textimmanenten Differenzen zwischen der ersichtlich intendierten Textbedeutung und ihrer sprachlichen Realisierung“72 kommt dem Wörtlichkeitsprinzip eine wichtige Rolle zu. Denn während diese Differenz zwischen den manifest vorliegenden und den latent bleibenden Bedeutungsschichten eines Textes „die Schwelle alltagsweltlicher Aufmerksamkeit“73 unterläuft und dem – zumeist „karitativen“ – praktischen Verstehen (infolge der Geltung der Maximen der wechselseitigen Anerkennung, aufgrund von Rationalisierungen im Sinne Freuds oder auch einfach nur zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen) häufig verborgen bleibt, unterliegt die wörtliche Interpretation diesen Einschränkungen in der Regel nicht. Im Gegenteil erweist sich eine akribische Deutung nach dem Wörtlichkeitsprinzip gerade deshalb als besonders fruchtbar, da es sich um praxisentlastetes methodisches Verstehen handelt, das immer schon eine Distanz zum untersuchten Gegenstand zur Voraussetzung hat. Die strikte Einhaltung des Wörtlichkeitsprinzips – verstanden als die Einnahme einer Haltung gegenüber dem zu analysierenden Text, die, würde sie „im Alltag praktiziert werden, eine Verletzung“ darstellte – ist, so Wernet, ein entscheidender Schritt, um „die Beschränkungen einer intentional-deskriptiven Interpretation zu überwinden.“74
3.3.2.4 Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes, Einstellungswechsel und künstliche Naivität Anlass zu Missverständnissen kann das regulative Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes geben, das die Gewähr einer weitgehend immanent erfolgenden Sinnrekonstruktion bietet und eng mit dem Konzept einer von Einstellungswechsel und künstlicher Naivität gekennzeichneten Forschungshaltung verbunden ist. Der Begriff „äußerer Kontext“ ist nicht ontologisch, sondern rein methodisch zu verstehen. Im Gegensatz zum inneren Kontext, der im Rahmen der sequentiellen Untersuchung einer textförmigen Ausdrucksgestalt sozialer Realität kumulativ freigelegt wird, verweist er auf Wissen, „das außerhalb der Sequenzanalyse gewonnen oder bezogen worden ist.“75 Da nun aber zu Beginn einer Analyse definitionsgemäß noch gar kein innerer Kontext vorliegt und alles Wissen, das dem Forscher zur Verfügung steht, notwendig von außerhalb des zu untersuchenden Textes kommt, bedarf die Bestimmung des äußeren Kontextes der weiteren Präzisierung. Zu diesem Zweck wird der äußere Kontext als eine „Funktion“ der zu analysierenden Ausdrucksgestalt aufgefasst, in der sich der Untersuchungsgegenstand als Fallstruktur verkörpert. Kurzum: Der Begriff „äußerer Kontext“ verweist ausschließlich auf (Vor-) Wissen über den zu erforschenden Gegenstand oder Fall selbst. Die methodologische Begründung der Forderung nach einer Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes besteht darin, dass die Bezugnahme auf Vorwissen über den zu erforschenden Fall nur zu einer Schwächung der Argumentation führen würde, zu – in den Wor72
Andreas Wernet (2006): Einführung, S.24. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.25. 74 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.26; Hervorhebung im Original. 75 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.95/96. 73
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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ten Oevermanns – „immunisierende[n], ‚schlechte[n]‘ Zirkularitäten“.76 Im Vergleich zu einer Deutung auf der Basis von aus dem äußeren Kontext entnommenem Wissen wird die immanente Rekonstruktion der Geltung einer Fallstrukturgesetzlichkeit als besser belegt angesehen. Es geht hier also nicht – was ja auch unmöglich wäre – darum, dass der Forscher bewusst vergessen muss, was er weiß. Ein weiteres Argument besteht, wie Wernet betont, darin, dass die Erschließung der Bedeutung eines Textes mithilfe des Kontextes Gefahr läuft, „den Text ausschließlich durch den Kontext zu verstehen.“77 Eine Textanalyse ist jedoch in erster Linie dem Text als eigenständiger Realitätsebene verpflichtet. Darüber hinaus ist das Aufbrechen des hermeneutischen Zirkels im Zuge der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes auch geeignet, um die Möglichkeit zu verbessern, zu neuen Einsichten über einen vorliegenden Fall zu gelangen und tradierte Wissensbestände in Frage zu stellen.78 Eine allzu starre Fixierung auf den äußeren Kontext erscheint daher nicht nur als Verkürzung der Begründung der rekonstruierten Geltung einer Textsequenz, sondern auch als unnötige Behinderung möglicher kreativer neuer Deutungen eines Falles; der gebotene Entwurf von möglichst vielfältigen, an eine gegebene Sequenz anschließbaren Lesarten dürfte durch eine ausschließliche Konzentration auf den äußeren Kontext jedenfalls kaum angeregt werden. Die Bedingung der Möglichkeit einer Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes bildet eine Forschungshaltung, die zumeist mit den Begriffen „Einstellungswechsel“ und „künstliche Naivität“ umschrieben wird.79 Damit ist gemeint, sich ganz auf das zu untersuchende Datenmaterial einzulassen und es extensiv zu deuten; es geht darum, das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten zu erweitern, sich von verfestigten Ansichten frei zu machen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, bei der Analyse noch vom Text überrascht werden zu können. Dies bedeutet, das äußere Kontextwissen, welches für das Verstehen in der Lebenspraxis unverzichtbar ist, hinter sich zu lassen, aus der Praxisperspektive herauszuspringen und vom Modus des praktischen Verstehens überzugehen zum praxisentlasteten methodischen Verstehen – zu Unvoreingenommenheit und Muße. Einstellungswechsel und künstliche Naivität sind also kein „billiger Trick“, um die eigenen Vorannahmen unbemerkt in den zu analysierenden Text „hineinzuschmuggeln“ und sie dann wieder daraus „hervorzuzaubern“, sondern stellen den Versuch dar, das Entdecken neuer Lesarten zu befördern. Die beiden Konzepte brechen mit der bloßen Reproduktion von Vorwissen und Vorannahmen und lassen genügend Raum für mutige Abweichungen von vermeintlich Bewährtem. Die einzige Grenze, die diesem Unterfangen gesetzt ist, bil76 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.96. Die in dieser Formulierung zum Ausdruck kommende gezielte Zurückweisung des hermeneutischen Zirkels verdeutlicht einmal mehr den offenen Gegensatz der objektiven Hermeneutik zu den Spielarten einer Nachvollzugshermeneutik. Oevermann äußert gar die Ansicht, dass die gezielte Einbeziehung des äußeren Kontextes letztlich auf „eine unkritische, bloß paraphrasierende Abschilderung der zu analysierenden Erscheinungswelt“ (ebd.) hinauslaufe. Anschauungsmaterial für Interpretationen, die auf eine Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes verzichten, bietet jeden Samstag die Rubrik „Frankfurter Anthologie“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Darin werden Gedichte vornehmlich auf der Basis von Herrschaftswissen des Interpreten ausgedeutet und mit Anekdoten aus dem Leben der Dichterin oder des Dichters in Zusammenhang gebracht; Überraschungen durch eine müßige Betrachtung des Werks selbst sind indes eher selten. 77 Andreas Wernet (2006): Einführung, S.22. 78 Mit dem Neuen ist hier und im Folgenden nichts gemeint, das sich nicht an Vorangegangenes anschließen lassen könnte, sondern stets das Ergebnis einer Entwicklung. Peirce’ Theorem, dass es keine erste Erkenntnis gebe, wird von der objektiven Hermeneutik sehr ernst genommen. Vgl. dazu Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.175 sowie – zur Entfaltung einer entsprechenden Theorie der Entstehung von Neuem aus Altem – Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, insbesondere die Abschnitte 7, 9, 10 und 11. 79 Vgl. etwa Andreas Wernet (2006): Einführung, S.23 und Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.102/03.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
det der untersuchte Text selbst. Aus diesem Grund ist auch das Heranziehen von zum äußeren Kontext eines Untersuchungsgegenstandes gehörenden Wissensbeständen zur Bildung von Lesarten einer Sequenz, ob unbewusst oder aus der Not eines akuten Mangels an Einfällen geboren, allein deshalb problematisch, da so die Geltung des vorgebrachten Arguments und die Möglichkeit des Erkennens von Neuem geschwächt werden. Prinzipiell hängt die Zulässigkeit von Lesarten indes allein von deren regelhafter Anschlussfähigkeit an eine Textsequenz ab, über die, wie in Abschnitt 3.2 dargestellt, in Analogie zur Sprachtheorie Chomskys die Interpretierenden mithilfe von – meist impliziten – Angemessenheitsurteilen auf Basis ihrer Kompetenz entscheiden.80 Weiterhin verhindert auch eine strikte Einhaltung der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes nicht die Akkumulation von Wissen. Denn zum einen werden die entworfenen Lesarten im Laufe der Analyse ja zwangläufig mit den nachfolgenden Sequenzen konfrontiert, die zuvor noch äußerer Kontext gewesen sind; zum andern ist es nachträglich immer möglich, immanent rekonstruierte Deutungen mit dem äußeren Kontext einer protokollierten Handlung abzugleichen.81 Auf diese Weise gehen also keine Wissensbestände verloren. Eine für die immanente Rekonstruktion unüberwindliche Grenze bilden jedoch alle Formen von Eigennamen oder unbekannten Wörtern, die Oevermann unter dem Begriff „Indexikalitäten“ zusammenfasst. Zur Explikation ihrer Bedeutungsschichten ist der Forscher auf die Heranziehung von externen Wissensquellen wie Lexika, Enzyklopädien oder Kartenmaterial angewiesen. Wissenssoziologisch ist dies insofern interessant, als jede Auswahl einer Quelle, mit deren Hilfe die aufgeworfene Verständnislücke geschlossen werden soll, eine Entscheidung zugunsten einer ganz bestimmten – und wohl nur in den seltensten Fällen unumstrittenen – Variante von Wissen darstellt. Es bleibt somit dem Forscher und seinem Welt- bzw. Wissenschaftsverständnis überlassen, ob er sich lieber bei Standardwerken oder bei den Herausforderern von Mehrheitspositionen bedient. Auch um dem Verdacht entgegenzuwirken, auf diesem Wege fertige Theorien in die Sequenzanalyse eines Textes einzuschleusen, sei hinsichtlich der Handhabung des Imports von Wissen aus Anlass der Deutung von Eigennamen empfohlen, so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich davon in Anspruch zu nehmen.
3.3.3 Methodologische Implikationen Um einige der Implikationen zusammenzutragen, die sich aus den dargestellten Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik ergeben, geht es von der Ebene des konkreten methodischen Vorgehens nun noch einmal kurz zurück auf die Ebene allgemeiner methodologischer Überlegungen. Im Anschluss an eine Erörterung der Charakteristika des dreifach dialektischen Strukturbegriffs der objektiven Hermeneutik werden die damit in einem engen Zusammenhang stehenden fünf verschiedenen Dimensionen der Strukturgeneralisierung behandelt. Eine Besonderheit des Strukturbegriffs der objektiven Hermeneutik besteht darin, dass er in sich historisch konzipiert und an die „Strukturiertheit von konkreten Gebilden“82 ge80
Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.52. Zum nachträglichen Kontextabgleich vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.22/23 und Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.103. 82 Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, S.274. 81
3.3 Die Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik
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bunden ist. Strukturen sind stets Fallstrukturen, die auf die Gesetzmäßigkeit verweisen, „mit der eine je konkrete Handlungsinstanz…über einen bestimmten Zeitraum typische Selektionen aus den nach Regeln objektiv sinnlogisch erzeugten offenstehenden Optionen vornimmt.“83 Aufgrund der Fundierung dieser Erzeugungsregeln in Universalien – hier sind einmal mehr das logische Schließen, die Sprechakterzeugung, die Universalgrammatik, die Moralkompetenz und die Reziprozität von Sozialität zu nennen – kennzeichnet den Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik somit eine Dialektik von Historizität und Universalität. Auch trägt jede Fallstruktur der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem Rechnung. Konkret zeigt sich dies darin, dass eine Fallrekonstruktion nicht nur die Individualität historisch konkreter Fälle, d.h. Strukturen, expliziert, sondern – vermittels der Fallstrukturgesetzlichkeit – auch „den inneren Gehalt dieser Individualität als je einzigartige[r] Subjektivität“ aufschließt und somit zugleich „das diese Besonderheit als Typus sowohl erklärende wie erzeugende Gesetzes-Allgemeine“ erfasst.84 Da Strukturen sich überdies nur als Verlauf, als Prozess ihrer Reproduktion (oder Transformation), nachweisen lassen, sind Statik und Dynamik, Struktur und Prozess nicht länger von einander zu trennen und „fallen in eins.“85 Der objektiv hermeneutische Strukturbegriff verweist somit schließlich auch auf die Dialektik von Synchronizität und Diachronizität. Das diachronische Moment verkörpert „der an die Handlungszeit gebundene Prozeß bzw. Verlauf der Reproduktion einer Struktur“, den synchronischen Pol konstituieren dagegen „die Gesetzlichkeiten bzw. Generierungsformeln, die diesen Reproduktionsprozeß bestimmen.“86 In einem engen Zusammenhang mit der dreifachen Dialektik des Strukturbegriffs, insbesondere jener von Allgemeinem und Besonderem, stehen die verschiedenen Dimensionen des Modus der Strukturgeneralisierung. Mit Blick auf die Rekonstruktion eines historisch-konkreten Falles unterscheidet Oevermann fünf solcher Dimensionen oder Richtungen.87 Erstens verkörpert jede Fallrekonstruktion, sofern „sie bis zur expliziten Formulierung einer Fallstrukturhypothese geführt wurde“88, schon eine Strukturgeneralisierung, weil ihr Ergebnis einen konkreten Fall in seiner inneren Gesetzlichkeit und somit als einen in sich allgemeinen Typus abbildet. Die Allgemeinheit dieses Typus besteht unabhängig von der Häufigkeit seines Vorkommens. Sie käme ihm auch dann zu, „wenn er in einer ,Grundgesamtheit‘ tatsächlich nur einmal vorkäme“.89 Jede konkrete Fallrekonstruktion verweist zweitens neben dem manifesten Fall, den das sequentiell analysierte Protokoll repräsentiert, immer auch auf weitere Fälle, „die dieser Fall seinen objektiven Möglichkeiten nach in seiner weiteren historischen, kulturellen und sozialen Umgebung hätte werden können, aber nicht geworden ist.“90 Die Fallrekonstruktion ermöglicht es drittens, generalisierungsfähige „Erkenntnisse über die Fallstrukturen von – in der Regel höher aggregierten
83
Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.53. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.74. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.71. 86 Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, S.274. 87 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.124-129 und Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.12-18. 88 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.124. 89 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.15. 90 Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.16. 84 85
74
3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
– sozialen Gebilden“91 zu erzielen, die den analysierten Fall einbetten. Viertens führt jede Fallrekonstruktion „potentiell zu Erkenntnissen über allgemein gültige Regeln und Normen, deren Operationsweise und Geltung anläßlich der Sequenzanalyse einzelner Zusammenhänge beispielhaft zur Evidenz gebracht wurde.“92 Auf Grund ihres Anspruchs auf praktisches Gelingen kann eine rekonstruierte Fallstruktur schließlich auch als Vorbild Nachahmung oder Ablehnung finden. In diesem Fall käme ihr eine wichtige praktische Funktion zu, „die gerade nicht in einer theoretischen und zugleich technokratischen Bevormundung der Praxis bestünde, sondern darin, gleichsam geburtshelferisch einer von der Praxis gefundenen vernünftigen Lösung durch Explikation erfolgreich zur größeren Bekanntheit und zur größeren Konturiertheit zu verhelfen und damit auch die Voraussetzung für eine schnellere und/oder stärkere Verbreitung zu schaffen.“93
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik Nachdem nun das (sozial-)theoretische Fundament der objektiven Hermeneutik und die von ihr explizierten Verfahren vorgestellt worden sind, geht es in diesem Abschnitt darum, mögliche Kritikpunkte und problematische Aspekte zu erörtern, die sich aus dem Vorstehenden ergeben. Dabei soll nach Möglichkeit vom Konkreten zum Abstrakten vorgegangenen werden. Probleme und Kritik auf der Ebene der Anwendung der Verfahren – der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit (3.4.1), Kritik am regulativen Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes (3.4.2) und das Problem der Analyse fremdsprachiger Texte (3.4.3) – machen daher den Anfang und führen schrittweise hin zu solchen Gesichtspunkten, die allgemeinere Fragen der Methodologie betreffen. Dies sind das Problem der Ontologisierung bzw. das Verhältnis von protokollierter Wirklichkeit und Wirklichkeit des Protokolls (3.4.4), die Forderung nach Methodenpluralismus (3.4.5) das Problem der Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (3.4.6), Falsifikationismus vs. Fallibilismus (3.4.7) sowie der Wahrheitsbegriff der objektiven Hermeneutik (3.4.8).
3.4.1 Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit Da die immanente Rekonstruktion der Bedeutung eines Textes nicht mithilfe von vorab operationalisierten theoretischen Konzepten, sondern in der Sprache des Falles selbst erfolgt und weitestgehend ohne einen wissenschaftlichen Apparat auskommt, könnte diese Art des Vorgehens als unwissenschaftlich abgetan werden. Diesem Vorwurf kann jedoch 91 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.125. Diese Dimension verweist unmittelbar auf die sozialisationstheoretische Herkunft der objektiven Hermeneutik. Innerhalb der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehung befinden sich die zu untersuchenden Fälle dagegen in der Regel am anderen Ende des Spektrums und konstituieren mit der internationalen Politik bereits eine der höchsten Aggregationsebenen. Gleichwohl bildet die höhere historische Reichweite der Fälle innerhalb ihres Gegenstandsbereichs kein prinzipielles Hindernis für eine Anwendung der objektiven Hermeneutik in den Internationalen Beziehungen. Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.4.6. 92 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.125/26. 93 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.126. Zum Verhältnis der protokollierten Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Protokolls vgl. auch Abschnitt 3.4.4.
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik
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mit zwei Argumenten begegnet werden. Zum einen hat die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur natürlich auch innerhalb objektiv hermeneutischer Forschung ihren Platz – nur eben nicht im Rahmen der Sequenzanalyse und der Fallrekonstruktion; zum andern weisen die Extensität der Sinnexplikation und der nicht-formalistische, quasi-literarische Stil einer Sequenzanalyse darauf hin, dass die Interpretation praxisentlastet und „in Muße“ vorgenommen worden ist. Darin wiederum kommt unmittelbar das anti-szientistische Verständnis des Ensembles der objektiv hermeneutischen Verfahrensweisen als einer forschungspraktischen Kunstlehre zum Ausdruck, das im Folgenden kurz erläutert werden soll. Während sich die objektive Hermeneutik auf der Ebene konstitutionstheoretischer Begriffe ohne Probleme als Methodologie, d.h. als „explizite Begründung der Bedingungen der Möglichkeit der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen“94, einrichten lässt, stellen die von ihr explizierten Verfahren auf der Ebene der konkreten Forschungspraxis eine Kunstlehre dar, die nicht standardisiert werden kann. So erklärt und verdeutlicht die Methode der Fallrekonstruktion zwar eine Erkenntnisoperation, begründet sie jedoch nicht, da sich die naturwüchsige, intuitive Operation der Fallrekonstruktion „ohne irgendeine Angewiesenheit auf eine vorausgehende theoretische Begründung“95 im alltagspraktischen ebenso wie im klinischen Verstehen des professionalisierten Handelns konkreter Fälle konstituiert. Dieser Behauptung liegt die Annahme zugrunde, dass es in den Sozialwissenschaften aufgrund der strukturellen Homologie von Gegenstandserschließung und Gegenstand keine „erkenntnislogische Differenz zwischen den Verfahren des Alltagshandelns und den Verfahren der objektiven Hermeneutik“96 gibt. Der Forscher bleibt „an seinen konkreten historisch spezifischen lebensweltlichen Horizont des Vorverstehens gebunden“97, von dem er sich nicht vollständig ablösen kann. Wissenschaftliche Erkenntnis ist somit stets in eine gesellschaftlich vermittelte Lebenswelt eingebettet und hebt sich „von der Alltagspraxis nur in Gestalt einer Kunstlehre“98 ab, die sich im Falle der objektiven Hermeneutik am Ideal kritischer Distanz – künstliche Naivität in Verbindung mit der Nichteinbeziehung von Vorwissen über den Fall – orientiert und mit einer offenen, neugierigen Forschungshaltung einhergeht. Ähnlich dem professionalisierten Handeln von Ärzten, Therapeuten, Rechtsanwälten, Geistlichen und Künstlern mündet die Nichtstandardisierbarkeit der Verfahrensweisen also auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung in einen besonderen berufsspezifischen Habitus, der es ermöglicht, den Anforderungen der Kunstlehre gerecht zu werden.99
3.4.2 Kritik am regulativen Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes Unter Verweis auf das Verständnis der forschungspraktischen Verfahren der objektiven Hermeneutik als Kunstlehre ist es zudem möglich, auf Kritik zu reagieren, die sich an der
94
Ulrich Oevermann (1993): Subjektivität, S.126. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.154. Ulrich Oevermann et al. (1979): Methodologie, S.391. 97 Ulrich Oevermann (1993): Subjektivität, S.126. 98 Ulrich Oevermann et al. (1979): Methodologie, S.391. 99 Für eine Theorie professionalisierten Handelns vgl. Ulrich Oevermann (1996): Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.70-182. 95 96
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Durchführung einer Sequenzanalyse entzünden kann. Dies gilt vor allem mit Blick auf das regulative Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes und seiner Handhabung. Zumindest bei edierten Ausdrucksgestalten erweist sich in der Regel bereits die Analyse der ersten Sequenz(en) eines Textes als Lackmustest für die vom geduldigen Interpretieren des untersuchten Materials gekennzeichnete Forschungshaltung. Nachdem der interessierende Fall, ein Kriterium der Fallauswahl und die geeigneten Protokolltypen bestimmt wurden, ist dem Leser – ebenso wie zuvor dem Forscher – natürlich von Anfang an klar, welcher konkrete Text im Laufe einer vorliegenden Sequenzanalyse untersucht wird. Die immanente Rekonstruktion der Textgattung oder anderer Bedeutungsschichten, die „eigentlich“ schon bekannt sind, wirkt daher immer ein bisschen befremdlich und es ist mitunter schon ein gewisses Maß an Geduld nötig, um die damit verbundene Irritation zu meistern. Gleichwohl wird dieser Einstellungswechsel, dieser Eintritt in den Modus künstlicher Naivität, nicht um der Einhaltung eines Prinzips willen vorgenommen; die Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes ist kein Selbstzweck. Die immanente Rekonstruktion des dem Forscher bekannten Protokolltyps im Rahmen der Analyse der ersten Sequenzen eines Untersuchungsgegenstands erfolgt vielmehr vor allem deshalb, weil diese zum Text gehören, der als eigenständige Realitätsebene ernst genommen werden muss. Darüber hinaus kann im Vorhinein niemals ausgeschlossen werden, dass zum Beispiel bereits aus der Überschrift eines Textes instruktive Details des interessierenden Falles erschlossen werden können, die nicht in die Deutung einzubeziehen ein leichtfertiger Fehler wäre. Der hohe interpretatorische Aufwand kann also mit der Aussicht auf vielfältige Erträge gerechtfertigt werden, die zur Beantwortung einer Forschungsfrage möglicherweise entscheidend beitragen. Der Vermutung, Einstellungswechsel und künstliche Naivität könnten dazu führen, dass sich der Forscher in den Weiten des ausgedeuteten Textes verliert, steht indes nicht nur die Formulierung einer Forschungsfrage im Rahmen der Fallbestimmung entgegen, sondern auch die Annahme, dass es sich bei der zu analysierenden Ausdrucksgestalt um ein wohlgeformtes, stringent sinnlogisch erzeugtes Gebilde handelt. Die innere Strukturiertheit des Untersuchungsgegenstands und das dieser Rechnung tragende Prinzip einer sequentiellen Analyse entlang der von der protokollierten Praxis gestifteten Geordnetheit sind die beste Vorkehrung gegen eine willkürliche und assoziative Interpretation. Spiegelbildlich dazu wäre jedoch auch der Vorwurf ungerechtfertigt, die Annahme einer auf algorithmische Regeln zurückgehenden Wohlgeformtheit des Sozialen zeuge von Determinismus, denn diesen Algorithmen liegen stets Auswahlentscheidungen des konkreten Falles aus einem Spielraum von Möglichkeiten zugrunde. Ein weiterer Kritikpunkt könnte lauten, dass ein Spannungsverhältnis bestehe zwischen dem Anspruch, ohne fallspezifisches Vorwissen vorzugehen, und der Behauptung, bewusst oder unbewusst in die Analyse eingeflossene Vorannahmen des Forschers würden im Rahmen der Untersuchung unweigerlich sichtbar. Dieser Beobachtung ist zuzustimmen. Das Postulat der intersubjektiven Nachprüfbarkeit des Forschungsprozesses kann durchaus auch als Vorkehrung dagegen verstanden werden, dass der Forscher das Ideal der kritischen Distanz aufgrund seiner eigenen spezifischen sozialen Situiertheit nie vollständig zu erreichen vermag (eine Einsicht, die im Begriff des Ideals ja durchaus angelegt ist). Selbst wenn er in einen schier unendlichen (Selbst-)Reflektionsprozess eintritt und es dem Forscher gelingt, so viele der beim Interpretieren „aufblitzenden“ Gedankengänge wie möglich über die Bewusstseinsschwelle zu heben, werden sich doch immer auch einige
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik
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Ideen in Form „blinder Flecken“ ungefiltert und unreflektiert in der Analyse niederschlagen. Diese können aufgrund der gewährleisteten intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Vorgehens jedoch problemlos von seine Interpretation kritisch gegenlesenden Mitgliedern der idealen Forschergemeinschaft, die über einen anderen lebensweltlichen Hintergrund, andere theoretischen Präferenzen und somit über andere „blinde Flecken“ verfügen, ausfindig gemacht und anschließend in einem kollegialen Diskurs erörtert werden. Kurzum: Zu einem Problem würde das diagnostizierte Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit wohl nur dann, wenn die Konzeption einer immanenten rekonstruktiven Methodologie derart hypostasiert würde, dass das regulative Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes nicht mehr als Ideal zu erkennen wäre.
3.4.3 Das Problem der Analyse fremdsprachiger Texte Nicht nur aus Anlass der vorliegenden Arbeit, in der englischsprachige Dokumente von einer Person interpretiert werden, deren Muttersprache Deutsch ist, sondern ganz allgemein besteht Klärungsbedarf auch in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen einer Untersuchung fremdsprachiger Texte. Mit der Sprache, in der die zu analysierende Ausdrucksgestalt protokolliert wurde, der Sprache, in der die Analyse durchgeführt wird, und der Sprache, in der das Analysierte verschriftet wird, können dabei drei Facetten des Problems voneinander unterschieden werden. Sollte eine zu untersuchende Ausdrucksgestalt in einer Fremdsprache protokolliert worden sein, stellt sich somit die Frage, ob es gerechtfertigt werden kann, auf den beiden anderen Ebenen von der Sprache des zu interpretierenden Textes abzuweichen.100 Mit Blick auf die Sprache, in der die Untersuchung erfolgt, soll davon ausgegangen werden, dass wohl nur die wenigsten Nichtmuttersprachler fremdsprachige Texte zu deuten vermögen, ohne dabei teilweise auch auf Übersetzungen in die eigene Muttersprache zurückgreifen zu müssen. Auf dieser Ebene sind Abweichungen von der Sprache des zu interpretierenden Textes also kaum zu vermeiden; es geht primär um graduelle Unterschiede zwischen den jeweiligen Anteilen, zu denen eine Untersuchung in der Fremdsprache und zu denen sie in der Muttersprache des Forschers durchgeführt wird. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass streng genommen schon die kleinste Abweichung von der Sprache des Textes im Rahmen der Analyse einen Mangel darstellt. Zur Eindämmung der negativen Folgen der Unerreichbarkeit des Ideals, fremdsprachig protokollierte Texte so gekonnt wie ein Muttersprachler in der Sprache des Untersuchungsgegenstands selbst auszudeuten, sollen daher drei Regeln für den Umgang mit dem Problem der Interpretation von Ausdrucksgestalten fremder Sprache formuliert werden. Ers100
Um Missverständnissen vorzubeugen wird die Sprache, in der eine zu interpretierende Ausdrucksgestalt protokolliert wurde, hier nicht als Sprache des Falles, sondern als Sprache des Textes bezeichnet. Dies rührt daher, dass das Prinzip der Durchführung einer Analyse „in der Sprache des Falles“ sich in erster Linie gegen eine Subsumtion des Untersuchungsgegenstands unter operationalisierte, von außen an ihn herangetragene theoretische Begriffe richtet, nicht aber gegen den Versuch einer möglichst strukturgetreuen sequentiellen Übertragung eines fremdsprachigen Textes in die Muttersprache des Forschers (vgl. Abschnitt 3.5.1). Ohne zu leugnen, dass Übersetzungen immer mit Verlusten (und Zugewinnen) von Bedeutung einhergehen und ohne einem essentialistischen Fallverständnis das Wort zu reden, soll hier davon ausgegangen werden, dass sich eine gelungene Fallrekonstruktion in der Originalsprache und eine gelungene Rekonstruktion dieses Falles unter Zuhilfenahme einer Übersetzung weitaus ähnlicher sein dürften als die Original-Fallrekonstruktion und eine subsumtionslogische, klassifikatorische Analyse dieses Falles in derselben (Hoch-)Sprache.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
tens: Die Qualität einer Analyse ist umso höher, je besser der Forscher die Sprache beherrscht, in der die zu untersuchende Ausdrucksgestalt protokolliert wurde. Zweitens: Wenn der Forscher mit der Sprache, in der das Protokoll vorliegt, vertraut ist, so fördert es die Güte der Analyse, wenn der fremdsprachige Text anhand des Originals ausgedeutet wird und eine Übersetzung nur ergänzend herangezogen wird. Drittens: Ausschließlich mit einer – möglichst professionellen – Übersetzung Vorlieb nehmen sollte der Forscher nur, wenn er überhaupt keine Kenntnis der Sprache des zu interpretierenden Textes besitzt.101 Auch auf der Ebene der Sprache, in der eine Analyse verschriftet wird, kann das Argument der nur in den seltensten Fällen möglichen vollkommenen Beherrschung einer Fremdsprache vorgebracht werden, um zu rechtfertigen, dass der Forscher bei seiner Muttersprache Zuflucht sucht. Das Problem einer Abweichung von der Sprache des zu interpretierenden Textes stellt sich hier jedoch in weitaus geringerem Maße, da es weniger um den Deutungsprozess selbst als vielmehr um dessen Darstellung geht. Unter der Prämisse, dass ihre Bedeutung dabei zu einem guten Teil erhalten und erkennbar bleibt, dürften Sinnstrukturen, die anhand eines in einer bestimmten Sprache abgefassten Textes rekonstruiert wurden, prinzipiell in jede andere Sprache übertragen werden können. Die Probleme, die sich auf der Ebene der Sprache stellen, in der eine Analyse verschriftet wird, verweisen also vor allem auf die geradezu klassische Frage nach den Zugewinnen und Verlusten von Bedeutungsschichten im Rahmen einer Übersetzung.
3.4.4 Das Problem der Ontologisierung. Zum Verhältnis von protokollierter Wirklichkeit und Wirklichkeit des Protokolls Einer Erörterung bedarf auch die Beziehung zwischen der ontologisch vorgängigen Ebene der (Lebens-) Praxis und der Ebene des Protokolls, die beide als je eigenlogische Realitätsebene verstanden werden. Zur Erinnerung: Praxis, das menschliche Handeln, gilt der objektiven Hermeneutik als autonomes Gebilde, das nicht unmittelbar methodisch zugänglich ist; nur wenn sie das Hier und Jetzt in Form eines Protokolls überdauern, können die Spuren der Praxis wie ein Text gelesen und rekonstruktiv vergegenwärtigt werden. Mit dieser Idee korrespondiert die Unterscheidung zwischen der sinnstrukturierten sozialen Welt bzw. dem sinnlogisch motivierten Handeln auf der einen Seite und der Rekonstruktion latenter Sinnund objektiver Bedeutungsstrukturen anhand von Ausdrucksgestalten, die diese soziale Praxis protokollieren, auf der anderen. Die nicht unmittelbar methodisch einholbare Autonomie der Praxis könnte nun allerdings auch so gedeutet werden, dass soziales Handeln nicht auf einen Text reduzierbar ist. In diesem Fall lautete die epistemologische Grundfrage, die an die objektive Hermeneutik zu richten wäre, ob die mithilfe ihrer Verfahren rekonstruierten Sinn- und Bedeutungsstrukturen auf der Ebene des interpretierten Textes oder auf der Ebene der Praxis angesiedelt sind. Sollten die Ergebnisse einer Analyse ausschließlich als Strukturen des untersuchten 101
Als vierte Regel könnte noch hinzugefügt werden, dass der Forscher seine Deutung fremdsprachiger Texte frühzeitig mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren sollte, die mit der Sprache der zu analysierenden Ausdrucksgestalt besser vertraut sind; der Königsweg wäre es, diese Personen gleich von Anfang an in den Interpretationsprozess miteinzubeziehen. Dass die Verfahren der objektiven Hermeneutik eine besondere Produktivität entfalten können, wenn kleine Gruppen an ihrer Anwendung beteiligt sind, gilt gleichwohl nicht nur im Kontext des Problems der Untersuchung fremdsprachiger Texte, sondern stellt fast so eine Art implizites Grundprinzip des Vorgehens dar.
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik
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Textes angesehen werden, hätte ein Vertreter der These der Irreduzibilität von Praxis wohl keine Einwände; würde dagegen der Anspruch erhoben, auch Strukturen der Praxis in den Blick zu bekommen, so könnte dies aus der skizzierten alternativen Perspektive als Problem gewertet und mit dem Vorwurf der „Ontologisierung“ (der analysierten Sinnstrukturen) quittiert werden. Wie wir nicht zuletzt im Rahmen der Erörterung der verschiedenen Dimensionen der Strukturgeneralisierung in Abschnitt 3.3.3 gesehen haben, gibt es innerhalb der objektiven Hermeneutik durchaus Tendenzen, die Geltung der rekonstruierten Sinnstrukturen nicht auf den untersuchten Text zu beschränken. Dem im Zuge einer Übertragung gewonnener Einsichten auf die protokollierte Praxis drohenden Vorwurf der Ontologisierung scheint Oevermann indes dadurch zu entgehen versuchen, dass er – zumindest implizit? – zwischen latenten Sinn- und objektiven Bedeutungsstrukturen differenziert. Sollten zum Beispiel die latenten Sinnstrukturen für die Ebene des Textes und die objektiven Bedeutungsstrukturen für die Ebene der Praxis reserviert sein, so wäre es möglich zu behaupten, dass der Forscher nicht unmittelbar zu Aussagen über die Praxis gelangt, sondern, indem er von den rekonstruierten latenten Sinnstrukturen eines Textes auf die objektiven Bedeutungsstrukturen der protokollierten Praxis schließt. Die Frage, ob ein solcher Schluss von den Strukturen eines Textes auf die Strukturen der Praxis, die der Text protokolliert, zulässig ist, ob er einer zusätzlichen Begründung bedarf oder ob er – infolge einer spezifischen Interpretation des Postulats der Autonomie der Praxis – gar unzulässig ist, liegt jenseits des Anspruches der vorliegenden Arbeit. Angesichts der Unterscheidung zwischen den zwei Wirklichkeitsebenen des Protokolls und der protokollierten Wirklichkeit könnte der Anspruch der objektiven Hermeneutik, sinnverstehende Wirklichkeitserschließung zu betreiben und die Geltung von Interpretationen zu überprüfen102, jedoch auch dann aufrechterhalten werden, wenn er auf die Wirklichkeit des Protokolls beschränkt werden müsste. Die Vertreter der radikalen Variante des Verständnisses der Autonomie der Lebenspraxis, die sich in diesem Falle mit ihrem Ontologisierungsvorwurf durchgesetzt hätten, müssten dann jedoch erklären, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dass jedwede Form von Praxis nun nicht mehr nur nicht methodisch unmittelbar (und daher über Protokolle), sondern überhaupt nicht mehr methodisch zugänglich wäre. Sollte die Antwort sein, dass Praxis nur praktisch zugänglich sei, käme darin paradoxerweise eine viel rigidere Trennung der Modi praktischen und methodischen Verstehens zum Ausdruck, als dies bei der objektiven Hermeneutik der Fall ist, für die methodisches Verstehen eine Art ausführlichere Variante des praktischen Verstehens unter der Bedingung getilgten Zeitdrucks darstellt. Ebenfalls in diesen Kontext würde der Hinweis gehören, dass nicht nur der Gegenstand des Protokolls, sondern auch dessen Analyse Teil der sozialen Wirklichkeit ist. Dieser Forderung wird durch die Anerkennung der zu untersuchenden Protokolle als einer eigenständigen Realitätsebene Rechnung getragen; auch das methodische Verstehen ist eine Praxis. Eingestanden werden muss dagegen, dass die an solche Überlegungen anknüpfenden poststrukturalistischen Ideen einer permanenten Selbstdekonstruktion von Text und Leser sowie eines dynamischen Textverständnisses, d.h. der Veränderlichkeit des Textes und seiner Konstitution durch den Leser, im Rahmen der objektiven Hermeneutik gegenüber der strukturalistischen Intention einer gewissen Beharrlichkeit der latenten Sinnstrukturen in den Hintergrund treten. 102
Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.9.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
3.4.5 Die Forderung nach Methodenpluralismus Weiterhin könnte die hier getroffene Entscheidung zugunsten der Methodologie der objektiven Hermeneutik und der von ihr explizierten Verfahren mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sich der Forderung nach Methodenpluralismus zu widersetzen. Eine strukturelle Schwäche dieses Arguments besteht jedoch darin, dass sich die Forderung nach Methodenpluralismus jenseits der Bearbeitung einer konkreten Forschungsfrage nicht selten als bloßes Lippenbekenntnis entpuppt – und darin moralischen Anschauungen fern fassbarer Handlungssituationen nicht unähnlich ist. Konkrete Forschungsprobleme aber bedürfen – wohl erwogener – Entscheidungen zugunsten eines bestimmten Vorgehens, um dieses Problem zu bearbeiten. Zur Beantwortung der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation wurde diese Entscheidung vom Autor der vorliegenden Arbeit zugunsten der objektiven Hermeneutik und ihrer Methoden getroffen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.103 Gleichwohl bietet auch die Entscheidung zugunsten der objektiven Hermeneutik die Möglichkeit, der Forderung nach Methodenpluralismus gerecht zu werden – nicht als Lippenbekenntnis, sondern als gelebte Praxis. Dies rührt daher, dass – wie wir gesehen haben – die dem objektiv hermeneutischen Forschungsprozess im engeren Sinn vorausgehende und gleichsam dessen Ausgangspunkt markierende Phase der Fallbestimmung tendenziell unterspezifiziert ist. Mindestens an dieser Stelle bietet sich somit auch dem Forscher, der sich auf die objektive Hermeneutik eingelassen hat, die Gelegenheit, im Rahmen der Reflexion über sein Erkenntnisinteresse und der Strukturierung der seinen Forschungsgegenstand zum Ausdruck bringenden Daten andere Methoden zu erproben. Da die objektive Hermeneutik überdies keine Methode, sondern eine Methodologie begründet, ist ihr ohnehin immer schon ein Stück Methodenpluralismus immanent. Im Grunde sind ihr nicht nur die bislang von ihr explizierten Verfahren, sondern alle Methoden willkommen, die ihren (sozial-) theoretischen Ausgangsüberlegungen gerecht werden. Diese sind es, die den Wert einer Methode bestimmen. Auch für die objektive Hermeneutik sind Methoden also kein Selbstzweck; ihr Werkzeugcharakter wird anerkannt und Adornos scharfe Kritik an einer Fetischisierung von Methoden durchaus beherzigt.104
3.4.6 Das Problem der Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen Eine wichtige Konsequenz der vorstehenden Diskussion der Forderung nach Methodenpluralismus besteht darin, dass es sich bei einer Methode vor allem um ein Werkzeug zur Be103
Ist Methodenpluralismus indes als Konsequenz der Preisgabe eines absoluten Wahrheitsbegriffs zu verstehen, d.h. als die These, dass unterschiedliche Methoden verschiedene Stärken und Schwächen haben, dann ist der Forderung nach Methodenpluralismus vorbehaltlos nachzukommen. Vgl. hierzu Abschnitt 3.4.8. Wenn außerdem gemeint ist, dass unterschiedliche Methoden zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, dann wäre es natürlich ein interessanter Test, das gleiche Dokument mit den verschiedensten Methoden zu untersuchen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann dies jedoch nicht geleistet werden. 104 „Die Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes Bestreben, Tatbestände festzunageln, wird auf ihre Gegenstände, eben die ermittelten subjektiven Tatbestände, übertragen, so als ob dies Dinge an sich wären und nicht vielmehr verdinglicht. Die Methode droht sowohl ihre Sache zu fetischisieren wie selbst zum Fetisch zu entarten.“ Vgl. Theodor W. Adorno (1972): Soziologie und empirische Forschung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.196-215; hier: S.200.
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik
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arbeitung einer bestimmten Fragestellung handelt. Dies gilt auch dann, wenn die Bearbeitung einer Fragestellung Ausdruck des Wunsches ist, solche Methoden einzusetzen, die einer vom Forscher favorisierten Methodologie angehören. Ein zentrales Charakteristikum der Methodologie der objektiven Hermeneutik ist jedenfalls ihre Entstehung im Kontext der soziologischen Sozialisationsforschung.105 Zwar wurde der Anspruch auf ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung für die Sozialwissenschaften schon früh erhoben106, gleichwohl setzt eine Übertragung auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen die kritische Reflexion der objektiven Hermeneutik voraus; andernfalls drohte die Politikwissenschaft zu einer „Magd der Soziologie“ zu werden. Vor diesem Hintergrund besteht die entscheidende Frage darin, ob und wie sich eine Übertragung der objektiven Hermeneutik in Anbetracht des in der Regel deutlich höheren Aggregationsniveaus der Fälle in den Internationalen Beziehungen auf die Anwendung der von ihr explizierten Verfahren auswirkt. Die Antwort lautet, dass einer Übertragung grundsätzlich keine Hindernisse im Wege stehen, weil sich ihre Auswirkungen weitestgehend auf die Ebene der Fallbestimmung beschränken. Da diese von der Methodologie der objektiven Hermeneutik kaum thematisiert wird, bietet sich hier sogar eine gute Chance, innovativ tätig zu werden und zugleich die Forderung nach Methodenpluralismus forschungspraktisch einzulösen. Darüber hinaus dürfte es sich als ratsam erweisen, eine Verschärfung des regulativen Prinzips der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes vorzunehmen. Einer Anwendung der Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik geht, wie wir gesehen haben, notwendig die Klärung der Frage voraus, was der Fall ist. Im Rahmen ihres sozialisationstheoretischen Entstehungszusammenhangs ist eine Antwort darauf meist schnell gegeben: Der Fall ist ein menschliches Individuum oder eine Kleinfamilie, die relevante Fallstruktur seine bzw. deren Lebensgeschichte im Spannungsfeld der ödipalen Triade aus Vater, Mutter und Kind. Auf einer Skala des Aggregationsniveaus von Fällen markiert dies das untere Ende. Eine Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen hat daher zur Folge, dass die zu bearbeitenden Fälle häufiger ein deutlich höheres Aggregationsniveau aufweisen. Dabei ist nicht nur an Staaten und internationale Organisationen samt ihrer komplexen Regelwerke und ihres mehrstufigen Aufbaus zu denken, sondern auch an die Ebene der internationalen Politik selbst, also zum Beispiel an zwischenstaatliche Konflikte und viele andere symmetrische und asymmetrische Formen von Verhandlungsprozessen. Die Bestimmung dessen, was der Fall ist, in welchen Ausdrucksgestalten der sozialen Welt er sich verkörpert und welche Fälle für eine Feinanalyse ausgewählt werden sollen, gestaltet sich also komplizierter. Im Zuge einer Übertragung der objektiven Hermeneutik auf Gebiete außerhalb der Sozialisationsforschung ist diesem erhöhten Anforderungsniveau der Fallbestimmung also unbedingt Rechnung zu tragen. Mit dem Anstieg des durchschnittlichen Aggregationsniveaus der Fälle geht auch eine Diversifizierung der zu untersuchenden Datentypen einher. Neben nichtstandardisierte Interviews wie sie für die Soziologie typisch sind tritt die ganze Vielfalt politischer Stellungnahmen von Wahlkampfversprechen und Parlamentsreden bis hin zu Verfassungen und Gesetzestexten – nicht selten also hochgradig edierte Ausdrucksgestalten, die, von manchem Wahlkampfauftritt einmal abgesehen, ein weitaus geringeres Maß an Spontaneität 105
Vgl. etwa Ulrich Oevermann et al. (1976): Beobachtungen und Ulrich Oevermann (1979): Sozialisationstheorie. 106 Vgl. Ulrich Oevermann et al. (1979): Methodologie.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
aufweisen als weitgehend unvermittelte Lebensäußerungen im Rahmen eines offenen Interviews. Die wichtigsten Modifikationen, die aus dem Anstieg des Aggregationsniveaus der Fälle und der Diversifizierung der Datentypen resultieren, betreffen – einmal mehr – den Umgang mit dem äußeren Kontext. So bietet es sich an, diejenigen Informationen, die im Rahmen eines nichtstandardisierten Interviews als „objektive Daten“ – Angaben zur Person des Gesprächspartners – bezeichnet und vor der Analyse des Interviews mit dem Ziel der Bildung möglichst riskanter Fallstrukturhypothesen gesondert interpretiert werden, anlässlich der Untersuchung von höher aggregierten Fällen strikt als zum äußeren Kontext gehörig anzusehen und nach Möglichkeit nicht in die immanente Analyse eines Textes miteinzubeziehen. Für eine solche restriktive Vorgehensweise spricht, dass der äußere Kontext einer Fallstruktur mit der Höhe des Aggregationsniveaus zunimmt und die vermeintlichen „objektiven Daten“ eines Falles daher ungleich strittiger sein dürften als das Geburtsjahr, die Anzahl der Geschwister und der Beruf der Eltern eines Adoleszenten. Weil die geradezu klassischen relevanten Fallstrukturen auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen, also etwa die gegenwärtige oder eine historische weltpolitische Konstellation, die Bestimmung der Politik einer Nation, die Beziehungen zwischen Vertragspartnern oder der Charakter übernationaler politischer Gebilde, so hochgradig umstritten – so politisch – sind, ist von einer Übertragung der Logik der Vorabinterpretation „objektiver Daten“ zur Gewinnung erster Fallstrukturhypothesen abzusehen und stattdessen sogleich mit der immanenten Interpretation eines Textes zu beginnen. Als Grundregel soll dabei gelten, so wenig wie möglich Gebrauch von Wissen über historische und politische Konfigurationen zu machen und auch bei der Füllung von Indexikalitäten nur das am wenigsten voraussetzungsvolle Wissen heranzuziehen – bei Eigennamen von Staaten sind dies eher deren geographische Lage und Größe als deren Geschichte oder die politische Agenda ihrer Regierungen. Es empfiehlt sich, die verschiedenen Dimensionen des äußeren Kontextes behutsam von der Fallstruktur abzuschichten und Informationen, die der relevanten Fallstruktur zu nahe kommen, möglichst nicht in die Analyse miteinzubeziehen. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Übertragung der objektiven Hermeneutik und ihrer Verfahren auf der soziologischen Sozialisationsforschung benachbarte Teildisziplinen innerhalb des Ensembles der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften also als durchaus machbar. Zu einem Problem würde sie nur, wenn die damit einhergehende Chance zu einer eigenständigen Weiterentwicklung des methodischen Vorgehens in Form einer Spezifizierung der Fallbestimmung und der Fallauswahl verpasst wird und die erforderlichen Modifikationen ausbleiben.
3.4.7 Falsifikationismus vs. Fallibilismus Eine bislang nur implizit gebliebene forschungspraktische Besonderheit der sequentiellen Analyse von Sinn und Bedeutung tragenden Ausdrucksgestalten sozialer Praxis besteht darin, dass „an jeder nächsten Sequenzstelle…grundsätzlich der Möglichkeit nach die bis dahin kumulativ aufgebaute Fallrekonstruktion sofort scheitern“107 kann. Oevermann zufolge besteht die Rationalität erfahrungswissenschaftlicher Forschung daher gerade darin, „gedankenexperimentell entworfene Möglichkeiten des Scheiterns wirksam zu simulieren 107
Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.8.
3.4 Problematisierung kritischer Teilaspekte der objektiven Hermeneutik
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und so der Praxis die Kosten und das Leid des realen Scheiterns von handlungsbestimmten Konjekturen und Vermutungen zu ersparen.“108 Leider lässt die Benennung dieser Besonderheit jedoch zu wünschen übrig, da zu diesem Zweck Poppers Prinzip der Falsifikation und der pragmatistische Grundsatz der Fallibilität zu einer „von Popper entfaltete[n] fallibilistische[n] Forschungslogik“109 miteinander verschmolzen werden. Auf diese Weise wird eine Kongruenz zwischen den beiden Konzepten suggeriert, die so nicht haltbar ist. Der Falsifikationismus besagt, dass es zwar nicht möglich ist zu bestimmen, ob eine Aussage wahr ist, dafür aber, ob sie falsch ist. Der Fortschritt gegenüber dem Verifikationismus besteht im Verzicht auf endgültige Wahrheiten und der Beschränkung auf nurmehr vorläufig Wahres. An Letztbegründungsstrategien über negative Wahrheiten in Form von Falschheiten hält der Falsifikationismus jedoch fest. Dies gilt für Poppers naive Variante, derzufolge falsifizierte Aussagen umgehend zu verwerfen sind, ebenso wie für die raffinierte Variante von Lakatos, der empfiehlt, solange an falsifizierten Theorien festzuhalten, bis eine neue Theorie entwickelt wurde, die gegenüber der falsifizierten alten einen Gehaltsüberschuss aufweist – die also nicht nur das zu erklären vermag, was mithilfe der alten Theorie erklärt werden konnte, sondern zusätzlich auch noch einige neue Phänomene. Demgegenüber kennzeichnet den Fallibilismus die Vorstellung, dass grundsätzlich alle Aussagen, also auch diejenigen über Falschheiten, unter dem Vorbehalt stehen, unzutreffend sein zu können. Im Sinne einer epistemologischen Grundhaltung empfiehlt er, permanent alle eigenen Annahmen für prinzipiell fallibel zu erachten und sich darauf einzustellen, auch eigene Überzeugungen wieder aufgeben zu müssen. Die Möglichkeit des Scheiterns besteht also permanent. Es gibt kein sicheres Wissen, sondern nur Überzeugungen, das Fürwahr-Gehaltene. An die Stelle von Wahrheiten treten plausible Zwischenergebnisse – in Verbindung mit der Bereitschaft, auch diese gegebenenfalls wieder aufzugeben.110 Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, Oevermanns Anleihen bei Popper zu tilgen und durch den etwass sophistizierteren pragmatistischen Grundsatz der Fallibilität zu ersetzen. Auf diese Weise würde aus der „Affinität der Sequenzanalyse zum Falsifikationismus“111 eine Affinität zum Fallibilismus, während die sequentielle Vorgehensweise im Rahmen der Analyse nicht länger „die reale Falsifikation“112, sondern die lebenspraktisch fundierte Fallibilität nachstellte, „die sich in der Praxis als Möglichkeit des Scheiterns in die offene Zukunft hinein beständig ereignet.“113
3.4.8 Der Wahrheitsbegriff der objektiven Hermeneutik Die Erörterung des pragmatistischen Grundprinzips des Fallibilismus führt uns nun unmittelbar zum letzten Aspekt in der Reihe der potentiellen Kritikpunkte und Probleme – dem Wahrheitsbegriff der objektiven Hermeneutik. Auf den ersten Blick scheint es, als handele es sich bei dieser Frage um die Sollbruchstelle der Synthese aus Strukturalismus und Prag-
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Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. Vgl. auch Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.123125 und Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.8. 110 Sein Verständnis dieser Zusammenhänge verdankt der Autor Ulrich Roos. 111 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.105. 112 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. 113 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. 109
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
matismus, die im Rahmen der konstitutionstheoretischen Begründung der Methodologie angestrebt wird. Auf der pragmatistischen Seite der Gleichung kann die objektive Hermeneutik aufgrund der Transparenz der Vorgehensweise durchaus mit Richard Rortys Idee in Einklang gebracht werden, „das Gespräch fortzusetzen“ anstatt Wahrheiten aufzudecken.114 Gleichzeitig lässt sie sich jedoch auch mit dem am anderen Ende des pragmatistischen Spektrums beheimateten Charles S. Peirce und seiner Vorstellung von Wahrheit als der Wahrheit einer konkreten Diskursgemeinschaft, dem Für-wahr-Gehaltenen, verbinden.115 Derweil befinden sich auf der strukturalistischen Seite das Beharrungsvermögen der latenten Sinnstrukturen, die relative Dauer der Geltung von überlieferten Wissensbeständen und die materiale Nichtkritisierbarkeit bestimmter universeller Regeln: Droht die „fallibilistische Leichtigkeit“ des Pragmatismus da nicht von der „algorithmischen Schwere“ des Strukturalismus mit in die Tiefe eines starken Wahrheitsbegriffes hinabgerissen zu werden? Gegen die These der Unverträglichkeit der beiden Wahrheitsbegriffe lässt sich einwenden, dass nichts dagegen spricht, den pragmatistischen Grundsatz der Fallibilität auch auf das vornehmlich strukturalistisch inspirierte sozialtheoretische Fundament der objektiven Hermeneutik selbst anzuwenden. Bei diesen würde es sich dann ganz einfach um Überzeugungen handeln, die schon sehr lange gelten, ohne gescheitert zu sein – um Überzeugungen also, die schon eine lange „Bewährungsstrecke“ hinter sich haben. Auch was den Status der erzielten Ergebnisse einer Analyse angeht, ist aufgrund des transparenten Vorgehens doch permanent die Möglichkeit gegeben, diese mithilfe einer alternativen Interpretation zum Scheitern zu bringen. So gesehen kann es keineswegs als ausgemacht gelten, dass der strukturalistische Anteil des Wahrheitsbegriffes letztlich über die pragmatistische Hälfte triumphiert.
3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik mit der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen 3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik Im Anschluss an die Problematisierung kritischer Teilaspekte sollen nun die zwei zentralen Verdienste der objektiven Hermeneutik gewürdigt werden: ihr Antipositivismus in Form des Ideals einer strikt rekonstruktionslogischen Vorgehensweise (3.5.1) und die Gewährleistung einer großen Transparenz des Forschungsprozesses (3.5.2). Vor diesem Hintergrund wird dann der Versuch unternommen, die objektive Hermeneutik mit der Diskussion innerhalb der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen zu verknüpfen (3.5.3).
114
Vgl. Richard Rorty (1981): Der Spiegel der Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.404-410 und 421-427. „Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, daß ihr letztlich jeder der Forschenden zustimmt, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und der Gegenstand, der durch diese Meinung repräsentiert wird, ist das Reale. So würde ich die Realität erklären.“ Vgl. Charles Sanders Peirce: Wie unsere Ideen zu klären sind, in: ders. (1967): Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.326-358, hier: S.349.
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3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik
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3.5.1 Anti-Positivismus: Rekonstruktion statt Subsumtion Die objektive Hermeneutik kann durchaus als dialektische Sozialforschung im Sinne von Adorno und dessen Interesse an zwischen Allgemeinem und Einzelnem vermittelnden „Besonderungsprozessen“ verstanden werden. Darin, dass „die Sache selbst als etwas gefaßt ist, das Allgemeines und Besonderes zugleich ist“116 zeigt sich dies ebenso wie in dem Anspruch, „im Einzelnen das Allgemeine, im Individuellen das Typische“117 aufzuspüren. Die augenfälligste Gemeinsamkeit besteht aber vermutlich in der vehementen Ablehnung einer Vorgehensweise, die Adorno mit den folgenden Worten umschreibt: „Prätendiert wird, eine Sache durch ein Forschungsinstrument zu untersuchen, das durch die eigene Formulierung darüber entscheidet, was die Sache sei: ein schlichter Zirkel. Der Gestus wissenschaftlicher Redlichkeit, der sich weigert, mit anderen Begriffen zu arbeiten als mit klaren und deutlichen, wird zum Vorwand, den selbstgenügsamen Forschungsbetrieb vors Erforschte zu schieben. Vergessen werden mit dem Hochmut des Ununterrichteten die Einwände der großen Philosophie gegen die Praxis des Definierens; was jene als scholastischen Restbestand verbannte, wird von den unreflektierten Einzelwissenschaften im Namen wissenschaftlicher Exaktheit weitergeschleppt. Sobald dann, wie es fast unvermeidlich ist, von den instrumentell definierten Begriffen auch nur auf die konventionell üblichen extrapoliert wird, macht sich die Forschung eben der Unsauberkeit schuldig, die sie mit ihren Definitionen ausrotten wollte.“118
Oevermann wählt dafür die Bezeichnung Subsumtionslogik und stellt ihr paradigmatisch seine Konzeption einer Rekonstruktionsmethodologie entgegen, die „in der Sprache des Falles“ verfährt, um sich auf diesem Wege mimetisch der „Sache selbst anzuschmiegen“ und sie von innen heraus aufzuschließen. Die Nähe zu Adorno bleibt jedoch nicht auf den Gebrauch von Schlüsselbegriffen beschränkt, sondern wird auch argumentativ eingelöst. Im Unterschied zur Operation der Subsumtion, einer die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem unterlaufenden119 klassifikatorischen „Einordnung einer Sache unter bestimmte, vorgeprägte Schemata“120, ist die Methode der Rekonstruktion auf die innere Struktur des Falles gerichtet. Anstatt ihn unter theoretische Begriffe zu subsumieren, die von außen an ihn herangetragen werden, wird der Fall selbst ernst genommen und immanent ausgewertet. Die real operierenden Strukturgesetzlichkeiten sollen „in der Sprache des Falles“121 erschlossen werden. Das Ziel der Rekonstruktionslogik ist es, „methodisch die Sache selbst so zum Sprechen zu bringen, daß sie durch ihre eigenen Strukturgesetzlichkeiten antwortet“, schreibt Wagner, der damit einmal mehr die direkte Bezugnahme auf Adorno offenlegt.122
116
Ulrich Oevermann (1991): Genetischer Strukturalismus, S.269; Hervorhebung im Original. Während, um es zu wiederholen, die Besonderheit eines als sinnstrukturiertes Gebilde verstandenen konkreten Falles auf die Selektivität getroffener Auswahlentscheidungen verweist, resultiert die Allgemeinheit aus seiner Bildung entlang geltender Regeln. Das Allgemeine der Selektivität ist also zugleich eine typische Selektivität (vgl. Abschnitt 3.3.1). 117 Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.106. Vgl. auch Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.123125 und Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.8. 118 Theodor W. Adorno (1972): Soziologie, S.201/02. 119 Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.19. 120 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.94. 121 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.26. 122 Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.95.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
In diesem Zusammenhang muss dem potentiellen Missverständnis entgegengewirkt werden, „die Sache selbst“ könnte sich dem Forscher unmittelbar präsentieren; dies wäre gänzlich undialektisch. Auch „die Sache selbst“ ist immer schon gesellschaftlich vermittelt und hat zur Voraussetzung, vom Forscher als ein Fall bestimmt worden zu sein. Nicht minder wichtig ist es, die Formulierung, „den Gegenstand zum Sprechen zu bringen“ nicht empiristisch verkürzt zu deuten. Es geht hier gerade nicht darum, die Selbsteinschätzungen der Praxis – um im Bilde zu bleiben: ihr bloßes Reden – für „bare Münze“ zu nehmen; vielmehr gilt es dafür zu sorgen, dass die Praxis bzw. die sie repräsentierende Ausdrucksgestalt auch etwas Erhellendes von sich preisgibt. Es geht um die Erfassung von Strukturen, die nicht einfach an der Oberfläche eines Phänomens abgegriffen werden können. Vor diesem Hintergrund liegt eine doppelte Stärke der Rekonstruktionslogik darin, dass sie nicht nur ermöglicht, im Rahmen von explorativen Studien neue Einsichten aus bislang unbekanntem Material zu gewinnen, sondern auch in Aussicht stellt, mithilfe der nicht-subsumtionslogischen Interpretation von Daten, die schon oft bearbeitet worden sind, zu neuen Erkenntnissen über einen Fall zu gelangen. Während die Hypothesentests des subsumtionslogischen Forschungsparadigmas die Möglichkeit erschweren, etwas Neues zu Tage zu fördern, da sie die engen Grenzen von vorläufiger Bestätigung oder vorgeblich endgültiger Verabschiedung einer Vermutung nicht zu überschreiten vermögen, ist auf der Basis einer rekonstruktiven Methodologie stets damit zu rechnen, dass sich der Forscher von dem von ihm analysierten Material überraschen lässt und neue Einsichten gewinnt.123 Die Gegenüberstellung von Rekonstruktions- und Subsumtionslogik zieht auch einige konkrete forschungspraktische Implikationen nach sich. So liegt – quer zur gängigen Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Verfahren der empirischen Sozialforschung – eine für die objektive Hermeneutik zentrale forschungslogische Differenz zwischen den Ebenen der Datenerhebung und der Datenauswertung; eine Differenz, die im Rahmen von positivistischen, subsumtionslogischen Ansätzen gar nicht mehr erfasst werden kann, weil die Operationalisierung der Begriffe und die Art der Datenerhebung hier immer schon den Gang der Datenauswertung vorprogrammieren.124 Hinsichtlich der Datenerhebung unterscheidet Oevermann das spezifische soziale Arrangement und die Techniken der Protokollierung voneinander. Als standardisierte Protokollierungstechniken gelten zum Beispiel das Ankreuzen von Fragebögen oder das Anlegen von Strichlisten bei Beobachtungen; zu den nichtstandardisierten Protokollierungstechniken werden indes technische Aufzeichnungen durch Film- oder Videokameras, Fotoapparate, Tonbandgeräte etc., alle Formen von Beschreibungen und künstlerische Gestaltungen gezählt.125 Die Gliederung der Ebene der Datenauswertung orientiert sich dagegen ausschließlich an der oben erörterten Unterscheidung von rekonstruktions- und subsumtionslogischen Verfahrensweisen. Während der Untersuchungsgegenstand im Rahmen der Letzteren also 123
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich die entschiedene Zurückweisung der Subsumtionslogik allein auf die methodische, forschungspraktische Ebene der Fallerschließung bezieht. Entsprechend der Dialektik der konstitutionstheoretischen Begründung der Methodologie der objektiven Hermeneutik und der Explikation ihrer theoretisch nicht begründbaren, in den naturwüchsigen Erkenntnisoperationen der Alltagspraxis und dem Fallverstehen des professionalisierten Handelns wurzelnden Verfahren als Kunstlehre (vgl. Abschnitt 3.4.1) ist Subsumtionslogik auf der Ebene der Konstitutionstheorie indes durchaus notwendig. Vgl. Hans-Josef Wagner (2001): Bildung, S.94. 124 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.21 (Fußnote 2). 125 Vgl. Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.20-23.
3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik
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in vorgefertigte, ihm äußere Kategorien eingeordnet wird, ist es das Ziel rekonstruktiv operierender Sozialforschung, einen Fall von innen heraus aufzuschließen. An die Stelle der positivistischen Bewertungsmaßstäbe des subsumtionslogischen Ansatzes, die sich in i) der Operationalisierung theoretischer Begriffe, ii) der Prüfung der Validität und Reliabilität dieser Operationalisierungen sowie iii) der statistischen Hypothesenüberprüfung erschöpfen, treten im Rahmen der rekonstruktionslogischen Verfahren der objektiven Hermeneutik der Fallibilismus der Sequenzanalyse und die Authentizität der Fallrekonstruktion. Diese Authentizität bezeichnet „die elementare Relation der Gültigkeit zwischen jeglicher Ausdrucksgestalt und der in ihr objektiv verkörperten Lebenspraxis“.126
3.5.2 Transparenz des Forschungsprozesses Der Vielfalt an Perspektiven, der die verschiedenen Forscher ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Kommunikationszusammenhang anhängen, wird die objektive Hermeneutik durch die Transparenz ihrer sinnerschließenden Verfahren gerecht. Diese ermöglicht eine Verständigung anhand der Sequenz für Sequenz dokumentierten Analyse eines Textes und somit eine unmittelbare Infragestellung auch des kleinsten vorgenommenen Interpretationsschrittes. In Verbindung mit ihrem Anspruch, rekonstruktionslogisch operierende Methoden der Sinnerschließung zu explizieren, ist es diese Transparenz, die der Methodologie der objektiven Hermeneutik eine gewisse Unverwechselbarkeit einbringt. Die lückenlos verschriftete sequenzanalytische Rekonstruktion der Sinnstrukturen eines Textes macht es möglich, die Forderung nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses ohne Abstriche einzulösen und damit der oft vernachlässigten Frage, wie Forscher zu ihren Ergebnissen gelangen, wieder zu größerer Aufmerksamkeit zu verhelfen. Die Transparenz des Vorgehens ermöglicht es anderen Forschern, an jeder beliebigen Stelle einer Sequenzanalyse einzuhaken und den Blick auf jene Sequenzen zu lenken, im Rahmen von deren Ausdeutung der Strukturrekonstrukteur nicht extensiv genug vorgegangen ist, Deutungsmöglichkeiten übersehen hat oder seinen – ihm möglicherweise nicht einmal bewussten – Vorüberlegungen erlag und diese gegen näher liegende Lesarten durchsetzte. Bewusste Vorannahmen des Forschers werden von der intersubjektiven Nachprüfbarkeit also ebenso erfasst wie sein implizites und immer schon vorausgesetztes oder auch nur nicht eingestandenes spezifisches Vor- und allgemeines Regelwissen.127 Die Transparenz der objektiv hermeneutischen Verfahrensweisen gewährleistet also eine vorbildliche methodische Kontrolle des Verstehens.128 Die immanente Rekonstruktion wird durch die Form ihrer Darstellung lückenlos intersubjektiv nachprüfbar. Dem positivistischen „Kleinklein“ im Rahmen der „Verteidigung der Lieblingsvariable“129 wird die schonungslose Offenheit des Forschungsprozesses entgegengesetzt, der umgehend wieder eröffnet werden kann. An jeder Stelle einer Analyse kann Widerspruch erhoben werden. 126
Ulrich Oevermann (1996): Manifest, S.28. Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das Spannungsverhältnis zwischen der intersubjektiven Nachprüfbarkeit (un-)bewusst mit in die Analyse eingeflossener fallspezifischer Vorüberlegungen und dem Anspruch auf die immanente Rekonstruktion eines Falles damit zu erklären ist, dass es sich bei Letzterem um ein forschungspraktisches Ideal handelt. Der angestrebte Einstellungswechsel und die künstliche Naivität machen aus dem regulativen Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes noch keine Garantie (vgl. Abschnitt 3.4.2). 128 Vgl. Andreas Wernet (2006): Einführung, S.11. 129 Vgl. Benjamin Herborth (2004): Die via media, S.63. 127
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
Die Wirkungsweise des pragmatistischen Grundsatzes der Fallibilität wird somit erheblich gesteigert, wenn nicht maximiert. Der fallspezifische Forschungsprozess wird gleichsam zum Modell von Forschung insgesamt: transparent und ohne Probleme lückenlos intersubjektiv nachprüfbar – das Gespräch kann fortgesetzt werden.
3.5.3 Verknüpfung der objektiven Hermeneutik mit der Diskussion in den Internationalen Beziehungen Abschließend soll nun noch der Versuch unternommen werden, die Methodologie der objektiven Hermeneutik und die von ihr explizierten Verfahren mit einigen Aspekten der Diskussion innerhalb der Internationalen Beziehungen zu verknüpfen. Dabei handelt es sich um die Auseinandersetzung über das forschungslogische Standardwerk Designing Social Inquiry sowie um die „konstruktivistische Wende“ und ihre forschungsstrategischen Folgen einschließlich der gegenwärtigen Popularität der „Diskursanalyse“. Eine kurze Antwort auf die Frage nach dem „Mehrwert“ einer Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die Internationalen Beziehungen markiert das Ende dieser Überlegungen. Das Buch Designing Social Inquiry von Gary King, Robert Keohane und Sidney Verba hat es in den die Disziplin nach wie vor besonders stark prägenden Vereinigten Staaten von Amerika schnell zu einem Standardwerk der nicht-quantitativen Untersuchung von (internationaler) Politik gebracht. Bei kritischer Betrachtung liefert es jedoch vor allem Anschauungsmaterial dafür, dass die bloße Unterscheidung von quantitativer und qualitativer Sozialforschung wenig hilfreich ist. Denn so viel Mühe die Autoren auch darauf verwenden, um beispielsweise das Problem der Nichtberücksichtigung von Variablen – den so genannten omitted variable bias130 – in den Griff zu bekommen, die Grenzen des subsumtionslogischen Paradigmas vermögen sie nicht zu überwinden. Vielmehr erweisen sie sich gegenüber der für die objektive Hermeneutik zentralen Vorstellung, einen Fall von innen heraus aufzuschließen, nachgerade als blind. Für King, Keohane und Verba ist es schlicht nicht denkbar, einen Gegenstand anders zu bearbeiten als äußerlich, d.h. mithilfe operationalisierter theoretischer Begriffe in Form von (Lieblings-) Variablen.131 Indes hatte sich die tief in der Soziologie wurzelnde so genannte konstruktivistische Wende der Internationalen Beziehungen, deren Anfänge nunmehr über ein Vierteljahrhundert zurückliegen, zunächst eher bescheiden auf die Diskussion methodologischer und methodischer Fragen ausgewirkt. Unter der Prämisse, dass die Idee der sozialen Konstruktion der Welt als Forschungsgegenstand stets einer Methode zur Realisierung dieser Idee bedarf, liegt die Bedeutung von Methoden und deren theoretischer Reflexion im Rahmen einer Wissenschaft auf der Hand. Dass eine solche Reflexion innerhalb der Internationalen Be130
Vgl. Gary King/Robert O. Keohane/Sidney Verba (1994): Designing, S.168-182. Kritik an Designing Social Inquiry ist freilich so alt wie das Buch selbst. Für drei (unterschiedlich explizite) Antworten aus jüngster Zeit vgl. Audie Klotz/Cecilia Lynch (2007): Strategies for Research in Constructivist International Relations. Armonk, NY/London: M.E. Sharpe; Alexander L. George/Andrew Bennett (2005): Case Studies and Theory Development in the Social Sciences. Cambridge, MA/London: MIT Press und James W. Davis (2005): Terms of Inquiry. On the Theory and Practice of Political Science. Baltimore, MD/London: The Johns Hopkins University Press. Davis’ Empfehlung, das Ideal großen deduktiven Theoretisierens aufzugeben und sich einem stärker an der medizinischen Praxis orientierten Modell anzunähern (vgl. a.a.O., S.9 und 185-87), scheint dabei dem Verstehen von Fällen als Ausdruck einer Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, wie es von der objektiven Hermeneutik konzeptualisiert wird, nicht unähnlich zu sein.
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3.5 Kritische Würdigung und Verknüpfung der objektiven Hermeneutik
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ziehungen trotz der konstruktivistischen Wende eher selten erfolgte, ist daher durchaus bemerkenswert. Als Erklärung hierfür mag dienen, dass ein großer Teil des Innovationspotentials, das einer Öffnung der Internationalen Beziehungen für soziologische Theorien innewohnt, dadurch „verschenkt“ worden ist, dass die importierten Versatzstücke eilig zu einer Gegenstandstheorie mittlerer Reichweite zusammengebaut wurden, um so den anscheinend omnipotenten IB-Realismus herauszufordern, anstatt sich die metatheoretische Fruchtbarkeit der rezipierten soziologischen Theorien in stärkerem Ausmaß zu Nutze zu machen.132 Verschiedene Veröffentlichungen im Kontext der „sprachtheoretischen“ und „interpretativen“ Wenden, die (eingebettet in die konstruktivistische Wende) in den letzten Jahren auch in den Internationalen Beziehungen Einzug gehalten haben, deuten allerdings auf ein wachsendes Interesse an methodologischen und methodischen Fragen hin. Stellvertretend für diese Entwicklung sei hier auf die Arbeiten von Karin Fierke, Patrick Jackson und Vincent Pouliot verwiesen.133 Dass die Öffnung für soziologisches, sozialtheoretisches und philosophisches Denken nicht ohne Auswirkungen auf die Diskussion in den Internationalen Beziehungen geblieben ist, zeigt derweil auch die bei der jungen Forschergeneration (zumindest in Europa) immer beliebter werdende „Diskursanalyse“. Sofern sich hinter dem hehren Namen bloß die klassifikatorische Subsumtion von Texten (im engeren Sinne) unter vorgefertigte Kategorien verbirgt, sind Zweifel, ob das Niveau der methodologischen Explikation der Diskursanalyse mit dem Ausmaß ihrer Popularität Schritt hält, jedoch durchaus angebracht.134 Das zentrale Gütekriterium für sämtliche Vorgehensweisen, die im weitesten Sinne an einer sozialwissenschaftlichen Analyse von Diskurs(en) interessiert sind, besteht mutmaßlich darin, wie dem von forschungslogisch orthodoxer Seite regelmäßig erhobenen Vorwurf begegnet wird, die harten außersprachlichen Fakten des Gegenstandsbereichs nicht erfassen zu können. Ungeachtet des im Lichte der sprachtheoretischen Wende evidenten Gegenarguments, dass ein solcher Vorwurf auf einer nicht länger haltbaren Differenzierung zwischen Sprechen und Handeln fußt, während auch vermeintlich außersprachliche Fakten stets über Sprache oder andere signifikante Symbole gesellschaftlich vermittelt und somit überhaupt erst bedeutsam sind, scheint es doch, als machten sich Diskursanalytiker dadurch 132
Für eine konkurrierende Einschätzung vgl. Emanuel Adler (2002): Constructivism and International Relations, in: Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth A. Simmons (Hg.): Handbook of International Relations. London: Sage, S.95-118. Zwar vertritt auch Adler die Ansicht, dass die methodischen Aspekte des Konstruktivismus noch wesentlich stärker herausgearbeitet werden müssten; vor allem aber betont er den metatheoretischen Status des IBKonstruktivismus; stärker gegenstandsbezogene Ansätze seien indes erst noch zu entwickeln. 133 Vgl. etwa Karin M. Fierke (2003): Breaking the Silence: Language and Method in International Relations, in: François Debrix (Hg.): Language, Agency, and Politics in a Constructed World. Armonk, NY/London: M.E. Sharpe, S.66-86; Patrick Thaddeus Jackson (2006): Making Sense of Making Sense. Configurational Analysis and the Double Hermeneutic, in: Dvora Yanow/Peregrine Schwartz-Shea (Hg.): Interpretation and Method. Empirical Research Methods and the Interpretive Turn. Armonk, NY/London: M.E. Sharpe, S.264-280 sowie Vincent Pouliot (2007): ‘Sobjectivism’: Toward a Constructivist Methodology, in: International Studies Quarterly, 51: 2, S.359-384. Dass es ein fruchtbares Unterfangen wäre, die Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Ansätze mit der objektiven Hermeneutik systematisch herauszuarbeiten, liegt nahe. Hier soll es gleichwohl genügen, Hinweise auf die Anschlussfähigkeit der objektiven Hermeneutik an die Diskussion in den Internationalen Beziehungen zu liefern. 134 Für eine positivere Einschätzung vgl. Ole Wæver (2004): Discursive Approaches, in: Antje Wiener/Thomas Diez (Hg.): European Integration Theory. Oxford: Oxford University Press und Jennifer Milliken (1999): The Study of Discourse in International Relations: A Critique of Research and Methods, in: European Journal of International Relations, 5: 2, S.225-254.
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
angreifbarer, dass sie die Kategorie des Diskurses ohne Not gleichsam zwischen den Ebenen der zu interpretierenden Sinn- und Bedeutungsstrukturen einerseits und deren Interpretation andererseits einordnen. Die objektive Hermeneutik hat demgegenüber den Vorteil, ohne eine solche Ontologisierung des Diskurses auszukommen. Ihre zentrale Unterscheidung ist die zwischen menschlichem Handeln (Praxis) und dessen vielfältigen Ausdrucksgestalten, die nur als Texte, als Träger von Sinn und Bedeutung also, gelesen werden können, aber nicht notwendig geschriebene Texte sein müssen. Im Gegensatz zu solchen „Diskursanalysen“, die meist auf die bloße Interpretationstechnik klassifikatorischer Inhaltsanalysen verkürzt sind und ohne viel theoretisches Rüstzeug auskommen, finden sich gleichwohl auch in den Internationalen Beziehungen Arbeiten, die auf einer sehr versierten Explikation ihrer methodologischen Prämissen aufbauen. Hier ist insbesondere Lene Hansens Studie über den Bosnienkrieg zu nennen, mit der die Autorin erfolgreich versucht, die poststrukturalistische Diskursanalyse mit den Sozialwissenschaften zu versöhnen. Jenseits der hier auszuklammernden Frage nach Gemeinsamkeiten und Differenzen von poststrukturalistischer Diskursanalyse und objektiver Hermeneutik auf metatheoretischer Ebene fällt jedoch auf, dass Hansen die Regeln, die ihre Interpretationen anleiten, nicht benennt.135 Gerade in dieser Hinsicht vermag die objektive Hermeneutik also durchaus eine Lücke innerhalb der Internationalen Beziehungen zu füllen. Interessanterweise ist es just dieses Ausweichen vor konkreten Anleitungen des Prozesses der Deutung von Sinn, das auch die Arbeiten jener kennzeichnet, die sich mehr oder weniger explizit als Anhänger des interpretativen Paradigmas in den Sozialwissenschaften zu erkennen geben und im Gegensatz zu ihren positivistischen Kollegen nicht länger prätendieren, als würde die Erfahrungswelt sich ihnen unmittelbar präsentieren. Als ein prominentes Beispiel kann dabei der Historiker Marc Trachtenberg gelten, der sich zum Ziel gesetzt hat, jene, die internationale Politik erforschen, hinsichtlich des Umgangs mit historischen Daten zu sensibilisieren. Was bei deren Interpretation genau vor sich geht, vermag Trachtenberg jedoch nicht zu sagen. Am Ende kommt zwar Bedeutung dabei heraus, wie dies geschieht, bleibt aber weitestgehend offen.136 In der Zusammenschau haben die vorstehenden Ausführungen deutlich gemacht, dass manche Kernüberzeugungen der objektiven Hermeneutik quer zur gängigen Forschungspraxis in den Internationalen Beziehungen liegen. Folglich ist es die Verpflichtung derer, die, wie der Autor, eine Übertragung der objektiven Hermeneutik auf die Gegenstände der Internationalen Beziehungen befürworten, ihren Wunsch nach einer Veränderung bestehender Praktiken zu begründen. Zu diesem Zweck sollen nun abschließend zwei Argumente vorgebracht werden. Das erste Argument besagt, dass eine Anwendung der objektiv hermeneutischen Verfahren auf Fragen der internationalen Politik aufgrund ihres rekonstruktionslogischen Vorgehens gute Chancen besitzt, innovative Antworten zu geben und vermeintlich Bekanntes in neuem Licht erscheinen zu lassen. Das zweite Argument lautet, dass auch wer die (dezidierte) Beantwortung von Forschungsfragen als das Primärziel von Wissenschaft ansieht, schwerlich leugnen kann, dass ein transparentes, intersubjektiv nachprüfbares Vorgehen, wie es hier für die Methoden der objektiven Hermeneutik beansprucht wird, immer auch einen positiven Einfluss auf die Wertigkeit der Forschungsergebnisse hat. 135
Vgl. Lene Hansen (2006): Security as Practice. Discourse Analysis and the Bosnian War. London/New York: Routledge, S.41ff. 136 Vgl. Marc Trachtenberg (2006): The Craft of International History. A Guide to Method. Princeton, NJ/Oxford: Princeton University Press, S.190.
3.6 Zusammenfassung
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Wenn nämlich zu einer konkreten Forschungsfrage zwei sich widersprechende Antworten vorliegen, dann dürfte wohl eher das Resultat Anerkennung finden, das auf eine transparentere Art und Weise erzielt worden ist. Entsprechend könnten Transparenz und Offenheit, die beiden zentralen Vorbedingungen einer lückenlos intersubjektiv nachprüfbaren Vorgehensweise, nicht nur zu einer Entmystifizierung der als „Forschung“ deklarierten Vorgänge innerhalb des Statussystems Wissenschaft beitragen, sondern auch der Frage wieder mehr Gewicht verleihen, wie Forschungsergebnisse überhaupt zustande kommen.
3.6 Zusammenfassung Bei der objektiven Hermeneutik handelt es sich nicht um eine Methode, sondern um eine Methodologie, d.h. um die theoretische Begründung einer Vorgehensweise. Zu dieser gehören drei Verfahren, die nur formal voneinander zu trennen sind: die Sequenzanalyse, die Fallrekonstruktion und die Strukturgeneralisierung. Auf der Ebene der Forschungspraxis stellen die Verfahren der objektiven Hermeneutik eine Kunstlehre dar, die weder theoretisch begründbar noch standardisierbar ist. Die Ausübung dieser Kunstlehre bedarf eines professionellen Habitus, der sich vor allem im Zuge der Einübung regulativer Interpretationsprinzipien ausbildet. Zu diesen Prinzipien, an deren Einhaltung sich die Güte einer Interpretation bemisst, gehören i) die Aufrichtigkeits- und die Sparsamkeitsregel, ii) das Sequentialitätsprinzip, iii) die Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit sowie iv) die Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes, der Einstellungswechsel und die künstliche Naivität. Letzteres, die Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes, bietet nicht selten Anlass zu Missverständnissen. Es wäre jedoch fatal, dieses Prinzip so aufzufassen, als fordere es Interpretationen im Modus einer „tabula rasa“. Ungeachtet der Einrichtung des Untersuchungsgegenstands, die der Analyse vorgängig ist, und jenseits der im Rahmen der Analyse immer schon in Anspruch genommenen potentiell universellen Regeln, jenen des logischen Schließens, der Sprechakterzeugung oder der Universalgrammatik etwa, beschränkt sich das Gebot der Ausblendung des äußeren Kontextes auf fallspezifisches (Vor-) Wissen. Es besagt nicht, dass es möglich ist, bewusst zu vergessen, was man weiß, sondern verlangt lediglich, den Versuch zu unternehmen, sich während der Untersuchung davon frei zu machen; denn wer dem Forschungsgegenstand möglichst unbefangen gegenübertritt, ist eher in der Lage, zu alternativen Deutungen und neuen Einsichten zu gelangen. Gerichtet sind die von der objektiven Hermeneutik theoretisch begründeten Verfahren derweil auf die Rekonstruktion von latenten Sinnstrukturen. Diese sind nicht sinnlich wahrnehmbar und können nur gelesen werden; bearbeitbar werden sie anhand von Ausdrucksgestalten, welche die methodisch nicht unmittelbar zugängliche soziale Realität protokollieren. Latente Sinnstrukturen gehen dem subjektiven Handlungssinn gattungsgeschichtlich voraus und liegen immer schon zusammen mit der Sozialität vor. Sie werden als der zentrale Gegenstand der Methodologie der objektiven Hermeneutik und des Ensembles der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis angesehen. Die Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen erfolgt sequentiell anhand der eine soziale Praxis protokollierenden Ausdrucksgestalt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass alles Handeln regelgeleitet erzeugt wird und sich als beständige Auswahl aus einem Spiel-
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3. Vorgehensweise I: Die Methodologie der objektiven Hermeneutik und ihre Verfahrensweisen
raum von Möglichkeiten in die offene Zukunft vollzieht. Die Auswahlentscheidungen sind auf eine je spezifische Fallstruktur zurückzuführen, die im Laufe der Interpretation erschlossen wird. Bei der sequentiellen Rekonstruktion dieser Fallstrukturen, die sich permanent im Prozess ihrer Reproduktion oder Transformation befinden, handelt es sich per se um eine Strukturgeneralisierung. Aufgrund des typischen Musters der getroffenen Auswahlentscheidungen ist jeder Fall besonders und – da er nach geltenden Regeln erzeugt wurde – allgemein zugleich. Diese Dialektik von Allgemeinem und Besonderem eines Falles bildet zugleich die Rechtfertigung des Anspruchs, weitreichende Forschungsfragen auf Basis der (ausführlichen) Deutung von vergleichsweise geringen Datenmengen beantworten zu können.137 Infolge der Annahme, dass individuelles Handeln stets gesellschaftlich vermitteltes und somit sinnhaftes, regelgeleitetes, soziales Handeln ist, kann im Sinne der objektiven Hermeneutik alles, was Sinn und Bedeutung hat, als Text untersucht werden – als ein der Flüchtigkeit des Augenblicks entrissenes, methodisch gesichertes Protokoll (erweiterter Textbegriff). Nicht Sprechen und Handeln, sondern Praxis und Text (verstanden als textförmige Ausdrucksgestalt von Praxis) ist daher das auf zwei eigenlogische Realitätsebenen verweisende, zentrale Begriffspaar der objektiven Hermeneutik. Dies ermöglicht, die in den Internationalen Beziehungen in zunehmendem Maße diskutierte „sprachphilosophische Wende“ nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch handwerklich einzulösen. Konkret erfolgt jede Sinnrekonstruktion in einem Dreischritt: Der erste Schritt der Untersuchung einer Sequenz besteht darin, die pragmatischen Erfüllungsbedingungen des sie konstituierenden Akts zu explizieren. Das heißt, es werden möglichst vielfältige hypothetische Antworten auf die Frage entworfen, welche Handlungen sinnvoll und regelgeleitet an den Akt, der in der gegebenen Sequenz enthalten ist, angeschlossen werden können. Zu diesem Zweck trifft der Forscher Angemessenheitsurteile auf der Basis impliziten Regelwissens, der Kompetenz. Nach der Generierung kompatibler Lesarten wird dann in einem zweiten Schritt die Bedeutung des tatsächlich folgenden Sequenzelements ausgelegt, ehe während des dritten und letzten Schritts der Versuch unternommen wird, diese – aus einem Spektrum von Alternativen heraus erfolgte – Auswahl sinnlogisch zu motivieren und damit auf fallspezifische Muster, die Fallstruktur, zurückzuführen. Indem jeder zu analysierende (Handlungs-)Text, ebenso wie das sich darin manifestierende soziale Geschehen, als eine Verkettung von Selektionsknoten gedacht und jede Sequenz unter dem Doppelaspekt der Eröffnung und Schließung von Möglichkeiten betrachtet wird, rekonstruiert der Forscher – kumulativ und immanent – die Fallstruktur der von ihm analysierten Ausdrucksgestalt der sozialen Wirklichkeit. Auf diese Weise ist er in der Lage, neue Theorien in der Sprache des Falles selbst zu entwerfen und, en passant, immer auch bestehende Theorien zu „testen“. Alles in allem sind die Verfahren der objektiven Hermeneutik also im Sinne einer rekonstruktionslogischen Antwort auf subsumtionslogische Forschung zu verstehen. Diese kennzeichnet, dass der Gegenstand ausschließlich in von außen an ihn herangetragene Kategorien gezwängt, aber nicht in seiner eigenen Sprache erfasst wird. An die Stelle der Suche nach statischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen auf Basis der drei Phasen i) 137
Das Problem zu geringer Fallzahlen stellt sich somit nicht. Eine Erhöhung der Fallzahl und die daran geknüpfte Auswahl von Fällen sind erst dann erforderlich, wenn das Aggregationsniveau des Untersuchungsgegenstands oder der Umfang des Untersuchungszeitraums zunimmt. Ebenso wie die (vor Beginn einer konkreten Untersuchung) auf Grundlage der Forschungsfrage im Rahmen der Fallbestimmung zu treffende Entscheidung, auf welches Erkenntnisinteresse hin eine Ausdrucksgestalt analysiert werden soll, werden diese Aspekte im folgenden Kapitel erörtert, in dem es darum gehen wird, die NATO mit der objektiven Hermeneutik kompatibel zu machen.
3.6 Zusammenfassung
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Ableitung von Hypothesen aus bewährten Theorien, ii) Operationalisierung von (diesen Theorien entnommenen) Begriffen in Form messbarer Variablen sowie iii) Prüfung der Reliabilität und Validität dieser Variablen mithilfe unabhängiger Stichproben138 rückt die objektive Hermeneutik die Erschließung der Reproduktion und Transformation von (Sinn-) Strukturen, die als immer schon intersubjektiv vermittelte Bedeutungsgehalte verstanden werden. Obwohl das an Interpretationsprinzipien orientierte rekonstruktive Vorgehen eine nichtstandardisierbare Kunstlehre darstellt, können sowohl die für die Güte einer Analyse entscheidende Einhaltung dieser Prinzipien als auch die Gültigkeit der vorgeschlagenen Deutungen unmittelbar erfasst werden, da der Forschungsprozess in hohem Maße transparent ist.
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Vgl. Andreas Diekmann (1996): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (2. Auflage), insbesondere S.174ff.
4 Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO – Einrichtung des Untersuchungsgegenstands und Auswahl der Fälle 4
Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
Im Anschluss an die Darstellung der objektiven Hermeneutik besteht die zentrale Aufgabe des vorliegenden Kapitels darin, diese Methodologie, die im (mikrosozialen) Kontext soziologischer Sozialisationsforschung entstanden ist, mit dem (makrosozialen) Gegenstandsbereich der internationalen Politik zu verknüpfen. Dazu ist es erforderlich, die NATO als Untersuchungsgegenstand so einzurichten, dass es möglich wird, ihr zuschreibbares Handeln mit Blick auf die Forschungsfrage zu bearbeiten. Darüber hinaus müssen Methodologie, Theorie und Empirie dergestalt in ein Passungsverhältnis gerückt werden, dass sich die drei Fragen, was der Fall ist, woraus das Universum der Fälle besteht und nach welchen Kriterien die Auswahl der Fälle vorgenommen wird, beantworten lassen. Zu Beginn dieses Kapitels wird es darum gehen, die vornehmlich unbewussten und impliziten eigenen Vermutungen darüber offen zu legen, welches überhaupt die geeigneten Orte sein könnten, um Anhaltspunkte für eine (über die positivistische Konnotation des Begriffs hinausgehende) Erklärung des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation aufzuspüren. Dies erfordert, sich der spezifischen Perspektive des eigenen Zugriffs auf den Untersuchungsgegenstand und deren theoretischer Implikationen bewusst zu werden. Im Rahmen dieses Prozesses werden die Verlautbarungen des Nordatlantikrats, dem höchsten Entscheidungsgremium und „Quasigesetzgeber“ des Bündnisses, zum bevorzugten Datentyp erkoren (4.1). Vor diesem Hintergrund wird dann das Universum der Fälle skizziert (4.2), ehe vier mögliche Kriterien zur Anleitung der Auswahl der Detailuntersuchungen erörtert werden. Einer Anwendung dieser Kriterien, die allesamt eine inhaltliche Beziehung zum Gegenstand der Untersuchung aufweisen, stehen jedoch diverse Schwierigkeiten entgegen (4.3). Im vierten Abschnitt wird daher ein bloß formales Auswahlkriterium bestimmt, das Prinzip einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle (4.4). Es besagt, dass zwischen dem Teilergebnis des zuletzt analysierten Falles, das als am relevantesten erachtetet wird, und dem als nächstes zu untersuchenden Fall, zumindest im Lichte von dessen konventioneller Vorabeinschätzung, ein möglichst maximaler Kontrast bestehen soll. Nach einer Diskussion zentraler Aspekte der Anwendung dieses Prinzips erfolgt die so genannte Fallbestimmung. Diese dient einer Fixierung der Fallstruktur, auf welche hin die jeweiligen Fälle zu untersuchen sind (4.5). Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse des vorliegenden Kapitels noch einmal kurz resümiert (4.6).
4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands Zu den handlungsleitenden Überzeugungen des Autors dieser Arbeit gehört, dass eine Untersuchung, in der Aussagen über die NATO getroffen werden sollen, ihren Ausgangspunkt auf der Ebene dieser Institution selbst haben muss. Bei dieser Ebene, die im Folgenden mit dem Ausdruck NATO als NATO bezeichnet werden soll, handelt es sich weder um die
4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands
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nunmehr 28 Mitgliedstaaten oder deren Regierungen, noch um die relevanten Mitglieder dieser Regierungen oder deren individuelles Handeln. Stattdessen bezieht sich das Wortzeichen NATO als NATO auf das koordinierte, gemeinsame oder gemeinschaftliche, aber eben nicht: vergemeinschaftete – in den Fachbegriffen der Politikwissenschaft also das intergouvernementale im Unterschied zum supranationalen – Handeln, auf das sich die Vertreter der das Bündnis überhaupt erst konstituierenden Mitgliedstaaten unter einem gemeinsamen institutionellen Dach verständigen. Der Ausdruck NATO als NATO bezeichnet also eine Struktur kollektiven Handelns, die sich kategorial von (Sprech-)Akten einzelner Vertreter der sie konstituierenden Mitgliedstaaten unterscheidet – so einflussreich diese Vertreter auch sein mögen. Dass diese Struktur ohne die Mitgliedstaaten gar nicht bestehen würde und dass ohne das Handeln von deren Repräsentanten auch gar keine der NATO als NATO zuschreibbare Aktivität möglich wäre, wird damit keineswegs bestritten.1
4.1.1 Die Suche nach angemessenen Datentypen In der Sprache sozialwissenschaftlicher Theoriebildung entspricht die sich aus den oben formulierten Vorüberlegungen ergebende Suche nach (Sprech-)Akten, die dem für die NATO handelnden Personal zugeschrieben werden können, der konventionellen Idee, dass alle Politik von der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen gekennzeichnet ist – unabhängig davon, ob die Personen, aus denen sich diese Kollektive zusammensetzen, nun Bürger ein- und desselben Staates oder – als Angehörige unterschiedlicher Regierungen – Bürger verschiedener Staaten sind, die eine internationale Institution verbindet. Da die Kompetenz zur Herstellung von kollektiv verbindlichen Entscheidungen auf der Ebene des transatlantischen Bündnisses als eines eigenständigen politischen Gebildes dem Nordatlantikrat obliegt, kann dieses Gremium als Quasigesetzgeber der NATO und können seine Verlautbarungen als funktionale Äquivalente nationalstaatlicher Rechtsakte angesehen werden. Die Erzeugung von der NATO als NATO zuzurechnenden verbindlichen (Sprech-) Handlungen unterliegt indes den internen Entscheidungsregeln des Bündnisses, konkret: dem Prinzip der Einstimmigkeit. Nur wenn diese Bedingung erfüllt wird, kann – im Unterschied zu den vielfältigen Stellungnahmen der Repräsentanten der Mitgliedstaaten als Repräsentanten der Mitgliedstaaten – von einer zu untersuchenden Äußerung behauptet werden, dass die, mit Austin gesprochen2, illokutionäre Kraft, die sie hervorgebracht und ihre Bindungswirkung entfaltet hat, die NATO ist. Daraus folgt, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten Akte vollziehen, die der NATO als NATO zuzuweisen sind, wann immer sie sich im Nordatlantikrat auf einen Beschluss einigen und sprichwörtlich „mit einer Stimme“ sprechen. Das Nichtzustandekommen einer Einigung im Rat bildet gleichwohl den Grenzfall oder die Kehrseite von der NATO als NATO zurechenbarem gemeinschaftlichem Handeln. 1
Zwischen von Menschen begangenen und Institutionen oder Organisationen zuschreibbaren Handlungen zu unterscheiden, mag auf den ersten Blick manieriert oder zumindest umständlich erscheinen, ist jedoch bedeutsam, da es eine Überzeugung des Autors dieser Arbeit ist, dass die NATO kein Akteur ist, sondern eine Struktur – eine Struktur kollektiven Handelns. Da Strukturen nicht handeln, sondern menschliches Handeln ermöglichen und beschränken, dürfte die Rede von der NATO zuschreibbaren oder zurechenbaren Handlungen ein annehmbarer Kompromiss sein, um das Problem der Verdinglichung einzudämmen, das stets virulent ist, wenn Strukturen Handlungen zugesprochen werden. 2 Vgl. John L. Austin (2002): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam (2. Auflage).
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
Wie im Falle der Erörterung des Umgangs mit dem Irak vor dem schließlich von den Vereinigten Staaten und ihrer „Koalition der Willigen“ geführten Krieg im Frühjahr 2003 wirft dies interessante methodologische Fragen auf.3 Vor diesem Hintergrund wird das Kriterium eines angemessenen Datentyps von vier Arten von (Sprech-) Handlungen erfüllt. Dies sind: i) der Nordatlantikvertrag von 1949 als eine Art Gründungsurkunde des Bündnisses, ii) die Kommuniqués des Nordatlantikrats (NAC), iii) die Strategischen Konzepte, d.h. a. die beiden nach dem Ende der Blockkonfrontation entstandenen und unmittelbar veröffentlichten Dokumente (Rom 1991, Washington 1999) ebenso wie b. die während der Dauer ihrer Geltung geheim gehaltenen Konzepte der Massiven Vergeltung (1954) und der Flexiblen Erwiderung (1967), sowie iv) (sofern sie nicht einer der zuvor genannten Kategorien angehören) alle auf der Grundlage von Beschlüssen des höchsten Entscheidungsgremiums der NATO getroffenen (oder sich aus dessen Legitimität herleitenden) verbalen und nonverbalen4, dem Bündnis zuschreibbaren Handlungen von „Abschrecken“, „Drohen“ und „Kämpfen“ bis hin zum „Einladen“ neuer Mitglieder oder dem „Erklären“ friedlicher Absichten. Mit Blick auf die konkrete Forschungspraxis zieht diese Gliederung eine erhebliche Einschränkung des für eine Sequenzanalyse in Betracht kommenden Falluniversums nach sich, da in allen anderen Fällen die illokutionäre Rolle oder Kraft, die einen (Sprech-) Akt hervorgebracht hat, eine – im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit – „lediglich“ nationale ist. Selbst im Extremfall von Presseerklärungen, Interviews oder sonstigen Stellungnahmen von Vertretern der Mitgliedstaaten im Verlauf eines Treffens des Bündnisses können solche Äußerungen nicht der NATO als NATO zugesprochen werden – ganz gleich, ob sie unmittelbar vor, während oder direkt im Anschluss an die Versammlung getätigt werden.
4.1.2 Heuristische Gliederung des politischen Prozesses im Rahmen der NATO Die vorstehenden Ausführungen implizieren nun keinesfalls, dass all jene das Bündnis betreffenden (Sprech-) Handlungen, die von Akteuren in ihrer illokutionären Rolle als Repräsentanten der Mitgliedstaaten vollzogen werden, für die Politik der NATO als NATO irrelevant sind. Dies wäre ein großes Missverständnis. Dass sich die Vereinbarungen der NATO aus den Positionen der Mitgliedstaatenvertreter ergeben und auf ihnen basieren, wird nicht in Abrede gestellt. Es geht hier jedoch allein um eine klare und konsistente Begründung der Bestimmung des Ausgangspunktes für die Suche nach Daten, die der Fragestellung der vorliegenden Arbeit angemessen sind. Die folgende heuristische Gliederung des politischen Prozesses im Rahmen der NATO in fünf Phasen (siehe Tabelle 4.1) dient daher dem Zweck einer Lokalisierung des Ausgangspunktes, der zur Gewinnung angemessener Daten für die Sequenzanalysen am besten geeignet sein dürfte. Die fünf Phasen heißen i) 3
Vgl. hierzu auch den Abschnitt 4.1.3.2, der auf wertvolle Anregungen von Gabi Schlag zurückgeht. Die Differenz zwischen verbalen und nonverbalen Handlungen dürfte methodologisch bedeutungslos sein, da alle nichtverbalen Handlungen auf verstehbare Bedeutungsstrukturen verweisen und somit prinzipiell verbalisierbar sind. 4
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4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands
„Initiation bzw. Agenda setting“, ii) „Ausgangsposition(en)“, iii) „Aushandlungs- bzw. Entscheidungsfindungsprozess“, iv) „Ergebnis“ und v) „Umsetzung“: Tabelle 4.1: Schematische Darstellung des politischen Prozesses im Rahmen der NATO Phase 1
Phase 2
Phase 3
Phase 4
Phase 5
Initiation bzw. „Agenda setting“
Ausgangsposition(en)
Aushandlungs- bzw. Entscheidungsfindungsprozess
Ergebnis
Umsetzung
X Ausgangspunkt der Analyse
In Phase 1 erfolgt die Problematisierung eines Themas, von dem der es aufgreifende Akteur wünscht, dass es auf die Tagesordnung des Nordatlantikrats gesetzt und somit von der NATO als NATO verhandelt werden möge. Das Spektrum der Themen, die auf diesem Wege in Anlässe zur Initiierung eines politischen Prozesses innerhalb der NATO verwandelt werden, ist vielfältig. Es umfasst: i) (Sprech-) Akte des Nordatlantikrats (NAC), ii) (Sprech-) Akte von Vertretern der Mitgliedstaaten, iii) (Sprech-) Akte von Einrichtungen, die dem Nordatlantikrat nach- oder beigeordnet sind und auf dessen Legitimität zurückgehen, wie der Internationale Stab nebst dem Generalsekretär, der Internationale Militärstab nebst den regionalen Oberbefehlshabern, sowie diverse Arbeitsgruppen und Ausschüsse des Bündnisses, iv) (Sprech-) Akte „Außenstehender“, d.h. von Vertretern jener Staaten, die nicht Mitglied der NATO oder von Repräsentanten jener Organisationen, die nicht mit der NATO identisch sind, sowie – aus Gründen der Vollständigkeit – schließlich auch v) alle Arten von Naturereignissen.5 Per definitionem sollen zu den (Sprech-) Akten der Rubriken i) bis iv) auch ungeplante Nebenfolgen von geplanten Handlungen gehören, so dass diese vier Bereiche sowohl die erwart- und kontrollierbaren Folgen menschlichen Handelns als auch deren nicht intendierte, unerwartete und möglicherweise nicht einmal vorhersehbare Auswirkungen, mithin also alle denkbaren Formen sozialer Praxis umfassen. Darüber hinaus muss nun von den genannten fünf Ereignis- oder Handlungstypen, die ein interessierter Akteur zum Anlass für eine Problematisierung im Rahmen der NATO nehmen kann, strikt die Kompetenz eines Akteurs unterschieden werden, ein Thema auch tatsächlich auf die Tagesordnung des
5 Wer diesen Punkt für überflüssig hält, möge sich daran erinnern, dass das Erdbeben in Pakistan im Frühjahr 2005 erst auf die Tagesordnung des Nordatlantikrats gesetzt werden musste, bevor das Bündnis Hilfstruppen in das Land entsenden konnte (ob dem auch das pakistanische Parlament zustimmen musste, steht hier nicht zur Diskussion).
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
Nordatlantikrats zu setzen. Doch wer ist dazu in der Lage, ein beliebiges Vorkommnis zu einem Thema der NATO als NATO zu machen? Wer besitzt „Agenda setting power“6? Streng genommen – also gemäß den Handlungsregeln, welche die Konstituenten „ihrem“ Bündnis gegeben haben – dürfte diese Fähigkeit wohl ausschließlich beim Nordatlantikrat selbst liegen. Über weiter gefasste „Agenda setting power“ verfügen mutmaßlich aber auch die Einrichtungen, die dem Rat nach- oder beigeordnet sind und auf dessen Legitimität zurückgehen, wie der Internationale Stab nebst dem Generalsekretär als Ratsvorsitzendem, der Internationale Militärstab nebst den regionalen Oberbefehlshabern, sowie die diversen Arbeitsgruppen und Ausschüsse des Bündnisses – das gesamte NATO-Personal sui generis also. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, hinsichtlich der Kompetenz, ein Thema auf die Tagesordnung des NATO-Rats zu setzen, eine formale und eine materiale Seite voneinander zu trennen: Wenn sich zum Beispiel einer der regionalen Oberbefehlshaber des Bündnisses mit der Bitte an den Rat oder ein einzelnes Mitglied des Rats wendet, ein bestimmtes Thema zu verhandeln, spricht wenig für die Annnahme, dass er mit diesem Vorhaben niemals Erfolg haben könnte. Sofern „sein“ Thema also mithilfe eines oder mehrerer ihm freundlich gesonnener Mitglieder des Rats verhandelt wird, kann dem besagten Oberbefehlshaber die Fähigkeit bescheinigt werden, die Tagesordnung des Rats mitzubestimmen. Im Unterschied zu einer solchen Mitbestimmung der Tagesordnung hinter verschlossenen Türen, im Innern einer Institution, entspräche es der Ausübung von „Agenda setting power“ von außen, wenn der Oberbefehlshaber sein Anliegen nicht vermittels einer Vorabsprache mit einzelnen Mitgliedern des Nordatlantikrats auf dessen Tagesordnung hätte setzen lassen, sondern wenn er den Rat vermittels eines Fernsehinterviews oder eines lancierten Meinungsbeitrags in einer einschlägigen Zeitung öffentlich zu diesem Schritt gedrängt hätte. Anlässlich der zahlreichen ihm offen stehenden Kommunikationswege dürfte ein solches Vorgehen innerhalb des Bündnisses jedoch eher untypisch sein – andernfalls stellte der Fortbestand des Bündnisses wohl ein noch größeres „Rätsel“ dar.7 Im Umkehrschluss dürfte es dagegen nahe liegen, dass die Beziehungen der NATO zu und ihr Umgang mit Nichtmitgliedern – im Extremfall: ihren Gegnern, Rivalen oder gar: „Feinden“ – just von solchen Versuchen der (wechselseitigen) Einflussnahme von außen gekennzeichnet ist. So bedarf es keiner besonderen Phantasie, um sich vorzustellen, dass Ankündigungen des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion oder Truppenbewegungen der Roten Armee zu Zeiten der Blockkonfrontation sehr schnell Eingang in die Tagesordnung des Nordatlantikrats gefunden haben – ohne dass ihre Urheber zu diesem Zweck extra einen Vertreter des Rats hätten kontaktieren müssen. Durch Aktionen, welche die Aufmerksamkeit der Bündnispartner hervorrufen, ist es Nichtmitgliedern also stets möglich, Einfluss auf die Agenda der NATO zu nehmen und ihr diese bisweilen sogar 6 Auf eine theoretische Reflexion der Begriffe „Agenda setting“ und „Agenda setting power“ soll in dieser Arbeit zugunsten eines intuitiven, alltagssprachlichen Zugangs verzichtet werden. Diesem zufolge stehen die Begriffe hier für die Fähigkeit, Tagesordnungen zu beeinflussen und Themen innerhalb eines Gremiums zu besetzen. Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens sei angemerkt, dass die genannten Begriffe im Rahmen des Forschungsprozesses selbst keine entscheidende Bedeutung haben werden. 7 In diesem Sinne kann die öffentliche Forderung nach einer institutionellen Reform des Bündnisses, die der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar 2005 auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat vortragen lassen, durchaus als Symptom einer Krise der Deliberationsforen der NATO verstanden werden, da Schröder zur Verbreitung seiner Reformanstrengungen zuerst von diesen Foren hätte Gebrauch machen müssen. Die weniger wohlwollende Lesart dieses Vorgangs lautet dagegen, dass der Bundeskanzler nie ernsthaft an eine Reform gedacht hat – aber das wäre natürlich reine Spekulation.
4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands
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zu diktieren.8 Während die formale Kompetenz zur Gestaltung der Tagesordnung des Nordatlantikrats also den Konstituenten des Bündnisses, die einen ständigen Vertreter in das Gremium entsenden, und dem Rat selbst obliegt, verfügen auch die dem Nordatlantikrat nach- oder beigeordneten und auf dessen Legitimität zurückgehenden Einrichtungen und insbesondere die große Gruppe der „Außenstehenden“ über materiale Kompetenz zur Gestaltung der Tagesordnung.9 Phase 2 des oben skizzierten Modells markiert den Moment zu Beginn des konkreten Aushandlungsprozesses innerhalb des Nordatlantikrats. Entscheidend sind hier die Differenzen zwischen den Positionen, mit denen die Staats- und Regierungschefs, Fachminister oder sonstigen Delegierten in die Verhandlungen gehen. Der Prozess des Aushandelns und der Entscheidungsfindung selbst wird als Phase 3 gefasst. Am Ende dieses Prozesses steht eine konkrete Entscheidung in Form eines Kommuniqués des Rats, eines neuen Strategischen Konzepts, einer Gipfelerklärung oder eines Beschlusses zur Durchführung eines Militäreinsatzes. Diese Ergebnisse verkörpern jedoch bereits Phase 4. Im Übrigen gilt auch ein Scheitern der Verhandlungen in Phase 3, also das Nichtzustandekommen einer einstimmigen Position des Rats, als Ausdruck gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Handelns der Bündnispartner – nur eben: als Ausdruck erfolglosen gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Handelns.10 Phase 5 schließlich kennzeichnet die Umsetzung des in Phase 3 ausgehandelten und in Phase 4 manifest vorliegenden Beschlusses. Dies umfasst die Implementation von Rüstungsentscheidungen ebenso wie das Aussprechen von Drohungen oder die Durchführung von Militärschlägen. Analog zu Phase 4 bildet auch hier die unvollständige oder fehlerhafte Umsetzung einer Entscheidung einschließlich der kompletten Unterlassung der Umsetzung den Grenzfall gemeinschaftlichen Handelns im Rahmen des Bündnisses.
4.1.3 Ein Plädoyer zugunsten der Analyse manifester Ergebnisse Im Lichte dieser heuristischen Gliederung des politischen Prozesses im Rahmen der NATO lässt sich die Präferenz des Autors dieser Arbeit zugunsten der Untersuchung von (Sprech-) Akten, die den Status von am Ende eines Entscheidungsfindungsprozesses manifest vorliegenden Ergebnissen aufweisen und somit eindeutig der NATO als NATO zuzuordnen sind, 8 In Analogie zur intersubjektiven Rückkopplung des Gelingens eines ein Thema „versicherheitlichenden“ (Sprech-)Akts an die Autorität – besser: das Charisma – des versicherheitlichenden Akteurs und die Reaktion der Öffentlichkeit bei Ole Wæver, hängt das Gelingen des Versuchs von Außenstehenden, die Agenda des Nordatlantikrats zu beeinflussen, d.h. dem NAC die Annahme ihrer Agenda als seine eigene abzuverlangen und ihm die Themen vorzuschreiben, immer auch vom Urteil der Ratsmitglieder über die Dringlichkeit der Maßnahmen des Gegenübers ab. Die Möglichkeit, eine Handlung des Außenstehenden zwar für relevant zu erachten, sie aber – aus strategischen Gründen – zu ignorieren und nicht auf die (offizielle?) Tagesordnung zu setzen, ist darin eingeschlossen. Vgl. Ole Wæver (1995): Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hg.): On Security. New York: Columbia University Press, S.46-86. 9 Aufgrund der erforderlichen Berücksichtigung des Zeitfaktors stellt die Unterscheidung zwischen den Konstituenten der NATO und der NATO als NATO (dem Nordatlantikrat) hier keinen Widerspruch dar. Im Rahmen eines je konkreten Entscheidungsfindungsprozesses im NATO-Rat sind dessen Mitglieder mit den Konstituenten des Bündnisses zwar gewissermaßen identisch, sobald der Rat eine Entscheidung getroffen hat, treten die Ebenen der NATO als NATO und der Konstituenten der NATO jedoch auseinander, da es – im Zuge von Regierungswechseln oder sich wandelnden Überzeugungen der Vertreter von Mitgliedstaaten – stets möglich ist, eine zuvor getroffene Entscheidung des Rats zu überdenken und zum Gegenstand neuer Verhandlungen zu machen. 10 Vgl. hierzu auch Abschnitt 4.1.3.2.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
nun komparativ rechtfertigen. Dabei kann zugleich methodologischen als auch (politik-) theoretischen Aspekten Rechnung getragen werden. Gegen die Wahl von Phase 1 als Ausgangspunkt der Sequenzanalysen spricht, dass die Frage, wer welches Thema auf die Agenda des Nordatlantikrats gesetzt hat, für das hier zu lösende „Rätsel“ weniger relevant zu sein scheint als die Gegebenheit, dass ein Thema mit einem ganz bestimmten Ergebnis verhandelt wurde. Doch auch wer die Bestimmung der Ausgangspositionen der am Verhandlungsprozess beteiligten Mitgliedstaatenvertreter und somit Phase 2 in das Zentrum der Analyse rücken würde, begäbe sich damit auf direktem Wege in die Irrelevanzfalle; denn Veränderungen der Positionen der Mitgliedstaatenvertreter im Laufe der Verhandlungen sind nicht nur jederzeit möglich, sondern als Bedingung der Möglichkeit einer Einigung geradezu notwendig. Den Aushandlungs- bzw. Entscheidungsfindungsprozess innerhalb des Nordatlantikrats (Phase 3) in den Blick zu nehmen, scheiterte dagegen wohl schon daran, dass dieser nicht transparent verläuft und seine Unüberschaubarkeit frühestens mit der Öffnung der Archive nach Ablauf einer dreißigjährigen Sperrfrist verliert. Würde sie als eine Art Geschichtswissenschaft unter der Bedingung geschlossener Archive betrieben, ließe sich Politikwissenschaft jedoch kaum mehr eigenlogisch begründen. Doch anstatt ohne gesicherte Datenbasis über im Verborgenen sich Ereignendes zu spekulieren, dürfte es einem erfahrungswissenschaftlichen Habitus viel eher entsprechen, öffentlich zugängliches Material mit einem adäquaten methodischen Instrumentarium zu durchleuchten.11 Ein solches würde nicht nur intersubjektiv nachprüfbare Methoden bereitstellen, sondern ermöglichte zudem, den Gehalt der Begründungen getroffener Entscheidungen von der Warte einer demokratischen Kontrollinstanz aus stellvertretend für die Öffentlichkeit zu prüfen – auch wenn diese Daten auf den ersten Blick bisweilen nur wenig ergiebig zu sein scheinen. Vor allem aufgrund der zeitnahen öffentlichen Zugänglichkeit der Ergebnisse des Entscheidungsfindungsprozesses im Nordatlantikrat erweist sich somit Phase 4 des idealisiert dargestellten politischen Prozesses im Rahmen der NATO als der am besten geeignete Ausgangspunkt für die durchzuführenden Sequenzanalysen. Die Begründung einer Erforschung von solchen – der NATO als NATO zuschreibbaren – (Sprech-)Akten, zu denen Kommuniqués, Militäreinsatzbeschlüsse und seit dem Ende der Blockkonfrontation auch die Strategischen Konzepte gehören, wird theoretischen und methodologischen Erwägungen gerecht: Es werden manifest vorliegende Daten auf der Ebene der NATO als NATO analysiert.12 Eine Verzerrung („Output-Bias“) stellt die Bevorzugung von transparenten Ergebnissen gegenüber intransparenten Entscheidungsfindungsprozessen gleichwohl nicht dar, dient diese Bestimmung doch ausschließlich dem Zweck, den Untersuchungsgegenstand hinsichtlich der zu beantwortenden Forschungsfrage bearbeitbar zu machen. Auch um die Rationalisierung einer vermeintlichen politiktheoretischen Präferenz für Effektivität („Output“) gegenüber Legitimität („Input“) oder ganz allgemein für Resultate gegenüber Verfahren geht es dabei nicht. 11 Dass Spekulationen im Sinne von „motivated guesses“ zum Handwerkszeug des Forschers gehören, wird damit nicht bestritten; allein, sie bedürfen stets der Rückbindung an eine manifeste Datengrundlage. 12 Während die Protokolle der wöchentlichen Sitzungen des Nordatlantikrats in Zusammensetzung der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten in der Regel für drei Jahrzehnte unter Verschluss bleiben, sind nur die Kommuniqués des Rats auf der Ebene der turnusgemäß je zweimal jährlich tagenden Außen- und Verteidigungsminister sowie die Gipfelerklärungen der (unregelmäßig stattfindenden) Zusammenkünfte der Staats- und Regierungschefs unmittelbar zugänglich. Die Anzahl der für eine detaillierte Untersuchung in Frage kommenden Dokumente wird somit deutlich reduziert.
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Ganz ähnlich ließe sich zwar auch zugunsten von Phase 5 argumentieren, besser als zur Beantwortung einer eher grundlagentheoretischen Forschungsfrage dürfte die Analyse der Umsetzung konkreter Entscheidungen jedoch vor allem zur Ermittlung der Effektivität des politischen Prozesses unter der Prämisse von dessen Optimierung geeignet sein. Da die Erforschung der Umsetzung einer Entscheidung von ihrer Struktur her somit einen Spezialfall der Untersuchung eines Beschlusses als dem Ergebnis eines Entscheidungsfindungsprozesses darstellt, kann die Wahl von Phase 4 zum Ausgangspunkt der Sequenzanalysen also zudem damit gerechtfertigt werden, dass auf diesem Weg ein höheres Abstraktionsniveau erreicht wird. Darüber hinaus wird mit der Entscheidung für Phase 4 auch einem von Charles S. Peirce beeinflussten Verständnis des Forschungsprozesses Rechnung getragen, das dem Gang der Lebenspraxis von der „Substanz“ zum „Sein“ (Synthesis) die nachträglich einsetzende und damit praxisentlastete, rekonstruktive Bewegungsrichtung der Wissenschaft vom „Sein“ zur „Substanz“ (Analysis) gegenüberstellt.13 Jenseits allen Unbehagens, das uns der Substanzbegriff heute bereiten mag, und ohne zu leugnen, dass es selbstverständlich auch eine Praxis der Wissenschaft gibt, kann der etwas hypertrophen Spielart des Sozialkonstruktivismus, derzufolge die Welt als Welt erst durch den Wissenschaftler geschaffen wird, auf dieser Grundlage die Behauptung entgegengestellt werden, dass die Konstruktionsleistung des Wissenschaftlers, an der hier im Sinne einer nichtobjektivistischen Epistemologie festgehalten werden soll, in der Regel auf die Welt als Forschungsgegenstand beschränkt bleibt. Die Ebene der Lebenspraxis, auf die sich sein Erkenntnisinteresse richtet, ist den epistemischen Operationen des Forschers stets vorgängig. Hegel, an dem sich Peirce lange Zeit abarbeitete, gebrauchte dazu bekanntlich das Bild der ihren Flug „erst mit der einbrechenden Dämmerung“ beginnenden Eule der Minerva.14 Im Lichte dieses Verständnisses von sozialwissenschaftlicher Forschung als einem Unterfangen zur nachträglichen Rekonstruktion der die Lebenspraxis anleitenden Handlungsregeln ist es daher nur folgerichtig, die Untersuchung konkreter Ergebnisse koordinierten, gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Handelns der NATO als NATO und damit Phase 4 des heuristischen Prozessmodells zum Ausgangspunkt der Analyse zu bestimmen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Möglichkeit eines Abgleichs der Resultate der Rekonstruktion dieser Ergebnisse mit den Ausgangspositionen zu Beginn des Entscheidungsfindungsprozesses (Phase 2) von der avisierten Vorgehensweise keineswegs ausgeschlossen 13 Vgl. Charles S. Peirce (1992): On a New List of Categories, in: Nathan Houses/Christian Kloesel (Hg.): The Essential Peirce: Selected Philosophical Writings, Vol. I (1867-1893). Bloomington: Indiana University Press, S.1-10. 14 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.28; [1821]. Dass wissenschaftliche Forschung, die Praxis der Wissenschaft, mitunter – oder vielleicht sogar immer häufiger, oder auch: immer häufiger unreflektiert? – Bewegungen auf jener vorgängigen Ebene der Lebenspraxis auslöst, wird damit nicht bestritten; trotz dieser Entwicklungen soll jedoch einstweilen an der analytischen Trennung der beiden Sphären festgehalten werden. Um Missverständnissen vorzubeugen sei gleichwohl angemerkt, dass diese Unterscheidung weder darauf abzielt, den Funktions- oder Statusbereich „Wissenschaft“ von der übrigen Lebenswelt abzusondern, noch darauf, die von Dewey verabschiedete Differenzierung zwischen Erkennen und Handeln wieder einzuführen (vgl. John Dewey (1998): Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkennen und Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp; [1929]). Worauf es hier stattdessen ankommt, ist, zwischen praktischem Verstehen unter Handlungsdruck und praxisentlastetem, methodischem Verstehen in Muße zu unterscheiden. Für den Fall, dass nicht nur Kunst und Wissenschaft im engeren Sinne, sondern prinzipiell alle menschlichen Tätigkeiten die Möglichkeit zu Muße und Selbsthinterfragung bieten, könnte es sich, nicht zuletzt um falsche Fronten zu vermeiden, indes als durchaus angemessen erweisen, die begriffliche Entgegensetzung von Wissenschaft und Praxis zugunsten des Begriffspaares Muße und Praxis aufzugeben.
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wird. Sofern die Ausgangspositionen der im Nordatlantikrat repräsentierten Regierungen der Mitgliedstaaten ermittelt werden können, ist es problemlos möglich, diesen Abgleich bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Weiter verfeinert werden kann die Begründung der Auswahl von Phase 4 zum Ausgangspunkt der Sequenzanalysen schließlich auch mithilfe der Unterscheidung zwischen dem Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozess (Phase 3) und dessen Ergebnis (Phase 4). Diese Differenz zwischen der Entscheidungsfindung als dem Prozess des kollektiven Entscheidens auf der einen und dem konkreten Entscheid als der Resultante dieses Prozesses auf der anderen Seite steht im Zentrum des oben skizzierten Fünfphasenmodells. Das ausschlaggebende Merkmal dieser Differenz besteht nun darin, dass die indirekten Handlungsfolgen für Dritte, die Dewey zufolge die Entstehung von Öffentlichkeit konstituieren15, ihre Wirkungen erst entfalten können, nachdem ein konkretes Verhandlungsergebnis in Form eines gemeinsamen Entscheids erzielt worden ist. Erst von diesem Zeitpunkt an wird das Bündnis als Bündnis auch nach außen hin folgenreich. In der Differenz zwischen dem Entscheidungsfindungsprozess und dem daraus resultierenden Entscheid spiegelt sich somit auch jene zwischen der nach innen und der nach außen gerichteten Dimension des der NATO als NATO zuzurechnenden Handelns wider. Im Laufe des Entscheidungsfindungsprozesses verbinden sich die Konstituenten des Bündnisses zu einer Einheit, die ab dem Moment der Veröffentlichung dessen, worauf sich die Ratsmitglieder geeinigt haben oder, im Falle einer Geheimhaltung, ab dem Moment, von dem an sie beginnen, diese interne Einigung zur Grundlage ihres gemeinsamen Handelns und damit zur Quelle indirekter Handlungsfolgen zu machen, auch nach außen wirksam – und damit analysierbar – wird. Bei den am Ende des Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozesses im Nordatlantikrat vorliegenden Dokumenten handelt es sich also um theoretisch vollgültige, intersubjektiv nachprüfbaren Erkenntnisoperationen zugängliche (Sprech-) Akte, die es ermöglichen, das Bündnis als eigenständiges politisches Gebilde zu untersuchen. Die große Bedeutung der als Äquivalente nationalstaatlicher Rechtsakte anzusehenden Beschlüsse des Nordatlantikrats für die Beantwortung der Forschungsfrage kann auch von (Sprech-) Akten des NATO-Personals sui generis nicht übertroffen werden. Denn der Generalsekretär und die Angehörigen des Internationalen Stabs, die Mitarbeiter im Internationalen Militärstab einschließlich der regionalen Oberbefehlshaber, sowie die Mitglieder der diversen Ausschüsse und Arbeitsgruppen des Bündnisses haben ihre Legitimität und ihre Befugnisse allesamt vom Nordatlantikrat verliehen bekommen. Ähnlich wie die einzelnen Vertreter der Mitgliedstaaten spielt auch das breite Spektrum des NATO-Personals sui generis lediglich in den Anfangsphasen des Entscheidungsfindungsprozesses eine wichtige Rolle. Zwar vermögen prinzipiell alle Inhaber der oben genannten Strukturpositionen Debatten zu entfachen, laufende Verfahren zu beeinflussen und gelegentlich vielleicht sogar diejenigen, die letztlich entscheiden müssen, vor sich herzutreiben; deren Platz einnehmen können sie jedoch nicht. Die Kompetenz zur Verabschiedung von Rechtsaktäquivalenten auf der Ebene der NATO obliegt allein dem Nordatlantikrat. Dort werden die Ausgangspositionen der Konstituenten des Bündnisses in der NATO als NATO zurechenbares Handeln umgewandelt. Auf einer Skala der Legitimität von Daten über das Bündnis als eigenständiges Gebilde rangie15 Vgl. John Dewey (2001): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Berlin/Wien: Philo (2. Auflage); [The Public and its Problems, 1927].
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ren die vom Nordatlantikrat veröffentlichten Dokumente daher als verbindlichster Datentyp an der Spitze – deutlich vor den Verlautbarungen jener Stellen im Gefüge der NATO, deren Legitimität unmittelbar auf den Rat zurückgeht, und noch deutlicher vor den Dokumenten, für deren herausgebende Gremien dies nur mittelbar gilt. Da also innerhalb des Bündnisses die Kompetenz zur Verabschiedung öffentlich zugänglicher Rechtsaktäquivalente und die Befugnis zur Schaffung unmittelbar legitimierter Ausschüsse und Arbeitsgruppen beim Nordatlantikrat liegt, kann der theoretische Anspruch, dass alle Politik von der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen gekennzeichnet ist, nun auch methodologisch eingelöst werden.16
4.1.3.1 Über die Möglichkeit einer Analyse des Entscheidungsfindungsprozesses Trotz der genannten Gründe gegen eine Untersuchung des Entscheidungsfindungs- und Aushandlungsprozesses wäre es gleichwohl ein Fehler, von vornherein anzunehmen, dass die Entdeckung von Verlaufsmustern oder Gestaltungsmerkmalen der innerorganisatorischen Abläufe des Bündnisses irrelevant sei. Je nach Entwicklung des Forschungsprozesses könnte der Überlegung, wer sich womit wie durchsetzt bzw. unter welchen Bedingungen worauf zu verzichten bereit ist, durchaus eine Bedeutung für die Beantwortung der Forschungsfrage zukommen. Die potentielle Relevanz des Aushandlungsprozesses von NATO-Entscheidungen wird hier also keineswegs per se bestritten. Unabhängig von einigen methodischen Schwierigkeiten – wie zum Beispiel der Intransparenz des gesamten Ablaufs infolge der langen Sperrung der Akten – verdankt sich diese Relevanz jedoch einer anderen Gewichtung der Fragestellung, die den Schwerpunkt auf die Muster der internen Entscheidungsfindungsprozesse legt. Mithilfe eines systematischen Abgleichs der einzelnen Standpunkte zu Beginn mit der am Ende der Entscheidungsfindung zu Papier gebrachten gemeinsamen Position ließe sich wohl durchaus ermitteln, mit welchen Ideen und Interessen die Partner den Prozess begonnen, welchen Kompromiss sie gefunden haben – und vor allem: wer sich durchgesetzt hat. Ob dieser Fragenkomplex im Rahmen der Untersuchung eine entscheidende Rolle spielen könnte, wird sich jedoch erst im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses feststellen lassen. Für den Fall, dass sich die Untersuchung des Entscheidungsfindungsprozesses selbst als hilfreich erweisen sollte, drängte sich – zumindest auf den ersten Blick – sogleich die Folgefrage auf, wer den Entscheidungsfindungsprozess dominiert. Vor dem Hintergrund der mutmaßlichen transatlantischen Macht- und Einflussverhältnisse wäre wohl alles andere als die Rekonstruktion eines Musters bündnisinterner Dominanz der USA eine Überraschung; ungleich interessanter dürfte es dagegen sein, herauszufinden, wodurch jene Fälle gekennzeichnet sind, in denen sich die Repräsentanten der USA nicht – oder wenigstens 16 Die Beschränkung des Untersuchungsbereichs auf Kommuniqués des Nordatlantikrats hat allerdings zur Folge, dass das Potential des erweiterten Textbegriffs der objektiven Hermeneutik (vgl. Abschnitt 3.2) nicht ausgeschöpft werden kann. Da das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht in einer vergleichenden Überprüfung der gewählten Vorgehensweise besteht, ist es jedoch gerechtfertigt, eine gewisse politiktheoretische Konsistenz bei der Bestimmung der zu analysierenden Datentypen höher zu bewerten als deren Heterogenität. Zweifellos wäre etwa die Sequenzanalyse eines Videos oder Fotos von Bombenangriffen der NATO auf Belgrad ungleich spektakulärer als die Untersuchung von Verlautbarungen ihres höchsten Entscheidungsgremiums – dass sie auch angemessener wäre, wird hier indes bezweifelt.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
nicht auf der ganzen Linie – mit ihrer Position durchgesetzt haben, weil sie dies nicht konnten oder weil sie (mit höher eingestuften Zielen für eine der nächsten Verhandlungsrunden in der Hinterhand?) gar keine vollumfängliche Durchsetzung ihrer Position anstrebten. Daraus ergäben sich dann die Anschlussfragen, nach welchen Kriterien die Vertreter der USA ihre überwältigende Verhandlungsmacht einsetzen und zu welchen Anlässen oder aus welchen Gründen sie auf die volle Durchsetzung der eigenen Position – zugunsten wovon? – verzichten. Der Autor der vorliegenden Arbeit fürchtet allerdings, dass die Beantwortung der Frage nach dem Fortbestand der NATO nach der Blockkonfrontation auf dem Wege einer Analyse der Entscheidungsfindungsprozesse unter den Partnern die Möglichkeit zunichte machen würde, die NATO als ein eigenständiges politisches Gebilde zu untersuchen, das „an seinen Früchten zu erkennen“ ist.17
4.1.3.2 Einigung und Nichteinigung als Kehrseiten gemeinschaftlichen Handelns Sowohl der Entscheidungsfindungsprozess im Nordatlantikrat (Phase 3), zum Beispiel die Verhandlungen über den Wortlaut eines Kommuniqués oder eines Beschlusses über den Einsatz von Zwangsmitteln, als auch das Ergebnis dieses Prozesses (Phase 4), also das Kommuniqué oder der Beschluss selbst, sind, ebenso wie die Umsetzung eines konkreten Entscheids (Phase 5), Formen koordinierten, gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Handelns. Da die beiden in binärer Opposition zueinander stehenden Möglichkeiten einer Einigung und einer Nichteinigung jenseits ihrer inhaltlichen Dimension – bzw. dieser vorgelagert – über dieselbe Struktur verfügen, gehören, wie oben mehrfach angedeutet, zu diesen Formen des Handelns auch das Scheitern der Verhandlungen im Nordatlantikrat (Phase 3), d.h. das Nichtzustandekommen eines einstimmigen Beschlusses, das unweigerlich daraus resultierende Nichtvorliegen eines Ergebnisses in Form eines konkreten Entscheids (Phase 4), aber auch die unvollständige oder fehlerhafte Umsetzung und sogar das Unterlassen der Umsetzung eines Beschlusses (Phase 5). Doch selbst wenn das gelegentliche, von einigen Beteiligten möglicherweise durchaus gewollte Scheitern von Verhandlungen im Rat als „missglückter“ Ablauf einer koordinierten Handlung begriffen wird, bilden – metaphorisch ausgedrückt – erfolgreiche und missglückte Vollzüge gemeinsamer (Sprech-) Akte dennoch zwei Seiten derselben Medaille. Der mögliche Vorwurf eines zugunsten der erfolgreichen Durchführung gemeinsamer Handlungen verzerrten Analyserahmens kann somit zurückgewiesen werden. Sowohl der erfolgreiche als auch der gescheiterte Versuch einer Einigung stellen gültige und insofern gelungene Ausprägungen von der NATO als NATO zuschreibbarem Handeln dar.18 17
Der Gebrauch dieser Wendung aus dem Matthäus-Evangelium (Kapitel 7, Vers 16 und 20) findet sich schon bei Peirce, der sie als „ältere logische Regel“ bezeichnet. Vgl. Charles S. Peirce (1967): Ein Überblick über den Pragmatizismus. Brief an den Herausgeber der Nation, in ders.: Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.460-500; hier: S.463. 18 Der Vorwurf eines verzerrten Analyserahmens könnte zum Beispiel auf der Basis von Derridas Kritik am Status der Erfolgsbedingungen innerhalb der Theorie der Sprechakte formuliert werden. Der obige Abschnitt dient daher dem Zweck, Derridas Vorbehalten gegenüber den Ausführungen von Austin und Searle entgegenzukommen. Vgl. Jacques Derrida (2001): Limited Inc. Wien: Passagen; John L. Austin (2002): Theorie und John R. Searle (1997): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/M.: Suhrkamp (7. Auflage); [Speech Acts, 1969]. Hinsichtlich der konkreten Handhabung des Einstimmigkeitsprinzips im Nordatlantikrat wird in diesem Zusammenhang allerdings die alte Frage aufgeworfen, ob Schweigen als Zustimmung oder als Ablehnung gewertet wird; reicht es zur Verabschiedung eines Rechtsaktäquivalents durch den Rat aus, dass die Beschlussvorlage von keinem
4.1 Einrichtung des Untersuchungsgegenstands
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Gleichwohl stellt der methodologisch versierte Umgang mit der Nichteinigung auf einen Kompromiss im Nordatlantikrat eine große forschungslogische Herausforderung dar. Erwiese sich ein Fall als untersuchungsrelevant, in dem es den Konstituenten der NATO nicht gelungen ist, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen – aus jüngster Zeit wäre das prominenteste Beispiel dafür wohl der Umgang mit dem Irak im Vorfeld des im Frühjahr 2003 schließlich von einer „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA durchgeführten Krieges gegen das Regime von Saddam Hussein –, so wäre zunächst zu prüfen, ob ein Dokument des Nordatlantikrats, dem höchsten Entscheidungsgremium des Bündnisses vorliegt, in dem der unentschiedene Fall selbst verhandelt oder die interne Unentschiedenheit in irgendeiner Form protokolliert worden ist. Sofern kein solches Dokument auffindbar oder zugänglich wäre, müssten funktionale Äquivalente der Verlautbarungen des Rats in Betracht gezogen werden. Bei diesen handelt es sich um Erklärungen anderer Stellen des Bündnisses, die das Nichtzustandekommen eines Kompromisses im Rat oder den zu Dissens Anlass gebenden Fall selbst zum Thema haben. Gemäß der oben skizzierten Skala abnehmender Legitimität von Daten über das Bündnis als einem eigenständigen politischen Gebilde ist es entscheidend, dass die funktionalen Äquivalente von den Vertretern einer anderen NATO-Einrichtung sui generis oder vom Generalsekretär stammen, da das Maß an Verbindlichkeit solcher Stellungnahmen am wenigsten weit von dem der Dokumente des Nordatlantikrats entfernt ist. Äußerungen von hochrangigen Vertretern der Mitgliedstaaten, die der Rechtfertigung ihres kompromisslosen Beharrens auf der eigenen Position dienen, würden die Anforderungen an funktionale Äquivalente jedenfalls am wenigsten erfüllen. Des Weiteren stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie mit der möglichen Nichtumsetzung vereinbarter Bündnisentscheidungen umzugehen ist, d.h. wie überhaupt der Grad des Gelingens oder Misslingens der Umsetzung einer Entscheidung zu ermitteln wäre oder ganz allgemein: wie relevant es ist, festzustellen, ob und wie ein Beschluss umgesetzt wird. Enthüllt zum Beispiel die Nichteinhaltung einer Bündnisverpflichtung durch ein Mitglied mehr über das Bündnis oder mehr über das Mitglied? Und vor allem: welche Anhaltspunkte gibt es überhaupt für die Annahme, dass die Nichterfüllung einer Verpflichtung seitens eines Mitglieds Wissenswertes über dieses Mitglied, über sein Verhältnis zur NATO, oder über die NATO selbst verrät? Aus diesen Fragen geht vor allem hervor, dass die Fokussierung der erfolglosen Umsetzung einer der NATO als NATO zuschreibbaren Entscheidung die Gefahr birgt, die favorisierte Ebene der Analyse des Bündnisses als eines eigenständigen politischen Gebildes zu verlassen und auf die Ebene der Mitgliedstaaten zurückzufallen. Da, wie oben gezeigt, die Untersuchung der Umsetzung von Entscheidungen (Phase 5) ohnehin ein Spezialfall der Erforschung der Entscheidungen selbst (Phase 4) ist, der unser Augenmerk zudem nur auf die hier nicht interessierenden Bedingungen einer Optimierung des politischen Prozesses lenken würde, können diese Fragen jedoch guten Gewissens offen gelassen werden. der stimmberechtigten Mitglieder abgelehnt wird oder müssen ihr alle zustimmen? Die Aufnahme von Konsultationen im Rahmen der Eurogroup im Oktober 1970 ohne einen Vertreter aus Frankreich, Island und Portugal zeigt, dass zumindest im Spezialfall der Schaffung von neuen Diskussionsforen von einer strikten Auslegung des Einstimmigkeitsprinzips abgewichen werden kann. Die institutionellen Anpassungen nach dem 1966 vollzogenen und bis 2009 andauernden Rückzug Frankreichs aus der militärischen Integration dürften hier ebenfalls von Interesse sein. Zur gegenwärtigen Handhabung von Schweigen im Rat siehe auch: Helga Haftendorn (2005): Das Atlantische Bündnis als Transmissionsriemen atlantischer Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 38-39/2005, S.8-15.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
4.2 Entwurf des Universums der Fälle Nach der (politik-) theoretisch und methodologisch begründeten Bestimmung der zeitnah öffentlich zugänglichen und ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Legitimität aufweisenden Dokumente des Nordatlantikrats zum Ausgangspunkt der Analyse gilt es nun, das Universum der für eine detaillierte Untersuchung in Frage kommenden Fälle zu umreißen. Da es nicht sonderlich ertragreich sein dürfte, Überlegungen darüber, was ein Fall ist, losgelöst von der Forschungsfrage anzustellen, wird die Skizze des Universums der Fälle unmittelbar an den Untersuchungsgegenstand NATO zurückgebunden. Dies hat zur Folge, dass es die sich in den Verlautbarungen des Nordatlantikrats – vornehmlich jenen seit dem Ende der Blockkonfrontation – manifestierende kollektive Praxis des Bündnisses ist, die das Universum der potentiell analysierbaren Fälle ausfüllt. Was aber konstituiert die einzelnen Fälle für sich genommen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen zunächst einmal zwei Dimensionen oder Aspekte eines konkreten Falles unterschieden werden, die sich zueinander verhalten wie ein Ganzes und seine Teile. Die erste oder innere Dimension verweist auf die Anzahl der Kommuniqués des Nordatlantikrats, die zu einem Fall zusammengefasst werden können; der zweiten oder äußeren Dimension entspricht die makrohistorische Klassifizierung der in der ersten Dimension als Bündelung von Dokumenten des Rats konstruierten Fälle. Streng genommen werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit daher keine Fälle analysiert, sondern je eines der einen „Fall“ konstituierenden Dokumente. Aus wie vielen Ratskommuniqués sich ein Fall zusammensetzt, ist dabei irrelevant. Ein aus einem einzigen Dokument bestehender Fall hat den gleichen Wert für die Untersuchung wie ein Fall, der aus mehreren Dutzend Dokumenten zusammengesetzt ist. Mit anderen Worten: Zentrale Bedingungen der Möglichkeit ihres Fortbestands sollten sich potentiell in jedem der NATO (als NATO) zuschreibbaren Akt finden lassen, unabhängig davon, welchen Fall dieser Akt repräsentiert. Doch welche konkreten Fälle füllen die Grundgesamtheit der sich in den Verlautbarungen des Nordatlantikrats seit dem Ende der Blockkonfrontation manifestierenden kollektiven Praxis des Bündnisses? Auf der Grundlage eines Studiums der Ausgaben des Archivs der Gegenwart seit 1945, das dazu diente, mit dem Forschungsgegenstand vertraut zu werden, können die folgenden makrohistorischen Fälle als (den Gegenstand strukturierende) Konstituenten des Falluniversums der vorliegenden Arbeit angesehen werden:
die Nichtbeteiligung der NATO am Krieg der USA und der von dieser angeführten „Koalition der Willigen“ gegen den Irak im Frühjahr 2003, die von ihr auf der Grundlage von Artikel 5 des Nordatlantikvertrages ergriffenen Maßnahmen nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001, die Einsätze der NATO in Afghanistan (seit 2003) sowie in Bosnien und dem westlichen Balkan (seit 1992), der Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999, Veränderungen der internen Organisationsstruktur wie die Reduzierung der Hauptkommandozentralen (1997) oder die Schaffung von Krisenreaktionskräften (Combined Joint Task Forces, 1994) bzw. schnellen Eingreiftruppen (Rapid Reaction Force, 1993; NATO Response Force, 2002),
4.2 Entwurf des Universums der Fälle
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die Verabschiedung der Strategischen Konzepte von 1991 und 1999 zuzüglich der Entscheidungen über den künftigen Stellenwert ehemals konstitutiver Themen des Bündnisses wie Verteidigungsplanung und nukleare Bewaffnung, die Erweiterungen des Bündnisses von 1999, 2004 und 2009 einschließlich der Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland und des Verhältnisses der NATO zu Russland, die Befassung der NATO mit ausgewählten Politikfeldern und politischen Fragen wie Terrorismus, Raketenabwehr oder Energiesicherheit, sowie die Institutionalisierung der Beziehungen zu Nichtmitgliedern in Form der Schaffung von Gremien wie dem Nordatlantischen Kooperationsrat (1991) bzw. dem EuroAtlantischen Partnerschaftsrat (1997), dem Programm Partnerschaft für den Frieden (seit 1994), sowie dem NATO-Russland-Rat (1997), der NATO-Ukraine-Kommission (1997) und dem Mittelmeerdialog (1998).
Obwohl diese Abgrenzung der Fälle natürlich nicht willkürlich, sondern nach bestem Wissen und Gewissen erfolgte, bleibt sie doch hochgradig kontingent. Anstatt zum Beispiel den „Einsatz in Bosnien“ als nur einen Fall in die Grundgesamtheit aufzunehmen, hätten daraus auch die zwei Fälle „Kampfeinsatz in Bosnien“ und „Stabilisierung Bosniens“ gemacht werden können. Spiegelbildlich hätten die „Erweiterungen des Bündnisses“ und die „Institutionalisierung der Beziehungen zu Nichtmitgliedern“ oder die „Verabschiedung der Strategischen Konzepte“ und die „Veränderungen der internen Organisationsstruktur“ zu je einem Fall zusammengefasst werden können. Einen gewissen Schutz vor Kritik am konkreten Entwurf des Universums der Fälle bietet unterdessen das Argument, dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit streng genommen keine Fälle, sondern die einen Fall konstituierenden Dokumente analysiert werden. Ungleich wichtiger als die heuristische Abgrenzung der Fälle ist daher, dass jeder zur Grundgesamtheit gehörende Fall aus einer bestimmten Anzahl von Dokumenten besteht und, vor allem, dass die Gesamtmenge der vom Nordatlantikrat veröffentlichten Verlautbarungen prinzipiell zählbar und somit genau bestimmbar ist. Unabhängig davon, wie die kontingente Abgrenzung der Fälle konkret ausgestaltet wird, geht somit letztlich doch kein Element der untersuchungsrelevanten Grundgesamtheit verloren. Eine besonders sorgsame Behandlung haben in diesem Zusammenhang zweifellos die so genannten „Nichtereignisse“ in der Geschichte des transatlantischen Bündnisses verdient. Generell müssen dabei allerdings zunächst einmal zwei Typen von Nichtereignissen unterschieden werden. Zum ersten Typ gehören solche Fälle, in denen der Nordatlantikrat wie im Rahmen der Erörterung von militärischen Maßnahmen gegen das Regime von Saddam Hussein in den Jahren 2002/03 zwar mit einem Thema befasst war, aber zu keiner einstimmigen Entscheidung gelangt ist. Als Bedingung der Möglichkeit eines methodologisch versierten Umgangs mit solchen Nichtereignissen wurde bereits im Abschnitt 4.1.3.2 die Analyse funktionaler Äquivalente der Dokumente des Nordatlantikrats diskutiert. Den zweiten Typ von Nichtereignissen bilden jene Angelegenheiten, mit denen der Rat – zumindest soweit die öffentlich zugänglichen Dokumente diese Behauptung zulassen – gar nicht befasst wurde, obwohl dies auf der Grundlage sorgfältiger Plausibilitätserwägungen durchaus zu erwarten gewesen wäre.19 Bezogen auf die hier zu beantwortende For19 Wie knifflig das Kriterium plausibler Erwartungen an die Agenda des Bündnisses ist, zeigte sich im Herbst 2006, als sich die Staats- und Regierungschefs auf dem NATO-Gipfel in Riga der Erörterung energiepolitischer Fragen widmeten. War das zu erwarten? Oder wäre es plausibler gewesen, wenn dieser Schritt unterblieben wäre?
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
schungsfrage könnte es Themen geben, die ganz bewusst nicht auf die Agenda des Nordatlantikrats gesetzt worden sind, um den Fortbestand des Bündnisses damit nicht zu gefährden. Im Lichte der methodologischen Überlegungen aus dem vorangegangen Kapitel und des im ersten Teil dieses Kapitels entwickelten Analyserahmens bieten sich zwei Möglichkeiten, um mit dieser Situation umzugehen. Sollte sich die Behauptung der systematischen Nichtbefassung des Nordatlantikrats mit Themen, welche die Zukunft des Bündnisses zu unterminieren drohen, nicht in irgendeiner Form belegen lassen, kann sie als den methodischen Ansprüchen nicht genügend vernachlässigt werden. Findet sich indes ein die These stützendes Protokoll – sei es ein Auszug aus einem Interview oder eine Bemerkung in den Memoiren eines hochrangigen Politikers – so wäre die Untersuchung dieses Protokolls in Erwägung zu ziehen. Der Preis dafür bestünde jedoch darin, die bevorzugte Analyseebene der NATO als NATO zu verlassen und auf die Ebene der Konstituenten des Bündnisses oder des NATO-Personals sui generis zurückzufallen. Nicht auszuschließen ist auch, dass damit eine Verschiebung der Fragestellung einhergeht und jene Strategien in den Vordergrund rücken, derer sich die Vertreter der Mitgliedstaaten (gleichsam unilateral) bedienen, um das Fortbestehen der NATO zu gewährleisten. An einer Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands des transatlantischen Bündnisses auf der Grundlage einer Untersuchung von (Sprech-)Akten festzuhalten, die seinem höchsten Entscheidungsgremium zuzuschreiben sind, ist demgegenüber der theoretisch mindestens ebenso gut begründete und methodologisch konsistentere Weg. Und sollten die Konstituenten des Bündnisses eines Tages wirklich darauf verzichten, die Diskussion von den Fortbestand der NATO gefährdenden Themen im Rat zu verhindern, könnte dann ohne die geringste Änderung des Forschungsdesigns analysiert werden, aus welchen Gründen das Bündnis vielleicht schon bald nicht mehr besteht. Im Sinne des zu Beginn dieses Kapitels entwickelten Analyserahmens kann die wie auch immer begründete Nichtbefassung des Nordatlantikrats mit einem konkreten Thema somit schlicht als für die Untersuchung noch nicht relevantes Datum angesehen bzw. als noch nicht hinreichend akut gewordenes Symptom behandelt werden.
4.3 Konkurrierende Kriterien für eine Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle Um der erforderlichen Anpassung des Gebrauchs der Verfahren der objektiven Hermeneutik an die makrosozialen Fragestellungen der Internationalen Beziehungen gerecht zu werden, empfiehlt es sich, mehr als nur einen einzigen Fall (oder Text) zu analysieren. Mit Blick auf den Gesamtumfang der vorliegenden Arbeit soll ein Wert von fünf Detailuntersuchungen zwar nicht überschritten werden, die Gegenstandsadäquatheit des Forschungsprozesses lässt sich so aber bereits hinreichend steigern. Zudem hat eine solche Erhöhung der Fallzahl den Vorteil, dass auch Entwicklungen in den Blick genommen werden können, die innerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums stattgefunden haben. Da sich zentrale Bedingungen der Möglichkeit ihres Fortbestands potentiell in jedem der NATO (als NATO) zuschreibbaren Akt finden lassen sollten, spielt es keine Rolle, welche Fälle zum Zweck einer detaillierten Untersuchung ausgewählt werden. Im Grunde genommen handelt es sich bei der nun beginnenden Suche nach einem „geeigneten“ Fallauswahlkriterium daher um ein Zugeständnis an die positivistische Mehrheit der Fachkolle-
4.3 Konkurrierende Kriterien für eine Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle
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gen in den Internationalen Beziehungen: Auf diesem Weg soll dem potentiellen Vorwurf von subsumtionslogisch verfahrenden Forschern entgegengewirkt werden, die in dieser Arbeit interpretierten Texte könnten derart ausgewählt worden sein, dass sie gewisse Forschungsinteressen des Autors, seine gegenstandstheoretischen oder politischen Präferenzen etwa, fördern würden. Im Lichte des Untersuchungsgegenstands kommen als mögliche Kriterien für die Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle auf den ersten Blick mindestens vier Kriterien in Betracht. Nach zunehmendem Abstraktionsgrad geordnet sollen diese im Folgenden kurz skizziert werden. Dabei handelt es sich um: i) ii) iii) iv)
die Strategischen Konzepte, das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Bündnismitgliedern, (Groß-)Theorien der Internationalen Beziehungen, sowie Krisen und Routinen im der NATO als NATO zuschreibbaren Handeln.
Unabhängig von der Wahl eines bestimmten Kriteriums wird die Untersuchung des Nordatlantikvertrages in jedem Fall das erste Glied in der Kette der durchzuführenden Sequenzanalysen bilden. Der Kontrakt kann gewissermaßen als die Gründungsurkunde des Bündnisses gelten und stellt aus historischer Perspektive das – im Sinne der Phase 4 des im Abschnitt 4.1.2 skizzierten Modells – erste Ergebnis von Handeln dar, das der NATO als NATO zuzurechnen ist.20 Auf diesem Wege kann zugleich eine Brücke in die – angesichts der Fragestellung der vorliegenden Arbeit – „Vorzeit“ des Bündnisses, die viereinhalb Jahrzehnte währende Ära der Blockkonfrontation, geschlagen werden. Da er nach der Zeitenwende von 1989/91 nicht durch einen neuen Kontrakt ersetzt worden ist, gibt es überdies (zumindest in formaler Hinsicht) keinen Grund, um an der fortdauernden Geltung des Nordatlantikvertrages zu zweifeln.
4.3.1 Die Strategischen Konzepte Eine Untersuchung der Strategischen Konzepte des Bündnisses erscheint vor allem aufgrund der äußerst geringen Größe von deren Grundgesamtheit reizvoll, denn mit der Massiven Vergeltung (1954), der Flexiblen Erwiderung (1967), sowie den Konzepten vom 8. November 1991 und vom 24. April 1999 erfüllen lediglich vier Fälle dieses Kriterium. Gleichzeitig stellt die mangelnde Variationsbreite dieses Dokumenttyps allerdings auch einen erheblichen Nachteil dar. Darüber hinaus stammte das aktuellste der zu untersuchenden Dokumente lediglich aus dem Jahr 1999. Daher wäre es wohl besser, den Subtyp „Strategische Konzepte“ mit in die ungleich größere Grundgesamtheit aller der NATO als NATO zuschreibbaren (Sprech-)Akte aufzunehmen und die potentielle Auswahl eines – nach dem Ende der Blockkonfrontation erarbeiteten – Strategischen Konzepts somit unter einer breiteren Perspektive zu rechtfertigen.
20 Aufgrund der konzeptionellen Überlegungen zu Beginn des vorliegenden Kapitels kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, dass der Aufbau des organisatorischen Apparats des Bündnisses nicht vor 1952 begonnen hat – drei Jahre nach der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
4.3.2 Das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern Unter dieser Überschrift könnten Fälle aus Epochen, da die Beziehungen zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern des Bündnisses als gut eingeschätzt wurden, mit Fällen aus solchen Zeitabschnitten kontrastiert werden, über die möglichst dieselben Beobachter im Lichte derselben Bewertungsmaßstäbe zu dem Urteil gelangt sind, dass das europäisch-amerikanische Verhältnis innerhalb der NATO schlecht gewesen sei. Wenn die jeweilige Regierung der Vereinigten Staaten zum Referenzpunkt gemacht würde, könnte das Label „gute transatlantische Beziehungen“ womöglich der Amtszeit folgender USAdministrationen verliehen werden:
Truman/Acheson (1945-53), Kennedy/Rusk (1961-63; Ausnahme: Adenauer), Johnson/Rusk (1963-69), Bush/Baker (1989-92), sowie Clinton/Christopher (1993-97) bzw. Clinton/Albright (1997-2001).
Das Etikett „schlechte transatlantische Beziehungen“ könnte dagegen der Regentschaft der folgenden US-Administrationen angehängt werden:
Eisenhower/Dulles (1953-61), Nixon/Rogers/Kissinger (1969-74), Ford/Kissinger (1974-77), Carter/Vance (1977-80), Reagan/Shultz (1982-89) und Bush/Rumsfeld/Rice (2001-09).
Um den Fallstricken binärer Kategorisierungen zu entkommen, ließen sich die Grenzfälle aus beiden Gruppen – etwa Johnson/Rusk, Ford/Kissinger und Carter/Vance – ergänzend zu einer neutralen dritten Gruppe zusammenfassen. Dessen ungeachtet zöge die Entscheidung für dieses Kriterium jedoch einige schwerwiegende Folgeprobleme nach sich. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Referenzobjekt der transatlantischen Beziehungen an den östlichen Ufern des Atlantischen Ozeans. Wer verkörpert „das europäische Element“ im Verhältnis der USA zu den europäischen NATO-Mitgliedern? Selbst im Falle einer guten Begründung der in sich höchst problematischen Entscheidung zugunsten des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland21, Frankreichs und Deutschlands als den drei vermeintlich „großen“ Europäern bliebe der Einwand bestehen, dass gerade deren Beziehungen zu den USA häufig sehr stark divergieren. So entspricht die obige Auflistung wohl auch viel eher den deutsch-amerikanischen als – wie auch immer verstandenen – europäisch-amerikanischen Beziehungen. Zudem müsste geprüft werden, ob der einseitige Fokus auf die US-Präsidentschaften ungeachtet der mutmaßlichen Dominanz der USA im Bündnis hier nicht zu stark wäre. Darüber hinaus geriete die Ebene der NATO als eigenständiges politisches Gebilde wohl zu 21
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland mithilfe der Kurzform Vereinigtes Königreich bezeichnet.
4.3 Konkurrierende Kriterien für eine Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle
111
sehr aus dem Blickfeld und die gesamte Anlage der Arbeit drohte, auf die nationalstaatliche Ebene zurückzufallen. Schließlich stünde zu befürchten, dass sich die potentiell interessanten Resultate dieser Untersuchung, nämlich Gemeinsamkeiten zwischen guten und schlechten Zeiten, Differenzen zwischen guten Zeiten sowie Differenzen zwischen schlechten Zeiten, als bloßer Effekt des – etwas überstrapazierten – Unterscheidungskriteriums, also der Trennung in gute und schlechte Zeiten, herausstellen könnte. Seine Relevanz verdankt dieses Kriterium zweifellos der impliziten Annahme, dass das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern an der Hauptachse der bündnisinternen Konflikte angesiedelt ist. Den Fortbestand der NATO gewissermaßen kontraintuitiv in den Zusammenhang dieser Konflikte zu rücken, wäre vermutlich alle intellektuelle Anstrengung wert gewesen. Gleichwohl dürften die genannten Schwierigkeiten den Charme dieser Idee überwiegen – selbst im Falle einer angezeigten Beschränkung auf die Zeit nach der Blockkonfrontation.
4.3.3 (Groß-) Theorien der Internationalen Beziehungen Denkbar wäre weiterhin, für jede der besonders relevanten (Groß-) Theorien der Internationalen Beziehungen je einen einfachen und einen harten Fall zum Gegenstandsbereich der NATO auszuwählen und detailliert zu analysieren. Die Kosten für die Suche nach geeigneten Fällen könnten sich jedoch rasch als zu hoch erweisen, da auf den ersten Blick lediglich die Suezkrise 1956 als einfacher Fall des Neorealismus und der fahrlässige Umgang mit den zeitweise nicht demokratisch verfassten Mitgliedstaaten Portugal, Griechenland und Türkei als harter Fall des Wertegemeinschaftskonstruktivismus ins Auge fallen; mithin zwei Fälle, die in die Ära der Blockkonfrontation fallen und der Forschungsfrage nicht unbedingt gerecht zu werden versprechen. Neben Schwierigkeiten bei der Auswahl der relevanten Großtheorien und Forschungsprogramme aus einem breiten Spektrum, dem Neorealismus, Hegemoniale Stabilitätstheorie und (neo-) klassischer Realismus, Institutionalismus, Liberalismus und „Konstruktivismus“ ebenso angehören wie Postmodernismus bzw. Poststrukturalismus, Marxismus und Feminismus, birgt diese Vorgehensweise außerdem die Gefahr der Langeweile in Form einer bloßen Evaluation und Reproduktion des innerdisziplinären Status quo.
4.3.4 Krisen und Routinen im der NATO als NATO zuschreibbaren Handeln Eine vierte Möglichkeit besteht darin, Krisen und Routinen auf der Ebene des der NATO als NATO zurechenbaren Handelns zum Kriterium für die Fallauswahl zu machen. Die Kür dieses allgemeinen und dialektischen sozialtheoretischen Konzepts zum Unterscheidungsmerkmal der konkret zu untersuchenden Fälle hätte den Vorteil, dass ihm im Rahmen der Konstitution einer sozialwissenschaftlichen Begriffssprache wohl allein das Konzept der „Erfahrung“ vorausginge und es sich somit problemlos an eine pragmatistische Handlungstheorie anschließen ließe. Eine gegenstandstheoretische Verengung der Fallauswahl auf allzu spezifische Aspekte wie die Strategischen Konzepte oder das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Mitgliedern des Bündnisses könnte so leicht vermieden werden.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
Gleichwohl werden in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Fragen aufgeworfen. Welches sind die – methodologisch greifbaren – Krisen und Routinen in Bezug auf das der NATO als NATO zuschreibbare Handeln? Und vor allem: Woran können wir Krisen und Routinen erkennen, wenn wir mit ihnen konfrontiert sind? Im Lichte der These, dass das Erfolgsrezept des Bündnisses darin bestehe, auf neue – mit Dewey könnte man sagen: problematische – Situationen stets mit der Gründung einer Arbeitsgruppe zu reagieren22, wäre es möglich, Krise, Krisenlösung und Routine auf der Ebene der NATO wie folgt zu charakterisieren: Neue problematische Situationen stellen Krisen im der NATO als NATO zurechenbaren Handeln dar. ii) Die Gründung einer Arbeitsgruppe aus diesem Anlass bzw. die Verabschiedung eines Dokuments des Nordatlantikrats zur Gründung einer solchen Arbeitsgruppe verweist auf die entsprechende Krisenlösung. iii) Schließlich können die im Zuge der Umsetzung der Vorschläge der Arbeitsgruppen emergierenden neuen Praktiken als Routinen bezeichnet werden.
i)
Der immanenten Entstehung von Routinen aus Krisen und ihrem asymmetrischen Bedingungsverhältnis würde mit diesem Ansatz ebenso Rechnung getragen wie dem bloß zeitlichen Nacheinander von Routine und Krise.23 In einem endlosen Prozess folgen die beiden Modi unentwegt aufeinander; wer Krisen im Handeln des Bündnisses sucht, wird daher immer auch Routinen finden und umgekehrt. So kann sich zum Beispiel die Veränderung militärischer Strukturen im Zuge einer ehedem ersonnenen Krisenlösung über Jahre hinweg als erfolgreiche Routine bewähren und doch eines Tages scheitern und eine neue Krise auslösen. Keine Krisenlösung kann also ihre Geltung auf Dauer garantieren; jede Routine kann immer wieder in eine Krise geraten, aus deren Lösung dann wieder neue Routinen entstehen usw. Ausgehend von der Gründung des Bündnisses bzw. der Aufnahme von Verhandlungen über den Nordatlantikvertrag als Antwort auf die schleichende „Sowjetisierung“ Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg könnte die kollektive Praxis der NATO als Geschichte ihrer Krisen und Routinen auf dieser sozialtheoretischen Grundlage folgendermaßen strukturiert werden:
22 Vgl. Sascha Thamm (2002): Institutionelle Reaktionen der NATO auf die Krisen des Bündnisses. Von der Gründung bis zum NATO-Doppelbeschluss. Osnabrück: Der Andere Verlag. 23 Die hier angestellten Überlegungen folgen Oevermann, der die Dialektik von Krise und Routine u.a. in die folgenden Worte kleidet: „Die Routine geht aus der Krisenlösung hervor, sofern diese sich bewährt hat. Die Routine stellt, weberianisch ausgedrückt, das Ergebnis der Veralltäglichung einer ursprünglich außeralltäglichen Krisenlösung dar. Sie ist gleichbedeutend mit der Schließung einer Krisensituation. Demgegenüber bedeutet die Krise die Öffnung, das Aufbrechen einer Routine. Man kann deshalb nicht sagen, daß die Krise aus einer Routine hervorgeht.“ Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Klaus Kraimer (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.58-156, hier: S.134.
4.3 Konkurrierende Kriterien für eine Auswahl der detailliert zu analysierenden Fälle
Tabelle 4.2:
113
Darstellung der Geschichte der NATO aus der Perspektive eines KriseRoutine-Schemas Krise
Krisenlösung
(neue) Routine
Sowjetisierung Osteuropas (1945ff.)
NATO-Gründung
prinzipiell alle Entscheidungen des Nordatlantikrats bis heute
mangelhafte interne Konsultation (Suezkrise 1956)
Gründung des Rats der Drei Weisen
neue Konsultationsverfahren
Forderung nach nuklearer Mitsprache (Anfang der 1960er Jahre)
Gründung von Special Committee, Nuclear Defence Affairs Committee und Nuclear Planning Group (NPG)
neue Handhabung der nuklearen Mitsprache
unzureichende interne Konsultation über die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, zwischen den europäischen Mitgliedern und der Sowjetunion, sowie über Frankreich und die Strategie des Bündnisses (Mitte der 1960er Jahre)
Verabschiedung von HarmelBericht und Flexible Response
neue Formen der internen Koordination und der Gestaltung der nuklear-strategischen Beziehung zur Sowjetunion und ihren Verbündeten
Détente; Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie zwischen den europäischen Mitgliedern und der Sowjetunion (späte 1960er Jahre)
Schaffung der Eurogroup
neue Konsultationsverfahren
nukleare Nachrüstung (1970er Jahre)
Schaffung der High Level Group und Verabschiedung des NATODoppelbeschlusses (12. Dezember 1979)
Neugestaltung der nuklearstrategischen Beziehung zur Sowjetunion und ihren Verbündeten
Ende der Blockkonfrontation und Auflösung der Sowjetunion (1989-91)
Schaffung des Nordatlantischen Kooperationsrats bzw. Euroatlantischen Partnerschaftsrats sowie des Programms Partnerschaft für den Frieden, des NATORussland-Rats und der NATOUkraine-Kommission
neue Formen der Zusammenarbeit mit den Widersachern aus den Zeiten der Blockkonfrontation
Das Arrangement dieser Übersicht lässt den Schluss zu, dass mutmaßlich jeder Fall aus dem breiten Universum von der NATO als NATO zuschreibbaren (Sprech-)Akten Momen-
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
te von Krise und Routine enthält. Daher ist es nicht möglich, die zu analysierenden Fälle vorab gemäß der Regel „Krisen der NATO sind …“ und „Routinen der NATO sind…“ einzuteilen. Wahrscheinlich gehören die meisten der in Frage kommenden Dokumente auf die Routineseite ihres Falles. Methodologisch bedeutet dies, dass die zugehörigen Krisen nachträglich aus den Routinen herausgelesen werden müssen. Während es im Sinne der allgemeinen sozialtheoretischen Orientierung im Laufe der Beantwortung der vorliegenden Forschungsfrage sicherlich eine zentrale Rolle spielen wird, eignet sich somit auch das pragmatistische Konzept von Krise und Routine nicht als Kriterium zur Anleitung der Fallauswahl, da es – zumindest im Vorhinein – so gut wie unmöglich ist, Dokumente aufzuspüren, die nur den Aspekt der Krise umfassen.
4.4 Die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle Da jedes der vier im vorstehenden Abschnitt erörterten, eine inhaltliche Beziehung zum Gegenstand des Forschungsvorhabens aufweisenden Prinzipien zur Anleitung der Fallauswahl mit mehr oder weniger gravierenden Mängeln behaftet ist, dürfte es die beste Alternative sein, bei einem eher technischen Kriterium Zuflucht zu suchen. Diese Zuflucht bietet die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle. Im Folgenden wird es daher zunächst darum gehen, dieses Kriterium kurz vorzustellen. Anschließend wird es auf den konkreten Untersuchungsgegenstand bezogen (4.4.1) und mit möglichen Einwänden konfrontiert (4.4.2). Ganz grundsätzlich können vor allem zwei Modi einer Auswahl von Fällen unterschieden werden. Die erste Möglichkeit besteht darin, die zu analysierenden Fälle im Vorfeld der Untersuchung zu bestimmen, während die Auswahl im Rahmen der zweiten Möglichkeit pfadabhängig erfolgt, also jeweils im Anschluss an den zuletzt erforschten Fall (am besten auf Basis der Ergebnisse von dessen Analyse). Im Lichte eines Verständnisses von (Sozial-) Wissenschaft als dem Versuch des Erkennens von Mustern eines Untersuchungsgegenstands spielt das Kriterium der Konstruktion maximaler Kontraste zwischen den zu erforschenden Fällen in beiden Varianten eine zentrale Rolle; denn es ist der Abgleich von Gemeinsamkeiten und Differenzen maximal kontrastierender Fälle, der die Suche nach solchen Mustern systematisiert. Doch während die möglichst maximalen Kontraste im Rahmen einer rein apriorischen Bestimmung der zu analysierenden Fälle ausschließlich auf Grundlage der Vorüberlegungen des Forschers zu Beginn der Untersuchung gebildet werden können, gestattet es nur der zweite Modus, die Anwendung des Kontrastkriteriums auch auf die im Verlauf einer Untersuchung zu Tage geförderten Forschungsergebnisse auszudehnen. Verglichen mit klassischen positivistischen Forschungsdesigns bietet der Gebrauch des Prinzips einer pfadabhängigen Fallauswahl vor diesem Hintergrund eine bessere Gelegenheit, primär jene Fälle zu erkunden, die so wenig wie möglich in die Richtung von schon Bekanntem oder Vermutetem weisen. Indem es der allzu menschlichen Tendenz entgegenwirkt, das eigene implizite und explizite Vorverständnis oder auch Teilergebnisse einer laufenden Untersuchung vorschnell zu reproduzieren und zu reifizieren, ermöglicht das Prinzip einer pfadabhängigen Auswahl maximal kontrastierender Fälle die Analyse ausschließlich – in Anlehnung an ein unter Positivisten beliebtes Sprachspiel – „harter
4.4 Die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle
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Fälle“. Anders ausgedrückt: Das Fallibilitätspotential der gewählten Vorgehensweise wird so weiter gesteigert.24
4.4.1 Operationalisierung Um das gesteigerte Fallibilitätspotential auch realisieren zu können, bedarf das Kriterium einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle einer Verankerung auf der Ebene des konkreten Untersuchungsdesigns; es muss angemessen „operationalisiert“ werden. In erster Linie erfordert dies, Irritationen darüber zu vermeiden, entlang welcher Dimension die über die Fallauswahl entscheidenden maximalen Kontraste gebildet werden sollen. Daher soll die bislang nur angedeutete Grundregel des Vorgehens bei der Auswahl der zu erforschenden Fälle an dieser Stelle so unmissverständlich wie möglich expliziert werden. Sie besagt, dass der n+1te Fall einer Untersuchungsreihe unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Analyse des n-ten Falles so auszuwählen ist, dass zwischen dem als am relevantesten erachteten Teilergebnis der Analyse des n-ten Falles und dem n+1ten Fall, so wie er vorab auf der Grundlage konventionellen Wissens eingeschätzt werden kann, ein möglichst maximaler Kontrast besteht. Die Applikation des Kriteriums des maximalen Kontrasts ist also an zwei kritischen Punkten auf die Urteilsfähigkeit und die Konstruktionsleistung des Forschers angewiesen. In Anbetracht von dessen prinzipiellem Eingebundensein in die Diskursgemeinschaft seiner Disziplin lässt sich diese doppelte Unschärfe jedoch problemlos verantworten. Sowohl die Bewertung der „Relevanz“ der vorliegenden Teilergebnisse des n-ten als auch die Vorabeinschätzung der Charakteristika des n+1ten Falles sind keine privaten Meinungen, sondern immer an einen öffentlichen (Fach-) Diskurs zurückgebundene und im Einzelnen zu begründende Beurteilungen des Forschers. Letztlich geht es bei dieser Art der Fallauswahl also immer um kontingente Plausibilitätserwägungen innerhalb des Spektrums zwischen den Polen der Willkür und des Determinismus. Die Quellen zur Beurteilung der Resultate des vorliegenden und der Eigenschaften des potentiellen neuen Falles sind vielfältig. Sie reichen von den Alltagserfahrungen des Forschers auf Grundlage der Rezeption der Medien und des Austauschs mit Kollegen, über das Wissen und die Fertigkeiten, die ihm während seiner universitären Sozialisation vermittelt worden sind, bis hin zur Verarbeitung der Lektüre der wissenschaftlichen Fachliteratur. Auf der Folie dieses Faktorenensembles erfolgt die erforderliche Abwägung der Plausibilität der
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An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Bildung von Kontrasten konstitutiv für die sprachliche Strukturierung der Wirklichkeit zu sein scheint. Vgl. etwa George A. Miller (1995): Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Christine Fellbaum und Joachim Grabowski. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, S.223-244. Eine ähnliche Spur findet sich auch bei Freud, dem es „durch die zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprachforschers K. Abel“ gelang, seine Entdeckung, dass „ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten könne“ gattungsgeschichtlich als „eine Bestätigung unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Gedankenausdruckes im Traume“ zu verstehen. Abel hatte 1884 publiziert, dass es im frühen Ägyptisch, der ältesten damals bekannten Sprache, diverse Worte gegeben habe, die ein Ding und sein Gegenteil bezeichnet hätten. Vgl. Sigmund Freud (1999): Über den Gegensinn der Urworte, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII: Werke aus den Jahren 1909-1913. Frankfurt/M.: Fischer, S.214-221, hier: 214/15 und 221. Oevermann trägt diesen Intuitionen ebenfalls Rechnung, wenn er mit Blick auf die Auswahl der zu analysierenden Stellen größerer Texte das „Kriterium der maximalen Kontrastierung“ empfiehlt. Vgl. Ulrich Oevermann (2000): Fallrekonstruktion, S.97-100.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
zu treffenden Entscheidungen, so dass der gesamte Auswahlprozess idealerweise in die folgenden sieben Phasen unterteilt werden kann: i) ii) iii)
iv)
v) vi) vii)
Zusammenfassung der Teilergebnisse der Analyse des zuletzt untersuchten Falles, wohlbegründete Anordnung dieser Teilresultate nach ihrer Bedeutsamkeit in Anbetracht der Fragestellung, Formulierung eines möglichst maximalen Kontrasts zu jenem der Teilergebnisse, das als am relevantesten, d.h. zum Beispiel am interessantesten oder am überraschendsten, eingeschätzt wird, Betrachtung des Falluniversums im Lichte des eigenen Vorverständnisses der darin enthaltenen Fälle unter der Prämisse, den zuvor formulierten möglichst maximalen Kontrast zu realisieren, Benennung des für die nächste Analyse in Frage kommenden Falles oder der in Frage kommenden Fälle, wohlbegründete Entscheidung zugunsten des nächsten Falles, sowie schließlich Bestimmung eines für den neuen Fall möglichst konstitutiven Dokuments zum konkreten Gegenstand der Untersuchung inklusive einer Begründung auf der Basis des Vorverständnisses dieses Falles.
Nach der Analyse des auf diese Weise bestimmten n+1ten Falles beginnt die ganze Prozedur von neuem – im Grunde genommen solange bis der Forscher den Eindruck hat, eine angemessene Antwort auf die Forschungsfrage geben zu können. Konkret ist jedoch vorgesehen, nicht mehr als fünf Dokumente des Nordatlantikrats sequenzanalytisch zu erforschen. Ganz abgesehen davon, dass so ein „Ausufern“ des Umfangs der gesamten Untersuchung verhindert wird, ist es ja gerade die im dritten Kapitel konzeptualisierte Dialektik von Allgemeinem und Besonderem eines Falles, die es dem Forscher gestattet, weitreichende Fragen mithilfe der (extensiven) Analyse von verhältnismäßig wenig Material zu beantworten. Zum Abschluss der Operationalisierung sollen nun noch drei technische Details des Fallauswahlprozesses erörtert werden. Zum ersten sei darauf hingewiesen, dass sich die Perspektive auf die dem Falluniversum angehörenden makrohistorischen Fälle im Rahmen von dessen Betrachtung in der vierten der oben skizzierten Phasen immer wieder ändern kann. In Abhängigkeit von den während der zuvor durchgeführten Fallanalyse zu Tage geförderten Ergebnissen und dem auf dieser Grundlage gesuchten möglichst maximalen Kontrast können dabei von Mal zu Mal unterschiedliche Aspekte der potentiellen nächsten Fälle in den Vordergrund rücken. Da diese Aspekte mitunter erst im Lichte des gesuchten Kontrasts zu Bewusstsein kommen, hat es wenig Sinn, die verschiedenen Fälle bereits im Vorfeld der Untersuchung charakterisieren zu wollen. Aus diesem Grund ist es wohl am besten, wenn die Charakterisierung der Fälle bei jeder Auswahlprozedur immer wieder aufs Neue erfolgt. Um – zweitens – der Trennung eines Falles in die beiden Ebenen seines makrohistorischen Ganzen und die ihn konstituierenden Verlautbarungen des Nordatlantikrats gerecht zu werden, muss darüber hinaus zwischen der Auswahl eines Falles und der Auswahl des konkret zu analysierenden Dokuments unterschieden werden. Im Gegensatz zu dem mehrere Phasen durchlaufenden Prozedere der Fallauswahl beschränkt sich die Kür des zu untersuchenden Dokuments jedoch auf die vergleichsweise wenig komplexe Handlungsregel,
4.4 Die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle
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möglichst jene Verlautbarung des Rats auszuwählen, von der – gegebenenfalls unter Hinzuziehung des vorstehend erwähnten, im Zuge des Studiums der Ausgaben des Archivs der Gegenwart angelegten Datenkatalogs – begründet behauptet werden kann, dass sie sich gewissermaßen „im Zentrum“ des Falles befindet und diesen konstituiert. Im Falle der nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 ergriffenen Maßnahmen wäre dieses konstitutive Dokument wohl die Aktivierung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, im Fall Kosovo wahrscheinlich der Beschluss zur Aufnahme der Luftangriffe auf Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien.25 Die dritte Bemerkung zur Handhabung der Fallauswahl besteht schließlich darin, dass die Entscheidung darüber, welches das bedeutsamste, interessanteste oder am meisten überraschende Teilergebnis einer Fallanalyse ist, nicht impliziert, dass das als am zweitwichtigsten eingestufte Resultat keine Berücksichtigung im Prozess der Fallauswahl mehr findet. Es liegt im Ermessen des Forschers, einen neuen Untersuchungspfad einzuschlagen, der das zweitrelevanteste Teilergebnis eines Falles zum Ausgangspunkt hat, falls die Bedeutsamkeit der Resultate eines Falles nur geringfügig voneinander abweicht oder sobald der Verlauf der Untersuchung in eine Sackgasse gerät, weil die relevantesten Ergebnisse der Analyse von zwei Fällen so ähnlich sind, dass zweimal der gleiche Kontrast den Ausschlag für einen neuen Fall geben würde. Unter den zuletzt genannten Bedingungen ist es wahrscheinlich sogar ratsam, zu jenem Resultat des zuvor untersuchten Falles zurückzukehren, das als am zweitbedeutsamsten eingeschätzt wurde und von diesem ausgehend eine neue Fallreihe zu beginnen. Sollte die Untersuchung eines Falles mehrere besonders interessante Teilergebnisse hervorgebracht haben, so könnte es sich weiterhin als angemessen erweisen, auch die zweit- und drittrelevantesten Resultate heranzuziehen, wenn deren Bedeutung höher eingeschätzt wird als diejenige des wichtigsten Teilergebnisses des zuletzt untersuchten Falles.
4.4.2 Erörterung möglicher Einwände Zum Abschluss der Darstellung des Kriteriums einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle sollen nun noch kurz einige mögliche Einwände erörtert werden. Diese beziehen sich auf das Verhältnis zum regulativen Prinzip der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes, die (Nicht-)Berücksichtigung des Faktors Zeit, den Zusammenhang zwischen der Reihenfolge der Untersuchung und deren Ergebnissen, sowie auf den Vorwurf einer Verzerrung der Auswahl. Hinsichtlich des ersten dieser vier Punkte ist zu bemerken, dass sich die Zusammenstellung der Fälle mithilfe einer Vorabeinschätzung auf der Grundlage von konventionellem Wissen nicht im Widerspruch zu der im Abschnitt 3.3.2.4 dargestellten Interpretationsmaxime der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes befindet. Denn während sich dieses Prinzip auf das Vorgehen im Verlauf der Deutung eines vorliegenden Protokolls richtet, geht die Auswahl eines Falles dem Akt seiner Interpretation ja eindeutig voraus. Da der erläuterte Einstellungswechsel, im Zuge dessen von fallspezifischem Wissen zu abstrahieren ist, erst zu Beginn der Analyse des ausgewählten Falles oder Dokuments erfolgt, kön25 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Reduktion der Anzahl der zeitnah verfügbaren Daten infolge der Sperrung der Kommuniqués der Sitzungen des Nordatlantikrats auf Botschafterebene den Prozess der Auswahl des einen Fall konstituierenden Dokuments zusätzlich vereinfacht.
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
nen Vorkenntnisse auf der Ebene der Konstruktion einer Untersuchungsreihe also bedenkenlos zum Einsatz kommen. Zweitens könnte vorgebracht werden, dass der Faktor Zeit im Rahmen der Operationalisierung des Fallauswahlkriteriums nicht adäquat berücksichtigt wird und daher das Untersuchungsdesign Kontinuität und Stabilität gegenüber Wandel bevorzugt. Dieses Argument fußt auf der Idee, dass auch das Vorliegen von – prima vista – annähernd gleichen Fällen zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen maximalen Kontrast darstellt, dass also maximale Ähnlichkeit über Zeit ihrerseits einen maximalen Kontrast ausmacht. Gegen eine Berücksichtigung der Zeit als Kontrastfaktor soll hier jedoch angeführt werden, dass ein gravierendes Problem bei der Umsetzung dieser Überlegung darin bestehen würde, vorab festlegen zu müssen, wie viel Zeit vergangen sein muss, damit nahezu gleiche Fälle wiederum einen Kontrast bilden. Stattdessen dürfte gerade der Verzicht auf die Quantifizierung solcher Zeiträume der Vorstellung entsprechen, dass Veränderungen prinzipiell jederzeit möglich sind. Denn auch wenn im Rahmen der gewählten Vorgehensweise Aussagen über die historische Dimension eines Untersuchungsgegenstands – in der Sprache der objektiven Hermeneutik: über die Reproduktion und Transformation der Fallstruktur – erst getroffen werden können, nachdem alle Fallrekonstruktionen durchgeführt und ihre Ergebnisse mit Blick auf die zeitliche Abfolge der untersuchten Fälle abgeglichen worden sind, impliziert der entwickelte Analyserahmen doch keineswegs eine Favorisierung von Kontinuität gegenüber Wandel. Da eine Fallstruktur als beständig im Prozess ihrer Reproduktion oder Transformation begriffen wird, wird der Faktor Zeit also immer schon angemessen mitberücksichtigt.26 Mithilfe einer Bezugnahme auf die objektive Hermeneutik kann auch ein dritter möglicher Einwand abgeschwächt werden, jener nämlich, der einen Wirkungszusammenhang zwischen der durch das Fallauswahlkriterium bestimmten Reihenfolge und den Ergebnissen der Untersuchung postuliert. Aus dieser Überlegung könnte die Frage abgeleitet werden, ob und wieweit eine Veränderung des Auswahlkriteriums bzw. eine Veränderung der Reihenfolge der untersuchten Fälle zu anderen Ergebnissen führt. Mit einem solchen Einfluss wäre vor allem dann zu rechnen, wenn die Teilergebnisse der jeweiligen Fälle aufeinander aufbauen würden. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Wissen, das im Rahmen der Untersuchung eines Falles gewonnen worden ist, wird nicht auf die später analysierten Fälle übertragen; mit jeder weiteren Fallrekonstruktion beginnt der Interpretationsprozess wieder von neuem. Das Universum der Fälle wird gewissermaßen als ein zusammenhängender Text begriffen, aus dem einige Stellen herausgegriffen und unabhängig voneinander gedeutet werden. Im Laufe dieses Prozesses erzeugtes Wissen dient der Fallauswahl, nicht aber der Analyse. Dennoch dürfte sich das Gesamtergebnis als so stabil erweisen, dass es auch bei einer anderen Reihenfolge der untersuchten Fälle erzielt worden wäre.27 Ein viertes Argument gegen das Kriterium einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle könnte schließlich lauten, dass auch dessen hier vorgeschlagene Umsetzung eine Verzerrung der Auswahl nicht verhindert. Mindestens zwei 26
Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3.1. Eine Besonderheit bildet indes der Nordatlantikvertrag, der außerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums abgeschlossen und als der erste Fall der zu analysierenden Datenreihe vorab festgelegt worden ist. In Anbetracht seines besonderen Stellenwerts als „Gründungsurkunde“ des Bündnisses sollte es vertretbar sein, zumindest solche Teilergebnisse, die den Vertragszweck und die Mittel zu dessen Realisierung offen legen, gegebenenfalls mit in die Untersuchung der anderen Fälle einzubeziehen. 27
4.5 Fallbestimmung
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Varianten dieses Arguments sind denkbar. Die erste besagt, dass die Bildung möglichst maximaler Kontraste kontraproduktiv sei, da auf diesem Wege die Struktur der Auswahldimension reproduziert werde: Das Prinzip maximaler Kontraste kehre lediglich bestehende Ergebnisse in ihr Gegenteil um, anstatt sich ganz von ihnen zu emanzipieren. In eine ähnliche Richtung weist auch die zweite Variante. Sie lautet, dass die ausschließliche Auswahl von Fällen, die darauf abzielen, die Bedingungen des Untersuchungsprozesses zu erschweren, ihrerseits eine Verzerrung darstellt. Gegen das erste Argument kann wohl allenfalls vorgebracht werden, dass es möglicherweise eine „Glaubensfrage“ ist, ob die Fallibilität des Vorgehens nachhaltiger gesteigert wird, wenn ein Kontrast mittels der Verkehrung eines Ergebnisses in sein inhaltliches Gegenteil gebildet oder wenn dies auf dem Wege der Emanzipation von diesem Inhalt angestrebt wird. Gegen die zweite Variante könnte immerhin darauf verwiesen werden, dass die Verzerrung „zugunsten“ einer Erschwerung der Untersuchungsbedingungen vor allem als Tribut an subsumtionslogische Intentionen zu verstehen ist. Gänzlich zu entkräften sind die beiden Varianten des Vorwurfs einer Verzerrung der Auswahl somit nicht. Ähnlich wie die Frage nach dem Einfluss der Reihenfolge der Untersuchung auf deren Ergebnisse hängen sie eng mit dem Status von Fallauswahlkriterien zusammen. Idealerweise dienen diese allein dem Zweck, im Sinne eines inhaltlich neutralen Prinzips den Prozess der Auswahl der zu untersuchenden Fälle so anzuleiten, dass nicht behauptet werden kann, dabei würden gewisse Ergebnisse wahrscheinlicher gemacht als andere. Unter dieser Bedingung wäre es jedoch mehr oder weniger bedeutungslos, welche Fälle analysiert werden – und die Entscheidung über diese Frage könnte auch mithilfe der Ziehung einer Zufallsstichprobe getroffen werden. Wer nun aber gewillt ist, gegenüber dem puren (stochastischen) Zufall an der sinnlogischen Motivierung menschlichen Handelns festzuhalten und davon auch die Konstruktion einer sozialwissenschaftlichen Untersuchungsreihe nicht auszunehmen, der muss zwangsläufig in Kauf nehmen, dass eine nichtzufällige Fallauswahl zu Ungereimtheiten führen kann. Vor diesem Hintergrund stellt die starke Orientierung an einer Steigerung des Fallibilitätspotentials der hier vorgeschlagenen Vorgehensweise den Versuch dar, die Unzulänglichkeiten jeder Fallauswahl so wenig wie möglich zur Entfaltung kommen zu lassen.
4.5 Fallbestimmung Nach der Einrichtung der NATO als Untersuchungsgegenstand, der Skizze des Universums der Fälle und der Etablierung eines Kriteriums der Fallauswahl fehlt nun nur noch ein Detail, ehe mit der Durchführung der Sequenzanalysen begonnen werden kann. Dabei handelt es sich um die Fallbestimmung – die Fixierung jener Fallstruktur also, auf welche hin die jeweiligen Fälle untersucht werden sollen. Wie im vorstehenden Kapitel erwähnt, ist dieser Schritt von doppelter Bedeutung, da Protokolle sozialer Wirklichkeit zumeist mehr als nur eine Fallstruktur aufweisen und weil erst nach der Festlegung auf eine bestimmte Fallstruktur deutlich wird, welche Wissensbestände zum äußeren Kontext gehören und daher nach Möglichkeit nicht mit in die Interpretation einfließen sollten. Zur Bestimmung der relevanten Fallstruktur der zu untersuchenden Verlautbarungen des Nordatlantikrats kann unmittelbar an die zu Beginn von Abschnitt 4.1 eingeführte Kon-
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4. Vorgehensweise II: Von der objektiven Hermeneutik zur NATO
zeptualisierung der NATO als Struktur kollektiven Handelns angeschlossen werden.28 Das atlantische Bündnis wird also nicht als Akteur, sondern konsequent als Struktur aufgefasst. Solche Strukturen werden dabei ganz allgemein als sozial konstruierte Gegenstände verstanden, die, obwohl ideell, Wirkungen zeitigen, die letztlich ihre Bedeutung ausmachen. Denn da Strukturen in Form von Sinn- und Bedeutungsstrukturen aus Zeichen bestehen, die wechselseitig aufeinander verweisen, bedeuten auch Strukturen – wie alle Zeichen – ihre Wirkung.29 Die Entstehung solcher Strukturen kollektiven Handelns ist an das Vorliegen von Handlungsproblemen gebunden, die in der Regel den nicht-intendierten Folgen von intendierten Handlungen entspringen und von Individuen – einschließlich der politisch Verantwortlichen eines einzelnen Staates – nicht allein bewältigt werden können (oder sollen). Daher wenden sich die Betroffenen kollektiven Problemlösungsformen zu. Aus solchen gemeinsamen Lösungen sozialer Probleme emergieren dann Strukturen kollektiven Handelns. Im Grunde genommen können diese Strukturen somit auch als ein Satz von Handlungsregeln verstanden werden, die von Menschen geschaffen worden sind, um mit einem spezifischen Problem fertig zu werden. Der Begriff der Handlungsregel wird dabei jedoch sehr weit gefasst und beinhaltet grundlegende Überzeugungen, Selbst- und Weltverständnisse ebenso wie strategische Erwägungen; darüber hinaus sind Handlungsregeln nicht notwendig intentional repräsentiert, sondern können auch vor- oder unbewusst wirksam werden. Aus dieser Perspektive entpuppt sich das Rätsel der NATO als eine Frage nach der Bedeutung, die ihr als Problemlösungsinstanz zugeschrieben wird. Denn wenn Zeichen und Strukturen ihre Wirkung bedeuten, dann folgt daraus, dass sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der als NATO bezeichneten Struktur kollektiven Handelns nach dem Ende der Blockkonfrontation angemessen beantworten lassen müsste, indem jene Wirkungen in den Blick genommen werden, die von den in diese Struktur „eingeschriebenen“ Handlungsregeln ermöglicht werden. Daher bietet es sich an, die zu analysierenden Daten als Ausdruck der Handlungsregeln der höchsten Repräsentanten des atlantischen Bündnisses zu begreifen und mit Blick auf jene Handlungsprobleme zu interpretieren, welche die Schaffung dieser Regeln veranlasst haben könnten. Da Handlungsprobleme und Handlungsregeln potentiell in jeder Verlautbarung des Nordatlantikrats thematisch sind, sollten sich zentrale Bedingungen des Fortbestands der NATO schließlich auch in jedem solcher (Sprech-) Akte finden lassen.
4.6 Zusammenfassung Aufgrund ihrer kollektiven Verbindlichkeit werden die vom Nordatlantikrat als dem Quasigesetzgeber der Allianz veröffentlichen Dokumente hier als derjenige Datentyp angesehen, der sich aus (politik-) theoretischer und methodologischer Sicht am besten für eine Beantwortung der Forschungsfrage auf dem Wege einer Interpretation mithilfe der Verfahren der 28 Die folgenden Ausführungen gehen, wie der Ausdruck „Struktur kollektiven Handelns“ selbst, zurück auf: Ulrich Franke/Ulrich Roos (i.E.): Actor, structure, process: Transcending the state personhood debate by means of a pragmatist ontological model for International Relations theory, Review of International Studies. 29 Im Original findet sich die „pragmatistische Maxime“, derzufolge Zeichen ihre Wirkung bedeuten, in: Charles S. Peirce (1966): Selected Writings: values in a universe of chance. Edited by Philip P. Wiener. New York: Dover Publications, S.192; [1958].
4.6 Zusammenfassung
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objektiven Hermeneutik eignet. Dieser Datentyp verweist unmittelbar auf das dem Bündnis zuschreibbare – koordinierte, gemeinsame oder gemeinschaftliche – Handeln, das von den individuellen (Sprech-) Akten zu unterscheiden ist, die von den Vertretern der Mitgliedstaaten in ihrer „nur“ nationalen Rolle getätigt werden. Nach makrohistorischen Gesichtspunkten zusammengestellte Bündelungen solcher Dokumente des Nordatlantikrats bilden daher auch das Universum der Fälle, die für eine Detailanalyse in Frage kommen. Um dem Ziel einer Anpassung des Gebrauchs der Verfahren der objektiven Hermeneutik an makrosoziale Fragestellungen gerecht zu werden, empfiehlt es sich zugleich, mehr als nur einen Fall zu analysieren. Eine Untersuchung von fünf Fällen dürfte sowohl eine Steigerung der Gegenstandsadäquatheit des Forschungsprozesses als auch die Erfassung von Entwicklungen innerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums ermöglichen. Die Bestimmung der zu analysierenden Fälle erfolgt indes nicht vorab, sondern im Verlauf des Forschungsprozesses – mithilfe des Kriteriums einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle. Auf diese Weise könnte das Fallibilitätspotential der Vorgehensweise weiter gesteigert werden. Wenn nämlich das Teilergebnis des zuletzt analysierten Falles, das als am relevantesten oder spannendsten erachtet wird, möglichst maximal mit dem Fall kontrastiert, der als nächstes untersucht werden soll, dann dürfte dies die Chance steigern, dass sich das besonders relevante Teilergebnis des zuvor untersuchten Falles als fallibel erweist. Unter Berücksichtigung pragmatistisch inspirierter sozialtheoretischer Überlegungen erfolgte schließlich die so genannte Fallbestimmung. Anstatt den Forschungsgegenstand auf die Begrifflichkeiten einer der Theorien der Internationalen Beziehungen auszurichten, sind es kollektive Handlungsprobleme der NATO-Partner, die in den Blick genommen werden. Sie gelten als die relevante Fallstruktur, auf welche hin die ausgewählten Daten zu untersuchen sind. Im Rahmen der zu analysierenden Verlautbarungen des Nordatlantikrats sollten sich solche Handlungsprobleme ebenso aufspüren lassen wie die auf deren Lösung gerichteten Handlungsregeln der Verbündeten.
III. Durchführung der Untersuchung
5 Fall 1: Nordatlantikvertrag
5.1 Sequenzanalyse »The North Atlantic Treaty. Washington D.C. - 4 April 1949«1 Infolge des Fehlens von Prädikat und Objekt ist der erste Teil der ersten Sequenz sogleich als die Überschrift des zu analysierenden Dokuments auszumachen. Diese legt den Schluss nahe, dass es sich bei dem vorliegenden Schriftstück um den Nordatlantikvertrag handelt. Möglich wäre jedoch auch, dass wir es hier mit einem rechtswissenschaftlichen Kommentar, einer Sammlung von Rechtstexten oder irgendeiner sonstigen Arbeit zum Thema Nordatlantikvertrag zu tun haben. Die prägnante Kombination aus Titel, Ortsname und Datum zeigt an, dass der Nordatlantikvertrag am 4. April 1949 in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichnet worden ist. Selbst wenn sich das zu untersuchende Dokument in einer der Folgesequenzen nicht als der Nordatlantikvertrag selbst herausstellen sollte, dürfte es wohl dennoch sehr starke Bezüge auf ihn enthalten. Daher ist es gerechtfertigt, bis auf weiteres davon auszugehen, dass es sich bei dem vorliegenden Schriftstück um den Nordatlantikvertrag handelt. Im Lichte einer Differenzierung zwischen vergemeinschaftetem und vergesellschaftetem Handeln erzeugt die Kürze der Überschrift eine sehr eigentümliche Spannung, aus der sich mit Blick auf den Status und den Gegenstand des Vertrages sowie hinsichtlich der Form des von ihm geschaffenen politischen Gebildes und der Rechtsstellung seiner Konstituenten zwei gegenläufige Deutungsmöglichkeiten ergeben. Vor deren Darstellung empfiehlt es sich jedoch, die Sequenzanalyse an dieser Stelle kurz zugunsten einer Erläuterung der Charakteristika vertraglichen Handelns zu unterbrechen.
Exkurs: Vertragliches Handeln2 Um die empirische Geltung von Verträgen erklären zu können, ohne in einen infiniten Regress zu geraten, bedarf es, wie bereits Emile Durkheim feststellte, einer diesen Verträgen äußerlichen Geltungsquelle gemeinsamer Solidarität; die Geltung eines Vertrages mithilfe eines vorgelagerten Vertrages begründen zu wollen, erwiese sich spätestens dann als ungeeignet, wenn es um die Geltung des ersten Vertrages am Anfang dieser Ableitungskette ginge. Worin aber könnte ein funktionales Äquivalent dieser „nonkontraktuellen Elemente 1 »Der Nordatlantikvertrag. Washington D.C., 4. April 1949«; die deutsche Übersetzung folgt zumeist dem Wortlaut, der 1955 aus Anlass des Beitritts der Bundesrepublik im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden ist. Die folgende Analyse basiert auf Anregungen, die der Autor im Frühjahr 2004 im Rahmen des Ständigen Forschungspraktikums von Prof. Oevermann an der Goethe-Universität Frankfurt/M. erhalten hat. 2 Bei diesem Exkurs handelt es sich um einen leicht geänderten Auszug aus einer Seminararbeit, die der Autor gemeinsam mit Benjamin Herborth an der Goethe-Universität Frankfurt/M. verfasst hat. Da sein Inhalt zu den (fallunspezifischen) sozialtheoretischen Grundüberzeugungen des Autors gehört, erhöht es die Transparenz des Vorgehens, die Leser möglichst früh damit vertraut zu machen.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
kontraktuellen Handelns“ im Bereich der Politik bestehen? Die rationalistische Alternative einer Rechtsgeltung durch vorgelagerte Rechtsgeltung muss implizit voraussetzen, dass ein Bürger, der sich den Rechtsnormen „seines“ Landes unterwirft, dies nur auf der Grundlage der genauen Kenntnis dieser Rechtsnormen tun wird. De facto bedarf die Geltung des Strafrechts jedoch nicht einer – schon praktisch gar nicht zu bewältigenden – exakten Unterrichtung eines jeden Staatsbürgers über seine genauen Rechte und Pflichten. Als Bürgerinnen und Bürger halten wir uns selbstverständlich an Recht, das wir nicht kennen, akzeptieren es sogar dann als legitim, wenn es mit den Stimmen jener Parteien verabschiedet worden ist, die wir nicht gewählt haben. Im Anschluss an die Rechtssoziologie Oevermanns können diese außerrechtlichen Grundlagen der Rechtsgeltung als „politische Vergemeinschaftung“ bezeichnet werden. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Kategorie lässt sich erklären, wie Rechtsnormen empirische Geltung entfalten und warum die hinsichtlich ihrer Präferenzen bei einer Wahl unterlegenen Bürgerinnen und Bürger nicht fluchtartig emigrieren, sondern die Rechtssetzungsakte der politischen Gegner zum Maßstab ihres Handelns machen. In steter Abgrenzung zum Gegenbegriff der Vergesellschaftung verweist der Topos der politischen Vergemeinschaftung auf eine lange Geschichte in der theoretischen Soziologie. So entwickelte Ferdinand Tönnies, der neben Max Weber und Georg Simmel maßgeblich an der Institutionalisierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin in Deutschland beteiligt war, auf seiner Suche nach einer Antwort auf das „Hobbesianische Problem der Ordnung“ bereits in seiner 1887 publizierten Habilitationsschrift ein analytisches Konzept zweier sich hinsichtlich ihrer Motivierung kategorial unterscheidenden Formen menschlichen Zusammenschlusses. Tönnies unterschied strikt zwischen „Gemeinschaft“, der Sphäre des natürlichen und unreflektierten „Wesenswillens“, die ein Handeln aus innerem, affektivem Antrieb kennzeichne, auf der einen Seite und „Gesellschaft“, der Sphäre des künstlichen und kalkulierten „Kürwillens“, in der sich das Handeln an äußeren Zielen orientiere, auf der anderen. Stärkere Allgemeingültigkeit beanspruchend, den Gehalt dieses Begriffspaares jedoch nicht wesentlich erweiternd, schied Max Weber gut zwei Jahrzehnte später den von einem subjektiv gefühlten, affektuellen oder traditionellen Zusammengehörigkeitsgefühl der Handelnden konstituierten Prozess der „Vergemeinschaftung“ von dem einer auf wert- oder zweckrational motivierten Handlungen basierenden „Vergesellschaftung“. Gestützt auf Emile Durkheim, Talcott Parsons und eine umfassende Konstitutionstheorie brachte Ulrich Oevermann die beiden Begriffe dann in ein Bedingungsverhältnis: „Gemeinschaft“ als Verkörperung von zweckfreier Reziprozität rekurriere auf jene sich vor allem in der Familie und dem notwendig demokratisch verfassten Nationalstaat realisierende Sittlichkeit, die das vergesellschaftete Handeln, zum Beispiel in Form von Verträgen, überhaupt erst ermögliche. In den diffusen Sozialbeziehungen einer „Gemeinschaft“ als Kollektiv ganzer Personen trage derjenige die Beweislast, der ein Thema ausschließen möchte, während sie in der auf spezifische Beziehungen reduzierten „Gesellschaft“ als Kollektiv von Rollenträgern bei demjenigen liege, der ein Thema zu behandeln wünscht. Das Paradebeispiel für eine zweckgerichtete Vergesellschaftung stellt der ökonomische Austausch dar, der in seiner genuinen Form immer auf die wechselseitige Erlangung eines beim jeweiligen Tauschpartner als überschüssig vorhanden vermuteten Gutes abzielt. Entscheidend für einen fruchtbaren Gebrauch des Begriffspaares ist es jedenfalls, eine dualistische Verkürzung zu vermeiden und Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung als Pole
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5.1 Sequenzanalyse
eines Kontinuums zu verstehen, das genügend Raum für mannigfaltige empirische Zwischenformen lässt.3 *** Setzen wir die Sequenzanalyse fort mit der vor der Unterbrechung angekündigten Ausbuchstabierung der zwei gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten des Wortzeichens Nordatlantikvertrag. Sofern er unmittelbar auf das Modell des Zivilvertrages verweist, wird der Ausdruck Vertrag (»Treaty«) zum Ausgangspunkt für eine Untersuchung des vorliegenden Dokuments unter dem Aspekt von Vergesellschaftung. Für den Zivilvertrag als Idealtyp vergesellschafteten Handelns ist charakteristisch, dass sich die Vertragsparteien unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um Einzelpersonen, Unternehmen oder Staaten handelt, stets auf einen bereits bestehenden formellen Rechtsrahmen beziehen müssen. Mit diesem Rekurs auf geltendes Recht korrespondiert die außervertragliche Stiftung der Geltungsgründe des Zivilvertrages durch jene Formen von Vergemeinschaftung, die Durkheim als nichtkontraktuelle Elemente kontraktuellen Handelns bezeichnet. Die Quelle der Bindung an die getroffene Vereinbarung ist notwendig eine externe, da sie allein durch den Vollzug einer Praxis, nicht aber durch einen vorgelagerten Vertrag konstituiert worden sein kann, dessen Geltung dann entweder unter Verweis auf metaphysische Hilfsannahmen oder abermals mit der Existenz eines – noch weiter – vorgelagerten Vertrages begründet werden müsste, wodurch die Ableitungskette unweigerlich in einen infiniten Regress münden würde. Alles vergesellschaftete Handeln setzt somit eine funktionierende Vergemeinschaftung als Träger des geltenden Rechts und als Quelle seiner Geltung schon immer voraus. Es verbleibt im Bereich der Zweckrationalität, konstituiert keine eigenständige Praxis oberhalb der Ebene der Vertragsparteien und erlegt den Akteuren daher auch keine Einschränkung ihres autonomen Handlungsspielraumes oder Abgabe ihrer Souveränität auf. Angesichts der hierarchischen Gliederung des öffentlichen Rechts findet die Konzeptionalisierung von internationalen Verträgen nach dem Muster von Zivilverträgen gleichwohl darin einen Grund, dass auf diesem Wege der Gleichheit der Partner besser Rechnung getragen werden kann. Gleichzeitig weist die Überschrift allerdings auch Merkmale auf, die nicht mit dem allein aus dem Wortzeichen Vertrag abgeleiteten Vergesellschaftungszusammenhang zwischen den Teilnehmern am Nordatlantikvertrag in Einklang zu bringen sind. So ist es für das breite Spektrum von expliziten4 Zivilverträgen, das von Miet- und Kaufverträgen zwischen Bürgern, über Fusionsverträge zwischen Wirtschaftsunternehmen bis hin zu Handelsverträgen zwischen Staaten reicht, eher untypisch, dass die Unterzeichner des Vertrages nicht in der Überschrift angeführt werden. Ein weiteres Argument gegen das Vorliegen 3 Vgl. Emile Durkheim (1999): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp (3. Auflage); Ferdinand Tönnies (1991): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (3. Auflage) und Max Weber (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr (5. Auflage). In einem Brief an seinen Sohn hat Tönnies 1934 übrigens eine Mitverantwortung für die unheilvolle Karriere des von ihm geprägten Begriffs Gemeinschaft im faschistischen Europa übernommen. Von der Unverzichtbarkeit eines geläuterten Konzepts der Gemeinschaft für die sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung überzeugt, werden die Begriffe Gemeinschaft und Vergemeinschaftung im Folgenden ebenso synonym verwendet wie die Worte Gesellschaft und Vergesellschaftung. 4 Von einer Berücksichtigung impliziter Zivilverträge wie sie zum Beispiel beim Betreten eines Geschäfts zwischen Verkäufer und Käufer entstehen, kann hier abgesehen werden.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
eines dem Modus vergesellschafteten Handelns entsprechenden Zivilvertrages resultiert schließlich aus dem Nichtenthaltensein eines Vertragszwecks in der Überschrift. Dass diese mit dem Nordatlantik vielmehr eine ganze Region unter dem Gesichtspunkt ihrer Totalität thematisiert, impliziert, dass die Vertragspartner nicht einen ganz bestimmten Zweck oder eine sich hinsichtlich ihrer Umsetzung in zweckrationalen Mitteln erschöpfende Absicht verfolgen, sondern dass sie ein zentraleres, etwa die Abgabe von Souveränität an eine höhere Instanz erforderndes vergemeinschaftendes Anliegen miteinander teilen könnten. Entgegen der Bezeichnung durch die an seinem Zustandekommen beteiligten Akteure wäre der Nordatlantikvertrag unter dieser Bedingung allerdings kein bloßer Vertrag im eigentlichen zivilrechtlichen Sinne, sondern ein vergemeinschaftender Akt, gewissermaßen das Gründungsdokument einer Vertragsgemeinschaft. Diese Möglichkeit einer Vertragsgemeinschaft wirft zwei Anschlussfragen auf. Die erste lautet, welche Bestandteile der Erdoberfläche zum Nordatlantik gezählt werden; die zweite, welche Ansatzpunkte für eine historisch entstandene Gemeinschaft in der nordatlantischen Region bestehen. Da der zur Namensgebung ausgewählte geographische Begriff ein Meer bezeichnet, also ein nicht besiedeltes und zumindest auf den ersten Blick auch trennendes Gebiet5, kommen als Unterzeichner des Nordatlantikvertrages in erster Linie wohl die Anrainer dieses Meeres in Betracht. Der Name des Vertrages würde sich somit auf einen Raum beziehen, zu dessen Konstitution sich die politischen Repräsentanten seiner Bewohner in einem historisch kontingenten Akt zusammengefunden haben. Hierfür spricht auch, dass der Begriff »Treaty« im Englischen politischen Entitäten vorbehalten ist, während vertragliche Vereinbarungen zwischen Individuen und Wirtschaftsunternehmen mit dem Ausdruck »Contract« bezeichnet werden. Wenn es sich bei den Signataren des Nordatlantikvertrages also um Vertreter von mit aggregierter Souveränität ausgestatten Entitäten handelt, kann unter der Bedingung einer zusätzlichen Berücksichtigung des in der Sequenz enthaltenen Datums »4 April 1949« die Annahme getroffen werden, dass deren historische Erscheinungsform der Nationalstaat ist, der, einer weit verbreiteten „Deutung“ nach, seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (1648) die höchste politische Ebene ausmacht. In jedem Falle erfordert eine Antwort auf die beiden Fragen, die sich im Anschluss an eine Lesart des vorliegenden Dokuments als Vertragsgemeinschaft ergeben haben, zunächst einmal eine Auslegung des Wortzeichens Nordatlantik. Da es sich bei diesem um einen indexikalischen Ausdruck in Form eines geographischen Eigennamens handelt, der so gut wie keine Anhaltspunkte für eine immanente Rekonstruktion bietet, sind, um diese Indexikalität zu füllen, ein Blick auf Globus und Karten, das systematische Nachschlagen in Geschichts- und Geographiebüchern oder der Rückgriff auf eigene Vorkenntnisse an dieser Stelle nicht nur erlaubt, sondern geboten.6 Dabei erweist sich, dass die Benennung der Be5
Auf den zweiten Blick ist jedoch durchaus Hegel zuzustimmen, der empfiehlt, Ströme und Meere „als vereinend“ zu betrachten; zwar sei man „gewohnt, das Wasser als das Trennende anzusehen“, aber nichts vereinige so sehr „als das Wasser, denn die Länder sind nichts als Gebiete von Strömen.“ Weiter schreibt er: „Nur Gebirge trennen. … Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte. Das Meer lädt den Menschen zur Eroberung, zum Raub, aber ebenso zum Gewinn und zum Erwerbe ein.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1999): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp (5. Auflage), S.115-118. 6 Vgl. Abschnitt 3.3.2.4. Zur Füllung der Indexikalität Nordatlantik wurden die folgenden Quellen herangezogen: Ernst Neef (Hg.) (1981): Das Gesicht der Erde. Thun und Frankfurt/M.: Verlag Harri Deutsch; dtv-Lexikon in 20 Bänden (1995). Mannheim: Deutscher Taschenbuch Verlag; Der Große Ploetz (1998). Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge. Freiburg: Herder (32. Auflage); Der große Atlas Weltge-
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standteile der Erdoberfläche, die zum Nordatlantik gezählt werden, von mindestens drei Aspekten abhängig ist. Dies sind i) die Lokalisierung der Südgrenze des Nordatlantik, ii) die Behandlung der Nebenmeere und iii) die Berücksichtigung von möglichen Veränderungen der Grenzen und Namen von Territorien seit dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Hinsichtlich der südlichen Begrenzung des Nordatlantik finden sich zwei Möglichkeiten. Die gebräuchlichere besteht in einer Zweiteilung des Atlantischen Ozeans entlang des Äquators in Nord- und Südatlantik. Darüber hinaus kommt es jedoch, wenngleich seltener, auch vor, dass der Atlantik mithilfe der beiden Wendekreise in drei Teile aufgespaltet wird: In den Nordatlantik, das Gebiet im Norden des nördlichen Wendekreises, den Zentralatlantik, das Gebiet zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendekreis, und den Südatlantik, das Gebiet im Süden des südlichen Wendekreises. Zu den – allesamt auf der nördlichen Erdhalbkugel gelegenen – Nebenmeeren des Atlantischen Ozeans zählen das Amerikanische Mittelmeer, also das Karibische Meer und der Golf von Mexiko, das Nordamerikanische Schelfmeer einschließlich des St. Lorenz-Golf, die Hudsonbai, das Europäische Mittelmeer einschließlich Marmarameer und Schwarzem Meer, Nord- und Ostsee, die Irische See, der Ärmelkanal sowie das Nordpolarmeer, das auch Arktischer Ozean genannt wird. Vor diesem Hintergrund ergeben sich nun mindestens vier Kombinationen der Darstellung des Spektrums potentieller Mitglieder einer nordatlantischen Vertragsgemeinschaft.7 Dieses Spektrum könnte bestehen aus i) den Nordatlantikanrainern im Norden des nördlichen Wendekreises ohne Nebenmeere, ii) denjenigen nördlich des Äquators ohne Nebenmeere, iii) denjenigen im Norden des nördlichen Wendekreises mit Nebenmeeren und schließlich auch aus iv) den Nordatlantikanrainern nördlich des Äquators mit Nebenmeeren. Am kleinsten wäre der Kreis der potentiellen Mitglieder der Vertragsgemeinschaft im Falle einer Definition des Nordatlantik als das Gebiet im Norden des nördlichen Wendekreises ohne eine Berücksichtigung der Nebenmeere. Er enthielte Kanada, das zu Frankreich gehörende St. Pierre und Miquelon vor Neufundland, die Vereinigten Staaten von Amerika, (die Nordhälfte von) Mexiko, die Bermudas (zum Vereinigten Königreich) und die Bahamas (bis 1973 britisch), das heutige Marokko (unabhängig seit 1956) und die seit 1979 von marokkanischen Truppen besetzte Westsahara, zur Zeit des Vertragsabschlusses also französisches und spanisches Hoheitsgebiet auf dem afrikanischen Kontinent, Madeira und die Azoren (beide zu Portugal), die Kanaren (spanisch) sowie Portugal, Spanien und Frankreich, die Britischen Inseln, Island und Grönland (zu Dänemark). Eine maximalistische Lesart des Begriffs Nordatlantik umfasste dagegen das ganze Gebiet nördlich des Äquators einschließlich der Nebenmeere. Entsprechend kämen in diesem Falle zu den oben genannten Territorien noch die folgenden hinzu: die gesamten Westindischen Inseln, also die Großen Antillen – Kuba, Haiti, die Dominikanische Republik, Puerto Rico (1898 von den USA annektiert, seit 1952 assoziiert) und Jamaika (bis 1962 britisch) – sowie die Kleinen Antillen, d.h. vor allem Inseln, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch zum britischen Hoheitsgebiet gehörten wie Trinidad und Tobago (bis schichte (1990). München: Orbis und Diercke Weltatlas (1992). Braunschweig: Westermann (3. Auflage). Keinesfalls soll damit jedoch einem geographischen Objektivismus das Wort geredet werden: Eine begründete Umdeutung geographischer Begriffe durch die Vertragspartner wäre ein völlig legitimer Vorgang. 7 Im Falle einer – allenthalben politisch motivierten – Ungleichgewichtung der Nebenmeere wären noch mehr Kombinationen möglich; das europäische Mittelmeer, jedoch nicht die Karibik und den Golf von Mexiko, die Nordsee, aber nicht die Ostsee zum (Nord-)Atlantik zu zählen, bürdete den Vertragsgründern allerdings eine immense Begründungslast auf.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
1962), Barbados (bis 1966), Grenada (bis 1974), Dominica (bis 1978), St. Lucia (bis 1979), St. Vincent und die Grenadinen (bis 1979), Antigua und Barbuda (bis 1981) sowie St. Kitts und Nevis (bis 1983), aber auch die Cayman-Inseln (nach wie vor britisch), die Jungferninseln (zu den USA) sowie Guadeloupe und Martinique (zu Frankreich), Curaçao (niederländisch) und andere. Darüber hinaus kämen hinzu: Belize (bis 1981 britisch), Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama, der nördliche Teil von Südamerika – Kolumbien, Venezuela, Guyana (bis 1966 britisch), Surinam (bis 1975 niederländisch), Französisch-Guayana und Brasilien –, aber auch die Insel São Paulo am Äquator (zu Brasilien), Liberia sowie die britischen, französischen, spanischen und portugiesischen Hoheitsgebiete in Nordwestafrika zwischen dem nördlichen Wendekreis und dem Äquator, also Guinea (bis 1958 französisch), Mauretanien, Senegal, die Elfenbeinküste, Benin, Kamerun und Gabun (sämtlich bis 1960 französisch), Togo (bis 1960 zum Vereinigten Königreich und Frankreich), Ghana (bis 1957 britisch), Nigeria (bis 1960 britisch), Sierra Leone (bis 1961 britisch), Gambia (bis 1965 britisch), Guinea-Bissau (bis 1974 portugiesisch), Äquatorialguinea (bis 1968 spanisch) sowie die Kapverdischen Inseln und São Tomé e Príncipe (beide bis 1975 zu Portugal). Die Aufzählung komplettieren: Färöer (zu Dänemark), Jan Mayen, Spitzbergen und die Bären-Inseln (sämtlich zu Norwegen), Belgien und die Niederlande, Deutschland, d.h. die kurz vor der Wiedererlangung von (Teil-) Staatlichkeit stehenden alliierten Besatzungszonen, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Polen und die Sowjetunion (seit 1991: Russland, Estland, Lettland, Litauen, die Ukraine und Georgien), Rumänien, Bulgarien und die Türkei, Griechenland, Albanien und Jugoslawien (seit 1991: Slowenien und Kroatien, seit 1992: Bosnien-Herzegowina und seit 2006: Montenegro), Italien und Libyen (bis 1951 italienisch), Malta und Zypern (bis 1964 bzw. 1960 britisch) sowie Syrien, Libanon, Israel, Ägypten und der Gaza-Streifen (zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu Ägypten) sowie Tunesien und Algerien (bis 1956 bzw. 1962 französisch). Nachdem der Kreis der potentiellen Konstituenten einer nordatlantischen Vertragsgemeinschaft auf diesem Wege zwar nicht eindeutig bestimmt, aber doch zumindest eingegrenzt werden konnte, rückt nun die zweite der oben aufgeworfenen Fragen ins Zentrum der Diskussion. Sie lautet: Welche Ansätze einer historisch entstandenen Gemeinschaft bestehen in der nordatlantischen Region? Infolge der Benennung nach einem Meer kommen auf der Suche nach den Berührungspunkten zwischen den Partnern des Nordatlantikvertrages zunächst natürlich Schifffahrt und Fischerei in Betracht. Beide Aspekte vermögen den gewählten Titel ob dessen weitreichender Implikationen jedoch kaum zu rechtfertigen; im Falle eines solch spezifischen Vertragsgrundes wäre eine Formulierung der Gestalt North Atlantic Treaty for Naval Transport oder for Fisheries allemal angemessener gewesen. Wie zuvor schon angedeutet müssen die bestehenden Gemeinsamkeiten zentralerer Art sein und von ihrer Substanz her auf ein übergeordnetes Ziel verweisen. Daher erscheint es höchst ratsam, nach den historischen Verbindungslinien zwischen den möglichen Vertragspartnern Ausschau zu halten. Bezogen auf den kleinstmöglichen Kreis der potentiellen Signatare des Nordatlantikvertrages, der wie gesehen aus Kanada, den Vereinigten Staaten, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Irland, Island und Dänemark (Grönland) sowie den faschistischen Diktaturen Portugal und Spanien bestehen würde, reichten Ansätze einer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung von der jüdisch-christlichen Kultur und dem Okzident über den Kapitalis-
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mus als Wirtschaftsform bis hin zur Auswanderung in die USA und umfassten zwar nicht die Demokratie, aber doch wesentliche Teile der historischen Tradition, aus der die Demokratie hervorgegangen ist. Durch die recht unspezifische geographische Bezeichnung, die prinzipiell alle Anrainer des Atlantischen Ozeans und seiner Nebenmeere nördlich des Äquators einschließt, würde dieser Vorrat an Gemeinsamkeiten allerdings nur sehr mittelbar bezeichnet. Vor dem Hintergrund des nur sehr geringen zeitlichen Abstands der Vertragsunterzeichnung zum Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnet sich auf der Suche nach den historischen Verbindungslinien zwischen den Atlantikanrainern indes noch eine weitere Deutungsmöglichkeit. Da die Kriegshilfe der USA im Wesentlichen über den Nordatlantik nach Europa gelangte, wäre es möglich, die Benennung des vorliegenden Dokuments nach diesem Meeresteil als sinnlogisch motiviert anzusehen. Zur Zeit des Vertragsabschlusses könnte der nördliche Atlantik den potentiellen Signataren wohl in erster Linie als Symbol für die transatlantische Kooperation in den Weltkriegen und deren Fortsetzung gegolten haben. Die Namensgebung des Nordatlantikvertrages nach einem geographischen Kriterium könnte somit auf das Wirken der Alliierten in den Weltkriegen zurückgeführt werden. »The Parties to this Treaty«8 Zunächst einmal wird durch diese Sequenz ermöglicht, das vorliegende Schriftstück anhand des Demonstrativpronomens »this« als Nordatlantikvertrag zu bestimmen. Es ist dieser Vertrag selbst, der hier untersucht wird, und nicht ein Kommentar, eine Auslegung oder eine sonstige Form von Sekundärliteratur, die sich auf ihn bezieht. Darüber hinaus wird an dieser Stelle die im Rahmen der Analyse der Überschrift zu Tage getretene ambivalente Grundstruktur reproduziert. Denn während sich in der Verwendung des Ausdrucks Parteien (»Parties«) neuerlich die juristische Orientierung am zivilrechtlichen Vertragsmodell manifestiert, verweist die Formulierung »Parties to this Treaty« im Sinne eines Beitritts zu einem politischen Vertrag abermals auf die Konstitution einer Vertragsgemeinschaft auf der internationalen Ebene. Infolge dieser Verschachtelung enthalten beide Auslegungen jedoch „inkonsistente“ Elemente, die in hohem Maße erklärungsbedürftig, aber nicht aufzulösen sind. So stellt das Wortzeichen Parteien zur Kennzeichnung der Beteiligten unter der Bedingung einer in Anspruch genommenen Logik von Vergemeinschaftung eine Unstimmigkeit dar, die durch die Wahl von angemesseneren Begriffen wie Partner, Mitglieder oder Akteure relativ leicht zu umgehen gewesen wäre. Zwar wird der Begriff Parteien hier getreu seiner lateinischen Bedeutung als Teile oder Geteilte im Sinne von Rechtssubjekten gebraucht, für die eine existente Rechtsgemeinschaft als Bedingungsrahmen dafür konstitutiv ist, dass sie überhaupt untereinander Verträge schließen können. Die Anhaltspunkte für den Vollzug eines vergemeinschaftenden Gründungsaktes konterkarieren nun aber wiederum die aus der Verwendung des Begriffs Parteien abgeleitete Variante einer Vergesellschaftung im Modus des Zivilvertrages, indem sie den Eindruck erwecken, als werde das Fundament einer solchen Rechtsgemeinschaft gerade erst gelegt. Die Figur des Beitritts zu einer Vertragsgemeinschaft ist jedoch politischen Verträgen vorbehalten und nicht mit klassischen Zivilverträgen kompatibel.9 Diese sind dadurch ge8
»Die Parteien dieses Vertrags«.
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kennzeichnet, dass es zu einem Abschluss zwischen verschiedenen Interessenparteien kommt, der einen Beitritt Dritter ausschließt. Bei politischen Verträgen kann indes nicht von Parteien gesprochen werden, weil die dabei als Bindungsquelle in Anspruch genommene übergeordnete Rechtsgemeinschaft erst im Moment des Vertragsabschlusses formell gestiftet wird. Aufgrund dieser vergemeinschaftenden Seite folgen politische Verträge nie nur der Logik von Vergesellschaftung, sondern reichen stets in die Sphäre von Vergemeinschaftung hinüber. Sie bedeuten immer eine Art Fusion ihrer Konstituenten, die für gemeinsame Zielsetzungen eintreten und sich bei deren Realisierung gegenseitig unterstützen. Die Partner eines Vergemeinschaftungsvertrages machen sich somit voneinander abhängig, indem sie sich wechselseitig – antiquiert ausgedrückt: in ihrem Schicksal – aneinander binden. Es stehen also weiterhin zwei schwer vereinbare Deutungsmöglichkeiten des Nordatlantikvertrages nebeneinander; auf der einen Seite die Lesart eines Vergesellschaftungszusammenhanges, die zurückzuführen ist auf den zivilvertraglichen Duktus, d.h. den Gebrauch von eindeutig das Modell klassischer Zivilverträge indizierenden Wortzeichen und auf der anderen Seite die Lesart einer Vergemeinschaftung, die aus der Bedeutungsstruktur der spezifischen Verwendung dieser Wortzeichen abgeleitetet werden kann. »reaffirm«10 Im Sinne einer erneuten Bekräftigung markiert das Verb »reaffirm« den Rückgriff auf eine Tradition und dient auf diesem Wege der sprachlichen Erzeugung von Kontinuität. Ein derart expliziter Hinweis auf eine zwischen den Vertragschließenden bestehende Vergemeinschaftung wäre zu Beginn eines Zivilvertrages allerdings höchst verwunderlich, da Zivilverträge kennzeichnet, dass der Bedingungsrahmen einer intakten Rechtsgemeinschaft nur stillschweigend als Geltungsquelle in Anspruch genommen wird. Da die Wahl des Wortzeichens »reaffirm« darüber hinaus viel eher auf einen Stiftungsakt als auf den Abschluss einer Vereinbarung zur Stipulation eines Rechtsgeschäftes hindeutet, kann die Lesart des Nordatlantikvertrages als eines reinen Zivilvertrages ohne Vergemeinschaftungsimplikation nun vernachlässigt werden. Im Anschluss an den Hinweis auf das Vorliegen eines Beitrittsvertrages in der Vorsequenz sowie den doppelten Verzicht auf eine Erwähnung der Vertragspartner und des Vertragszwecks zugunsten der schlichten geographischen Bezeichnung Nordatlantikvertrag in der Überschrift erfährt die These der Existenz eines Vergemeinschaftungszusammenhanges dagegen eine weitere Stärkung. Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Rückgriff auf die Form des Vertrages zur Konstitution eines Vergemeinschaftungszusammenhanges mit der Behauptung in Einklang zu bringen ist, dass die Sozialform einer Gemeinschaft nicht auf einen bewusst gestalteten Vertrag zurückgeht, sondern vermittels der objektiv vorhandenen Sittlichkeit gleichsam „immer schon“ da ist und im Unterschied zu Gesellschaft stets an eine konkrete historische Praxis gebunden ist. Zur Auflösung dieses Spannungsverhältnisses, ist es zunächst erforder-
9 An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, dass die Aufnahme in einen (Sport-)Verein auch einen Beitritt zu einer Vertragsgemeinschaft darstellte. Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, dass (Sport-)Vereine konkrete (Vereins-)Zwecke verfolgen und somit höchst spezifisch sind. Ihrer Tendenz nach konstituieren Vereine also einen Vergesellschaftungszusammenhang – gerade wenn ihr Zweck Geselligkeit zu sein vorgibt. 10 »bekräftigen erneut«.
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lich, jene Anzeichen zurückzuverfolgen, die auf einen bereits bestehenden Vergemeinschaftungsvorlauf zwischen den Vertragspartnern hindeuten. Neben der Nichtnennung der Unterzeichnerstaaten im Vertragstitel, woraus auf einen gewissen Grad an Bekanntschaft und Vertrauen zwischen den Signataren geschlossen werden kann, spricht vor allem das Verb »reaffirm« dafür, dass sich die Vertragschließenden bereits vor der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages faktisch in einer Vergemeinschaftung miteinander befunden haben. Dieser sprachliche Rekurs auf einen bereits bestehenden Vorrat an Gemeinsamkeiten gibt den Blick frei auf die Dialektik des Vorlaufs von Gründungsakten, für die konstitutiv ist, dass das Gestiftete schon vor dem formalen Vollzug seiner Begründung vorgelegen haben muss. Am besten lässt sich die Dialektik des Vorlaufs vermutlich am Beispiel der Verfassungsgebung auf nationaler Ebene veranschaulichen. Die Partikulare der Verfassunggebenden Versammlung erkennen sich ihren Status als autonome Bürger durch einen selbstbezüglichen, Vollzugscharakter tragenden Gründungsakt gegenseitig zu und werden somit in einen rechtlichen Zustand versetzt, den sie aufgrund ihres autonomen politischen Handelns schon vor der formalen Verabschiedung der Verfassung faktisch besessen haben. Mit dem Gründungsakt erhalten sie auch formalrechtlich den Status, den sie sich durch ihre Praxis bereits genommen und material gefüllt hatten. Sofern das Moment der Stiftung oder Gründung als ein Akt der Vergemeinschaftung mit langem Vorlauf begriffen und nicht unter das zivilrechtliche Vertragsmodell subsumiert wird, ist es möglich, den Abschluss des Nordatlantikvertrages im Sinne der Logik Verfassunggebender Versammlungen zu verstehen und das vorliegende Dokument als Stiftungsoder Gründungsurkunde einer Vergemeinschaftung oberhalb der Ebene des Nationalstaates zu deuten. Die an der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages beteiligten autonomen Nationalstaaten treten Anteile ihrer Souveränität an eine höhere Ebene ab und begehen so einen Akt der Vergemeinschaftung, der bei Handelsverträgen nicht oder in nur sehr viel geringerem Umfang vollzogen wird. Die Absorption von Souveränität der Beteiligten ist konstitutiv für die Bildung einer Vergemeinschaftung oberhalb der Ebene von Nationalstaaten und die Entstehung von Praxisformen auf dieser aggregierten Ebene. Jede Praxis muss über Souveränität verfügen, da sie sonst keine Praxis wäre. Reine Handelsverträge konstituieren keine Souveränität oberhalb der Ebene der vertragschließenden Parteien und bilden somit auch keine eigenständigen Praxisformen. Neben der entscheidenden Weichenstellung zugunsten der Lesart des Nordatlantikvertrages als formaler Begründung einer Vergemeinschaftung rückt der Gebrauch von »reaffirm« jedoch auch die Frage in den Vordergrund, an welche gemeinsame Praxis die Signatare konkret anzuknüpfen vorgeben. Diese Spannung wird noch dadurch erhöht, dass die Vertragspartner den Vorlauf ihrer Vergemeinschaftung hier nicht nur bekräftigen, sondern dies sogar erneut tun.11 Im Anschluss an die Spekulationen über den Grund der Bezeichnung des Kontraktes als Nordatlantikvertrag und aufgrund der Außeralltäglichkeit dieser Erfahrungen erscheint es weiterhin recht plausibel, dass sich die Partner hier auf ihre Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg beziehen. 11
Im Englischen mag die Differenz im Gebrauch der Verben »reaffirm« und »affirm« nicht besonders groß sein; ein Blick in die französische Version des Vertrages, die neben der englischen allein volle Gültigkeit beanspruchen kann, zeigt jedoch, dass es den Partnern in der Tat darum gehen muss, etwas erneut zu bekräftigen. Auch dort heißt es nämlich: »Les Etats au présent Traité, réaffirmant…«. An eine tendenziell synonyme Verwendung von »réaffirmer« und »affirmer«, wie sie vielleicht für das Englische in Anschlag gebracht werden könnte, ist im Französischen aber nicht zu denken. Die keine volle Gültigkeit beanspruchende deutsche Fassung (»bekräftigen erneut«) erweist sich somit als dem Buchstaben und dem Geiste nach richtig übersetzt.
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Diese Lesart wirft unterdessen zwei miteinander verflochtene Probleme auf. Das erste besteht in einem Missverhältnis zwischen der Gruppe der alliierten Kooperationspartner des Weltkrieges und dem Kreis der potentiellen Mitglieder einer nordatlantischen Gemeinschaft, das zweite in der Unvereinbarkeit der (erneuten) Bekräftigung eines folglich schon eine gewisse Dauer bestehenden Vergemeinschaftungszusammenhangs mit der Versöhnung von Kriegsgegnern, die sich knappe vier Jahre zuvor noch in dem bis dato verheerendsten Krieg der Weltgeschichte gegenübergestanden haben. Die sich auf die Atlantikanrainer im Norden des nördlichen Wendekreises ohne Nebenmeere beziehende, kleinstmögliche aller vier oben genannten Kombinationen von Anwärtern auf eine Mitgliedschaft in einer nordatlantischen Vertragsgemeinschaft umfasste – den noch nicht von der Dekolonialisierung geprägten Verhältnissen des Jahres 1949 entsprechend – zwar nur neun Staaten; mit Kanada, den Vereinigten Staaten, Frankreich und dem Vereinigten Königreich waren davon jedoch lediglich vier aktiv an der alliierten Kooperation im Zweiten Weltkrieg beteiligt. Irland, Spanien und Portugal waren offiziell neutral geblieben, während das am 9. April 1940 von deutschen Truppen besetzte Dänemark seit August 1943 vom Bevollmächtigten des Deutschen Reiches regiert wurde und Island, seit dem 1. Dezember 1918 nur noch in Personalunion mit Dänemark verbundenes unabhängiges Königreich, ab April 1940 von US-amerikanischen und britischen Truppen besetzt war, ehe es am 17. Juni 1944 unabhängige Republik wurde. Erwartungsgemäß verschärft sich diese Diskrepanz noch unter den Bedingungen einer maximalistischen Lesart der nordatlantischen Region. Einerseits erführen die Staaten der einstigen Anti-Hitler-Koalition durch das Hinzutreten der Sowjetunion, die das erweiterte nordatlantische Kriterium aufgrund ihrer Lage an Nordpolarmeer, Ostsee und Schwarzem Meer gleich dreifach erfüllte, zwar eine substantielle Stärkung, andererseits gehörten nun mit den einstigen Achsenmächten Deutschland (Nord- und Ostsee) und Italien (Mittelmeer) sowie deren ehemaligen Verbündeten Rumänien, Bulgarien (Schwarzes Meer) und Finnland (Ostsee) auch frühere Kriegsgegner zu den möglichen Partnerländern. Prinzipiell, und dies leitet über zum zweiten der genannten Folgeprobleme, beinhaltet jeder freiwillige Zusammenschluss von in sich autonomen Nationalstaaten zu einer neuen Vergemeinschaftung auch die Möglichkeit einer Beteiligung von Staaten, die früher miteinander verfeindet waren. Der Verweis auf eine lange gemeinsame Tradition ist dafür also keine Voraussetzung. Sofern die Feindseligkeiten erst kurze Zeit zurückliegen – und eingedenk der unermesslichen Schrecken des Zweiten Weltkrieges, der Gräuel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, fällt es schwer, vier Jahre nicht als eine kurze Zeitspanne anzusehen –, wäre die (erneute) Bekräftigung eines Vergemeinschaftungszusammenhanges zwischen den Widersachern des Zweiten Weltkrieges allerdings ein zumindest überraschender Vorgang. Es ist daher nicht auszuschließen, dass hier der Versuch unternommen wird, der zu begründenden Vertragsgemeinschaft mithilfe des Wortzeichens »reaffirm« eine alte historische Wurzel zu verleihen, die, vorsichtig formuliert, nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen ist. Lautete die entsprechende Formulierung im Vertragstext dagegen nicht »reaffirm«, sondern bloß »affirm«, offenbarte sich dieses Problem vielleicht eine Nuance schwächer; an seinem Kern änderte dies indes nichts. Für den Fall, dass die Partner der nordatlantischen Gemeinschaft dennoch über einen weit in die Vergangenheit reichenden Vorrat an Gemeinsamkeiten, über eine bewährte gemeinsame Praxis verfügen würden, setzte dies spiegelbildlich vermutlich den systematischen Ausschluss der Kriegsgegner des Zweiten Weltkrieges aus dem Kreis der potentiellen
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Partnerländer voraus. Dies führte jedoch zu der Frage, warum der Vertrag überhaupt nach dem Nordatlantik benannt worden ist, wenn einige der Anrainer per se von einer Mitgliedschaft ausgenommen wären; denn dass sich mit dem Signifikanten Nordatlantik nie nur die alliierte Kooperation, sondern immer auch ein Ort der kriegerischen Auseinandersetzungen und damit die Erinnerung an die Kriegsgegner verbindet, dürfte den potentiellen Unterzeichnern wohl bekannt gewesen sein. »their faith«12 Diese ihrer Tendenz nach religiöse Formulierung suggeriert, dass es sich bei der Vereinigung der Signatarstaaten des Nordatlantikvertrages nicht um einen reinen Interessenverbund, sondern um eine Vergemeinschaftung auf der Basis geteilter Überzeugungen handelt, die über den Bereich der Zweckrationalität hinausweist. »in the purposes and principles of the Charter of the United Nations«13 Streng genommen hat der Terminus Vereinte Nationen (»United Nations«) eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnet ein semantisches Gebilde, das als Prädikat immanent ausgelegt werden kann und einen Eigennamen. Dieser wird durch das groß geschriebene »U« angezeigt. Ob die Nationen wirklich vereint sind, spielt dabei keine Rolle, da es sich – wie beim Heiligen Vater – um eine Selbstbezeichnung handelt.14 Die immanente Auslegung des Wortzeichens Vereinte Nationen fördert zu Tage, dass der Ausdruck auf ein seiner Tendenz nach globales Bündnis verweist, das durch keine geographischen oder ideologischen Kriterien eingegrenzt ist. Es umfasst somit prinzipiell alle Gebilde mit dem Merkmal, eine Nation zu sein, also zum Beispiel keine sozialen Bewegungen, Wirtschaftsunternehmen, Verbände oder Nichtregierungsorganisationen. Hieße der Verbund stattdessen Die Vereinten Nationen, so ginge mit dieser Spezifizierung durch den bestimmten Artikel eine deutliche Einschränkung seiner Reichweite einher; denn in bewusster Abgrenzung von anderen Vereinten Nationen könnte sich einen solchen Namen auch ein Bündnis geben, das nur aus zwei Partnern bestünde. Dem Begriff Nation kommen derweil vor allem zwei Bedeutungen zu. Vor der Französischen Revolution bezeichnete er eine Vergemeinschaftung von Personen desselben Stammes, eine Art landsmannschaftlicher Vereinigung also. Demgegenüber kennzeichnet der Begriff nach 1789 vornehmlich eine ständische Differenzen aufhebende Vergemeinschaftung von im Prinzip Gleichen, die ein gemeinsames Territorium teilen, an dasselbe Herrschafts- und Rechtssystem gebunden sind und sich daher eine Verfassung geben. Seit der Französischen Revolution verweisen die Begriffe Nation und Verfassung unmittelbar aufeinander. Denn da ein solcher Verbund nun nicht länger willkürlich und exklusiv sein kann, drängen die Konstituenten einer Nation fortan nach einer Verfassung, die ihrer Ten12
»ihren Glauben«. »an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen«. Beim Vorliegen von Eigennamen ist der objektive Hermeneutiker ebenso auf das Heranziehen des äußeren Kontextes angewiesen wie bei indexikalischen Ausdrücken. Da sich die Bedeutung des Signifikanten Vereinte Nationen anders als bei klassischen Eigennamen auch immanent rekonstruieren lässt, soll hier dieser Weg beschritten werden; inwieweit Politikwissenschaftler dabei von dem zu abstrahieren vermögen, was sie gleichsam „immer schon“ über die Vereinten Nationen wissen, steht vielleicht auf einem anderen Blatt, einen Versuch ist es gleichwohl wert. Zur Problematik eines solchen Einstellungswechsels vgl. auch Abschnitt 3.3.2.4.
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denz nach demokratisch und inklusiv ist. Entsprechend erfolgt die explizite Legitimation im Namen von Gerechtigkeit, die jedem Herrschaftssystem von den Beherrschten abverlangt wird, seither zumeist mithilfe einer – in der Regel geschriebenen – Verfassung.15 Die Satzung der Vereinten Nationen stellt das Analogon zur Verfassung einer Nation dar. Den partikularen Subjekten einer Nation im Sinne der Französischen Revolution vergleichbar, konstituieren auch die Vereinten Nationen eine Gemeinschaft der Selbstbindung; denn wie der Bürger seine Handlungsfreiheit innerhalb einer nationalen Vergemeinschaftung nicht aufgeben kann und seine Rechtsautonomie gerade durch seine (Selbst-)Bindung garantiert wird, so erhält auch der sich in einem Bündnissystem bindende souveräne Staat dafür im Austausch von den Partnern die Zusicherung seiner eigenen Souveränität zurück. Wer sich bindet und die Rechte der anderen achtet, dessen Rechte werden auch von den anderen anerkannt. Jede (Ver-)Einigung zwischen Staaten beruht auf der unbedingten gegenseitigen Achtung der Souveränität der sich (Ver-)Einigenden. Die Souveränität einer Nation erwächst also im Außenverhältnis auf der Grundlage ihrer Legitimität. Geradezu erzwungen wird von dieser Dialektik aus internationaler Vereinigung und wechselseitiger Souveränitätsachtung das Verbot von Angriffskriegen. Folgerichtig ist es auch das erste der Ziele und Grundsätze (»purposes and principles«) der Satzung der Vereinten Nationen (Art. 1 Abs. 1), auf die in dieser Sequenz verwiesen wird, und kann als der materiale Grund für eine in sich globale Vereinigung von Staaten angesehen werden.16 Im Zusammenhang interpretiert ist es also ihr Glaube an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen, den die Mitglieder der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft hier erneut bekräftigen. Diese Äußerung bedarf zweifellos einiger Erläuterungen. Da die Verabschiedung der Satzung der Vereinten Nationen im Juni 1945 zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages erst knapp vier Jahre zurücklag, sind es zunächst die möglichen Implikationen der Verwendung des Verbs »reaffirm«, die nun erneut in den Blickpunkt rücken. Angesichts der Kürze der Zeitspanne, auf die sich die Signatare damit beziehen können, scheidet die Beschwörung einer tief in der Vergangenheit wurzelnden Vergemeinschaftung auf der Basis geteilter Überzeugungen und Werte aus; es sei denn, sie wollten das Vorliegen einer solchen bloß vortäuschen oder täuschten sich diesbezüglich selbst.17 Indem die Partner ihre Zustimmung nicht in Form der Bestätigung einer rechtlichen Bindung oder politischen Loyalität ausdrücken, sondern in einen Akt des Glaubens verwandeln, drohen hier zudem die Ziele und Grundsätze der UN-Charta zu einem quasireligiösen Bekenntnis überhöht und somit ihrer Vernunftbegründbarkeit beraubt zu werden.
15 Vgl. Stefan Kutzner (1997): Die Autonomisierung des Politischen im Verlauf der Französischen Revolution. Fallanalysen zur Konstituierung des Volkssouveräns. Münster et al.: Waxmann. 16 Die Ächtung von Angriffskriegen erweist sich also als eine Verpflichtung auf der Grundlage von Souveränität; deren wechselseitige Achtung impliziert, keinen Krieg gegeneinander zu führen und sich einander nicht in die inneren Angelegenheiten einzumischen. Zumindest formal tritt auch der Diskurs über die Menschen- und Bürgerrechte hinter die Achtung der Souveränität zurück. Gleichwohl wird zur Rechtfertigung einer – vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht gebilligten – militärischen Intervention in einem der Missachtung von Grundrechten beschuldigten Mitgliedstaat meist auf die Menschenrechte als einer übergeordneten Souveränitätsinstanz verwiesen. Eine solche Kollision zwischen der Pflicht zur Einhaltung des Angriffskriegsverbots und der Pflicht zur Wahrung der Menschenrechte wirft immer häufiger die Souveränitätsfrage auf; hierin besteht heute eine beständige Herausforderung der internationalen Politik. 17 Diese Lesart ist jedoch hoch spekulativ und bedürfte aufgrund der Aufrichtigkeitsregel, die in Bezug auf jedes zu interpretierende Dokument bis auf weiteres uneingeschränkt gilt (vgl. Abschnitt 3.3.2.1), einiger zusätzlicher Evidenz.
5.1 Sequenzanalyse
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Schließlich könnte die Frage aufgeworfen werden, aus welchem Grund sich die Unterzeichner der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft überhaupt an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen binden. Formal erinnert die Bezugnahme auf die UN-Charta zwar an ein gängiges Muster der angelsächsischen Rechtstradition, demzufolge die Geltung von Rechtsnormen (gerade in Ermangelung einer mit effektiver Durchsetzungsmacht ausgestatteten übergeordneten Instanz) durch deren wiederholte Bekundung und Anwendung aufrechterhalten wird. Dies erklärt jedoch noch nicht, warum sich die Konstituenten einer – zumindest aufgrund ihrer Namensgebung – regional begrenzten Vergemeinschaftung im Rahmen des Akts der formellen Begründung ihres Zusammenschlusses zu den Prinzipien einer bereits bestehenden globalen Gemeinschaft bekennen; im Kern geht es in dieser Sequenz also um das Verhältnis von politischen Vergemeinschaftungen oberhalb der nationalstaatlichen Ebene. Unter der Bedingung, dass ein solches Verhältnis nicht frei von Spannungen ist, erscheint nun auch das ambivalente Nebeneinander von Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsmerkmalen des Nordatlantikvertrages, das sich zu Beginn der Analyse zeigte, als motiviert. Weniger durch das Wortzeichen »Treaty« (Vertrag) als vielmehr mithilfe des Ausdrucks »Parties« (Parteien), der für das Modell klassischer Zivilverträge typisch ist, hätte dem Abschluss des Nordatlantikvertrages der Anschein eines Rechtsgeschäfts im Rahmen der Rechtsgemeinschaft der Vereinten Nationen verliehen und damit die nordatlantische Gemeinschaft kurzerhand in eine Gesellschaft verwandelt werden sollen. Wie gesehen scheiterte dieser Versuch jedoch daran, dass sich die Hinweise auf eine Lesart des im Entstehen begriffenen politischen Gebildes als einer Vergemeinschaftung als zwingender erwiesen haben; die bisherigen politischen Implikationen des Textes waren bereits zu weitreichend, um als Anzeichen eines Vergesellschaftungszusammenhanges gelten zu können. Doch kehren wir zurück zu der Aufgabe einer sinnlogischen Motivierung des Bekenntnisses der Partner des Nordatlantikvertrages zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Nachdem uns der Verweis auf die Gepflogenheiten des angelsächsischen Rechts nicht entscheidend weiterführte, besteht ferner die Möglichkeit, die Bezugnahme auf die UN-Charta als Reaktion auf Anforderungen zu verstehen, die sich aus der Charta selbst herleiten lassen oder zumindest von den Signataren des Nordatlantikvertrages aus ihr hergeleitet worden sein könnten. Da die Satzung der Vereinten Nationen innerhalb des hier zu untersuchenden Textes erwähnt worden ist, ist es unter methodologischen Gesichtspunkten zulässig, d.h. mit dem regulativen Ideal der Nichteinbeziehung des äußeren Kontextes vereinbar18, die UN-Charta an dieser Stelle des Forschungsprozesses auf entsprechende Anschlussmöglichkeiten hin zu untersuchen. Eine solche Untersuchung lenkt den Blick auf die Artikel 52-54 der Satzung der Vereinten Nationen – das Kapitel VIII über Regionale Abmachungen (»Regional Arrangements«).19 Darin geht es um die Legitimität von regionalen Institutionen und ihre Rolle im 18
Vgl. Abschnitt 3.3.2.4. In Kapitel VIII der Charta der Vereinen Nationen heißt es: Article 52. (1) Nothing in the present Charter precludes the existence of regional arrangements or agencies for dealing with such matters relating to the maintenance of international peace and security as are appropriate for regional action provided that such arrangements or agencies and their activities are consistent with the Purposes and Principles of the United Nations [Diese Charta schließt das Bestehen regionaler Abmachungen oder Einrichtungen zur Behandlung derjenigen die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten nicht aus, bei denen Maßnahmen regionaler Art angebracht sind; Voraussetzung hierfür ist, dass diese Abmachungen oder Einrichtungen und ihr Wirken mit den
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Rahmen der Wahrung von Frieden und Sicherheit auf der internationalen Ebene. Sofern sie mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar sind (Art. 52 Abs. 1), können sie noch vor einem Tätigwerden des Sicherheitsrats zur friedlichen Beilegung lokaler Konflikte beitragen (Art. 52 Abs. 2). Vor diesem Hintergrund ist es daher nicht unplausibel, dass die Partner des Nordatlantikvertrages ihre Vereinigung als regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der UN-Charta begreifen. Das geographische Kriterium der Namensgebung und die Bekräftigung des Glaubens an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen könnten dann als der Versuch gedeutet werden, diesen Anspruch auch nach außen deutlich zu machen und die Erfüllung der entsprechenden Forderungen der UN-Charta wirksam unter Beweis zu stellen. Offen bleibt jedoch, warum sich die Konstituenten der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft nicht explizit auf Artikel 52 berufen, wenn sie ihren Zusammenschluss als regionale Abmachung nach Kapitel VIII der UN-Charta verstehen bzw. verstanden wissen wollen. Darüber hinaus wird auf der Ebene des Verhältnisses zwischen den beiden beteiligten politischen Vergemeinschaftungen vor allem die Frage nach der Verteilung der Kompetenzen aufgeworfen. Wann sind, um eine Formulierung der Charta aufzugreifen, Maßnahmen regionaler Art angebracht (Art. 52 Abs. 1) und wer entscheidet darüber? In Kenntnis von Kapitel VIII verbietet sich zwar die Behauptung, dass die Partner des NordatlantikverZielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar sind]. (2) The Members of the United Nations entering into such arrangements or constituting such agencies shall make every effort to achieve pacific settlement of local disputes through such regional arrangements or by such regional agencies before referring them to the Security Council [Mitglieder der Vereinten Nationen, die solche Abmachungen treffen oder solche Einrichtungen schaffen, werden sich nach besten Kräften bemühen, durch Inanspruchnahme dieser Abmachungen oder Einrichtungen örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen, bevor sie den Sicherheitsrat damit befassen]. (3) The Security Council shall encourage the development of pacific settlement of local disputes through such regional arrangements or by such regional agencies either on the initiative of the states concerned or by reference from the Security Council [Der Sicherheitsrat wird die Entwicklung des Verfahrens fördern, örtlich begrenzte Streitigkeiten durch Inanspruchnahme dieser regionalen Abmachungen oder Einrichtungen friedlich beizulegen, sei es auf Veranlassung der beteiligten Staaten oder auf Grund von Überweisungen durch ihn selbst]. (4) This Article in no way impairs the application of Articles 34 and 35 [Die Anwendung der Artikel 34 und 35 wird durch diesen Artikel nicht beeinträchtigt]. Article 53. (1) The Security Council shall, where appropriate, utilize such regional arrangements or agencies for enforcement action under its authority. But no enforcement action shall be taken under regional arrangements or by regional agencies without the authorization of the Security Council, with the exception of measures against any enemy state, as defined in paragraph 2 of this Article, provided for pursuant to Article 107 or in regional arrangements directed against renewal of aggressive policy on the part of any such state, until such time as the Organization may, on request of the Governments concerned, be charged with the responsibility for preventing further aggression by such a state [Der Sicherheitsrat nimmt gegebenenfalls diese regionalen Abmachungen oder Einrichtungen zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmen auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden; ausgenommen sind Maßnahmen gegen einen Feindstaat im Sinne des Absatzes 2, soweit sie in Artikel 107 oder in regionalen, gegen die Wiederaufnahme der Angriffspolitik eines solchen Staates gerichteten Abmachungen vorgesehen sind; die Ausnahme gilt, bis der Organisation auf Ersuchen der beteiligten Regierungen die Aufgabe zugewiesen wird, neue Angriffe eines solchen Staates zu verhüten]. (2) The term enemy state as used in paragraph 1 of this Article applies to any state which during the Second World War has been an enemy of any signatory of the present Charter [Der Ausdruck Feindstaat in Absatz 1 bezeichnet jeden Staat, der während des zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war]. Article 54. The Security Council shall at all times be kept fully informed of activities undertaken or in contemplation under regional arrangements or by regional agencies for the maintenance of international peace and security [Der Sicherheitsrat ist jederzeit vollständig über die Maßnahmen auf dem laufenden zu halten, die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen getroffen oder in Aussicht genommen werden]. Vgl. http://www.un.org/aboutun/ charter/index.html (29.05.2007).
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trages keinen materialen Grund für eine gesonderte Vereinbarung gehabt haben können, wenn ihre Handlungsvorhaben in vollem Umfang von der UN-Charta gedeckt gewesen wären; Kompetenzstreitigkeiten zwischen zwei Vergemeinschaftungen auf der internationalen Ebene können aber wohl auch dann nicht ausgeschlossen werden, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Schaffung der einen (regional begrenzten, subsidiären) von der anderen (übergreifenden, globalen) gedeckt ist. Die Konstituenten der nordatlantischen Gemeinschaft könnten sich hinter der Betonung der Harmonie ihrer Beziehungen zu den Vereinten Nationen also auch gut verstecken, um von ungeklärten Kompetenzfragen zwischen beiden Zusammenschlüssen abzulenken oder um ihre Legitimität zu erhöhen und ihre Partikularinteressen in ein besseres Licht zu rücken. Ungeachtet ihrer möglichen Legitimation durch Kapitel VIII der Satzung der Vereinten Nationen birgt eine solche Errichtung einer Gemeinschaft in der Gemeinschaft die Gefahr einer Abstufung der übrigen UN-Mitglieder zu unzuverlässigen Mitläufern und der Etablierung eines Selbstbilds der Unterzeichner des Nordatlantikvertrages als Avantgarde der Vereinten Nationen. Mit anderen Worten: Bringen die Partner mit der erneuten Bekräftigung der Ziele und Grundsätze der UN-Charta nicht auch zum Ausdruck, dass sie deren Verwirklichung in ihrem Kreis am besten aufgehoben wissen? Drohen sie nicht ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen zu transzendieren, indem sie eine zusätzliche Vergemeinschaftung gründen, die sich in einem – zumindest latenten – Konkurrenzverhältnis zu den Vereinten Nationen befindet und deren Stellung als das wichtigste Organ der Weltpolitik unterminieren könnte? Wie die gesamte Diskussion des Verhältnisses zwischen den Partnern des Nordatlantikvertrages und den Vereinten Nationen unter dem Aspekt eines inhärenten Konflikts zwischen zwei politischen Vergemeinschaftungen auf der internationalen Ebene mögen auch die zuletzt formulierten Fragen in einem sehr dezidierten und gewissermaßen eher kontinentaleuropäischen denn angelsächsischen Verständnis der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft gründen und daher sehr viel Angriffsfläche bieten; die wohl größte Fraglichkeit dieser Sequenz bleibt jedoch unberührt von der Überlegung, mit welchen soziologischen Begrifflichkeiten die politischen Gebilde Nordatlantikvertrag und Vereinte Nationen am besten erfasst werden können. Gemeint ist die nach wie vor noch nicht hinreichend erfolgte sinnlogische Motivierung der erneuten Bekräftigung des Glaubens der Signatare des Nordatlantikvertrages an die Ziele und Grundsätze der UN-Charta. Die erneute Bekräftigung von etwas setzt zwingend eine erste Bekräftigung voraus, während diese erste Bekräftigung ihrerseits zur Voraussetzung hat, dass die Sprecher ihre Zustimmung zu derselben Angelegenheit zuvor schon einmal artikuliert haben müssen. Noch bevor sie ihren Kontrakt unterzeichnet und sich damit überhaupt erst als Struktur kollektiven Handelns auf der internationalen Ebene konstituiert haben, müssen die Partner des Nordatlantikvertrages ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen also bereits zweimal öffentlich zum Ausdruck gebracht haben. Dies lässt sich auf zwei Weisen deuten. Die strengere Lesart lautet, dass die Mitglieder des Nordatlantikvertrages in ihrem Bestreben, keine Bedenken an ihrer Wertschätzung der UN-Charta aufkommen zu lassen, unfreiwillig in Kauf nehmen, gebetsmühlenartig und unsouverän zu wirken und somit überhaupt erst die Zweifel an der Lauterkeit ihrer Motive säen, die sie doch unbedingt vermeiden wollten. Die freundlichere Lesart besteht darin, dass sich die Partner in Bezug auf ihr Verhältnis zu der übergeordneten internationalen Vergemeinschaftung der Vereinten Nationen hohem Legitimationsdruck ausgesetzt sehen
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
oder von Dritten hohem Legitimationsdruck ausgesetzt werden. Daraus folgt, dass es auf der Ebene der internationalen Politik einflussreiche Kräfte geben muss, die der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft nicht angehören. Die Außenstehenden könnten Zweifel an der Legitimität oder Notwendigkeit des Nordatlantikvertrages hegen oder durch dessen Abschluss negative Auswirkungen auf die Vereinten Nationen fürchten und den Signataren daher die Anerkennung des Vorrangs der UN-Charta abverlangen. In jedem Fall zeugt das erneute Glaubensbekenntnis an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen von einem gewissen Hang zur Überängstlichkeit; als Quelle potentieller Irritation bleibt das formal von Komplementarität, material dagegen eher von Konkurrenz gekennzeichnete Verhältnis der Partner des Nordatlantikvertrages zu den Vereinten Nationen daher unter Beobachtung. »and their desire to live in peace with all peoples and all governments.«20 Diese Sequenz erhärtet die oben getroffenen Prämissen. Bislang stellt der Nordatlantikvertrag primär eine Wiederholung der UN-Charta dar, die in ihrer notwendigen Motiviertheit sowohl auf ein avantgardistisches Selbstverständnis als auch auf noch nicht spezifizierte Absichten der Beteiligten, mutmaßlich auf der Ebene der Kompetenzen ihres Zusammenschlusses, zu verweisen geeignet ist. Wie schon die erneute Bekräftigung des Glaubens (»faith«) an die Satzung der Vereinten Nationen in der Vorsequenz, so markiert nun auch der sich dazu redundant verhaltende Wunsch (»desire«) nach Frieden eine eher fundamentalistisch-religiöse denn rationale Begründung der Bindung an die avisierte Zielsetzung. »They are determined to safeguard the freedom, common heritage and civilisation«21 Weniger durch das unspezifizierte Wortzeichen Freiheit (»freedom«), das zunächst nicht erkennen lässt, wovon oder wozu das zugehörige Subjekt frei ist, als durch den Verweis auf ein gemeinsames Erbe (»common heritage«) wird hier eine wertmäßige Bindung unter den Vertragspartnern bezeugt. Dass es sich bei diesem gemeinsamen Erbe nicht um ein materielles Vermögen im engeren Sinne, sondern in erster Linie um ein geistiges Gebilde handelt, wird in Zusammenhang mit dem Ausdruck Zivilisation (»civilisation«) klar, der sich von der lateinischen Bezeichnung eines Bürgers der römischen Republik (cive) ableitet und seither zur Kennzeichnung einer beständigen „Sophistizierung“ von Lebensweise und Sitten gebraucht wird. Als Grundlage dieser Entwicklung gilt dabei zumeist die Verbesserung der Lebensbedingungen, die von einer zunehmenden Beherrschung der Natur in Form von Wissen und Technik ermöglicht wird. Entsprechend besteht die Dialektik des Zivilisationskonzepts nicht nur in einer Entfremdung von naturverbundenen Lebensformen, sondern auch in einer übersteigerten Abgrenzung von anderen Gesellschaften oder sozialen Gruppen, deren Verunglimpfung als „unzivilisiert“ oder „kulturlos“ selbst barbarische Folgen zeitigen kann. Die Partikulare des Nordatlantikvertrages berufen sich in dieser Sequenz offenbar auf die Traditionen des einstmals so genannten Abendlandes. Sie beanspruchen damit für sich die Autonomie des Subjekts in Form der Freiheit des Bürgers und komplementär dazu den modernen demokratisch verfassten Nationalstaat, die beide im Prozess der Säkularisierung 20 21
»und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben.«. »Sie sind entschlossen, (zu gewährleisten) die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation«.
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aus der monotheistischen Überlieferung hervorgegangen und zuerst auf dem Boden der griechischen und jüdisch-christlichen Tradition entstanden sind. »of their peoples,«22 Dass die Bündnispartner entschlossen (»determined«) sind, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker (»their peoples«) zu gewährleisten (»to safeguard«), verdeutlicht, dass es sich bei ihnen um Staaten bzw. Herrschaftsverbände handelt, also um Gebilde, die mit Souveränität ausgestattet sind; Schifffahrtsgesellschaften oder andere private Wirtschaftsunternehmen könnten dagegen niemals von ihren Völkern sprechen. In Anbetracht dieser um Distinktion bemühten Formulierung gewinnt jene Lesart an Plausibilität, derzufolge sich die Unterzeichner des Nordatlantikvertrages für eine Art Avantgarde innerhalb der Vereinten Nationen halten, die einen gesonderten Vertrag miteinander abschließen, weil ihnen die Weltorganisation zur Erfüllung der in der Vorsequenz skizzierten Aufgabe nicht geeignet erscheint. Darüber hinaus birgt das Auftreten als deren selbsternannte Protagonisten das Risiko, dass die Partner der nordatlantischen Gemeinschaft die Vereinen Nationen auf diesem Wege in die Realisierung einer weiterreichenden Agenda zu verwickeln beabsichtigen. »founded on the principles of democracy, individual liberty and the rule of law.«23 Zu der zuvor bekundeten Entschlossenheit zur Bewahrung des gemeinsamen Erbes zählen die Vertragspartner hier ganz explizit die Grundsätze der Demokratie (»principles of democracy«), also vor allem die Kombination aus Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz als Ausweis des modernen Staates, die Freiheit der Person (»individual liberty«) in Form der Grundrechte, sowie das Vorhandensein von Rechtsstaatlichkeit (»rule of law«) auf der Grundlage einer Teilung der Gewalten. »They seek to promote stability and well-being in the North Atlantic area.«24 Mit dem Bestreben nach Förderung von Stabilität (»stability«) und Wohlergehen (»wellbeing«) lenken die Partikulare des Nordatlantikvertrages die Aufmerksamkeit nun auf den Zusammenhang von Sicherheit und Wohlfahrt. So verweist der Begriff Stabilität, der die inhärente Beständigkeit eines Systems ebenso bezeichnet wie die Tendenz eines Zustands oder Vorgangs, nach einer Störung seines Gleichgewichts in den Ausgangszustand zurückzukehren25, unmittelbar auf die innere Verfasstheit des durch den Vertrag formell konstituierten politischen Gebildes. Deren Stabilität zu fördern deutet zwar auf ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hin, aufgrund der gleichzeitig verfolgten Steigerung des Wohlergehens handelt es sich dabei aber vermutlich nicht um einen Selbstzweck. Sollte Stabilität hier als eine Vorbedingung von Prosperität verstanden werden, manifestierte sich in der vorliegenden Sequenz die klassische Grundüberzeugung der politischen Ökonomie, derzufolge die Bürger, solange Ruhe und Ordnung herrschen, nicht mehr permanent fürch22
»ihrer Völker«. »die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen.«. 24 »Sie sind bestrebt, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern.«. 25 Vgl. den Eintrag „Stabilität“ in: dtv-Lexikon in 20 Bänden (1995), Bd. 17 Sie – Suc, S.206. 23
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ten müssen, ihr Hab und Gut zu verlieren, sondern sich daran machen können, es auf dem Wege wirtschaftlicher Aktivität zu mehren. Da die Zielvorgabe einer wohlfahrtsstaatlich-zentralistischen, merkantilistischen Ökonomie hier schon allein aufgrund des Vorliegens eines Dokuments zur Bildung einer Vertragsgemeinschaft zwischen Staaten ausgeschlossen werden kann, dürfte die Förderung des Wohlergehens wohl zudem auf dem Wege der Durchsetzung von freiem Handel angestrebt werden. Das Gebiet des Nordatlantik und seiner Anrainer wird an dieser Stelle somit als gemeinsamer Wirtschaftsraum und potentielle Freihandelszone etabliert. »They are resolved to unite their efforts for collective defence«26 Aus dieser Bekundung der Entschlossenheit zu vereinten Anstrengungen auf dem Gebiet der kollektiven Verteidigung geht hervor, dass es sich bei dem durch den Nordatlantikvertrag formal begründeten politischen Gebilde um eine Verteidigungsgemeinschaft handelt. Bezogen auf politische Vergemeinschaftungen in der Form souveräner Herrschaftsverbände ist das Wortzeichen Verteidigung (»defence«) unmittelbar mit Krieg und Frieden in Zusammenhang zu bringen. Da jeder Krieg die Möglichkeit des Untergangs in sich birgt und es bei Entscheidungen über Krieg und Frieden somit immer um die Existenz der beteiligten Nationen geht, bilden Staaten, die sich auf diese Weise in ihrem Schicksal aneinander binden, niemals bloße Interessenkoalitionen; derart folgenreiche Entscheidungen können daher auch gar nicht von (Interessen-)Parteien getroffen werden, sondern nur von der involvierten politischen Gemeinschaft als Ganzer: Die gemeinsame Verteidigung gegen Dritte bringt somit notwendig Vergemeinschaftung hervor. Ferner wirft diese Sequenz die Frage auf, von wem die Konstituenten des Nordatlantikvertrages so massiv angegriffen werden könnten, dass sie sich gegebenenfalls mit vereinten Kräften verteidigen müssten. Unabhängig davon, ob die Entscheidung zugunsten einer gemeinsamen Verteidigung in der physischen Präsenz eines relevanten Gegners oder dem Gefühl einer Gefährdung begründet liegt, dürfte der Kandidat, der das immanent erschlossene Bedrohungspotential verkörpert, nicht dem Kreis derjenigen Staaten angehören, den die Mitglieder der nordatlantischen Gemeinschaft zur Avantgarde innerhalb der Vereinten Nationen zählen. »and for the preservation of peace and security.«27 Die Rede von der Erhaltung von Frieden und Sicherheit (»the preservation of peace and security«) ist sehr ambivalent, da dieses Ziel über die Fokussierung der Glieder der nordatlantischen Gemeinschaft auf ihre gemeinsame Verteidigung hinausgeht und in den Bereich der Gemeinwohlbindung auf der globalen Ebene hinüberreicht. Die Formulierung birgt die Gefahr, unter dem Vorwand der Verteidigung des Friedens andere Länder anzugreifen oder einzunehmen. Nicht zuletzt unter Verweis auf das erst zwei Sequenzen zuvor bekundete Bestreben einer Förderung von Stabilität und Wohlergehen könnte gegen diese Lesart natürlich der Einwand erhoben werden, dass die Signatare zuvörderst an einer Aufrechterhaltung und Konsolidierung des Status quo interessiert und das hohe Gut des Friedens in Anbetracht der erst wenige Jahre zurückliegenden Gräuel des Zweiten Weltkrieges nicht 26 27
»Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung zu vereinigen«. »und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit.«.
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leichtfertig wieder aufs Spiel zu setzen geneigt sein dürften. Dennoch ist die aktivistische Konnotation des Ausdrucks »preservation« hier nicht zu übersehen. »They therefore agree to this North Atlantic Treaty:«28 An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die bisher analysierten Sequenzen eine dem Nordatlantikvertrag im engeren Sinne vorangestellte Präambel bilden. »Article 1. The Parties undertake, as set forth in the Charter of the United Nations,«29 Das Verhältnis der Vertragspartner zu den Vereinten Nationen wird in diesem Ausschnitt neu bestimmt. So wie in der Charta dargelegt (»as set forth in«) bedeutet etwas anderes als die erneute Bekräftigung des Glaubens an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und verträgt sich mit der Artikulation von Interessen, die durch eine Mitgliedschaft in der Weltorganisation nicht abgedeckt sind. »to settle any international dispute in which they may be involved by peaceful means in such a manner«30 Es handelt sich hier um eine sehr ausgreifende Formulierung (»any international dispute«), die zunächst mithilfe eines Relativsatzes (»in which they may be involved«) eingeschränkt wird. Dessen unscharfe Wortwahl (»may be involved«) erweitert den Handlungsrahmen der Vertragsstaaten jedoch wieder, da die Entscheidung über die Verwicklung in einen internationalen Streitfall nicht nur von außen aufgezwungen wird, sondern immer auch dem Ermessensspielraum und dem eigenen Zutun unterliegt. Für den Fall, dass das Personalpronomen »they« extensiv ausgelegt werden kann und neben den Signataren in ihrer Gesamtheit auch jeden Einzelnen von ihnen bezeichnet, läge die Beteiligung eines Bündnispartners an einer internationalen Streitigkeit bereits vor, wenn im Rahmen einer militärischen Auseinandersetzung zweier Pazifikinseln ein unter seiner Flagge laufendes Kreuzfahrtschiff festgehalten würde. Obwohl hier der Akzent ganz ausdrücklich auf friedliche Streitschlichtung (»by peaceful means«) gelegt wird, ist die Einmischung der Vertragsstaaten in internationale Streitfälle doch in hohem Maße vorgesehen. Insofern es dabei auch um die vertragliche Schaffung und Sicherung zusätzlicher Kompetenzen geht, begründet der Nordatlantikvertrag hier eine Art Vereinte Nationen mit größerer Durchschlagskraft. »that international peace and security and justice are not endangered, and to refrain in their international relations from the threat or use of force in any manner inconsistent with the purposes of the United Nations.«31
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»Sie einigen sich daher auf diesen Nordatlantikvertrag:«. »Artikel 1. Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen,«. 30 »jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln,«. 31 »dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.«. 29
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Der erneute Rekurs auf die Ziele der Vereinten Nationen dient in diesem Zusammenhang dem expliziten Ausschluss der Möglichkeit einer Streitbeilegung auf dem Wege eines Angriffskrieges. Infolge der Beschränkung des Konfliktbewältigungsspektrums auf friedliche Maßnahmen in der Vorsequenz offenbart diese Redundanz neuerlich das enorme Ausmaß des Rechtfertigungsdrucks, dem sich die Partner ausgesetzt sehen. Sie wollen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie die rechtliche Vorrangstellung der Satzung der Vereinten Nationen anerkennen. Aber just indem sie die Vereinbarkeit ihrer Agenda mit der UN-Charta so oft betonen, laufen die Unterzeichner des Nordatlantikvertrages Gefahr, ihre eigene Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Sie erwecken den Eindruck, sich oder anderen „etwas vorzumachen“ und nähren so Spekulationen über ihre Absichten. »Article 2. The Parties will contribute toward the further development of peaceful and friendly international relations«32 Da die Weiterentwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen (»the further development of peaceful and friendly international relations«) nicht fördert, wer sich lediglich der Durchführung und Planung von Angriffskriegen enthält, stellt sich hier die Frage nach der gestalterischen Leistung der Mitglieder der nordatlantischen Gemeinschaft im Rahmen der Realisation dieses Ziels. Die Gewährung von Krediten und Entwicklungshilfe könnten dabei ebenso gut eine Rolle spielen wie die Förderung allgemeiner zwischenstaatlicher Kontakte. »by strengthening their free institutions,«33 Ganz abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, in welchem Verhältnis diese Maßnahme zu dem oben artikulierten Ziel einer Verbesserung der internationalen Beziehungen steht, bleibt an dieser Stelle offen, ob es sich um freie im Unterschied zu unfreien Institutionen oder um Institutionen zur Sicherung der Freiheit handelt. Selbst wenn aus dieser Formulierung die verklausulierte Aufforderung zu einer demokratischen Missionierung abgeleitet würde, bliebe dennoch ungeklärt, wie damit ein Beitrag zur Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten geleistet werden könnte. »by bringing about a better understanding of the principles upon which these institutions are founded,«34 Diese Sequenz nährt die Vermutung, hier manifestierten sich pädagogische Absichten (»by bringing about a better understanding«) mit dem missionarischen Ziel einer demokratischen „Umerziehung“. »and by promoting conditions of stability and well-being.«35
32 »Artikel 2. Die Parteien werden zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen beitragen,«. 33 »indem sie ihre freien Einrichtungen festigen,«. 34 »ein besseres Verständnis für die Grundsätze herbeiführen, auf denen diese Einrichtungen beruhen,«. 35 »und indem sie die Voraussetzungen für die innere Festigkeit und das Wohlergehen fördern.«.
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Mit demselben Wortlaut wie in der Präambel unterstreichen die Vertragspartner ihre sicherheits- und ordnungspolitischen Präferenzen. »They will seek to eliminate conflict in their international economic policies and will encourage economic collaboration between any or all of them.«36 Auf dem Feld der Außenwirtschaftspolitik verfolgen die Konstituenten der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft offenbar zwei Ziele, die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit untereinander und die Harmonisierung des Umgangs mit Nichtmitgliedern. Zu der Beseitigung von Konflikten in ihren internationalen Wirtschaftspolitiken könnte gehören, dass keiner der Mitgliedstaaten Profit aus der Suspendierung der Handelsbeziehungen eines Partners zu einem Drittland ziehen darf. Im Unterschied zu dem missionarischpädagogischen Komplex zwei Sequenzen zuvor wäre dies der harte und greifbare Ansatz einer Embargopolitik. Die Frage, wer die allfälligen wirtschaftspolitischen Konflikte definiert und bestimmt, wie sie aufgelöst werden, kann dagegen wohl erst nach einer Rekonstruktion der Machtverhältnisse im Bündnis selbst beantwortet werden. »Article 3. In order more effectively to achieve the objectives of this Treaty, the Parties, separately and jointly,«37 Die Partner werden hier in ihrer doppelten Eigenschaft als individuelle autonome Nationalstaaten (»separately«) und als Vertragsgemeinschaft autonomer Nationalstaaten (»jointly«) adressiert und zu noch nicht näher spezifizierten Leistungen angehalten, die einer effektiveren Erfüllung der Ziele des Nordatlantikvertrages förderlich zu sein versprechen. »by means of continuous and effective self-help and mutual aid«38 In Analogie zu der obigen Differenzierung zwischen den Partnern als Einzelstaaten (»separately«) und als Bündnis (»jointly«) werden Selbsthilfe (»self-help«) und gegenseitige Hilfe (»mutual aid«) in dieser Sequenz als die zur Erfüllung der Vertragsbestimmungen geeigneten Mittel dargestellt. Da sie stets bedingungslos ethisch geboten ist, übersteigt Hilfe alles vergesellschaftete Handeln und verweist unmittelbar auf die Logik von Vergemeinschaftung. Dies gilt für die mithilfe eines Arbeitsbündnisses zwischen autonomen Subjekten ermöglichte Selbsthilfe ebenso wie für die gegenseitige Hilfe, in deren Rahmen mit dem Profit des Helfers sowie der Abhängigkeit und der Dankbarkeitsverpflichtung des Hilfsempfängers jene unliebsamen Folgen vermieden werden, die von ausschließlich in eine Richtung verlaufenden Hilfsleistungen zwischen nicht gemeinschaftlich aneinander gebundenen Akteuren bewirkt werden. »will maintain and develop their individual and collective capacity to resist armed attack.«39 36
»Sie werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Parteien zu fördern.«. 37 »Artikel 3. Um die Ziele dieses Vertrages besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam« 38 »durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung«. 39 »die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
Bei der Formulierung »individual and collective« handelt es sich um die Parallelunterscheidung zu den Begriffspaaren »separately and jointly« sowie »self-help and mutual aid« in den beiden vorangegangenen Abschnitten. Die Aufspaltung der Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung der Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe (»capacity to resist armed attack«) in einen nationalen (»separately«, »self-help«, »individual«) und einen übernationalen Pfad (»jointly«, »mutual aid«, »collective«) wird also konsequent durchgehalten. Da Verteidigungsangelegenheiten zu den genuinen Aufgaben von Vergemeinschaftungsorganen gehören, werden hier nicht einzelne Bürger, sondern die Partikulare des Vertrages und die von ihnen konstituierte Gemeinschaft als Ganze adressiert. Indem er die Teilnehmer verpflichtet, eine schlagkräftige Armee zu unterhalten und sich ausreichend zu bewaffnen, enthüllt dieser Artikel den Verteidigungscharakter des Nordatlantikvertrages. Während die verlangte gegenseitige Hilfe in diesem Zusammenhang vor allem auf eine Verstärkung der Kooperation im Rüstungssektor abzielen dürfte, wird jedem Partner implizit auferlegt, einen angemessenen Anteil seiner Wirtschaftskraft für Militärmaterial aufzuwenden. Dies beinhaltet, dass das Ausmaß der Bewaffnung eines Mitgliedstaates allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft weit über dem Niveau liegen kann, das die politisch Verantwortlichen auf der nationalen Ebene für notwendig erachten. In Anbetracht dieser Verselbstständigung einer Rüstungsverpflichtung stellt sich neuerlich die Frage, wer die Bedrohungslage definiert. Unter der Bedingung einer ungleichen Machtverteilung innerhalb des Bündnisses ginge die Aufforderung zu einer raschen Anpassung der Bewaffnung an eine nahezu nach Belieben zu konstatierende Bedrohung mit einem hohen Maß an Abhängigkeit der kleineren Partner einher. Darüber hinaus kann wohl von einem überproportionalen Anstieg des Anteils der von den Mitgliedstaaten zu leistenden Selbsthilfe im Zuge jeder Ausweitung der Aufrüstung ausgegangen werden. »Article 4. The Parties will consult together whenever, in the opinion of any of them, the territorial integrity, political independence or security of any of the Parties is threatened.«40 Mithilfe dieser Vereinbarung über gegenseitige Konsultationen, die sich zu der weit ausgreifenden Verpflichtung zur Beilegung internationaler Streitigkeiten aus Artikel 1 komplementär verhält, werden die Partikulare des Nordatlantikvertrages auf Multilateralität festgelegt. Der Modus, Besprechungen zu verabreden, sobald nach Auffassung einer der Parteien (»in the opinion of any of them«) eine Gefährdung vorliegt, bietet einem potentiellen Hegemon zwar die Gelegenheit, bevormundend oder paternalistisch, zumindest aber tutoral, die territoriale Unversehrtheit, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit eines Partners entgegen dessen eigener Wahrnehmung für bedroht zu halten und zum Gegenstand von Beratungen zu machen; gleichzeitig werden die Vertragsstaaten so jedoch ermächtigt, Konsultationen auch dann zu vereinbaren, wenn es einem der Verbündeten infolge einer massiven Bedrohung seiner Souveränität gar nicht mehr möglich ist, diesen Schritt selbst zu veranlassen.
40 »Artikel 4. Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind.«.
5.1 Sequenzanalyse
147
Besondere Beachtung verdient an dieser Stelle die Formulierung »will consult together«, bei der es sich streng genommen nicht um eine Vorschrift, sondern lediglich um eine Prognose handelt. Da die Verwendung des Futurs zur Erzeugung einer Verpflichtung nicht ausreicht, hat diese Wendung nur die Form einer indirekten Empfehlung, die zu Beratungen ermutigt. Sollte mit dem Wortzeichen »will« dennoch mehr zum Ausdruck kommen als eine Ermöglichung, müsste ein übergeordnetes Exekutivorgan bestehen, das autorisiert ist, den Konsultationsprozess von sich aus zwingend in Gang zu setzen. Aufgrund der tatsächlich getroffenen Sprachregelung ist es allerdings sehr wahrscheinlich, dass kein solcher Automatismus existiert und Unterredungen stets dadurch initiiert werden, dass einer der Verbündeten die Gemeinschaft als Gemeinschaft anruft. In der Entscheidung für das Verb »will« manifestiert sich somit die freiwillige Basis des Zusammenschlusses zu einer Solidargemeinschaft, die schon beim geringsten Verdacht auf die Gefährdung eines ihrer Glieder aktualisierbar ist. Gleichwohl bedarf das Bündnis auch zur Umsetzung dieser Konsultationen bloß ermöglichenden Regelung eines Gremiums, das, einem Bereitschaftsdienst vergleichbar, Koordinationsaufgaben wie die Einbestellung von Vertretern der Vertragsstaaten in Krisensituationen ausführt. »Article 5. The Parties agree that an armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all«41 In der Bestimmung, dass ein bewaffneter Angriff auf einen oder mehrere Partner als ein Angriff gegen alle angesehen wird, kulminiert die Vergemeinschaftungslogik des Bündnisses. Da sie im Ernstfall die Abgabe von Souveränität der Einzelstaaten erfordert, kann eine solche Übereinkunft niemals Gegenstand von Verträgen sein, die dem Modell vergesellschafteten Handelns folgen. Auch die Einschränkung des Geltungsbereichs dieses Artikels auf Europa und Nordamerika ficht den Vergemeinschaftungscharakter des Bündnisses nicht an, wirft aber neue Fragen auf; denn je nach dem, welche Bestandteile der Erdoberfläche zum Nordatlantik gezählt werden, hat diese Einschränkung unterschiedliche Implikationen. Sollte der Kreis der potentiellen Mitglieder aus den Nordatlantikanrainern im Norden des nördlichen Wendekreises ohne Nebenmeere bestehen, wären allein die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses französischen und spanischen Kolonialgebiete in Nordwestafrika von der hier getroffenen Regelung ausgenommen. Werden dagegen auch der Bereich zwischen dem nördlichen Wendekreis und dem Äquator oder die Nebenmeere zum Nordatlantik gerechnet, so würden Mitglieder des Bündnisses in Südamerika und der Karibik sowie in Afrika und Asien zu Verbündeten zweiter Klasse abgewertet. Es stellte sich gar die Frage, ob die Anrainer des Nordatlantik oder seiner Nebenmeere, die nicht zu Europa und Nordamerika gehören, nur von der Regelung dieses Artikels oder gar von einer Mitgliedschaft in der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft ausgenommen sind und hiermit aus dem Geltungsgebiet des Kontraktes herausdefiniert werden sollen. Das geographische Kriterium der Namensgebung würde in diesem Falle arg strapaziert. »and consequently they agree that, if such an armed attack occurs, each of them, in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations,«42 41
»Artikel 5. Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird;«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
Es ist gerechtfertigt, diesen Teilabschnitt zu unterbrechen noch bevor ersichtlich wird, worin die Partner bezüglich der Reaktion jedes einzelnen von ihnen auf einen bewaffneten Angriff übereinstimmen. Der eingerückte Verweis auf die Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen macht deutlich, dass hier die Grundfrage des Völkerrechts, wann die Anwendung von Gewalt erlaubt ist, zum Thema wird. Den Vorgaben des Untersuchungsgegenstandes selbst folgend, empfiehlt es sich, Artikel 51 der UN-Charta mit in die Analyse einzubeziehen. Er lautet: »Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective self-defence if an armed attack occurs against a Member of the United Nations, until the Security Council has taken measures necessary to maintain international peace and security.«43 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die von der Charta der Vereinten Nationen konstituierte gegenseitige Verpflichtung der Partner zum Frieden das Recht souveräner Staaten auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nicht beeinträchtigt. Im Falle eines bewaffneten Angriffs darf es als eine Art inhärentes Grundrecht solange ausgeübt werden, bis der UN-Sicherheitsrat zu friedenssichernden Maßnahmen gegriffen hat. Diese Form der direkten Bezugnahme auf Artikel 51 der Charta seitens latent konkurrierender Rechtsgemeinschaften wie der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft ist allerdings auch der einzige Weg, um die Zuständigkeit der Vereinten Nationen für die Entscheidung über Krieg und Frieden zu erhalten. Ohne den Rekurs auf die nur interimistische völkerrechtliche Legitimität der Kriegführung zum Zweck der Selbstverteidigung wären, wie gedankenexperimentell problemlos zu konstruieren ist, die Vereinten Nationen offen desavouiert und dementiert worden, da sonst – der geltenden Rechtslage nach – der Nordatlantikvertrag der UN-Charta auf dem Wege einer Selbsternennung übergeordnet worden wäre. »Measures taken by Members in the exercise of this right of self-defence shall be immediately reported to the Security Council«44 Dieser Pflicht zur Meldung aller aus Anlass der Wahrnehmung des individuellen oder kollektiven Selbstverteidigungsrechts ergriffenen Maßnahmen unterliegen notwendig auch jene Aktionen, auf die sich die Partner des Nordatlantikvertrages verständigen. Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bietet sich so die Chance, die Selbstverteidigungsmaßnahmen im Rahmen einer eigenen Entscheidung aufzuheben.
42
»sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung«. 43 Artikel 51 der UN-Charta: »Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.«. 44 »Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen;«.
5.1 Sequenzanalyse
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»and shall not in any way affect the authority and responsibility of the Security Council under the present Charter to take at any time such action as it deems necessary in order to maintain or restore international peace and security.«45 Aus dem letzten Abschnitt von Artikel 51 geht die Hauptverantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Wahrung und Wiederherstellung des internationalen Friedens und der Sicherheit eindeutig hervor. Alle Selbstverteidigungsmaßnahmen sind nur vorläufig und dürfen die allgemeine Zuständigkeit des Rats nicht beeinträchtigen. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrages heißt es weiter: »will assist the Party or Parties so attacked«46 Im Falle eines als Attacke auf alle gewerteten bewaffneten Angriffs gegen einen oder mehrere der Partner in Europa oder Nordamerika wird dem oder den Angegriffenen in Ausübung des Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta also die Unterstützung der Verbündeten zuteil. Gemessen an der Festlegung aller Bündnismitglieder auf gemeinsame Verteidigungsmaßnahmen, eine Lösung, die den Signataren ebenso möglich gewesen wäre, bleibt diese Formulierung jedoch recht vage. Da mit der Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand kaum mehr als eine Mindestanforderung an Verteidigungsgemeinschaften erfüllt wird, gewinnt die Frage, welche Vorgaben der Nordatlantikvertrag in Bezug auf Art und Umfang der Hilfsleistungen enthält, zusätzlich an Relevanz. »by taking forthwith, individually and in concert with the other Parties,«47 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die Vertragsstaaten nach einem Angriff auf einen oder mehrere von ihnen unverzüglich (»by taking forthwith«) tätig werden müssen. Mithilfe der bereits aus der Kodifizierung der Bewaffnungsverpflichtung in Artikel 3 bekannten doppelten Adressierung der Bündnispartner als autonome Nationalstaaten (»individually«) und als Vergemeinschaftung (»in concert with the other Parties«) werden gemeinsame Handlungen zwar in das Spektrum der möglichen Reaktionen auf einen bewaffneten Angriff aufgenommen, eine Vorrangstellung gegenüber den Beistandsleistungen der Einzelstaaten erwächst ihnen daraus gleichwohl nicht. Darüber hinaus bleibt offen, in welchem institutionellen Rahmen die Übereinstimmung zwischen den Partnern herbeigeführt werden soll. »such action as it deems necessary,«48 Die Charakterisierung der Gegenmaßnahmen als die für notwendig erachteten (»as it deems necessary«) ist in sich höchst ambivalent, da sie nicht deutlich macht, ob die je individuelle 45 »sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.«. 46 »der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet,«. 47 »indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien«. 48 »die Maßnahmen trifft, die sie für erforderlich erachtet«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
Lagebeurteilung der zu Beistand verpflichteten Einzelstaaten oder ein kollektiver Beratungsprozess als die zur Bewertung der Situation berechtigte Instanz angenommen wird. »including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area.«49 Während der Verweis auf die prinzipielle Zulässigkeit des Gebrauchs von Waffengewalt (»the use of armed force«) zu Beginn dieser Sequenz die Beistandsverpflichtung substantiell stärkt, stellt das anschließend formulierte Ziel einer Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Sicherheit des nordatlantischen Gebiets (»to restore and maintain the security of the North Atlantic area«) ganz unabhängig von der erheblichen Auslegungsfähigkeit des verwendeten geographischen Begriffs die bislang ausgeprägteste Einschränkung dieser Verpflichtung dar; eine Vereinbarung der Restauration der politischen Unabhängigkeit eines Beistand bedürfenden Staates wäre die zweifellos umfassendere Bestimmung gewesen. Mit Blick auf die beiden Kriterien, wie früh der gemeinsame Verteidigungsfall eintritt und welche Gegenmaßnahmen den Verbündeten abverlangt werden, lässt sich die Beistandsverpflichtung des Nordatlantikvertrages zusammenfassend als nicht besonders stark kennzeichnen: Für ein frühes Zustandekommen des Bündnisfalls spricht zwar, dass dieser schon von einer Attacke auf einen einzigen Partner ausgelöst werden kann; die gleichzeitige Beschränkung auf bereits vollzogene bewaffnete Angriffe überkompensiert diese Regelung jedoch und zieht das vergleichsweise späte Eintreten des gemeinsamen Verteidigungsfalls nach sich, da auf diesem Wege verbale Attacken und die Vorbereitung von Angriffen als mögliche Auslöser ausgeschlossen werden. Dieselbe ambivalente Grundstruktur manifestiert sich auch in dem die Autorisierung bewaffneter Hilfsleistungen unterminierenden doppelten Verzicht auf die Kodifizierung einer Vorrangstellung kollektiver Gegenmaßnahmen und die verbindliche Festlegung der fälligen Verteidigungsbeiträge. Da sich in den einzelnen Dimensionen der Variation der auslegungsfähigen Parameter der Beistandsverpflichtung die unterschiedlichen Kalküle und Vorstellungen der Mitglieder der Verteidigungsgemeinschaft widerspiegeln, bleibt die Effektivität des militärischen Beistands in erster Linie vom Wohlwollen der Regierungen der Einzelstaaten abhängig. Darüber hinaus ist in diesem Artikel vor allem die Nichtdefinition des Angreifers von Bedeutung, da sie die Frage aufwirft, ob zum Beispiel bereits die gewaltsame Aktion einer nur mit einem Luftgewehr bewaffneten Person an der Grenze eines Mitgliedstaats als »armed attack« zu gelten hat. Aufgrund derselben sprachlichen Wurzel der Wortzeichen armed (bewaffnet) und army (Armee) ist es aber vermutlich gerechtfertigt, unter einem bewaffneten Angriff allein solche Handlungen zu verstehen, die einer über politische Souveränität verfügenden Instanz zuzurechnen sind. Die plausibelste Deutung des Verzichts auf eine Erläuterung des Wortzeichens »armed attack« besteht somit darin, dass die Verfasser des Nordatlantikvertrages dessen ausschließlichen Rekurs auf die Staatenwelt stillschweigend vorausgesetzt haben. Die üblichen Diskurselemente, an denen die wie selbstverständlich beanspruchte Eindeutigkeit des Begriffs festgemacht werden kann, sind neben der von ihm implizierten Gleichrangigkeit der Widersacher im Verhältnis zueinander, also dem latenten Verweis auf Konflikte zwischen Komponenten derselben Ordnung, auch sein ge49 »(einschließlich der Anwendung von Waffengewalt) um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.«.
5.1 Sequenzanalyse
151
wohnheitsmäßiger Gebrauch zur Kennzeichnung von Aggressionen der Streitkräfte eines Staates oder einer anderen souveränen politischen Vergemeinschaftung. Die Inkraftsetzung des Verteidigungsfalls aus Anlass eines Bürgerkrieges in einem Mitgliedstaat wäre hingegen eine grobe Missachtung der Souveränität jener politischen Vergemeinschaftung, aus der sich die Souveränität dieses Staates ableitet. Auch wenn sich ein Staatsvolk über die Gründe seiner Vergemeinschaftung nicht mehr einig ist, bleibt die Entscheidung zugunsten der Regelung dieses Disputs auf dem Wege eines Bürgerkrieges ein konstitutiver Bestandteil der Souveränität dieses (Staats-) Volkes und stellt keinen bewaffneten Angriff auf ein Bündnis dar, dem der sich im Bürgerkrieg befindende Staat angehört. »Any such armed attack and all measures taken as a result thereof shall immediately be reported to the Security Council.«50 In Anbetracht der Forderung, das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs (»armed attack«) und die Reaktion darauf (»measures taken as a result thereof«) ohne Zeitverzug dem UNSicherheitsrat zu melden, wird ersichtlich, dass es sich bei attack (Angriff) und defence (Verteidigung) um ein komplementäres Begriffspaar handelt. Im Unterschied zu Ersterem verweist Letzterer jedoch stets auf die Ebene von Vergemeinschaftung, da Verteidigungsaufgaben unabhängig von der Art des Angreifers zu den zentralen Angelegenheiten politischer Vergemeinschaftungen zählen. Unterdessen stellt sich das Verhältnis zwischen dem nordatlantischen Bündnis und den Vereinten Nationen auch in dieser Sequenz zweideutig dar. Einerseits kann die Erweiterung der Pflicht zur sofortigen Mitteilung aller Selbstverteidigungsmaßnahmen an den Sicherheitsrat, die der zuvor angeführte Artikel 51 der UN-Charta begründet, um das Erfordernis einer Meldung des vorausgegangenen bewaffneten Angriffs als wohlmeinende Ergänzung einer vermeintlichen Lücke innerhalb der Satzung der Vereinten Nationen oder als Ausweis der Bereitschaft der Bündnispartner zur (Über-) Erfüllung ihrer Aufgaben aufgefasst werden. Nicht zuletzt infolge der Verwendung desselben Wortlauts wie in Artikel 51 (»shall immediately be reported to the Security Council«) kann dieser Passus andererseits aber auch als der Versuch verstanden werden, die Bestimmungen der Charta zu überbieten und auf höherer Stufe aufzuheben. »Such measures shall be terminated when the Security Council has taken the measures necessary to restore and maintain international peace and security.«51 Das erneute Zitieren und Paraphrasieren einzelner Bestandteile des zuvor vollständig in seiner Geltung anerkannten Artikels 51 der Charta der Vereinten Nationen verschärft die oben entstandene Mehrdeutigkeit. Der Vertragstext droht redundant zu werden – und zwar erneut, wenn es um das Verhältnis zu den Vereinten Nationen geht. Auch der Verweis auf den angelsächsischen Modus des Bewahrens der Wirksamkeit von Rechtsnormen durch deren wiederholte Bekundung vermag diese Vorgehensweise nicht zu rechtfertigen, da der 50 »Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen.«. 51 »Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
entsprechende Grundsatz ja erst unmittelbar zuvor bestätigt worden ist und es somit keine Veranlassung zu der Annahme gibt, dass er bereits wieder außer Kraft gesetzt worden sein könnte. Bei diesem Abschnitt handelt es sich also möglicherweise nicht um eine uneingeschränkte Loyalitätsdresse an den UN-Sicherheitsrat als global zuständigem Gebilde, sondern um einen weiteren Ausdruck der ungeklärten Beziehung zwischen zwei internationalen Vergemeinschaftungen – eine Beziehung, die mithilfe einer unmissverständlichen Bezugnahme auf Kapitel VIII der UN-Charta klarer hätte geregelt werden können. Vor diesem Hintergrund kann die Formulierung der Verfasser des Nordatlantikvertrages in der vorliegenden Sequenz auf zwei Weisen ausgelegt werden. Sie vermag das Bemühen der Partner, die Bestimmungen der UN-Charta kraft ihrer eigenen Vergemeinschaftung neu zu konstituieren oder zu legitimieren, ebenso darzustellen wie den Versuch, sich hinter der Satzung der Vereinten Nationen zu „verstecken“. Sollte Letzteres der Fall sein, schlösse sich daran jedoch die Frage an, ob diese Vorgehensweise von einer Selbsttäuschung der Verbündeten über ihre eigenen Möglichkeiten oder der gezielten Verschleierung von nicht mit den Prinzipien der Charta vereinbaren Absichten angeleitet ist. »Article 6. [The definition of the territories to which Article 5 applies was revised by Article 2 of the Protocol to the North Atlantic Treaty on the accession of Greece and Turkey signed on 22 October 1951.]«52 Dem sechsten Artikel geht eine Fußnote voraus, die hier zur Vereinfachung der Darstellung in eckige Klammern gesetzt worden ist. Darin wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der vorliegenden um die durch das Protokoll anlässlich des Beitritts Griechenlands und der Türkei vom 22. Oktober 1951 geänderte Fassung des Nordatlantikvertrages handelt. Unabhängig von Spekulationen darüber, welche Partner die Erweiterung der Gemeinschaft um zwei Anrainer des östlichen Mittelmeeres im Lichte welchen Kalküls und mit wessen Unterstützung betrieben haben mögen, geht daraus hervor, dass die Gründungsmitglieder zumindest zweieinhalb Jahre nach der Vertragsunterzeichnung auch die Nebenmeere zum Nordatlantik gezählt haben. Wie oben gezeigt geht damit eine beträchtliche Erweiterung des Spektrums der potentiellen Mitglieder der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft einher, auch wenn die Frage nach der Zugehörigkeit des Gebiets zwischen dem nördlichen Wendekreis und dem Äquator weiter offen bleibt. »For the purpose of Article 5, an armed attack on one or more of the Parties is deemed to include an armed attack: on the territory of any of the Parties in Europe or North America, on the Algerian Departments of France53 [On January 16, 1963, the North Atlantic Council noted that insofar as the former Algerian Departments of
52 »Artikel 6 [Die Definition der Territorien, auf die Artikel 5 angewendet wird, wurde durch Artikel 2 des am 22. Oktober 1951 unterzeichneten Protokolls über den Beitritt Griechenlands und der Türkei zum Nordatlantikvertrag revidiert].«. 53 »Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs,«.
5.1 Sequenzanalyse
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France were concerned, the relevant clauses of this Treaty had become inapplicable as from July 3, 1962.54],« An dieser Stelle wird nun also das vier Sequenzen zuvor im Rahmen von Artikel 5 aufgeworfene Problem der Eingrenzung des vage als nordatlantisch bezeichneten und für die Auslösung des Bündnisfalls relevanten Vertragsgebiets (»the North Atlantic area«) aufgegriffen. Interessanterweise werden nach den Territorien der Mitgliedstaaten in Europa und Nordamerika sogleich die algerischen Departements Frankreichs angeführt, die offenbar nicht als Kolonie, sondern als konstitutiver Bestandteil des französischen Vaterlandes außerhalb des europäischen Kontinents angesehen wurden. Eine nachträgliche Änderung dieser Bestimmung geht allerdings aus einer zweiten, vom Autor dieser Arbeit abermals in eckigen Klammern eingerückten Fußnote hervor, in der die Wirkungslosigkeit der Algerien-Klausel des Nordatlantikvertrages seit dem 3. Juli 1962 festgehalten wird; dass es sich dabei um das Datum der Unabhängigkeit der ehemaligen algerischen Departements Frankreichs handelt, liegt nahe. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Bündnispartner nach der Unabhängigkeit Algeriens, anders als im Falle des Beitritts Griechenlands und der Türkei, auf eine Modifikation des Wortlauts des Vertrages verzichtet und sich auf die Einflechtung einer Fußnote beschränkt haben. Ob daraus auf eine pragmatische Nachlässigkeit hinsichtlich der Anpassung der Vertragsbestimmungen an (unliebsame) historische Veränderungen geschlossen werden kann? »on the territory of Turkey or on the Islands under the jurisdiction of any of the Parties in the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer,«55 Ferner werden dem Geltungsbereich der Verteidigungsklausel des Nordatlantikvertrages das größtenteils zu Asien gehörende Territorium der Türkei und die Inseln unter der Gebietshoheit der Partner zugeschrieben, die nördlich des Wendekreises des Krebses (»Tropic of Cancer«) im Atlantik liegen. Mit Blick auf das Spektrum der potentiellen Mitglieder der Gemeinschaft und deren Status haben die beiden letzten Sequenzen vor allem zwei Konsequenzen. Da, erstens, die Mitgliedschaft eines Staates in einer Verteidigungsgemeinschaft wohl keinen Sinn hätte, wenn es im Falle eines militärischen Angriffs auf dessen Territorium nicht zum Beistand der Verbündeten kommen würde, spricht viel dafür, dass die hier vorgenommene Explikation der den Bündnisfall auslösenden Territorien nicht zum Zweck einer Diskriminierung der Mitglieder in die zwei Klassen „bündnisfallrelevant“ und „nicht bündnisfallrelevant“ erfolgt ist, sondern sowohl der Selbstvergewisserung der Partner als auch der öffentlichen Bekanntgabe des Verlaufs der einen Krieg auslösenden sprichwörtlichen „roten Linien“ an die Adresse potentieller Angreifer dient. Keine Bündnisfallrelevanz besitzen demnach all jene Gebiete unter der Gerichtsbarkeit der Partner, die auf anderen als den beiden genannten Kontinenten oder in Meeren außerhalb des Nordatlantik nördlich des 54 »Am 16. Januar 1963 stellte der Rat fest, dass die relevanten Bestimmungen des Nordatlantikvertrages, sofern sie die ehemaligen algerischen Departements Frankreichs betreffen, mit Wirkung vom 3. Juli 1962 gegenstandslos geworden sind.«. 55 »auf das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses;«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
Wendekreises des Krebses liegen, also sämtliche Kolonien und sonstiger überseeische Besitz. Zweitens ermöglicht die Aufzählung der den Bündnisfall auslösenden Territorien auch eine Annäherung an das Spektrum der potentiellen Mitglieder der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. So dürfte der Hinweis auf die Inseln nördlich des Wendekreises des Krebses die Frage nach der von den Verfassern des Vertrages gezogenen Südgrenze des Nordatlantik zuverlässig beantworten, da es recht ungewöhnlich wäre, wenn diese den Festlandsanteil am Vertragsgebiet anders abgrenzen würden als den Bereich der zugehörigen Inseln. Obwohl mit dieser Lokalisierung der Südgrenze anhand des Breitenkreises, über dem die Sonne zur Zeit der Sommersonnenwende im Zenit steht (23° 27’ Nord), der Ausschluss der Karibik und eines Teils des Golfs von Mexiko aus dem Nordatlantik einhergeht, bleibt die Frage, ob die verbleibenden Nebenmeere stillschweigend mit eingeschlossen sind, weiter offen; die explizite Nennung des Mittelmeeranrainers Türkei deutet in Richtung einer Nichteinbeziehung, das Ausbleiben einer expliziten Nennung des Mittelmeeranrainers Griechenland in die Gegenrichtung einer Einbeziehung, während die wiederholte Fokussierung auf Europa und Nordamerika gar einem auf Kontinente fixierten Ansatz folgt, der quer zu dem Projekt einer nordatlantischen Gemeinschaft steht, die ihre geographische Bezeichnung nach einem Meer zurecht tragen würde. »on the forces, vessels, or aircraft of any of the Parties, when in or over these territories or any other area in Europe in which occupation forces of any of the Parties were stationed on the date when the Treaty entered into force or the Mediterranean Sea or the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer.«56 Anwendung findet die Beistandsklausel überdies im Falle eines bewaffneten Angriffs auf die Streitkräfte, Schiffe und Flugzeuge der Verbündeten in und über den in der Vorsequenz aufgelisteten Gebieten, jenen Territorien in Europa, in denen einer von ihnen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages Besatzungsstreitkräfte stationiert hat, dem Mittelmeer sowie dem Nordatlantik nördlich des Wendekreises des Krebses. Während der Verweis auf das Vorhandensein von Besatzungsstreitkräften der Partner die im Rahmen der Analyse der ersten Sequenz vorgeschlagene Lesart des Nordatlantikvertrages als eines Zusammenschlusses der Sieger des Zweiten Weltkrieges erhärtet, gibt die von der Nennung des Nordatlantik nördlich des Wendekreises des Krebses getrennte Aufzählung des Mittelmeers neue Rätsel auf. Dieses Vorgehen deutet darauf hin, dass die Nebenmeere von den Partnern nicht stillschweigend als Teil des Vertragsgebiets angesehen, sondern offenbar bei Bedarf explizit hinzugefügt werden. Da aber eine – zum Beispiel politisch motivierte – Diskriminierung der Nebenmeere nicht mit dem Prinzip einer geographischen Namensgebung der nordatlantischen Gemeinschaft vereinbar ist, stellt sich die Frage, warum in diesem Abschnitt allein das Mittelmeer, nicht aber die übrigen Nebenmeere als konstitutiver Teil des Vertragsgebiets markiert werden.
56 »auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrags eine Besatzung unterhält, oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.«.
5.1 Sequenzanalyse
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Vor dem Beitritt Griechenlands und der Türkei lautete Artikel 6: »For the purpose of Article 5, an armed attack on one or more of the Parties is deemed to include an armed attack on the territory of any of the Parties in Europe or North America, on the Algerian Departments of France, on the occupation forces of any Party in Europe, on the islands under the jurisdiction of any Party in the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer or on the vessels or aircraft in this area of any of the Parties.«57 Ein Vergleich der beiden Fassungen zeigt, dass das Wortzeichen Mittelmeer erst aus Anlass des Beitritts von Griechenland und der Türkei in den Vertragstext aufgenommen worden ist. Bereits im dritten Jahr nach der Unterzeichnung des Vertrages hätten sich die Partner damit von ihrem mutmaßlichen Vorhaben verabschiedet, die Gemeinschaft auf die Anrainer des Nordatlantik nördlich des Wendekreises des Krebses ohne Nebenmeere zu beschränken. Jenseits der Frage nach den Gründen für diesen Schritt ist diese selektive Erweiterung um zwei Anrainer des östlichen Mittelmeers gleichwohl nur um den Preis einer Unterminierung der Angemessenheit der geographischen Bezeichnung des nordatlantischen Bündnisses zu haben. Darüber hinaus wird sichtbar, dass die Umformulierung von Artikel 6 anlässlich der Erweiterung des bündnisfallrelevanten Sektors um Griechenland, die Türkei und das Mittelmeer auch zu einer feineren Unterscheidung zwischen einem bewaffneten Angriff auf das Territorium der Partner einerseits sowie ihre Armeegattungen und Verkehrsmittel andererseits genutzt worden ist. Denn wo zunächst nur von Schiffen und Flugzeugen in diesem Gebiet die Rede war, heißt es jetzt Streitkräfte, Schiffe und Flugzeuge in und über diesem Gebiet. Infolge dieser Präzisierung wird die Schwelle zur Auslösung des Verteidigungsfalls abgesenkt und das Niveau der Abschreckung entsprechend erhöht. »Article 7. This Treaty does not affect, and shall not be interpreted as affecting in any way the rights and obligations under the Charter of the Parties which are members of the United Nations,«58 Der hier formulierte Grundsatz der Nichtbeeinträchtigung der aus einer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen resultierenden Rechte und Pflichten dient der juristischen Vollständigkeit, da auf diese Weise das Primat der Weltorganisation vor der konkurrierenden Rechtsgemeinschaft des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses gewährleistet wird. Der einschränkende Relativsatz »the Parties which are members of the United Nations« gibt zu erkennen, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages am 4. April 1949 mindestens einer der Bündnispartner den Vereinten Nationen nicht angehört hat. Sollte es sich dabei um einen Staat handeln, dem die UN-Mitgliedschaft verweigert worden 57 »Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf die Besatzungsstreitkräfte eines Teilnehmers in Europa, auf die Inseln unter der Hoheit eines Teilnehmers im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses oder auf die Schiffe oder Flugzeuge einer der vertragschließenden Parteien in diesem Gebiet.«. 58 »Artikel 7. Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind,«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
wäre, beeinträchtigte dies die Glaubwürdigkeit der Bezugnahme der Signatare auf die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen. »or the primary responsibility of the Security Council for the maintenance of international peace and security.«59 Paradoxerweise wirft die neuerliche Betonung des uneingeschränkten Fortbestands der primären Verantwortung des UN-Sicherheitsrats für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit umgehend die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden überstaatlichen Rechtsgemeinschaften wieder auf. So könnte argumentiert werden, dass die Signatare des Nordatlantikvertrages gerade indem sie die Vorrangstellung des Sicherheitsrats kodifizieren, zum Ausdruck bringen, dass sie ebenso in der Lage gewesen wären, eine gegenteilige Entscheidung zu treffen. Auch wenn es spitzfindig wäre, daraus abzuleiten, dass sie sich zu einer vorgeordneten Instanz der Stiftung der Legitimität der Vereinten Nationen erheben, weckt die beständige Wiederholung der Behauptung der Konvergenz mit der Weltorganisation doch zumindest den Verdacht, dass die Konstituenten der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft erheblichen Rechtfertigungsdruck verspüren, die Harmonie ihrer Beziehung zu den Vereinten Nationen herauszustellen. Unabhängig davon, ob die von den Verbündeten antezipierten Zweifel Dritter an der Beschaffenheit dieser Beziehung material gerechtfertigt oder bloße Projektion sind, zeugt ihr Handeln von einem gewissen Mangel an Souveränität im Umgang mit dieser Situation. »Article 8. Each Party declares that none of the international engagements now in force between it and any other of the Parties or any third State is in conflict with the provisions of this Treaty, and undertakes not to enter into any international engagement in conflict with this Treaty.«60 Mithilfe dieser in die Form einer Erklärung gekleideten Bestimmung wird jedem Bündnispartner abverlangt, von solchen internationalen Verpflichtungen Abstand zu nehmen, die den Ausführungen des Nordatlantikvertrages zuwiderlaufen. Da diese Bedingung bereits vor der Unterzeichnung des Kontraktes erfüllt sein muss, handelt es sich hier de facto um eine Beitrittsvoraussetzung. So soll vermutlich verhindert werden, dass sich ein potentieller Verbündeter mit Staaten einlässt, die der Agenda des Nordatlantikvertrages ablehnend gegenüberstehen. Anders als noch im Rahmen der Konsultationsempfehlung in Artikel 4 wird an dieser Stelle auf den Gebrauch von »will + Infinitiv« verzichtet. Die stattdessen gewählte Formulierung im Präsens (»declares«) begründet eine normative Feststellung, die innerhalb eines Artikelgesetzes den Status einer Vorschrift annimmt. Rein formal fällt der Beginn der Geltung des Nordatlantikvertrages daher mit dem Ende aller konfligierenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auf der internationalen Ebene zusammen. Wie dieser Zustand konkret zu verwirklichen ist, bleibt indes offen, woraus geschlossen werden muss, dass dies für die 59
»aus deren Satzung ergeben, oder die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrates für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, noch kann er in solcher Weise ausgelegt werden.«. 60 »Artikel 8. Jede Partei erklärt, dass keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihr und einer anderen Partei oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrags widerspricht und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtung einzugehen.«.
5.1 Sequenzanalyse
157
Verfasser des Vertrages keine besondere Bedeutung besitzt; die Beweislast trägt somit jeder der Verbündeten für sich. Interessant ist die explizite Aufnahme dieser Regelung in die Abfolge der Vertragsbestimmungen aber nicht zuletzt auch deshalb, weil sich darin Reste eines gewissen Misstrauens zwischen den Partnern manifestieren. Paradox formuliert bräuchten diese vermutlich gar keinen Vertrag untereinander abzuschließen, wenn sie sich vertragen würden – doch sollte der Verzicht auf jegliche Aktivitäten, die das Bündnis schwächen könnten, für die Konstituenten einer intakten Verteidigungsgemeinschaft nicht selbstverständlich sein? »Article 9. The Parties hereby establish a Council,«61 Allein durch die Verbindung des Adverbs »hereby« mit dem Prädikat »establish« im Präsens wird in dieser Sequenz ein Rat (»Council«) geschaffen, den die Mitgliedstaaten nach Abschluss des Vertrages nur noch auf dem Wege einer Entsendung von Delegierten materialisieren müssen. »on which each of them shall be represented, to consider matters concerning the implementation of this Treaty.«62 Dass jedes Mitglied des Bündnisses in dem besagten Rat repräsentiert sein wird (»shall be represented«) und dieser vornehmlich der Implementierung des Vertrages dient, ist unmittelbar einsichtig. »The Council shall be so organised as to be able to meet promptly at any time.«63 Darüber hinaus wird der Rat als eine Art Bereitschaftsdienst konstituiert, der zu jeder Zeit unverzüglich zusammentreten kann (»able to meet promptly at any time«). »The Council shall set up such subsidiary bodies as may be necessary;«64 Obwohl er hier zur Errichtung nachgeordneter Stellen (»subsidiary bodies«) verpflichtet wird (»shall set up«), verbleibt die Entscheidung über die Notwendigkeit konkreter Maßnahmen doch in der Sphäre der Autonomie des Rats allein (»as may be necessary«). »in particular it shall establish immediately a defence committee which shall recommend measures for the implementation of Articles 3 and 5.«65 Die einzige Auflage, die dem Rat mit Blick auf die Organisation seiner Arbeit erteilt wird, besteht darin, einen Verteidigungsausschuss (»defence committee«) zu gründen (»shall 61
»Artikel 9. Die Parteien errichten hiermit einen Rat,«. »in dem jede von ihnen vertreten ist, um Fragen zu prüfen, welche die Durchführung dieses Vertrags betreffen.«. 63 »Der Aufbau dieses Rates ist so zu gestalten, dass er jederzeit schnell zusammentreten kann.«. 64 »Der Rat errichtet, soweit erforderlich, nachgeordnete Stellen;«. 65 »insbesondere setzt er unverzüglich einen Verteidigungsausschuß ein, der Maßnahmen zur Durchführung der Artikel 3 und 5 zu empfehlen hat.«. 62
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
establish«), der die Funktion hat, Maßnahmen zu empfehlen (»shall recommend measures«), die zur Erfüllung der aus den Artikeln 3 und 5 resultierenden Vertragsbestimmungen geeignet sind. Wie gesehen handelt es sich dabei um die Stärkung der mutmaßlich auf gemeinsamen Rüstungsanstrengungen und der Integration der Befehlswege basierenden Widerstandskraft gegen einen bewaffneten Angriff. Ähnlich wie beim Gebrauch des Futurs im Rahmen der Konsultationsempfehlung in Artikel 4 (»The Parties will consult together«) bleiben auch die hier gewählten Formulierungen »shall establish« und »shall recommend« hinsichtlich ihres obligatorischen Charakters hinter der Verwendung des Präsens zurück, das, so wie zu Beginn dieses Artikels (»The Parties hereby establish a Council«), immer schon einen Vollzug darstellt. »Article 10. The Parties may, by unanimous agreement, invite any other European State in a position to further the principles of this Treaty and to contribute to the security of the North Atlantic area to accede to this Treaty.«66 Unter der Bedingung ihrer Einstimmigkeit vermögen die Partner jeden anderen europäischen Staat zum Beitritt einzuladen, der imstande ist, die Prinzipien des Vertrages und die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets zu fördern. Aus der Abwesenheit weiterer Spezifikationen folgt, dass das Recht, potentielle Kandidaten vorzuschlagen, jedem einzelnen Mitgliedstaat zukommt. Spiegelbildlich dazu reicht das Veto eines einzigen der Verbündeten aus, um die Aufnahme eines zum Beitritt vorgeschlagenen Staates zu verhindern. Aufmerksamkeit erregt in diesem Abschnitt aber vor allem die Beschränkung des Kreises der Staaten, die zu einem Beitritt eingeladen werden können, auf Europa. Falls das Spektrum der potentiellen außereuropäischen Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht ausgeschöpft war oder mit der hier verwendeten Formulierung wirklich alle europäischen Staaten gemeint sind und nicht bloß diejenigen, die Anrainer des Nordatlantik nördlich des Wendekreises des Krebses ohne Nebenmeere sind, leistete diese Fixierung der Partner auf einen Kontinent einen weiteren Beitrag zur Unterminierung der geographischen Bezeichnung ihres Zusammenschlusses durch ein Meer und stellte damit seiner Tendenz nach einen Akt der Konterkarierung der eigenen Namensgebung dar. »Any State so invited may become a Party to the Treaty by depositing its instrument of accession with the Government of the United States of America.«67 Diese Sequenz wirft die Frage auf, warum die Beitrittsurkunde eines neuen Mitgliedstaates bei der Regierung einer der Vertragspartner und nicht bei dem in Artikel 9 etablierten allgemeinen Rat zu hinterlegen ist. Dass den Vereinigten Staaten auf diesem Wege eine besondere Verantwortung für das Bündnis übertragen wird, dürfte schwer zu bestreiten sein. »The Government of the United States of America will inform each of the Parties of the deposit of each such instrument of accession.«68 66 »Artikel 10. Die Parteien können durch einstimmigen Beschluss jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen.«. 67 »Jeder so eingeladene Staat kann durch Hinterlegung seiner Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Mitglied dieses Vertrags werden.«.
5.1 Sequenzanalyse
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Aus der Bestimmung über die Hinterlegung der Beitrittsurkunden von neuen Mitgliedern bei der US-Regierung erwächst dieser im Umkehrschluss die Aufgabe, alle Partner über solche Vorgänge in Kenntnis zu setzen (»will inform«). Im Präsens und durch die Hinzufügung eines Adverbs wie umgehend hätte dieser Formulierung indes eine verbindlichere Gestalt verliehen werden können. Hauptsächlich überrascht an diesem Abschnitt aber der Verzicht auf eine Regelung der Partizipation der nationalen Regierungen und Parlamente am Prozess der Aushandlung oder Feststellung eines interalliierten Konsenses in der Frage der Aufnahme eines neuen Mitglieds. Im Unterschied zu Verträgen ohne vergemeinschaftenden Charakter wie bi- oder multilaterale Wirtschaftskontrakte, Finanzhilfeabkommen oder Vereinbarungen über die gegenseitige Auslieferung von Verdächtigen wäre die Kodifizierung des Verfahrens der Zustimmung zu einer Ausdehnung der Teilnehmer im Rahmen der Gründungsurkunde einer politischen Vergemeinschaftung mit so weitreichenden Inhalten wie der Schaffung einer gemeinsamen Verteidigung wohl durchaus angemessen gewesen. In diesem Punkt ist der Vertragstext allerdings erstaunlich lakonisch, setzt er die wie auch immer gearteten üblichen nationalen Ratifikationsverfahren doch allem Anschein nach stillschweigend voraus. »Article 11. This Treaty shall be ratified and its provisions carried out by the Parties in accordance with their respective constitutional processes.«69 Erst aus Anlass der Regelung der Ratifikation des vorliegenden Vertrages erfolgt der Verweis auf die Notwendigkeit des Einklangs mit den verfassungsmäßigen Prozeduren der Mitgliedstaaten, der im vorangegangenen Artikel nicht enthalten war. »The instruments of ratification shall be deposited as soon as possible with the Government of the United States of America, which will notify all the other signatories of each deposit.«70 Obwohl es durchaus Sinn hat, die Beitrittsurkunden der Gründungsstaaten ebenso wie diejenigen künftiger Neumitglieder an ein- und demselben Ort aufzubewahren, wird in dieser Sequenz neuerlich die Frage aufgeworfen, warum dieser Ort die Regierung der Vereinigten Staaten ist. Ungeachtet der besonderen Bürde, die Depositarstaaten zukommt, hätte mit dem Rat, der infolge der in Artikel 9 verwendeten Formulierung im Präsens schon zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses als errichtet anzusehen war, bereits von Anfang an eine Alternative auf der Ebene der Gemeinschaft selbst bestanden. »The Treaty shall enter into force between the States which have ratified it as soon as the ratifications of the majority of the signatories,«71 68
»Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterrichtet jede der Parteien von der Hinterlegung einer solchen Beitrittsurkunde.«. »Artikel 11. Der Vertrag ist von den Parteien in Übereinstimmung mit ihren verfassungsmäßigen Verfahren zu ratifizieren und in seinen Bestimmungen durchzuführen.«. 70 »Die Ratifikationsurkunden werden so bald wie möglich bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hinterlegt, die alle anderen Unterzeichnerstaaten von jeder Hinterlegung unterrichtet.«. 71 »Der Vertrag tritt zwischen den Staaten, die ihn ratifiziert haben, in Kraft, sobald die Ratifikationsurkunden der Mehrzahl der Unterzeichnerstaaten,«. 69
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
Mithilfe dieser markanten Bestimmung wird ein verzögertes Inkrafttreten des Vertrages aufgrund eines Aufschubs der Ratifikation in einem über die Beitrittsfrage gespaltenen oder bloß um Aufsehen bemühten Staat wirksam unterbunden. Auf diesem Wege wird auch dafür gesorgt, dass mit der Verstärkung der Bewaffnung und der Koordination der Rüstungsindustrie so rasch wie möglich begonnen werden kann. »including the ratifications of Belgium, Canada, France, Luxembourg, the Netherlands, the United Kingdom and the United States,«72 Aus dieser Sequenz wird ersichtlich, dass sieben namentlich genannte Staaten den Vertrag ratifiziert haben müssen, um ihm schnellstmöglich zu Geltung zu verhelfen. Durch den Nordatlantikvertrag selbst wird somit die Bildung einer Avantgarde innerhalb des Bündnisses, gewissermaßen eine Art Kernatlantik, vorgeprägt, während die übrigen Gründungsstaaten spiegelbildlich zur Konstitution dieses inneren Kerns in den Rang von weniger qualifizierten Partnern abgestuft werden. Pikanterweise handelt es sich nur bei vier der genannten Staaten – Kanada, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten – um Anrainer des Nordatlantik nördlich des Wendekreises des Krebses ohne Nebenmeere; Belgien und die Niederlande liegen an der Nordsee, während Luxemburg weder an den Nordatlantik noch an eines seiner Nebenmeere angrenzt. Angesichts dieser selektiven Bestimmung der Mitglieder droht das geographische Kriterium der Namensgebung des nordatlantischen Bündnisses einmal mehr ausgehöhlt zu werden. Zwar sind unter den sieben genannten Staaten wichtige Vertreter der Alliierten des Zweiten Weltkrieges, die an drei Nebenmeeren des Nordatlantik gelegene Sowjetunion, Trägerin der größten Kriegslasten und -verluste, ist jedoch nicht darunter. Je nachdem, ob die Partner ihrem Zusammenschluss eine minimalistische oder eine maximalistische Lesart des Nordatlantik zugrundegelegt haben, schwankt die Beurteilung der Angemessenheit der geographischen Bezeichnung des nordatlantischen Bündnisses zwischen einer (expansiven oder zumindest latent hegemonialen) Überdehnung und einer Unterausschöpfung des Atlantikbegriffs: Im Falle einer minimalen Definition ohne Nebenmeere zeugte der Name Nordatlantikvertrag von einer geographischen Überdehnung, da mit Belgien und den Niederlanden zwei Anrainer der Nordsee zum Kreis der Partner gehörten – von einer Mitgliedschaft des Binnenstaates Luxemburg ganz zu schweigen. Entsprechend würden sich die Verbündeten im Falle einer maximalen Deutung des Nordatlantik einschließlich der Nebenmeere das Problem einer Unterausschöpfung des potentiellen Spektrums der Konstituenten des Nordatlantikvertrages aufbürden. Es stellte sich die Frage, warum die Nordseeanrainer Belgien und die Niederlande, kurze Zeit später dann auch die Mittelmeeranrainer Griechenland und die Türkei, in das Bündnis aufgenommen werden, während andere Mittelmeeranrainer in Afrika und Asien von einer Teilnahme ausgeschlossen werden und die an das Nordpolarmeer, die Ostsee und das Schwarze Meer angrenzende Sowjetunion zumindest nicht zum erlauchten Kreis der sieben Staaten gehört, ohne deren Zustimmung der Nordatlantikvertrag nicht ratifiziert werden kann. Im Lichte dieser Dialektik von Überdehnung und Unterausschöpfung, von „Geographisierung“ und „Entgeographisierung“, deren gemeinsame Wurzel das Prinzip einer hoch selektiven Bestimmung der Mitglieder ist, erweist sich die geographische Umhüllung des 72 »einschließlich derjenigen Belgiens, Kanadas, Frankreichs, Luxemburgs, der Niederlande, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten,«.
5.1 Sequenzanalyse
161
Vertragsgrundes als immer oberflächlicher und dünner. Handelt es sich bei der geographischen Namensgebung nur um ein Manöver, um dem Bündnis möglichst ohne viel Aufwand den Anschein zu geben, eine regionale Organisation nach Kapitel VIII der UN-Charta zu sein? »have been deposited and shall come into effect with respect to other States on the date of the deposit of their ratifications. [The Treaty came into force on 24 August 1949, after the deposition of the ratifications of all signatory states.]«73 Dieser Abschnitt offenbart, dass die nicht zur Avantgarde gehörenden Mitglieder des Bündnisses das Risiko für Verzögerungen ihrer nationalen Ratifikationsverfahren allein tragen. Für sie tritt der Kontrakt nämlich erst an jenem Tag in Kraft, an dem sie ihre Beitrittsurkunden hinterlegen. In einer dritten, wie ihre beiden Vorgänger vom Autor dieser Arbeit in eckigen Klammern in den Text eingerückten Fußnote wird allerdings darauf hingewiesen, dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Nordatlantikvertrages am 24. August 1949 bereits alle Signatarstaaten ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt hatten. Die nicht zur Avantgarde gehörenden Verbündeten ratifizierten das Dokument also ohne die vorsorglich einkalkulierten Probleme. »Article 12. After the Treaty has been in force for ten years, or at any time thereafter, the Parties shall, if any of them so requests, consult together for the purpose of reviewing the Treaty,«74 In diesem Artikel vereinbaren die Partner, den Vertrag frühestens am zehnten Jahrestag seines Inkrafttretens zu überprüfen. Zur Aufnahme von Konsultationen zu diesem Zweck bedarf es lediglich einer entsprechenden Forderung eines von ihnen. »having regard for the factors then affecting peace and security in the North Atlantic area, including the development of universal as well as regional arrangements under the Charter of the United Nations for the maintenance of international peace and security.«75 Während diese Sequenz keine Indizien dafür enthält, ob eine spätere Revision des Nordatlantikvertrages auf die Abtretung eigener Rechtsansprüche an die Vereinten Nationen oder eher auf die Einschränkung von deren Kompetenzen hinauslaufen wird, steht dessen ungeachtet fest, dass jede Revision immer auch die Möglichkeit einer Vertragsauflösung mit einschließt, wiewohl eine solche bei diesen Überlegungen kaum im Vordergrund stehen dürfte. 73
»hinterlegt worden sind; für andere Staaten tritt er am Tage der Hinterlegung ihrer Ratifikationsurkunden in Kraft. [Der Nordatlantikvertrag trat nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch alle Unterzeichnerstaaten am 24. August 1949 in Kraft.]«. 74 »Artikel 12. Nach zehnjähriger Geltungsdauer des Vertrages oder zu jedem späteren Zeitpunkt werden die Parteien auf Verlangen einer von ihnen miteinander beraten, um den Vertrag zu überprüfen,«. 75 »unter Berücksichtigung der Umstände die dann den Frieden und die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets berühren, zu denen auch die Entwicklung allgemeiner und regionaler Vereinbarungen gehört, die im Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit dienen.«.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
»Article 13. After the Treaty has been in force for twenty years, any Party may cease to be a Party one year after its notice of denunciation has been given to the Government of the United States of America, which will inform the Governments of the other Parties of the deposit of each notice of denunciation.«76 Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass die Mitgliedschaft in der atlantischen Gemeinschaft frühestens 21 Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrages erlöschen kann. Die Kündigungsfrist beträgt zwölf Monate. Dass eine Kündigung der Regierung der Vereinigten Staaten mitzuteilen ist, die sodann alle anderen Partner informiert, rückt die USA einmal mehr in die Rolle des „Geschäftsführers“ des Bündnisses. Die zur Darstellung des Vollzugs einer Kündigung gewählte Formulierung »any Party may cease to be a Party« verdeutlicht erneut die große Bedeutung, welche die Verfasser des Nordatlantikvertrages dem zur Kennzeichnung von Vergesellschaftungszusammenhängen besser geeigneten Ausdruck »Party« beimessen. Dem möglichen Einwand, dass diese Kündigungsklausel dem Vergemeinschaftungscharakter des untersuchten Dokuments zuwiderlaufe, kann mit dem Argument begegnet werden, dass zwanzig Jahre Mitgliedschaft per Selbstbindung ein sehr langer Zeitraum für einen Vertrag sind. Nicht die Geltung des Kontraktes, sondern die Bindung wird hier befristet. Eine rechtskräftige Einigung zwischen Eheleuten, mindestens zwanzig Jahre auf eine Scheidung zu verzichten, wäre dagegen völlig undenkbar. Ungeachtet der Möglichkeit, sich schon am Tag nach der Hochzeit scheiden zu lassen, ist die Ehe aber selbstverständlich eine Vergemeinschaftung. Der Vergemeinschaftungscharakter des Bündnisses wird in dieser Sequenz somit nicht zerstört, sondern bestätigt. Der Nordatlantikvertrag enthält lediglich eine Stufung, derzufolge eine Neuverhandlung frühestens nach zehn- und ein Austritt sogar erst nach zwanzigjähriger Geltung des Kontraktes möglich wird. Im nordatlantischen Bündnis bestehen gewissermaßen zwanzig Jahre Scheidungsverbot. »Article 14. This Treaty, of which the English and French texts are equally authentic, shall be deposited in the archives of the Government of the United States of America. Duly certified copies will be transmitted by that Government to the Governments of other signatories.«77 Abschließend wird darauf hingewiesen, dass auch die Originalversion des Nordatlantikvertrages in den Archiven der Regierung der Vereinigten Staaten deponiert wird.
5.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Sequenzanalyse des Nordatlantikvertrages anhand von fünf Handlungsproblemen zusammengefasst werden, die immanent rekonstruiert wur76 »Artikel 13. Nach zwanzigjähriger Geltungsdauer des Vertrags kann jede Partei aus dem Vertrag ausscheiden, und zwar ein Jahr, nachdem sie der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika die Kündigung mitgeteilt hat; diese unterrichtet die Regierungen der anderen Parteien von der Hinterlegung jeder Kündigungsmitteilung.«. 77 »Artikel 14. Der Vertrag, dessen englischer und französischer Wortlaut in gleicher Weise maßgebend ist, wird in den Archiven der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hinterlegt. Diese Regierung übermittelt den Regierungen der anderen Unterzeichnerstaaten ordnungsgemäß beglaubigte Abschriften.«.
5.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
163
den und teilweise unmittelbar aufeinander verweisen. Dabei handelt es sich um den Entwurf eines Selbstbildes, die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung, die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, den Nachweis der Legitimität des atlantischen Bündnisses und die sehr eng mit Letzterem verbundene Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Die diagnostizierte Konstitution des Bündnisses als einer Vertragsgemeinschaft auf der Basis geteilter Überzeugungen ist primär auf der Ebene des Handlungsproblems „Entwurf eines Selbstbildes“ angesiedelt. Neben einer ihrer Tendenz nach fundamentalistischreligiösen Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen manifestiert sich dieses Selbstbild vor allem in der Bekundung eines gemeinsamen zivilisatorischen Erbes, das Demokratie, die Freiheit der Person und Rechtsstaatlichkeit ebenso umfasst wie (ordnungs-)politische Stabilität und wirtschaftliches Wohlergehen.78 Nicht zuletzt in Verbindung mit möglichen pädagogischen Absichten bezüglich einer universellen Verbreitung dieser Werte wird ein avantgardistisches Selbstverständnis der Partner erkennbar. Auf der Suche nach Ansatzpunkten für eine historisch entstandene Gemeinschaft in der nordatlantischen Region erwies sich, dass der Name des vorliegenden Vertrages darauf zurückzuführen sein könnte, dass er die transatlantische Kooperation in den Weltkriegen und entsprechend die Fortsetzung der Weltkriegsallianz symbolisieren soll. In diese Richtung deutet auch, dass sich die nordatlantische Gemeinschaft – trotz eines gewissen Rests an Misstrauen unter den Mitgliedern, dass sich in der Bestimmung über die Einstellung solcher Praktiken niederschlägt, die den Ausführungen des Nordatlantikvertrages zuwiderlaufen – als eine Verteidigungsgemeinschaft konstituiert, deren zugrundeliegende Handlungslogik in der Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand kulminiert. Dies leitet unmittelbar zu dem für die Gründung des Bündnisses vermutlich zentralen Handlungsproblem über, das hier als „Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung“ der Partner bezeichnet werden soll. Indem Staaten die Anstrengungen zu ihrer Verteidigung vereinigen, binden sie sich auf einer Ebene aneinander, auf der Entscheidungen über Krieg und Frieden getroffen werden und somit (zumindest prinzipiell) stets die Existenz der beteiligten Nationen auf dem Spiel steht. Kollektive Verteidigung zieht daher einen Prozess der Vergemeinschaftung nach sich, der über reines Interessenkalkül und zweckrationales Handeln hinausreicht.79 Zur Realisierung des Ziels einer Stärkung der nationalen und gemeinsamen Verteidigung verpflichten sich die Mitglieder des Nordatlantikvertrages explizit zu Selbsthilfe und gegenseitiger Hilfe – sowie implizit zur Unterhaltung schlagkräftiger Armeen, zu ausreichender Bewaffnung und zu Kooperation im Rüstungssektor. Das Bündnis „entpuppt“ sich als eine Solidargemeinschaft, die schon beim geringsten Verdacht auf die Gefährdung eines ihrer Glieder aktualisierbar ist. Ihren Kulminationspunkt erreicht die Vergemeinschaftungslogik in der Beistandsverpflichtung des Vertrages. Ungeachtet der völkerrechtlichen Vorläufigkeit der individuellen und kollektiven Selbstvertei78
Gegenüber der Thematisierung einer positiven Bezugnahme auf bestimmte Werte im Sinne eines Selbstbildes neigt der „Wertegemeinschaftskonstruktivismus“ zu einer Überbetonung der Bedeutung dieser (von seinen Anhängern mutmaßlich aus staatsbürgerlich guten Gründen geteilten) Werte für das dem Bündnis zuschreibbare Handeln. Andere Aspekte im Kontext dieses Handelns, wie sie etwa im weiteren Verlauf dieses Abschnitts angeführt werden, spielen dagegen kaum eine Rolle. Vgl. Thomas Risse-Kappen (1995): Cooperation among Democracies. The European Influence on U.S. Foreign Policy. Princeton, NJ: Princeton University Press. 79 Der zu starke Fokus auf Interessenkalküle hat sich ja gerade als ein Hauptproblem des – eben noch ganz dem rationalistischen Paradigma der Internationalen Beziehungen verhafteten – „neoliberalistischen Institutionalismus“ herausgestellt. Vgl. Abschnitt 2.1.2.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
digung – hierzu wird auf Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen verwiesen – stellt die gegenseitige Verteidigung jedoch nur eine Mindestanforderung dar. Auf die Kodifizierung einer Vorrangstellung gemeinsamer Gegenmaßnahmen wird ebenso verzichtet wie auf die verbindliche Festlegung der fälligen Verteidigungsbeiträge. Für eine gewisse Vagheit der Beistandsverpflichtung spricht auch, dass sie der Aufrechterhaltung der Sicherheit im nordatlantischen Gebiet, nicht aber der Wiederherstellung der Unabhängigkeit angegriffener Staaten dient. Weiterhin kann sie zwar schon von einer Attacke auf einen einzigen Partner ausgelöst werden, bleibt aber auf bereits vollzogene Angriffe beschränkt. Letztlich ist die Effektivität der Beistandsverpflichtung also vom Wohlwollen der Einzelstaatenregierungen abhängig. Die zentrale Bedeutung des gegenseitigen Beistands, der Verstärkung der Bewaffnung und der Koordination der Rüstungsindustrie spiegelt sich auch auf der Ebene der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen des Bündnisses wider. So werden die Artikel, welche diese Ziele regeln, explizit im Rahmen der Bestimmungen über die Bildung eines Verteidigungsausschusses erwähnt – zugleich der einzigen Spezifizierung in Zusammenhang mit der Konstitution eines Rats als höchstem Entscheidungsgremium der Vertragsgemeinschaft. Dass Bewaffnung und Rüstungskooperation so schnell wie möglich beginnen sollen, ist daraus abzuleiten, dass der Vertrag bereits in Kraft treten kann, bevor ihn alle Signatarstaaten ratifiziert haben. Die Abhängigkeit der rekonstruierten Verselbstständigung einer Rüstungsverpflichtung von der Definition der Bedrohungslage verweist schließlich auf das Handlungsproblem der „Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen“ des Bündnisses, dem wir uns nun zuwenden wollen. Die interne Struktur ist von einer gewissen Vagheit zugunsten der real existierenden Machtverhältnisse innerhalb des Bündnisses gekennzeichnet. Während sich den beiden zuvor dargestellten Handlungsproblemen in etwa die Handlungsregeln „Präsentation des Zusammenschlusses als Gemeinschaft auf der Grundlage westlicher Werte“ und „rasche Gewährleistung einer soliden und umfassenden Verteidigung“ zuschreiben lassen, lautet die Handlungsregel in diesem Falle „Flexibilität bei der Ausgestaltung der bündnisinternen Struktur“. Konkret verweisen sowohl die Bestimmungen zur Beseitigung möglicher wirtschaftspolitischer Konflikte zwischen den Partnern als auch jene zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung der Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe auf die bestehenden Machtverhältnisse. Da der Nordatlantikvertrag aber keine Vorkehrungen gegen mutmaßliche Machtungleichgewichte zwischen seinen Mitgliedern trifft, ist es nicht unplausibel, bis auf weiteres davon auszugehen, dass es sich bei denjenigen, denen es gelingt, die Definitionshoheit über den Handlungsbedarf des Bündnisses und seiner Konstituenten für sich in Anspruch zu nehmen, häufig um den oder die stärksten Partner handeln dürfte. In diesem Zusammenhang ist es wohl legitim darauf hinzuweisen, dass den Vereinigten Staaten eine besondere Rolle im Bündnis zugedacht wird. Die Archive der USRegierung sind der Ort, an dem der Originalvertrag und die Beitrittsprotokolle aller – der gegenwärtigen wie der künftigen – Signatarstaaten verwahrt werden. Entsprechend übernimmt die Regierung der Vereinigten Staaten die Verpflichtung, alle Mitglieder umgehend über die Hinterlegung eines solchen Beitrittsprotokolls zu unterrichten. Zudem ist Washington der erste Ansprechpartner für jene Verbündeten, die beabsichtigen, ihre Mitgliedschaft in der nordatlantischen Vertragsgemeinschaft zu kündigen. Da es eine nahe liegende Alternative gewesen wäre, den als eine Art Bereitschaftsdienst konzipierten Rat mit diesen Aufgaben zu betrauen, scheint die Schirmherrschaft der USA für das Bündnis – die natür-
5.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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lich immer auch eine besondere Verantwortung impliziert – durchaus erwünscht zu sein. Den Hauch eines hegemonialen Projekts verleiht der Vergemeinschaftung aber in erster Linie die Nennung von sieben Staaten – Belgien, Kanada, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten –, von deren Ratifikation ein Inkrafttreten des Vertrages abhängig gemacht wird. Spiegelbildlich zur Konstitution dieses inneren Kerns, gleichsam der Avantgarde der Avantgarde, werden die übrigen Gründungsstaaten in den Rang von Mitgliedern zweiter Klasse abgestuft, die für das Risiko einer Verzögerung ihrer Ratifikation allein verantwortlich gemacht werden. Das doppelte avantgardistische Selbstverständnis des Bündnisses als Ganzem und von sieben seiner Gründungsmitglieder ist indes geeignet, eine schleichende Aushöhlung des geographischen Kriteriums seiner Namensgebung zu bewirken, das im Rahmen einer Bearbeitung des Handlungsproblems „Nachweis der Legitimität des atlantischen Bündnisses“ eine gewichtige Rolle spielt. Denn wenn die nordatlantische Gemeinschaft oder einzelne ihrer Glieder herausragende Verdienste, zum Beispiel auf der Ebene zivilisatorischer Errungenschaften und des Einsatzes für westliche Werte, vorzuweisen hätten, müssten diese schon in einem recht suggestiven Zusammenhang mit dem Nordatlantik stehen, um dessen Vorzug bei der Benennung der Vertragsgemeinschaft zu rechtfertigen. Die transatlantische Kooperation in den Weltkriegen wäre zwar ein Kandidat, der diese Anforderungen zu erfüllen vermag; da, wie ein Abgleich mit dem äußeren Kontext ergibt80, jedoch auch zwei Staaten zu den Gründungsmitgliedern gehören, die zunächst Verbündete Nazideutschlands (Italien) bzw. neutral (Portugal) gewesen sind, verliert eine Berufung auf den Zweiten Weltkrieg aber erheblich an Glaubwürdigkeit. Jenseits einer Verknüpfung mit dem Avantgarde-Argument ist die Befolgung der Handlungsregel „geographische Legitimation des Zusammenschlusses“ allerdings schon problematisch genug. Die Auswahl eines geographisch definierten Begriffs zur Benennung eines politischen Verbunds lässt den konsistenten Gebrauch dieses Begriffs als durchaus angemessen erscheinen. Konkret hätte dies eine klare Regelung der Einbeziehung der Nebenmeere des Nordatlantik zur Folge. Dass den Signataren solch klare Regelungen möglich sind, zeigt ihre eindeutige Festlegung auf den Wendekreis des Krebses – und nicht des Äquators – als Südgrenze des Vertragsgebiets. Vor dem Hintergrund des Verzichts auf eine ebenso stringente Handhabung der Nebenmeer-Frage schwankt die Mitgliedschaftspolitik des Bündnisses jedoch zwischen den Polen der Überdehnung eines engen Nordatlantikkonzepts ohne Berücksichtigung der Nebenmeere und der Unterausschöpfung eines erweiterten Verständnisses zuzüglich der Nebenmeere. Betrachten wir zur Verdeutlichung dieser Schwankung die geographische Lage der sieben im Vertragstext selbst erwähnten und der fünf übrigen, dem äußeren Kontext zu entnehmenden Gründungsmitglieder der Gemeinschaft: Mit Frankreich, Island, Kanada, Portugal, dem Vereinigten Königreich und den USA erweisen sich sechs Staaten als unmittelbare Anrainer des Nordatlantik. Hinzu kommen die vier Nordseeanrainer Belgien, Dänemark, die Niederlande und Norwegen, sowie Italien – als zunächst einziges am Mittelmeer gelegenes Land – und der Binnenstaat Luxemburg. In Richtung einer Überdehnung des geographischen Kriteriums weist neben der Mitgliedschaft Luxemburgs vor allem die selektive Berücksichtigung der Nebenmeere. Mit anderen Worten: Warum können Anrainer von Mittelmeer und Nordsee der Vertragsgemeinschaft beitreten, während Ostseestaaten 80 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass ein Abgleich mit dem äußeren Kontext im Anschluss an eine Sequenzanalyse mit den regulativen Prinzipien der objektiven Hermeneutik vereinbar ist. Vgl. Abschnitt 3.3.2.4.
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5. Fall 1: Nordatlantikvertrag
nicht unter den Gründungsmitgliedern zu finden sind? Gleichzeitig werden jedoch auch Tendenzen zu einer Unterausschöpfung des Mitgliedschaftspotentials deutlich. Aus der Gruppe der unmittelbaren Nordatlantikanrainer fehlen Irland und Spanien (Beitritt 1982), auf Seiten der Nordseestaaten Deutschland (Beitritt 1955) und Schweden; von den an das Mittelmeer grenzenden Staaten sind weder Jugoslawien, Albanien (Beitritt 2009), Griechenland und die Türkei, die beide im Jahr 1952 aufgenommen wurden, noch Syrien, Libanon, Israel und Ägypten unter den Gründungsmitgliedern. Auch die Nichtmitgliedschaft eines Anrainers der Ostsee und – zumindest bis zur Aufnahme der Türkei – des Schwarzen Meeres wäre hier negativ zu verbuchen. Das stärkste Argument für eine schleichende Unterminierung der Angemessenheit der Bezeichnung des Bündnisses als nordatlantisch liefert indes die Beschränkung des Kreises der Staaten, die zu einem Beitritt eingeladen werden können, auf Europa. Diese Fixierung auf einen Kontinent konterkariert die Namensgebung der nordatlantischen Gemeinschaft nach einem Meer, da nicht ersichtlich ist, warum der Nordatlantik Nordamerika nur mit Europa, nicht aber mit Afrika und Asien verbinden sollte. Die geographische Umhüllung des Vertragsgrundes erweist sich somit als oberflächlich und dünn.81 Darüber hinaus stellt sie einen direkten Bezug zur „Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen“ her, dem fünften und letzten der hier zu erörternden Handlungsprobleme. Im Lichte von Kapitel VIII der UN-Charta sieht es so aus, als diene das geographische Kriterium der Benennung dem Zweck, das nordatlantische Bündnis als Regionalorganisation der Vereinten Nationen erscheinen zu lassen. Zur Beilegung von regionalen Konflikten sieht Artikel 52(2) der Charta diese Möglichkeit explizit vor. Weit mehr als im Fehlen einer expliziten Erwähnung dieses Artikels, das durch die Bezugnahme auf die Satzung der Vereinten Nationen (über-)kompensiert wird, findet der Versuch, auf diesem Wege die Legitimität der transatlantischen Gemeinschaft zu stärken, jedoch in der oben dargestellten fragwürdigen Handhabung des geographischen Kriteriums seine Grenze.82 Eingedenk der Überlegungen über die unterschiedlichen Implikationen von Zivilverträgen und „Vergemeinschaftungsverträgen“ im Anschluss an den zu Beginn der Sequenzanalyse eingeschalteten Exkurs über vertragliches Handeln hat es bisweilen gar den Anschein, als solle hier der formelle Stiftungsakt einer Vergemeinschaftung (NATO) auf einen Zivilakt von Rechtssub81
In diesem Zusammenhang ist Hemmer und Katzenstein darin zuzustimmen, dass Geographie allein noch kein Schicksal ist und dass auch geographisch beschriebene Regionen politische Schöpfungen und nicht von der Geographie fixiert sind (vgl. Christoph Hemmer/Peter J. Katzenstein (2002): Why is there no NATO in Asia? Collective Identity, Regionalism, and the Origins of Multilateralism, in: International Organization, 56: 3, S.575-607; hier: S.575 und 578). In Ergänzung dieses Arguments sei jedoch konstatiert, dass es sich bei vielen Regionen primär um – „politische“ – Schöpfungen von Geographen handelt. Entsprechend hat eine Begründungsverpflichtung zu erfüllen, wer gebräuchlich gewordene geographische Setzungen unter der Hand zu eigenen Zwecken umzudefinieren bestrebt ist. Hier darauf hinzuweisen, dass der impliziten Definition des Nordatlantik seitens der Partner des gleichnamigen Vertrages ein – gemessen an seinem gebräuchlichen Verständnis – überaus selektiver, inkonsistenter Umgang mit einem geographischen Begriff zugrunde liegt, ist daher ein legitimes Argument. Die Anerkennung der Möglichkeit einer politischen Umwidmung von Begriffsbedeutungen bleibt davon unberührt. 82 Spekulationen darüber, ob Artikel 52(2) der UN-Charta auf die Gründung von – dem Modell der Vereinten Nationen selbst nachempfundenen – regionalen Organisationen kollektiver Sicherheit abzielt und die nordatlantische Gemeinschaft als eine Organisation kollektiver Verteidigung daher ohnehin nicht dazu qualifiziert sei, sich als Regionalorganisation nach Kapitel VIII der Satzung der Vereinten Nationen zu konstituieren, sollen hier nicht angestellt werden. Es sei jedoch erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht – nach dem Ende der Blockkonfrontation – zu dem Urteil gelangt ist, dass die NATO eine Organisation kollektiver Sicherheit darstellt. Vgl. BVerfGE 90, 286 (1994): Bundeswehreinsatz. Urteil vom 12. Juli 1994. Erhältlich unter http://www.servat.unibe.ch/ dfr/bv090286.html (18.12.2007).
5.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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jekten innerhalb einer schon konstituierten und als Bedingungsrahmen in Anspruch genommenen Gemeinschaft (UN) reduziert werden. Besonders spannend sind die zu Tage geförderten Ambivalenzen im Verhältnis der nordatlantischen Gemeinschaft zu den Vereinten Nationen vor allem deshalb, weil dessen Gestaltung der (in diesem Falle: bewussten) Handlungsregel zu folgen scheint, das Verhältnis zur Weltorganisation so spannungsfrei wie möglich zu präsentieren. Nicht zuletzt in Verbindung mit der tendenziell religiösen Bindung an ihre Ziele und Grundsätze erwecken die diversen Verweise auf die Satzung der Vereinten Nationen allerdings nicht den – möglicherweise intendierten – Eindruck der Harmonie zwischen den beiden Institutionen, sondern lassen viel eher vermuten, dass sich die Signatare des Nordatlantikvertrages einem immensen Legitimationsdruck ausgesetzt sehen oder wähnen, dem sie mit einem gewissen Mangel an Souveränität und Routine tendenziell überängstlich und nervös begegnen: Indem sie die Vereinbarkeit ihrer Agenda mit der UN-Charta so oft betonen, laufen die Partner Gefahr, die Glaubwürdigkeit ihres Bekenntnisses zugunsten des Vorrangs der Vereinten Nationen zu unterminieren. Denn wenn der (seiner Tendenz nach religiöse) Eifer dieses Bekenntnisses ernst genommen wird, dann manifestiert sich darin möglicherweise die Überzeugung, dass die Verwirklichung der Ziele und Grundsätze der UN-Charta in ihren Händen am besten aufgehoben ist. Ein solches avantgardistisches Selbstverständnis der Mitglieder des Nordatlantikvertrages als eine Art Vereinte Nationen mit größerer Wirksamkeit dürfte indes nicht nur geeignet sein, Kompetenzstreitigkeiten mit der Weltorganisation heraufzubeschwören, sondern auch deren Stellung als wichtigstes Organ der Weltpolitik zu untergraben. Auf ein latentes Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Institutionen deutet auch hin, dass der Nordatlantikvertrag eine Einmischung des Bündnisses in internationale Streitfälle in hohem Maße vorsieht. Geschwächt wird die Glaubwürdigkeit der Loyalitätsbekundungen zugunsten des Vorrangs der UN-Charta zudem durch die im Vertragstext angedeutete Zugehörigkeit mindestens eines Staates zur atlantischen Gemeinschaft, der kein Mitglied der Vereinten Nationen ist. Ein Abgleich mit dem äußeren Kontext ergibt, dass es sich dabei um das faschistische Portugal und um Italien – Feindstaat nach Artikel 53(2) der Satzung der Vereinten Nationen – handelt, die beide erst am 14. Dezember 1955 in die UN-Organisation aufgenommen wurden.83 Während die Aufrichtigkeit der Bezugnahme auf die UN-Charta damit weiter in Frage gestellt wird, fügt die Mitgliedschaft eines autoritär geführten Regimes wie dem portugiesischen unter Salazar der Seriosität einer Inanspruchnahme von Demokratie und persönlicher Freiheit als einenden Werten schweren Schaden zu. Die Zugehörigkeit Italiens und Portugals zum Bündnis ist es auch, die der Glaubwürdigkeit der mit der Namensgebung möglicherweise suggerierten Behauptung entgegensteht, dass die historische Wurzel der atlantischen Gemeinschaft bis zur alliierten Kooperation im Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Denn während Portugal offiziell neutral geblieben war, hatte Italien den Krieg zunächst auf der Seite von Deutschland und Japan geführt und erst im September 1943 ein Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten unterzeichnet.84 83 Im Falle der Bundesrepublik Deutschland währte das „Interregnum“ zwischen einer NATO-Mitgliedschaft (Mai 1955) und der Aufnahme in die Vereinten Nationen (September 1973) gar dreimal so lange. 84 Der Abgleich mit dem äußeren Kontext mithilfe des Archivs der Gegenwart legt gleichwohl nahe, dass zumindest acht der zwölf Gründungsmitglieder der nordatlantischen Gemeinschaft über eine gemeinsame historische Praxis verfügen, die bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Bei ihnen handelt es sich um die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Belgien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande und Norwegen, deren politische Repräsentanten (nebst denen aus 19 anderen Staaten) am 1. Januar 1942 die Erklärung der Vereinten Natio-
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4.
*** Mit Blick auf die Auswahl des nächsten Falles der Untersuchungsreihe, der dem Prinzip der Bildung eines starken, möglichst maximalen Kontrastes genügen soll, stellt sich nun zunächst die Frage, welches der soeben präsentierten Ergebnisse die Basis des auswahlrelevanten Kontrastes bilden soll. Aufgrund seiner Dominanz im Rahmen der vorliegenden Sequenzanalyse, vor allem aber aufgrund des zumindest in dieser Hartnäckigkeit durchaus überraschenden Befunds soll der latente Konflikt zwischen dem atlantischen Bündnis und den Vereinten Nationen als das wichtigste und interessanteste Teilresultat angesehen werden und daher als Entscheidungsgrundlage für die Bestimmung des nächsten Falles gelten. Als das zweitwichtigste Teilergebnis könnte derweil die Dialektik von Überdehnung und Unterausschöpfung des Spektrums an potentiellen Mitgliedern angesehen werden, welches sich aus dem geographischen Kriterium der Namensgebung der Gemeinschaft ergibt. Entsprechend soll mit „Bosnien“ nun ein Fall analysiert werden, dessen Vorabeinschätzung Anlass bietet, der in der ersten Analyse eingeschlagenen Deutungsrichtung so wenig wie möglich zu entsprechen. Konkret bedeutet dies, dem bei der Untersuchung des Nordatlantikvertrages zu Tage geförderten latenten Konkurrenzverhältnis von NATO und Vereinten Nationen die enge Kooperation beider Institutionen im Rahmen der Konfliktlösung auf dem westlichen Balkan entgegenzustellen. Die Bewegungsrichtung der Fallauswahl weist also von „Konflikt“ zu „Harmonie“.85 Was die Bestimmung eines fallkonstitutiven Dokuments für die Sequenzanalyse anbelangt, so könnte es ratsam sein, ein Kommuniqué des Nordatlantikrats zum Untersuchungsgegenstand zu machen, das zu einem Zeitpunkt verfasst worden ist, da die Vereinten Nationen und das atlantische Bündnis zwar bereits kooperierten, ein erfolgreiches Ende des Krieges in Bosnien aber noch nicht unmittelbar bevorstand.
nen unterzeichnet haben – eine Anerkennung der Prinzipien der Atlantik-Charta, auf die sich US-Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill am 14. August 1941 geeinigt hatten und die den Verzicht auf Expansionsabsichten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und internationale Zusammenarbeit beinhaltet. Zu den neunzehn Staaten, die sich der Erklärung bis zum Frühjahr 1945 anschlossen, zählte am 26. Dezember 1944 auch Frankreich. An den Verhandlungen über die Satzung der Vereinten Nationen, die in der Zeit vom 25. April bis zum 26. Juni 1945 stattfanden, nahmen insgesamt 50 Staaten teil. Am 26. Juni 1945 wurde die UN-Charta dann von Repräsentanten aus 51 Staaten in San Francisco unterzeichnet. Von den späteren zwölf Gründungsmitgliedern des nordatlantischen Bündnisses waren drei nicht vertreten – Island (UN-Aufnahme am 19. November 1946) sowie, wie erwähnt, Italien und Portugal. 85 Rückblickend drängt sich die Übernahme der Führung der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan durch das atlantische Bündnis im August 2003 als Alternative zum Fall „Bosnien“ auf. Mutmaßlich aufgrund ihrer Überlagerung durch die von den USA geführte Operation Enduring Freedom wurde diese Alternative im Rahmen der Konzipierung des Prinzips der pfadabhängigen Fallauswahl und der Auswahl des Falles „Bosnien“ im Lauf der Jahre 2004/05 schlichtweg übersehen (vgl. hierzu auch Kapitel 11).
6 Fall 2: Bosnien
6.1 Sequenzanalyse »Press Communiqué«1 Gleich aus der ersten Sequenz des zu analysierenden Textes geht die Gattung des vorliegenden Dokuments hervor. Es handelt sich um ein Kommuniqué, eine „[regierungs]amtliche Mitteilung (z.B. über Sitzungen, Vertragsabschlüsse)“.2 Der Zusatz »Press« könnte entweder darauf verweisen, dass die Mitteilung in gedruckter, also in geschriebener und nicht bloß gesprochener Form vorliegt, oder dass sie ihren Weg in die Öffentlichkeit zunächst über die Presse, nicht aber via Fernsehen und Hörfunk, findet. Wir haben es hier also mit einer offiziellen Verlautbarung zu tun, einem edierten und damit hochgradig gestalteten Text. Dies bedeutet, dass die Spontaneität der Verfasser darin auf ein Minimum beschränkt sein wird, da solche Texte in der Regel vor der Herausgabe mehrfach, mitunter auch von Juristen, geprüft werden, um die für den Inhalt verantwortlichen Personen vor missliebigen Interpretationen zu schützen. Gleichwohl sollte der Text hinreichend Allgemeines im Einzelnen und Typisches im Individuellen enthalten, so dass sich seine detaillierte Analyse als gerechtfertigt erweist. Mithilfe der gegebenen Definition des Wortzeichens Kommuniqué kann der Kreis der möglichen Herausgeber sogleich deutlich eingeschränkt werden. Der Hinweis auf amtliche Stellen legt es nahe, die Verfasser im Bereich nationaler und subnationaler Behörden oder internationaler Regierungsorganisationen zu suchen. Einflussreiche Einzelpersonen dürften ihre über die Medien lancierten Stellungnahmen dagegen nicht als Kommuniqué bezeichnen. Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage nach dem Grund der Veröffentlichung eines Kommuniqués. Dieser könnte, wie bei einer Regierungserklärung oder monatlichen Berichten der Zentralbank, in – vom Kalender diktierter – Routine bestehen oder im Vorliegen außergewöhnlicher Bedingungen. So könnte es den Verfassern um die Verkündung eines besonderen, ganz gleich ob freudigen oder unerfreulichen, Ereignisses oder um die Klarstellung eines Sachverhalts gehen, der aus ihrer Sicht unrichtig oder zumindest tendenziös dargestellt worden ist und nicht so stehen gelassen werden kann. Die Antwort auf die Frage, an wen sich das Pressekommuniqué richtet, scheint auf der Hand zu liegen. Aber selbst wer sich damit begnügen mag, dass ein Pressekommuniqué an die Presse geht, dürfte zugestehen, dass es in diesem Zusammenhang interessant wäre zu prüfen, nach welchem Muster die Verteilung an die Presse erfolgt, d.h.: Wer wird aus erster Hand bedient und wer nicht? Darüber hinaus zielt die Frage jedoch vor allem darauf ab, wer mittels des Kommuniqués explizit und wer nur implizit adressiert wird. »M-NAC-1 (95) 51«
1 2
»Pressekommuniqué«; die Übersetzung des Dokuments stammt vom Autor der vorliegenden Arbeit. Duden Band 5, Fremdwörterbuch (1990), Mannheim et al.: Dudenverlag (5. Auflage), S.413.
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6. Fall 2: Bosnien
Beim Inhalt dieser Sequenz dürfte es sich um eine Referenz- oder Seriennummer zur Spezifizierung und Archivierung handeln, um die vorliegende Veröffentlichung von Kommuniqués eines anderen Typs ebenso unterscheiden zu können wie von früheren oder späteren Exemplaren desselben Typs. Die Ziffer in Klammern könnte der Kennzeichnung der aktuellen Jahreszahl, die darauf folgende Ziffer der Bezeichnung der laufenden Nummer des Dokumententyps dienen. Aber natürlich könnte es sich auch genau umgekehrt verhalten. »Issued by«3 In Analogie zum Vermerk Absender bei einem Brief haben die Wortzeichen »Issued by« hier die Funktion, die Institution zu benennen, in deren Namen das vorliegende Pressekommuniqué verfasst worden ist. »the North Atlantic Council«4 Bei dem vorliegenden Dokument handelt es sich also um ein Kommuniqué des Nordatlantikrats. Da der Begriff Nordatlantikrat Elemente eines Eigennamens enthält, sind seiner immanenten Deutung gewisse Grenzen gesetzt. Auch um vor dem Hintergrund der ausführlichen Begründung der Entscheidung zugunsten einer Analyse von Verlautbarungen dieses Gremiums im Rahmen der Einrichtung des Untersuchungsgegenstands in Abschnitt 4.1 erhebliche Redundanzen zu verhindern, ist es daher legitim, den Rat an dieser Stelle als das höchste politische Organ jenes zwischenstaatlichen Gebildes einzuführen, das auf der Grundlage der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages am 4. April 1949 in Washington entstanden ist. »in Ministerial Session«5 Dass das vorliegende Dokument dem Nordatlantikrat »in Ministerial Session« zugeschrieben wird, legt nahe, dass der Rat in unterschiedlichen Konstellationen tagt. Zu Ratstreffen in nicht-ministerieller Zusammensetzung könnten Sitzungen der Staats- und Regierungschefs ebenso gehören wie Treffen der politischen Beamten der Mitgliedstaaten. Auf einer Hierarchieskala würde die zuerst genannte Konstellation also nach oben von der ministeriellen Zusammensetzung abweichen, die zuletzt genannte entsprechend nach unten. Im Lichte dieser Ausführungen kann nun auch die Bedeutung der Seriennummer aus der zweiten Sequenz weiter ausgedeutet werden. Während das Kürzel »NAC« für die Anfangsbuchstaben der Wortzeichen »North Atlantic Council« steht, verweist das dieser Kombination vorausgehende »M-« auf die ministerielle Zusammensetzung des Rats. Darüber hinaus könnte etwa die angehängte Ziffer »-1« anzeigen, welche Ressortvertreter sich getroffen haben, also zum Beispiel die Außen- oder die Verteidigungsminister oder andere. »at Noordwijk, The Netherlands 30 May 1995«6
3
»Herausgegeben vom«. »Nordatlantikrat«. 5 »in ministerieller Sitzung«. 6 »in Noordwijk, Niederlande, den 30. Mai 1995«. 4
6.1 Sequenzanalyse
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Mithilfe der Nennung von Ort und Datum werden in dieser Sequenz die Angaben vervollständigt, die zur Bestimmung des Verfassers des Kommuniqués erforderlich sind. Die Mitteilung des Rats wurde also im Rahmen eines Treffens von Ministern der Mitgliedstaaten am 30. Mai 1995 in Noordwijk in den Niederlanden verfasst. Die in Klammern gesetzte Ziffer »(95)« aus der obigen Seriennummer kann somit als Jahreszahl identifiziert werden, während die verbleibende Ziffer »51« mutmaßlich die aktuelle Ausgabe innerhalb des laufenden Jahres oder die über die Jahre hinweg akkumulierte Nummer dieser Veröffentlichung indiziert. Möglicherweise steht die Seriennummer »M-NAC-1 (95) 51« also für das 51. Pressekommuniqué des Nordatlantikrats im Jahr 1995 oder für das 51. Pressekommuniqué des Nordatlantikrats in ministerieller Zusammensetzung seit Bestehen des Bündnisses oder, jedoch weniger wahrscheinlich, allein im Jahr 1995. Möglichkeiten zur Motivierung des Sachverhalts, dass das Ratstreffen in Noordwijk stattgefunden hat, mag es indes viele geben. Aus forschungspragmatischen Gründen kann deren Erörterung hier jedoch vernachlässigt werden. »Statement«7 Nach der soeben vervollständigten Bezeichnung der für das Kommuniqué verantwortlichen Institution eröffnet diese Sequenz erwartungsgemäß eine neue Ebene des Dokuments. Das Wortzeichen »Statement« weist auf den Anfang des eigentlichen Textes hin und könnte die Funktion einer Überschrift aufweisen. Gleichwohl hat das Vorliegen eines amtlichen Dokuments eine gewisse Erwartungshaltung hinsichtlich des Grades der Verbindlichkeit geweckt, die durch den eher unverbindlich anmutenden Ausdruck »Statement« nun leicht enttäuscht wird. Wiewohl ein Statement nicht nur eine Stellungnahme, sondern auch eine Erklärung oder eine Aussage vor Gericht sein kann, steht doch kaum mehr zu erwarten, dass sich unter dieser Überschrift ein glasklarer politischer Entscheid verbirgt. Der große Spielraum von Verlautbarungen eines politischen Beschlussgremiums von gravierenden Entscheidungen über Ultimaten und Forderungen bis hin zu einfachen Stellungnahmen dürfte hier wahrscheinlich nur zu einem sehr geringen Maß ausgeschöpft werden. Dies führt zu der Frage, ob die mutmaßliche Unverbindlichkeit der vorliegenden Stellungnahme geplant, es sich dabei also um eine Routinemaßnahme handelt, oder ob sie nicht geplant gewesen ist. Wenn die erzeugte Unverbindlichkeit ungeplant gewesen sein sollte, könnte dies bedeuten, dass den Ministern der Mitgliedstaaten keine interne Einigung möglich war. Auch ein solches Zeugnis interner Uneinigkeit des Rats bliebe gleichwohl höchst bedeutsam, da es sich dabei ja demnach um eine offizielle Verlautbarung des höchsten Entscheidungsgremiums des Nordatlantikvertrages handelt. Weiterhin ist es einer Stellungnahme, einem Statement, zu eigen, dass sich ein Sprecher dazu veranlasst sieht. Was könnte also dieser mögliche Anlass sein? Einerseits könnten äußere Ereignisse die Stellungnahme motiviert haben. In diesem Falle könnte das Statement die Form einer Lagebeurteilung annehmen. Andererseits könnte der Rat auch von Dritten um eine Stellungnahme gebeten worden sein, dieser könnte also eine konkrete Anfrage oder gar eine Aufforderung zugrunde liegen. Dies führte schließlich zu der Frage, von wem diese Anfrage oder Aufforderung stammen könnte. »on the Situation«8 7
»Stellungnahme«.
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6. Fall 2: Bosnien
Auf den ersten Blick überrascht es ein wenig, dass die Stellungnahme des Nordatlantikrats eine Situation zum Gegenstand hat und keine konkrete Entscheidung Dritter oder ein konkretes Ereignis. Gerade weil der Ausdruck »Situation« so allgemein, so diffus und unspezifisch ist, passt er jedoch gut zum Wortzeichen »Statement« aus der Vorsequenz. Diese beiden Unverbindlichkeit signalisierenden Begriffe korrespondieren gut miteinander. Im Sinne einer Momentaufnahme eines umfassenden Prozesses verweist eine Situation natürlich immer auch auf die Gesamtheit des sozialen Lebens; als ein besonderer Ausschnitt hebt sie sich von dieser Totalität jedoch zugleich immer auch ab. Gemessen an dem Spielraum an Konkretion, der im Rahmen der Verlautbarung des höchsten politischen Entscheidungsgremiums einer zwischenstaatlichen Organisation möglich gewesen wäre (eine Entscheidung anlässlich der Maßnahme eines Dritten zum Beispiel), ist eine Stellungnahme zu einer Situation doch sehr unspezifisch. Welche Art von Situation könnten die im Rat versammelten Minister vor Augen haben? »in Former Yugoslavia«9 Der konkrete Gegenstand des vorliegenden Kommuniqués ist also die Situation im ehemaligen Jugoslawien. Im Sinne einer Indexikalität verweist dieser nicht immanent auszudeutende geographisch-politische Eigenname auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von Kontextwissen. Da dieses niemals unumstritten ist, liegt es nahe, dass sich der Sequenzanalytiker für jene der verfügbaren Varianten des zur Indexikalität »Former Yugoslavia« gehörigen Wissens entscheidet, von der er selbst am meisten überzeugt ist.
Exkurs: Ehemaliges Jugoslawien In einem amtlichen Dokument findet sich der Ausdruck »ehemaliges« oder »früheres« Jugoslawien erstmals im Rahmen der slowenischen Unabhängigkeitserklärung vom 25. Juni 1991.10 Seitdem trugen Politiker aus Slowenien und Kroatien, das am selben Tag für unabhängig erklärt worden war, zur raschen Verbreitung des Begriffes bei, indem sie ihn immer wieder in offiziellen Schriftstücken, bei Reden und in Interviews gebrauchten. Damit suggerierten sie, dass es den Verbund, von dem sie sich soeben losgelöst hatten – Jugoslawien, d.h. die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien – nun nicht mehr gebe. Bestehend aus den Gliedstaaten Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien einschließlich der zwei autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo, sowie Slowenien war dieser Verbund am 29. November 1945 unter dem Namen Föderative Volksrepublik Jugoslawien in Belgrad proklamiert worden. Wie schnell der Begriff in der Folgezeit „Karriere“ machte, wird daran deutlich, dass das britische Nachrichtenmagazin The Economist bereits am 3. August 1991 von jenem politischen Gebilde schrieb, welches nun zunehmend als „ehemaliges Jugoslawien“ be-
8
»zur Situation«. »im ehemaligen Jugoslawien«. 10 Diese Darstellung basiert auf Recherchen mithilfe des Online-Anbieters LexisNexis und folgt zudem: Der Grosse Ploetz (1998). Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge. Freiburg: Herder (32. Auflage), S.1538ff. 9
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6.1 Sequenzanalyse
zeichnet werde.11 In einem Leitartikel der New York Times fand sich der Ausdruck erstmals am 22. November 1991 – ebenso ohne Anführungszeichen wie in der Tageszeitung taz, die schon am 14. Oktober 1991 geschrieben hatte: „Kasernen als Faustpfand. Jetzt wollen auch die UNO und Gorbatschow in Ex-Jugoslawien vermitteln.“ Mit der völkerrechtlichen Anerkennung von Slowenien und Kroatien durch die Staaten der Europäischen Gemeinschaft am 15. Januar 1992 – Deutschland hatte diese bereits am 19. Dezember 1991 ausgesprochen – und ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen gemeinsam mit BosnienHerzegowina am 22. Mai desselben Jahres wurde der Schritt von Jugoslawien zum ehemaligen Jugoslawien nur kurze Zeit später dann auch auf dem Spielfeld der internationalen Politik vollzogen. *** Im Lichte der Kernaufgaben, die der Nordatlantikvertrag seinen Unterzeichnerstaaten zuweist, wirft der Gegenstand der Stellungnahme des Nordatlantikrats sogleich die Frage nach Zweck und Selbstverständnis des Bündnisses auf. Mit anderen Worten: Aus welchem Grund könnte sich der Rat mit der Situation im so genannten ehemaligen Jugoslawien befassen? Welche Relevanz besitzt die genannte Region für das Bündnis und seine Agenda? Zum einen könnte im gewählten Vorgehen des Rats eine Tendenz zur Universalisierung der Aufgaben des Bündnisses zum Ausdruck kommen, ein Hang zu Allzuständigkeit also. Zum andern könnte es sich um einen unverbindlichen und für das eigene Handeln ohne Wirkung bleibenden (weltpolitischen) Kommentar handeln. Doch selbst in diesem Fall müsste die Frage nach dem Warum beantwortet werden können. Darüber hinaus bleibt in diesem Zusammenhang weiterhin offen, warum der Rat nur eine Stellungnahme abgibt und keine Entscheidung trifft. Dies könnte von interner Uneinigkeit oder der Wahrung von Distanz zeugen. Möglich ist indes auch, dass es sich hierbei um die behutsame Vorbereitung verbindlicherer Schritte handelt. Weitere Fragen, die hier aufgeworfen werden, sind: Auf welches Handlungsproblem des Nordatlantikrats verweist das Statement? Welche Folgen, welche Konsequenzen könnte das Statement zeitigen, d.h. wer wird es gutheißen, wer wird es zurückweisen? Und schließlich: An wen ist das Statement – de facto – adressiert? Offenkundig ist eine Stellungnahme zu einer Situation in erster Linie nicht an konkrete Personen gerichtet. Es verweist auf einen eher indirektobjektivistischen Modus; da es aber von Personen, zum Beispiel von den ganz konkret in die Situation im ehemaligen Jugoslawien involvierten Menschen, rezipiert wird, wird es auch Wirkungen zeitigen. »We regard«12 Da mit dieser Sequenz ein neuer Satz beginnt, wird klar, dass die vorangegangene Formulierung »Statement on the Situation in Former Yugoslavia«, die kein Verb enthält, die Überschrift des Kommuniqués bildet. Auf den ersten Blick scheint die Wendung »We regard« sogar noch hinter das niedrige Erwartungsniveau zurückzufallen, das sich im An11
In einem Artikel über Slowenien heißt es dort: „It is the only one of the six republics of what is now increasingly referred to as 'former Yugoslavia' to have no sizeable minorities.“ Vgl. Yugoslavia. The Balkan Tragedy, in: The Economist vom 3. August 1991, S.44 der Europa-Ausgabe. 12 »Wir betrachten«.
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6. Fall 2: Bosnien
schluss an die tendenziell Unverbindlichkeit signalisierenden Wortzeichen »Statement« und »Situation« in Bezug auf die Möglichkeit des Vorliegens konkreter politischer Entscheidungen eingestellt hat. Der Ausdruck deutet auf Muße hin, auf die Praxisentlastetheit der Sprecher. Die im Nordatlantikrat versammelten Minister haben sich offenbar in den Modus ästhetischer Erfahrung begeben und üben sich in bloßer Betrachtung. Eine Involvierung des Rats in die Situation im ehemaligen Jugoslawien ist somit kaum anzunehmen, ein Aktivwerden der NATO nicht absehbar. Bringt das Bündnis in dieser Stellungnahme also eine Zuschauerrolle zum Ausdruck? Auf den zweiten Blick lässt sich die Formulierung »We regard« gleichwohl auch mit Wir befinden oder Wir sehen etwas an als übersetzen. Dies wäre dann die Vorform eines Urteils. Eine beide Lesarten verbindende dritte Variante könnte schließlich darauf verweisen, dass der Modus der Betrachtung in Muße gewählt worden ist, um zu einem möglichst tiefgründigen Urteil zu gelangen. Was aber könnten die im Nordatlantikrat versammelten Minister betrachten, um es unter der Überschrift »Statement on the Situation in Former Yugoslavia« zusammenzufassen? Welche Vorkommnisse könnten sie im ehemaligen Jugoslawien verfolgen, die sowohl für die von ihnen zu lösenden Handlungsprobleme relevant als auch Gegenstand einer praxisentlasteten Betrachtung sein können? »with the utmost seriousness«13 Man darf wohl annehmen, dass der Nordatlantikrat seine Tätigkeiten generell und geradezu aus Prinzip mit Ernsthaftigkeit betreibt. Dass nun aber äußerste Ernsthaftigkeit erforderlich ist, lässt darauf schließen, dass außeralltägliche, krisenhafte Vorkommnisse in das Zentrum der Aufmerksamkeit seiner Mitglieder getreten sind. Dass müßige Betrachtungen per se Ernsthaftigkeit verlangen, verleiht dieser Sequenz indes einen „Hauch“ von Redundanz. Problematisch ist hier zudem die Selbstzuschreibung. Da es wohl angemessener ist, über andere zu sagen, dass sie etwas mit äußerster Ernsthaftigkeit betrachten, neigen die Verfasser hier ein wenig zu Selbstinszenierung und Selbstcharismatisierung – vermutlich um sich oder andere ihrer Wichtigkeit zu versichern. »the further deterioration of the situation«14 Der Gegenstand der äußerst ernsthaften Betrachtung seitens des Nordatlantikrats ist also die weitere Verschlechterung einer Situation. Dass es sich bei dieser, ungeachtet der Allgemeinheit des Begriffs, um eine konkrete handelt und nicht um die im Rahmen eines Kommuniqués wohl nur schwer auf den Begriff zu bringende allgemeine Weltlage (in diesem Zusammenhang wohl die abstrakteste Form einer Situation), verdeutlicht die Kombination aus dem bestimmten Artikel vor und dem Fehlen eines Satzzeichens nach »situation«. Wie bereits in der Überschrift des Dokuments impliziert der Verzicht auf eine eingehende Spezifizierung der Situation mittels eines Adjektivs indes auch hier eine gewisse Vagheit der Äußerung. Spiegelbildlich kommt darin das Interesse des Rats an allen Aspekten der konkreten Situation zum Ausdruck. Dass der Rat deren weitere Verschlechterung konstatiert, gibt zu erkennen, dass er sich schon zu einem früheren Zeitpunkt mit ihr befasst und zu dem Ergebnis einer Verschlechterung der Lage gekommen ist. 13 14
»mit äußerster Ernsthaftigkeit«. »die weitere Verschlechterung der Situation«.
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6.1 Sequenzanalyse
Auch angesichts der beiden im Rahmen der Analyse des Nordatlantikvertrages zu Tage geförderten Kernaufgaben des Bündnisses, gegenseitigem Beistand einerseits und Bewaffnung andererseits, wird eine hinreichende Beantwortung der Frage, auf welche – gegen die Partner gerichteten – Vorkommnisse die Ratsmitglieder bei ihrer Betrachtung aufmerksam geworden sind, immer dringlicher. Für den Fall, dass in der Tat gegen die NATO gewendete Aktionen wie Aggression und Aufrüstung betrachtet würden, zeugte die gewählte Wortwahl (»We regard«) jedoch von einer eigentümlichen Unbeteiligtheit. Stattdessen wäre das vorliegende Statement wohl glaubwürdiger und klarer, wenn der Rat die von ihm festgestellten, gegen das Bündnis gerichteten Maßnahmen explizit und als solche benennen würde, anstatt sich hinter der unspezifischen Ausdrucksweise einer weiteren Verschlechterung der Situation zu verstecken. Im Umkehrschluss bedeutet just diese Nichtnennung, dass vermutlich gar keine das Bündnis als Verteidigungsgemeinschaft herausfordernden Handlungen vorliegen. Dies wiederum machte es umso wichtiger zu erfahren, welche – weiter verschlechterte – Situation eigentlich konkret vorliegt und welche Aspekte daran von Interesse sind. »in Bosnia-Herzegovina«15 In Analogie zum ehemaligen Jugoslawien ist auch Bosnien-Herzegowina ein nicht immanent interpretierbarer Eigenname aus dem Bereich des politischen Lebens, der es erforderlich macht, die Analyse mit Kontextwissen anzureichern.
Exkurs: Bosnien-Herzegowina Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Bosnien-Herzegowina eine von sechs Teilrepubliken der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien, die nach der Annahme einer neuen Verfassung im Jahr 1963 in Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien umbenannt wurde.16 Im Unterschied zu Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien, den fünf anderen jugoslawischen Teilrepubliken, besitzt keine der in Bosnien-Herzegowina ansässigen Volksgruppen eine absolute Mehrheit an der Gesamtbevölkerung. Die drei konstitutiven Volksgruppen sind Bosniaken, Serben und Kroaten. Am 15. Oktober 1991 erklärte die bosniakisch-kroatische Parlamentsmehrheit das Land für souverän und unteilbar. Die serbischen Abgeordneten bildeten daraufhin ein eigenes Parlament. Am 10. November 1991 stimmten die bosnischen Serben in einer Volksbefragung für die Abspaltung und den Anschluss an Serbien. In einem von den bosnischen Serben boykottierten Referendum für die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas stimmten am 29. Februar und 1. März 1992 99% der Wählerinnen und Wähler für die Unabhängigkeit. Am 22. Mai 1992 wurde Bosnien-Herzegowina Mitglied der Vereinten Nationen. *** Dass unter der Überschrift »Statement on the Situation in Former Yugoslavia« die – weiter verschlechterte – Situation in Bosnien-Herzegowina behandelt wird, ist also stimmig. Doch 15 16
»in Bosnien-Herzegowina«. Die Darstellung folgt: Der Grosse Ploetz (1998), S.1542ff.
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6. Fall 2: Bosnien
warum erfolgt dies in einem Kommuniqué des Nordatlantikrats? Aufgrund der bisherigen Sequenzen können eine interne Angelegenheit der NATO wohl ebenso ausgeschlossen werden wie Geschehnisse, die den kollektiven Beistand der Partner erforderlich machen; um eine dieser beiden Möglichkeiten auszudrücken, wäre der Text viel zu indirekt und damit nachgerade unangemessen. Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass die Situation in BosnienHerzegowina nicht unmittelbar mit den Kernaufgaben des Bündnisses in Verbindung steht. Unter dieser Bedingung könnten mit der weiteren Verschlechterung der Situation in Bosnien-Herzegowina Probleme bei der Trinkwasserversorgung, die Zunahme von Epidemien oder ein rapider Anstieg der Säuglingssterblichkeit ebenso gemeint sein wie eine schleichende makroökonomische Destabilisierung oder die Zunahme von Spannungen zwischen den Volksgruppen. Doch selbst im Falle des Vorliegens solcher Entwicklungen bliebe es erklärungsbedürftig, weshalb sich der Nordatlantikrat mit ihnen befasst, sie ob ihrer Schwere allerdings einstweilen bloß betrachtet. »and condemn«17 Diese Sequenz markiert nun einen spannenden Übergang. Der Modus des Dokuments wechselt von der Betrachtung hin zur Verurteilung. Die zuvor beschriebene müßige Betrachtung diente also vornehmlich der Bildung eines möglichst wohl erwogenen Urteils, das nun angekündigt wird. Mit anderen Worten: Was die Ratsmitglieder beim praxisentlasteten Betrachten der weiteren Verschlechterung der Situation in Bosnien-Herzegowina erkannt haben, verdient ihrer Meinung nach verurteilt zu werden. Ihnen missfällt, was sie sehen. Gleichwohl führt die gewählte Vorgehensweise zu der Frage, ob Verurteilungen einem politischen Gremium angemessen sind. Entspricht diesem richterlichen Modus in der Politik nicht allenfalls der Stil einer Mehrparteien-Parlamentsresolution in Ermangelung einer Problemlösungsstrategie? Vor dem Hintergrund, dass der Nordatlantikrat ein mit effektiven Machtmitteln ausgestattetes, exekutive Befugnisse aufweisendes Gremium ist, mutet eine Verurteilung auf den ersten Blick erklärungsbedürftig an. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass es sich hier um eine gezielte Maßnahme zur Vorbereitung des Einsatzes von Zwangsmitteln handelt. Ungeachtet dieser Überlegungen bleibt die Frage, was hier verurteilt werden könnte. Einerseits könnte dies natürlich etwas sein, das den eigenen Zielsetzungen widerspricht – gegen das Bündnis gerichtete Aggressionen oder Rüstungsentscheidungen zum Beispiel. Dafür ist die bisher an den Tag gelegte Ausdrucksweise jedoch nach wie vor viel zu indirekt. Darüber hinaus könnte der Nordatlantikrat Vorkommnisse verurteilen, die einer über ihn und seine Agenda selbst hinausweisenden, übergeordneten Instanz zuwiderlaufen, ein Militärputsch oder Menschenrechtsverletzungen etwa. Dass sich die partikularistische NATO zum Anwalt eines per se universalistischen Zusammenschlusses wie der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa machte, trüge jedoch Züge einer Selbstüberhöhung. Angemessen wäre dies wohl nur dann, wenn der Nordatlantikrat von einer ihm übergeordneten Instanz dazu aufgefordert worden wäre. Doch warum sollte dies geschehen? Dieses Szenario ist wohl nicht wahrscheinlich, aber doch zumindest möglich. 17
»und verurteilen«.
6.1 Sequenzanalyse
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»the escalation of violence«18 Wie aus dem inneren Zusammenhang erschlossen werden kann, verurteilt der Nordatlantikrat im Zuge seiner Betrachtung der Verschlechterung der Situation in BosnienHerzegowina also die Eskalation der Gewalt in diesem Land. Dies wirft die Fragen auf, gegen wen sich die Gewalt richtet, wer sie verübt, welches Ausmaß sie annimmt und wer für die Lage verantwortlich ist. Unklar bleibt darüber hinaus, in welcher Verbindung die Eskalation der Gewalt in Bosnien-Herzegowina zu den im Rat versammelten Partnern des Nordatlantikvertrages steht und welche Auswirkungen die Verschlechterung der Situation in Form einer Zunahme der Gewalt auf das Ausmaß der Involvierung des Nordatlantikrats hat. »by the parties«19 Die Kombination aus einem bestimmtem Artikel und dem Allgemeinbegriff »parties« zur Kennzeichnung derjenigen Kräfte, die vom Nordatlantikrat für die Eskalation der Gewalt in Bosnien-Herzegowina verantwortlich gemacht werden, ist sehr aufschlussreich. Daraus geht hervor, dass die Identifikation der Verantwortlichen weder die Aufgabe noch eine besondere Leistung des Rats gewesen ist, sondern dass diejenigen, die zu der Verschlechterung der Situation beigetragen haben, zumindest bei jenem Teil der Öffentlichkeit, an den sich das Kommuniqué richtet, bereits als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Vor dem Hintergrund seiner lateinischen Bedeutung als Teile oder Geteilte verweist der Ausdruck Parteien hier unmittelbar auf ein Ganzes, das sie gemeinsam konstituieren. Bei diesem Ganzen könnte es sich um das in der Überschrift genannte ehemalige Jugoslawien oder um das zuletzt erwähnte Bosnien-Herzegowina selbst handeln. Hinsichtlich des gewaltsam ausgetragenen Konflikts, von dessen Parteien hier die Rede ist, können somit drei mögliche Varianten voneinander unterschieden werden: Erstens könnten Parteien des ehemaligen Jugoslawien einen Konflikt in Bosnien-Herzegowina austragen (Krieg), zweitens könnten Parteien aus Bosnien-Herzegowina einen Konflikt in Bosnien-Herzegowina austragen (Bürgerkrieg) und drittens könnten beide Konflikte zugleich in BosnienHerzegowina ausgetragen werden bzw. miteinander verknüpft sein. Die Inkongruenz zwischen den Wortzeichen ehemaliges Jugoslawien in der Überschrift und BosnienHerzegowina im Text scheint für die dritte Lesart einer Verknüpfung von Krieg und Bürgerkrieg zu sprechen. Dies ist jedoch nicht zwingend, da auf die Situation in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien noch im weiteren Verlauf des Kommuniqués eingegangen werden und sich die Erörterung der Lage in Bosnien-Herzegowina nur als der erste von mehreren Unterpunkten erweisen könnte. Darüber hinaus ist aus dieser Sequenz zu ersehen, dass der Nordatlantikrat die Gewalteskalation (mindestens) zwei Gruppen zuschreibt. In Verbindung mit der nüchternabstrakten Ausdrucksweise »parties« kann dies als der Versuch gewertet werden, unter Beweis zu stellen, selbst keine der beteiligten Gruppierungen zu favorisieren oder gar zu unterstützen, sondern eine neutrale und ausgewogene Haltung an den Tag zu legen. Aus dieser suggerierten Äquidistanz des Rats zu den Konfliktparteien kann geschlossen werden, dass sich hinter der von ihm konstatierten Eskalation der Gewalt vermutlich keine massive 18 19
»die Eskalation der Gewalt«. »durch die Parteien«.
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Aggression militärischer Einheiten gegen die Zivilbevölkerung verbirgt. Im Falle solch gravierender Vorgänge, die relativ eindeutig einer Seite angelastet werden müssten, wäre deren Verurteilung durch den Rat in hohem Maße missglückt. Er würde seine Integrität und Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen und sich leichtfertig dem Verdacht aussetzen, eine geheime Agenda zu verfolgen oder gar mit den Aggressoren gemeinsame Sache zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es daher weitaus wahrscheinlicher, dass die mutmaßliche Konfliktlinie zwischen Armeen, zwischen Armeen und Paramilitärs oder zwischen Paramilitärs verläuft und es sich – polemisch gewendet – der Kenntnis des Nordatlantikrats dabei noch entzieht, wer die „Guten“ und wer die „Bösen“ sind.20 Die auffallend vage und unverbindliche Sprache des Kommuniqués, wie sie in den Wortzeichen Stellungnahme, weitere Verschlechterung der Situation und Parteien zum Ausdruck kommt, dokumentiert das Bemühen des Rats, den Eindruck zu verhindern, seine Sichtweise könnte einseitig sein. Das Bemühen um neutrale Formulierungen, die Zuweisung von Verantwortung an alle Beteiligten und die Vermeidung einer klaren Benennung von Tätern und Opfern dürfte somit von der Sorge zeugen, dass die Position der NATO von Dritten rasch als tendenziös, vorurteilsvoll oder schlicht als parteiisch abgetan werden könnte. »and the hostile acts against UN personnel.«21 Weiterhin verurteilt der Nordatlantikrat die feindlichen Akte gegen das Personal der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien im Allgemeinen bzw. in Bosnien-Herzegowina im Besonderen. Dies wirft mindestens zwei Folgefragen auf. Die erste lautet, von welcher der Konfliktparteien diese Feindseligkeiten verübt worden sind. Wenn keine weitere Spezifizierung erfolgt, würde dies bedeuten, dass offenbar alle Parteien daran beteiligt sind. Auf diesem Wege würden das Bemühen des Rats um Unparteilichkeit und Neutralität sowie sein Vorwurf der gleichen Verantwortlichkeit aller Beteiligten konsistent fortgesetzt. Ein Konflikt mit dem bislang erweckten Anschein der Neutralität ergäbe sich für ihn jedoch dann, wenn Dritte die eindeutige Zurechnung der feindlichen Akte zu einer der involvierten Konfliktparteien behaupten würden. Die zweite Folgefrage zielt auf die generelle Bedeutung einer Verurteilung feindlicher Akte gegen Personal der Vereinten Nationen durch den Nordatlantikrat. Denn indem er hier für die Weltorganisation spricht, macht er sich – möglicherweise ungefragt und unaufgefordert – zu deren Anwalt und Fürsprecher. Damit untergräbt der Nordatlantikrat jedoch die Autorität der Vereinten Nationen, die – aus seiner Sicht – offenbar nicht (mehr) für sich selbst sprechen können und ihre Interessen nicht (mehr) selbst wahrzunehmen und zu verteidigen imstande sind. Selbst wenn die Verurteilung seitens des Rats nur flankierend zu einer im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme unerwähnt bleibenden Resolution des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung der Vereinten Nationen erfolgt wäre, bliebe die Grundproblematik dieser Konstellation dennoch erhalten. Es handelt sich hier gewissermaßen um eine Form von unangemessenem Paternalismus des Filius, um eine Art Bevormundung des Vormunds. Nur die Vereinten Nationen können jedoch für die Vereinten 20 Die Behauptung, dass der Rat diese Erkenntnis bereits besitzt, sie aber aus strategischen Gründen verschleiert, wäre übrigens ein klassischer Fall für die Verletzung der regulativen Interpretationsprinzipien der Sparsamkeit und der Wörtlichkeit (vgl. Abschnitt 3.3.2.1 und 3.3.2.3). 21 »und die feindlichen Akte gegen Personal der Vereinten Nationen.«.
6.1 Sequenzanalyse
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Nationen sprechen. Der Nordatlantikrat ist dazu nicht berufen und handelt hier unangemessen. Sollte er allerdings von den Vereinten Nationen dazu aufgefordert worden sein, hätten diese das Heft des Handelns selbst aus der Hand gegeben und sich damit ein Stück weit selbst dementiert und ihrer Autonomie beraubt. In diesem Fall wäre der Nordatlantikrat nur der Vollzugsgehilfe einer Schwächung der Vereinten Nationen, die von dieser selbst gewählt und folglich auch selbst zu verantworten wäre. »We also condemn«22 Diese Sequenz zeigt an, dass die Stellungnahme des Nordatlantikrats den Modus der Verurteilung beibehält. »in the strongest terms«23 An dieser Stelle sind zwei Lesarten möglich. Zum einen könnte die Wendung »in the strongest terms« zum Ausdruck bringen, dass die nun folgende Verurteilung schärfer und entschiedener ausfällt als die vorangegangene. Plausibler ist es jedoch, die gesamte Formulierung kraft des »also« auf das Vorstehende zurück zu beziehen, so dass nicht nur die angekündigte, sondern auch die bereits erfolgte Verurteilung als eine Verurteilung in der stärksten Form zu verstehen ist. Vor allem stellt sich hier jedoch die Frage, was nach der Verurteilung einer Eskalation der Gewalt und von Angriffen auf Personal der Vereinten Nationen noch folgen kann, das der stärksten Verurteilung gerecht wird. Ist die weiter verschlechterte Situation in BosnienHerzegowina entgegen aller Erwartung doch von Vorgängen gekennzeichnet, die gegen die NATO gerichtet sind und den gegenseitigen Beistand der Partner erfordern? »the outrageous behaviour of the Bosnian Serbs«24 Die explizite Verurteilung des abscheulichen Betragens der bosnischen Serben bricht überraschenderweise mit dem Bemühen des Rats um eine neutrale Darstellung, das sich bisher in der Form des Verzichts auf die Benennung von konkreten Gruppen geäußert hat. Interessanterweise lässt die Einleitung des vorliegenden Satzes mit »We also condemn« den Schluss zu, dass es sich bei den bosnischen Serben um keine der zuvor erwähnten Parteien handeln könnte, denen die Eskalation der Gewalt angelastet worden ist. Diesem Argument auf der Ebene der Form steht indes entgegen, dass die Formulierung das abscheuliche Betragen der bosnischen Serben auf der Ebene des Inhalts unmittelbar an die oben konstatierte Eskalation der Gewalt anzuknüpfen vermag. Es hätte keinen Sinn, zunächst jene Parteien zu verurteilen, die eine Zunahme der Gewalt zu verantworten haben, und anschließend das abscheuliche Betragen einer ebenfalls involvierten Gruppe zu beanstanden, ohne sie zu den Mitverantwortlichen zu zählen. Angesichts dessen ist es plausibel, dass hier keine Addition einer neuen Konfliktpartei, sondern eine Spezifizierung vorliegt; nach der Gewalteskalation seitens der Parteien im Allgemeinen wird das Betragen der bosnischen Serben im Besonderen kritisiert. Diese Lesart wird auch dadurch gestützt, dass damit kaum gemeint sein kann, 22
»Wir verurteilen ebenfalls«. »in der stärksten Form«. 24 »das abscheuliche Betragen der bosnischen Serben«. 23
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dass sich alle bosnischen Serben abscheulich betragen. Stattdessen dürfte es um das abscheuliche Betragen allein jener bosnischen Serben gehen, die im Sinne der obigen Sequenz Partei sind. Der Ausdruck »outrageous behaviour«, der als abscheuliches Betragen, unerhörtes, empörendes Benehmen und zudem als verbrecherisches Verhalten übersetzt werden kann, bedarf indes noch einiger zusätzlicher Erläuterungen. So wäre es wichtig zu wissen, gegenüber wem die bosnischen Serben abscheuliches Betragen an den Tag legen. Sind dies nicht-bosnische Serben, bosnische Nicht-Serben, Ausländer, oder bekämpfen sich die bosnischen Serben womöglich gegenseitig? Welche Formen nimmt ihr abscheuliches Betragen an? In welchem Zusammenhang steht es zur Eskalation der Gewalt im Land? Darüber hinaus interessiert in diesem Kontext auch die Frage, wessen Aufgabe es sein könnte, Ereignisse in Bosnien-Herzegowina, wie es der Nordatlantikrat hier tut, zu verurteilen und diese Urteile dann gegebenenfalls auch zu vollstrecken. Welche Rolle spielen dabei die legalen Institutionen von Bosnien-Herzegowina, welche die Vereinten Nationen oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa? »in shelling safe areas«25 Diese Sequenz leitet über zu der erforderlichen Spezifizierung des abscheulichen Betragens der bosnischen Serben. Ihnen wird der Beschuss von sicheren Gebieten (»safe areas«) mit Granaten zur Last gelegt. Wenn in sicheren Gebieten aber Granaten einschlagen, dann sind sie offensichtlich nicht mehr sicher. Die an der Wurzel dieser Wortschöpfung liegende Unterscheidung von sicheren und nicht sicheren Gebieten droht damit obsolet zu werden. Dies führt zu der Frage, was sich hinter dieser Formulierung verbirgt. Es ist schwer vorstellbar, dass die Ratsmitglieder damit lediglich zu Protokoll geben möchten, dass die bosnischen Serben die Gewalt ausgeweitet und in Gebiete getragen haben, die bislang von gewaltsamen Auseinandersetzungen verschont geblieben waren. Um dies auszudrücken, hätte es ganz sicher nicht der Verwendung des Ausdrucks »safe areas« bedurft. Da dieser Begriff auf einen Widerspruch verweist, der nicht aufgeklärt wird, könnte es sich bei ihm auch um eine feste Größe innerhalb des Sprachspiels derjenigen handeln, die sich mit der Situation im ehemaligen Jugoslawien befassen. Berücksichtigt man weiterhin, dass der Nordatlantikrat den Beschuss der sicheren Gebiete ganz explizit in der stärksten Form verurteilt, ist es plausibel, dass die Taten der bosnischen Serben eine gravierende Regelverletzung darstellen. Dies wäre zudem vor allem dann stimmig, wenn die »safe areas« den Status explizit geschützter, von gewaltsamen Auseinandersetzungen auszunehmender Gebiete besessen hätten. Bis auf weiteres unbeantwortet blieben vor diesem Hintergrund jedoch die Folgefragen, warum einige Gebiete als sichere galten und andere nicht, nach welchen Kriterien dies entschieden wurde, wer daran beteiligt war und wer diese Entscheidung (nicht) anerkannt hat. »and killing and seizing UN peacekeepers.«26 Die Spezifizierung des abscheulichen Betragens der bosnischen Serben findet in dieser Sequenz ihre Fortsetzung. Der Nordatlantikrat wirft ihnen nicht nur vor, sichere Gebiete 25 26
»in Form des Granatenbeschusses der Sicherheitszonen«. »und des Tötens und Gefangennehmens der UN-Friedenstruppen.«.
6.1 Sequenzanalyse
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mit Granaten beschossen, sondern auch Friedenstruppen der Vereinten Nationen getötet und gefangen genommen zu haben. Dies führt zu der Frage, ob diese beiden Delikte in einem näheren Zusammenhang zueinander stehen und ob dies auch für die sicheren Gebiete und die UN-Truppen gilt. Es ist interessant zu sehen, dass die Entsendung von Friedensbewahrern (»peacekeepers«), wenn es sich dabei nicht um eine bloß rhetorische Finesse handeln soll, im Unterschied zur Abordnung von Friedensschaffern (peacemakers) zur Voraussetzung hat, dass die Lage am Zielort stärker von Frieden als von Krieg gekennzeichnet ist, dass also noch immer eher ein Frieden herrscht, der bewahrt werden kann. Streng genommen sind »UN peacekeepers« also zur Wahrung und nicht zur (Wieder-)Herstellung des Friedens in einem Einsatzgebiet. Zum Zeitpunkt ihrer Entsendung nach Bosnien-Herzegowina bzw. ins ehemalige Jugoslawien herrschte dort nach Ansicht derjenigen, in deren Auftrag sie dort sind, also kein Krieg vor, sondern eine Gefährdung des Friedens. Ein Anzeichen dafür, dass diese von den Vereinten Nationen vorgegebene Sprachregelung auch für den Nordatlantikrat noch handlungsleitend ist, stellt der vorsichtige Stil des vorliegenden Kommuniqués dar, in dem – bislang zumindest – ebenfalls nicht von Krieg, sondern lediglich von einer weiteren Verschlechterung der Situation, einer Eskalation der Gewalt und von »outrageous behaviour« die Rede ist.27 Die beiden letzten Sequenzen haben deutlich gemacht, dass der Partei der bosnischen Serben bei der weiteren Verschlechterung der Situation in Bosnien-Herzegowina eine enorme Rolle zukommt. Um die eingangs gebrauchte Formulierung einer Eskalation der Gewalt durch die Parteien (»by the parties«) nicht zu dementieren, wäre es daher erforderlich, im weiteren Verlauf der Stellungnahme auch den zuvor suggerierten Anteil der anderen Parteien an der Verschärfung der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu explizieren. Darüber hinaus ist an dieser Stelle natürlich der Inhalt des Vorwurfs an die bosnischen Serben ganz besonders gravierend. Wer UN-Friedenstruppen festnimmt und sogar tötet, stellt sich damit unweigerlich außerhalb der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Interessanterweise wird nun aber der Druck auf die Vereinten Nationen, unverzüglich und angemessen auf die geschilderten Vorfälle zu reagieren, durch deren öffentliche Erwähnung seitens des Nordatlantikrats noch verschärft. Der Rat signalisiert damit möglicherweise auch, dass die Streitkräfte der Bündnispartner bereitstehen, um die Truppen der Vereinten Nationen besser zu schützen und um Maßnahmen gegen die Aggressoren zu ergreifen. »We demand«28 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass das vorliegende Kommuniqué die Struktur einer sich steigernden Abfolge der Schritte des Nordatlantikrats beibehält. Auf die Verurteilung im Anschluss an die anfängliche Betrachtung folgt nun eine Forderung (»We demand«). Damit ist der Rat nun definitiv bei den zentralen Aktivitäten eines politischen Gremiums angelangt. Was werden seine Mitglieder von wem, wie und warum verlangen? »that the shelling of safe areas be stopped«29 27 Dass die innerhalb der politischen Praxis ebenso wie in der Wissenschaft ausgefochtenen semantischen Kämpfe um die Bezeichnung einer Situation als Krieg oder Frieden mitunter die Grenze zur Dogmatik, wenn nicht sogar zur Strukturverlogenheit, überschreiten mögen, steht hier nicht zur Debatte. 28 »Wir fordern«.
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Die Forderung, den Granatenbeschuss der sicheren Gebiete zu beenden, ist natürlich unmittelbar an jene gerichtet, die diesen zu verantworten haben – die Partei der bosnischen Serben also. Dies wirft die Frage auf, welche Mittel der Nordatlantikrat einzusetzen bereit ist, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen und um gleichzeitig seine Glaubwürdigkeit zu bewahren. »and that UNPROFOR members and UN observers held hostage by the Bosnian Serbs«30 Die zweite Forderung hat Personal im Dienste der Vereinten Nationen zum Gegenstand, das von den bosnischen Serben als Geiseln genommen worden ist. Auf der Ebene der Forderungen wird somit jene Bewegungsrichtung unmittelbar fortgesetzt, die bereits im zweiten Teil des Verurteilungspassus zum Ausdruck gekommen ist: das Abarbeiten an jenen Taten, die allein den bosnischen Serben zur Last gelegt werden können. Die Abkehr von der zuerst eingeschlagenen Route einer geteilten Verantwortung aller Parteien hält also an. Gleichwohl bedarf es für eine Rückkehr auf den Ausgangspfad auch weiterhin nichts weiter als der Benennung des Anteils der anderen Parteien an der Eskalation der Gewalt. Jenseits der nahe liegenden Erwartung der Forderung nach einer Freilassung der Geiseln fällt hier die Unterscheidung der Repräsentanten der Weltgemeinschaft in so genannte UNPROFOR-Mitglieder und UN-Beobachter ins Auge. Während Letztere offenbar zur Beobachtung der Situation nach Bosnien-Herzegowina entsandt worden sind, als deren (weitere) Verschlechterung auch am Sitz der Vereinten Nationen in New York für möglich gehalten oder bereits festgestellt worden ist, stellt das Wortzeichen »UNPROFOR« eine Indexikalität dar, zu deren Ausdeutung Kontextwissen erforderlich ist, das über die Annahme hinausgeht, dass Worte in Großbuchstaben, die mit »UN« beginnen, zumeist auf die Vereinten Nationen verweisen.
Exkurs: UNPROFOR Die United Nations Protection Force (UNPROFOR) wurde durch die Resolution 743 (1992) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 21. Februar 1992 geschaffen.31 Ihr ursprünglicher Auftrag, der darin bestand, die Entmilitarisierung von drei dazu bestimmten Gebieten (United Nations Protection Areas) in Kroatien zu ermöglichen, wurde von Juni 1992 an in mehreren Schritten auf verschiedene Tätigkeiten in Bosnien-Herzegowina ausgedehnt. Zu diesen gehörten u.a. die Gewährleistung der Sicherheit und des Funktionierens des Flughafens von Sarajevo, die Unterstützung der Auslieferung humanitärer Hilfe, sowie die Überwachung der Flugverbotszone und der vom UN-Sicherheitsrat ausgewiesenen Sicherheitszonen Srebrenica, Sarajevo, Tuzla, Zepa, Gorazde und Bihac. Im Falle von Angriffen auf diese Sicherheitszonen, über die der Rat verfügt hatte, dass sie von bewaffneten Attacken und sonstigen feindlichen Akten verschont bleiben sollten, war es UNPRO29
»dass der Granatenbeschuss der sicheren Gebiete [Sicherheitszonen] gestoppt wird«. »und dass die von den bosnischen Serben als Geiseln genommenen UNPROFOR-Mitglieder und UNBeobachter«. 31 Dieser Exkurs folgt der Darstellung des Department of Public Information der Vereinten Nationen [vgl. http://www.un.org/Depts/dpko/dpko/co_mission/unprof_p.htm (13.10.2006)] sowie dem Wortlaut diverser Resolutionen des UN-Sicherheitsrats [vgl. http://www.un.org/Docs/sc/unsc_resolutions.html (18.10.2006)]. 30
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6.1 Sequenzanalyse
FOR gestattet, sich selbst zu verteidigen und mit der NATO den Einsatz luftgestützter Streitkräfte zur Unterstützung ihrer Vorhaben zu verabreden. Zu ihren Aufgaben gehörte darüber hinaus auch die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillstandsabkommen zwischen der bosnischen Regierung sowie den bosnischen Kroaten und den bosnischen Serben. Schließlich wurde das Mandat der UNPROFOR noch auf die frühere jugoslawische Teilrepublik Mazedonien ausgeweitet, ehe der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 31. März 1995 beschloss, UNPROFOR durch drei getrennte Friedensmissionen zu ersetzen. *** »be released unharmed, unconditionally.«32 Wenig überraschend verlangt der Nordatlantikrat, die Geiseln unversehrt freizulassen. Da diese Forderung bedingungslos (»unconditionally«) verlangt wird, sollte sie hinreichend abgesichert sein. Diese Vorgehensweise verweist somit auf die Bereitschaft des Rats, gegebenenfalls seine Macht unter Beweis zu stellen. Denn wenn er der Nichterfüllung seiner Forderung nichts mehr entgegenzusetzen hätte, unterminierte er seine eigene Glaubwürdigkeit. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist es zudem, dass der Nordatlantikrat die Freilassung der als Geiseln genommenen UNPROFOR-Angehörigen und UN-Beobachter offenbar auf eigene Rechnung verlangt; zumindest liegt kein Verweis auf eine diesbezügliche Resolution des UN-Sicherheitsrats vor. Dies kann nicht nur als der Versuch einer Anbiederung bei den Vereinten Nationen, sondern auch als deren Diskreditierung interpretiert werden: Die Verbündeten nehmen eine Resolution des Sicherheitsrats vorweg und erhöhen so den auf der Weltorganisation lastenden Handlungsdruck. Möglicherweise kommt in diesem Vorgehen auch zum Ausdruck, dass die Mitglieder des Nordatlantikrats Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für bloße Formalien halten und dazu neigen, sich selbst zu legitimieren. »We hold the Bosnian Serb leaders fully accountable for their safe return.«33 Diese Sequenz kann als erster Schritt in Richtung des Ziels verstanden werden, der vorstehenden Forderung Nachdruck zu verleihen. Er besteht darin, die Anführer der bosnischen Serben vollständig für die sichere Rückkehr der Geiseln verantwortlich zu machen. Auch für den Fall, dass marodierende Kleingruppen in nicht aufeinander abgestimmten, gleichsam spontanen und jedenfalls nicht zentral verfügten Einzelaktionen Entführungen vorgenommen hätten, blieben diese dennoch im (vom Nordatlantikrat abgesteckten) Verantwortungsbereich der Anführer der bosnischen Serben. Zweifelsohne wird der Druck auf diese damit erhöht. Gleichwohl bleibt bisweilen offen, wie der Nordatlantikrat die Führung der bosnischen Serben gegebenenfalls zur Verantwortung zu bringen gedenkt. »We pay tribute«34 32
»bedingungslos unversehrt freigelassen werden.«. »Wir machen die Anführer der bosnischen Serben vollständig für ihre sichere Rückkehr verantwortlich.«. 34 »Wir zollen Anerkennung«. 33
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Anstelle der durchaus erwartbaren klaren Benennung der Zwangsmittel für den Fall einer Nichterfüllung der gestellten Forderungen, des sprichwörtlichen Aufbaus einer Drohkulisse also, zollt der Nordatlantikrat nun, höchst überraschend, seine Anerkennung. Die Struktur der sukzessiven Erhöhung der Verbindlichkeit des Aussagegehalts des Kommuniqués, die von der Betrachtung zur Verurteilung und weiter zur Forderung geführt hat, wird damit gebrochen. Obwohl das vorhergehende Thema noch nicht als abgeschlossen gelten kann, wie das Fehlen eines Verweises auf jene Mittel nahe legt, mit denen die geforderte Freilassung der Geiseln nötigenfalls erzwungen werden könnte, wird nun offenbar schon zu einem neuen Punkt übergeleitet. Dieses Vorgehen wirft die Frage auf, ob es der Nordatlantikrat nicht für nötig hält, die Anführer der bosnischen Serben von seiner Bereitschaft zum Einsatz von Zwangsmitteln zu überzeugen, oder ob ihm dies nicht möglich ist. Wäre Ersteres der Fall, drückte sich darin ein enormes Selbstbewusstsein des Rats aus, da er folglich davon ausginge, dass ihn die bosnischen Serben per se für glaubwürdig und mächtig erachten müssen. Dies wiederum ließe Rückschlüsse auf ein großes Selbstbewusstsein der Ratsmitglieder zu. Wenn es dem Rat jedoch, wie der zweite Fall suggeriert, infolge interner Uneinigkeit oder sonstigen Gründen gar nicht möglich wäre, seine Stärke zu demonstrieren und allfällige Zwangsmaßnahmen zu artikulieren, wären seine Forderungen an die bosnischen Serben nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver. Dessen ungeachtet führt diese Sequenz natürlich nicht zuletzt zu der Frage, wem der Nordatlantikrat denn nun seine Anerkennung zollen wird. Nach der dezidierten Kritik an ihrer Rolle im Rahmen der Eskalation der Gewalt, wäre ein Lob für eine der Konfliktparteien hochgradig inkonsistent. Wahrscheinlicher wäre da schon die Würdigung der Initiative von Persönlichkeiten, die als Vermittler fungieren und sich um die Wahrung oder (Wieder-) Herstellung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien bemühen. In jedem Falle bleibt der sich in der Formulierung »We pay tribute« offenbarende Duktus innerhalb eines Kommuniqués des Nordatlantikrats eine ziemliche Überraschung, erinnert er doch viel eher an eine Preisverleihungszeremonie oder, um den Bogen zur Politik zurückzuschlagen, allenfalls an eine Allparteien-Parlamentsresolution in Ermangelung problemadäquater Handlungsstrategien. »to the outstanding courage«35 Die Anerkennung des Rats gebührt also jemandes hervorragendem Mut. Das ist stimmig. Doch wer könnte damit gemeint sein? Angesichts der bisherigen Schilderungen der Lage im ehemaligen Jugoslawien als eines Gebiets, das von den Vereinten Nationen zum Zweck der Wahrung des Friedens entsandter Truppen bedarf, verdichtet sich der Eindruck, dass sich der Nordatlantikrat anschickt – aus welchen Gründen auch immer – das Engagement jener zu preisen, die sich um Frieden und Vermittlung bemühen. Dies wäre auch deshalb plausibel, weil die Charakterisierung des anzuerkennenden Mutes als hervorragend – »outstanding« – suggeriert, dass dieser sogar jenes Maß übersteigt, welches in der momentanen Situation zu erwarten gewesen wäre. »being shown by UNPROFOR and UN personnel in this difficult situation.«36 35 36
»dem hervorragenden Mut«. »den UNPROFOR und UN-Personal in dieser schwierigen Situation gezeigt haben.«.
6.1 Sequenzanalyse
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Schließlich sind es also keine Staatsmänner im Ruhestand, deren couragierte Friedensbemühungen der Nordatlantikrat hier anerkennt, sondern der herausragende Mut, den UNPROFOR und UN-Personal in dieser schwierigen Situation gezeigt haben. Einmal mehr reproduziert sich in dieser Sequenz somit die Struktur eines ambivalenten Verhältnisses zwischen Nordatlantikrat und Vereinten Nationen. Dass die Ratsmitglieder den Mut von Streitkräften und Beobachtern in Diensten der Vereinten Nationen würdigen, wirkt angesichts der Rechtsverhältnisse zwischen den beiden Institutionen wie ein Rollentausch. Da aber offenbar selbst der herausragende Mut der Vereinten Nationen nicht ausgereicht hat, um den Granatenbeschuss der Sicherheitszonen (»safe areas«) und die Tötung und Gefangennahme jener Truppen zu verhindern, die zu deren Sicherheit abgestellt worden waren, könnte die erneute Paternalisierung der Vereinten Nationen durch das höchste Gremium der NATO somit auch als schleichende Vorbereitung einer aktiveren und größeren Rolle des Bündnisses (auf dem Balkan) gedeutet werden. In diesem Zusammenhang ist es überdies interessant zu sehen, dass sich hinter der Anerkennung des herausragenden Muts von UNPROFOR und UN-Personal in dieser schwierigen Situation zugleich auch eine Aufwertung der bosnischen Serben verbirgt. Denn deren Brutalität ist so gewaltig, dass selbst die Vereinten Nationen »herausragenden Mut« beweisen müssen, um sich ihr entgegenzustellen. Pikanterweise reicht dieser »herausragende Mut« aber letztlich nicht aus, um der Brutalität der bosnischen Serben Herr zu werden und um den Granatenbeschuss und die Geiselnahmen zu verhindern. Ironisch gewendet: Mit welchen Superlativen müsste da erst der Mut jener beschrieben werden, denen es gelänge, die bosnischen Serben in ihre Schranken zu weisen? »We stress«37 Dieser Ausdruck ist keine spezifische Wendung aus dem Bereich politischer Argumentation, sondern universell einsetzbar. Nachdem der Modus einer sukzessiven Steigerung der Verbindlichkeit des Aussagegehalts des Kommuniqués im Satz zuvor unterbrochen wurde, findet in dieser Sequenz also keine Rückkehr dort hin mehr statt. Zugleich stellt die Sequenz »We stress« ein Mittel zur Erhöhung der Aufmerksamkeit der potentiellen Rezipienten dar; etwas, das auf keinen Fall überhört oder falsch verstanden werden darf, wird gezielt hervorgehoben. »the importance and urgency«38 Die Wichtigkeit und Dringlichkeit dessen, was nun betont werden soll, scheint nicht für alle Adressaten des vorliegenden Dokuments einsichtig zu sein, da diese beiden Eigenschaften sonst nicht extra hervorgehoben werden müssten. »of a renewal«39 Im Lichte der beiden vorangegangenen Sequenzen steht also zu vermuten, dass es – relevante? – Kräfte gibt, denen die Wichtigkeit und Dringlichkeit einer Erneuerung im Unter37
»Wir betonen«. »die Wichtigkeit und Dringlichkeit«. 39 »einer Erneuerung«. 38
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schied zum Nordatlantikrat entweder (noch) nicht klar geworden ist oder die diesbezüglich eine gegenteilige Überzeugung vertreten. Was immer der Gegenstand der Erneuerung sein wird, es ist nichts, das neu geschaffen oder erdacht werden müsste, sondern etwas, das einst neu vorgelegen hat, in seiner ursprünglichen Form aber inzwischen obsolet geworden ist. »of the cessation of hostilities agreement«40 Dass sich der Nordatlantikrat hier für eine Erneuerung der Vereinbarung über die Einstellung der Feindseligkeiten ausspricht, indem er deren Wichtigkeit und Dringlichkeit eigens betont, lässt den Schluss zu, dass einige oder alle derer, die diese Vereinbarung zu einem früheren Zeitpunkt getroffen haben, deren Erneuerung gegenwärtig ablehnen oder keine Veranlassung dazu sehen. Die Einschätzung des Nordatlantikrats, nach der von ihm konstatierten weiteren Verschlechterung der Situation in Form einer Eskalation der Gewalt, die Erneuerung der besagten Vereinbarung anzumahnen, ist jedenfalls stimmig. »and call upon«41 Diese Sequenz offenbart eine Wiederannäherung an Ausdrucksformen, die im politischen Leben verwurzelt sind. Das Potential von Aufrufen und Appellen zur Erzeugung von Verbindlichkeit ist allerdings nicht allzu hoch. Einerseits können sie als das Mittel derjenigen verstanden werden, die nur (noch) ihre Ideale haben oder denen außer ihrer Moral nichts geblieben ist; andererseits kann ein Aufruf auch als die Keimzelle des Öffentlichen oder als die erste Stufe einer Eskalationsleiter gedeutet werden, die bis hin zur Androhung und Anwendung von Zwangsmitteln reicht. »all the parties to the conflict«42 Dass der Nordatlantikrat explizit an alle Konfliktparteien appelliert, kann als ein Indiz dafür gewertet werden, dass an den Auseinandersetzungen mehr als zwei Gruppen beteiligt sind. Denn obwohl es natürlich formal völlig in Ordnung ist, bereits eine Gesamtheit von zwei mit dem Wortzeichen alle zu kennzeichnen, suggeriert der Ausdruck doch tendenziell die Anwesenheit von mehr als zwei Vertretern eines Typs. Viel gravierender ist hier jedoch das Problem, ob es angesichts einer Eskalation der Gewalt in Form des Granatenbeschusses von Sicherheitszonen sowie der Tötung und Entführung von Friedenstruppen und Beobachtern der Vereinten Nationen, überhaupt noch angemessen ist, an die Konfliktparteien zu appellieren. Offensichtlich kehrt der Nordatlantikrat mit diesem Aufruf in den Modus der Neutralität zurück, der zu Beginn dieses Kommuniqués als Ausdruck seiner Äquidistanz zu allen Konfliktparteien und deren gemeinsamer Verantwortung für die weitere Verschlechterung der Situation gedeutet wurde. In diesem Kontext wäre ein Aufruf sicherlich besser aufgehoben gewesen. Nach der Aufstellung von konkreten Forderungen an eine der Parteien, die offenbar auch noch durch besondere Brutalität in Erscheinung getreten ist, dürfte ein Appell an alle Konfliktparteien, welchen
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»der Vereinbarung über die Einstellung der Feindseligkeiten«. »und rufen auf«. 42 »alle Konfliktparteien«. 41
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Inhalts er auch sei, jedoch vor allem dazu geeignet sein, die eigene Glaubwürdigkeit zu erschüttern und Zweifel am Verständnis der gesamten Lage zu säen. »to seek solutions through negotiation rather than war.«43 Der Appell, Lösungen auf dem Wege von Verhandlungen und nicht durch Krieg anzustreben, wirkt angesichts der vom Nordatlantikrat zuvor erwähnten und als abscheulich eingestuften Vorkommnisse illusorisch, geradezu abseitig. Ähnlich wie der anfängliche Hinweis auf die Verantwortung aller Parteien für die Eskalation der Gewalt kann dieser wohlfeile Aufruf auf den ersten Blick eigentlich nur als Versuch verstanden werden, um beinah jeden Preis zu verhindern, von interessierter Seite als vorurteilsvoll und parteiisch, wenn nicht gar als „Kriegstreiber“ abqualifiziert zu werden. Doch kann wirklich erwartet werden, dass diejenigen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingerichtete Sicherheitszonen mit Granaten beschießen und zu deren Schutz im Auftrag der Weltorganisation abgestellte Streitkräfte töten und gefangen nehmen, ernsthaft in Erwägung ziehen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren? Für den Fall, dass die Aggressoren das zynische Kalkül verfolgen, mithilfe ihres brutalen Vorgehens die eigene Position in allfälligen Verhandlungen zu stärken, kann dies, so abstoßend das zunächst auch erscheinen mag, wohl keineswegs ausgeschlossen werden. »We strongly support«44 Dieser Ausdruck markiert wiederum einen Anstieg des Niveaus der politischen Verbindlichkeit der folgenden Äußerung. Entscheidend wird jedoch sein, ob die hier angekündigte nachhaltige Unterstützung nur aus warmen Worten oder aus handfesten Zusagen besteht. »the continued efforts of the international community,«45 Da hier von anhaltenden Anstrengungen die Rede ist, dürften diese bereits seit einiger Zeit unternommen werden. Wie lange die internationale Gemeinschaft dabei schon auf die nachhaltige Unterstützung des Nordatlantikrats zählen kann, geht aus dieser Sequenz zwar nicht hervor. Aus der Verwendung des Präsens (»We strongly support«) folgt jedoch, dass die Unterstützung seitens des Nordatlantikrats – zumindest in dessen eigener Wahrnehmung – bereits erfolgt und es sich hier somit um mehr als eine bloße Ankündigung handelt. Besondere Aufmerksamkeit gebührt an dieser Stelle aber dem Ausdruck die internationale Gemeinschaft (»the international community«). Ohne auf die an ihn geknüpfte sozialtheoretische Grundlagendebatte einzugehen, soll der Begriff Gemeinschaft hier zunächst als eine politische Vergemeinschaftung auf nationaler Ebene verstanden werden, deren Konstituenten – die Bürgerinnen und Bürger – sich wechselseitig an für alle gleich geltendes Recht binden und so ihre Autonomie und Handlungsfreiheit bewahren. Entsprechend
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»Lösungen auf dem Wege von Verhandlungen und nicht durch Krieg anzustreben.«. »Wir unterstützen nachhaltig«. 45 »die anhaltenden Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft,«. 44
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bilden ihre Souveränität wechselseitig anerkennende Staaten auf erweiterter Stufenleiter die internationale Gemeinschaft.46 Entscheidend ist hier allein, dass der Nordatlantikrat die internationale Gemeinschaft nach eigenen Angaben nachhaltig unterstützt. Diese Aussage könnte so gedeutet werden, dass sich der Rat nicht als unmittelbarer Teil der internationalen Gemeinschaft versteht, sondern diese gleichsam von außen unterstützt. Da aber auch die NATO als zwischenstaatliche Organisation vermittels der sie konstituierenden Staaten an die internationale Gemeinschaft zurückgebunden ist, kann es prinzipiell nichts außerhalb der internationalen Gemeinschaft geben. Um die vorliegende Sequenz als sinnlogisch motiviert ansehen zu können, muss daher ein zweiphasiger Begriff der internationalen Gemeinschaft eingeführt werden. Als internationale Gemeinschaft im weiteren Sinn wäre dann jene Ebene zu verstehen, außerhalb derer sich niemand zu stellen vermag, während die internationale Gemeinschaft im engeren Sinne auf das System der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen als der umfassendsten Form von zwischenstaatlicher bzw. globaler Verregelung verweist. Auf Letzteres bezieht sich hier also die Unterstützungszusage des Nordatlantikrats. »including those of the Contact Group,«47 Die explizite Eingemeindung der »Contact Group« verdeutlicht, dass sich die Äußerung des Nordatlantikrats auf die internationale Gemeinschaft im engeren Sinne bezieht, jene also, deren Mitgliedschaft – NATO nein, Kontaktgruppe ja – gleichsam verhandelbar ist. Aufgrund des großgeschriebenen »C« handelt es sich bei dem Wortzeichen »Contact Group« um einen Eigennamen. Die Bedeutung solcher Indexikalitäten darf bekanntlich nachgeschlagen werden. Da sie aus zwei Allgemeinbegriffen zusammengesetzt ist, kann jedoch zunächst der Versuch einer immanenten Interpretation unternommen werden. Eine Kontaktgruppe scheint demnach eine Gruppe zu sein, die den Kontakt mit denjenigen (wieder-) aufzunehmen oder aufrechtzuerhalten versucht, zu denen kein Kontakt (mehr)besteht oder bestand – in diesem Falle also den Kriegsparteien im Allgemeinen oder, nach allem, was wir bisher über sie erfahren haben, womöglich auch nur der Partei der bosnischen Serben im Besonderen.
Exkurs: Bosnien-Kontaktgruppe Zur Bündelung der diplomatischen Anstrengungen in Bosnien schufen die Außenminister der USA, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, Deutschlands und Russlands im April 1994 die Bosnien-Kontaktgruppe.48 Die darin versammelten hohen Diplomaten der beteiligten Staaten sollten nach Wegen für ein möglichst schnelles Ende der Kämpfe und für eine Fortsetzung der Verhandlungen über eine beständige Lösung des Konflikts in BosnienHerzegowina suchen. An der ersten Sitzung, die am 26. April 1994 in London stattfand, 46 Inwieweit es sich dabei aufgrund der mitunter gewaltigen Machtunterschiede zwischen den einzelnen Staaten, der so genannten Anarchieproblematik oder der nicht ausdifferenzierten Gewaltenteilung auf der internationalen Ebene um ein noch nicht erreichtes oder gar unerreichbares Ideal handelt, braucht an dieser Stelle nicht erörtert zu werden. 47 »einschließlich jener der Kontaktgruppe,«. 48 Diese Darstellung folgt dem Artikel „30 Jahre Krieg“. Gorazde-Ultimatum läuft heute aus, der am 27. April 1994 in der Tageszeitung (taz) erschien (S.8.).
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6.1 Sequenzanalyse
nahmen teil: US-Botschafter Charles Redman, der französische Botschafter Christian Masset, David Manning und Pauline Neville-Jones aus dem britischen Foreign Office, Michael Steiner aus dem Auswärtigen Amt sowie der Vermittler der russischen Regierung im ehemaligen Jugoslawien, Witali Tschurkin. *** »to bring peace to the former Yugoslavia through the diplomatic process.«49 Die Unterstützung des Nordatlantikrats bezieht sich also auf die kontinuierlichen Anstrengungen der internatonalen Gemeinschaft, Frieden auf dem Wege des diplomatischen Prozesses ins ehemalige Jugoslawien zu bringen. Nach der Behandlung der Lage in BosnienHerzegowina stellt der Rat nun wieder eine Verbindung zur Überschrift des Dokuments her, in der eine Stellungnahme zur Situation im ehemaligen Jugoslawien angekündigt worden ist. Die vorliegende Äußerung mag löblich sein, führt jedoch zu der Frage, wie die Unterstützung konkret aussieht. Welche Fähigkeiten kann das höchste Gremium der NATO einbringen, um Frieden auf dem Wege eines diplomatischen Prozesses ins ehemalige Jugoslawien zu bringen? Dass der Frieden dort hingebracht werden muss, sorgt unterdessen für die Klärung eines Rätsels, das sehr früh aufgeworfen, dessen Lösung aufgrund eines seiner Tendenz nach euphemistischen Sprachgebrauchs (weitere Verschlechterung der Situation, Eskalation der Gewalt, Feindseligkeiten etc.) allerdings bis dato nicht eindeutig aus dem Text erschlossen werden konnte: Es herrscht Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Somit ist auch klar, dass der Auftrag zur Bewahrung des Friedens, der an die Truppen der Vereinten Nationen (»UN peacekeepers«) erging, inzwischen obsolet ist. Der vorangegangene Appell an die Konfliktparteien, Lösungen auf dem Wege von Verhandlungen und nicht durch Krieg anzustreben, muss nun so gedeutet werden, dass Letzterer bereits in Gang gekommen ist. »NATO air power«50 Mit der NATO-Luftstreitmacht wird nun erstmals ein Mittel erwähnt, das geeignet wäre, allfälligen Forderungen des Rats an die Adresse der Konfliktparteien Rückhalt zu verleihen. »remains available«51 Dass die NATO-Luftstreitmacht verfügbar bleibt, zeigt, dass dies bereits seit einiger Zeit so ist und dass die weitere Verschlechterung der Situation dadurch offenbar nicht verhindert werden konnte. Das mit der Aufbietung der Luftstreitmacht verbundene Drohpotential läuft somit bereits vor einem Einsatz Gefahr sich abzunutzen. Denn solange es der Rat bei Drohungen bewenden lässt, könnten die bosnischen Serben den Granatenbeschuss der Sicherheitszonen und die Geiselnahme von UN-Personal auch fortsetzen. Der Nordatlantikrat treibt hier also ein riskantes Spiel.
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»Frieden auf dem Wege des diplomatischen Prozesses ins ehemalige Jugoslawien zu bringen.«. »Die NATO-Luftstreitmacht«. 51 »bleibt verfügbar«. 50
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6. Fall 2: Bosnien
»to help protect the safe areas«52 Da die Sicherheitszonen mutmaßlich schon mit Granaten beschossen worden sind, als die Luftstreitmacht der NATO bereits verfügbar war, scheint der Wert der Maßnahme, die Luftstreitmacht dazu einzusetzen, beim Schutz der Sicherheitszonen zu helfen, bislang eher begrenzt zu sein. »and UN Peace Forces,«53 Das Gleiche gilt in Bezug auf den Schutz der UN-Friedenstruppen. Die Bereitstellung der Luftmacht der NATO konnte die Tötung und Gefangennahme von UN-Personal bisher nicht verhindern. Ungeachtet des guten Zwecks stellt sich hier natürlich die Frage nach der Legitimation der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft durch die NATO. Wurde das Bündnis von den Vereinten Nationen um Hilfe gebeten oder ist es auf eigene Initiative tätig geworden? »in accordance with existing arrangements with the United Nations.«54 Aus dieser Sequenz geht klar hervor, dass die Beteiligung der NATO am Schutz der Sicherheitszonen und der UN-Friedenstruppe in Übereinstimmung mit bestehenden Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen erfolgt. Auch wenn wichtige Details wie die Art und das Datum dieser Übereinkunft unerwähnt bleiben – »existing arrangements« ist recht vage formuliert – kann damit ausgeschlossen werden, dass die NATO einen möglichen Einsatz ihrer Luftstreitmacht ohne die Zustimmung der Vereinten Nationen veranlasst haben könnte. Es liegt diesbezüglich also keine Selbstmandatierung seitens des Nordatlantikrats vor. »We will continue to enforce the No-Fly Zone over Bosnia-Herzegovina.«55 Nach der verfügbar bleibenden NATO-Luftstreitmacht verbirgt sich auch hinter der zweiten vom Nordatlantikrat aufgezählten Maßnahme zur Unterstützung der internationalen Gemeinschaft kein neues Instrument, um die weiter verschlechterte Lage besser in den Griff zu bekommen. Im Unterschied zum Vorstehenden wurde über die Effektivität der Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina bisher allerdings noch nichts Negatives bekannt. Gleichwohl hat aber offenbar auch die – mutmaßlich recht erfolgreiche – Erzwingung des Flugverbots die weitere Verschlechterung der allgemeinen Situation, die Eskalation der Gewalt also, nicht verhindern können. Dies legt nahe, dass die Konfliktparteien nicht allzu sehr auf den Luftverkehr angewiesen sein können, um ihre Ziele zu verfolgen. Nicht zuletzt die ähnliche Struktur der beiden letzten Sätze (»remains available«, »will continue«) spricht dafür, dass auch diese Maßnahme der NATO durch die zuvor erwähnten bestehenden Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen legitimiert ist. Zudem kann auch die eher indirekte Formulierung »We will continue to enforce« so gedeutet werden, dass das 52
»um die Sicherheitszonen schützen zu helfen«. »und die UN-Friedenstruppen,«. 54 »in Übereinstimmung mit bestehenden Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen.«. 55 »Wir werden die Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina fortsetzen.«. 53
6.1 Sequenzanalyse
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Bündnis hier in jemandes Auftrag operiert – im Auftrag der Institution, die das Flugverbot erlassen hat. Wenn nun der Auftraggeber, die Vereinten Nationen also, mangels Alternativen auf den Auftragnehmer, die NATO, angewiesen ist, würde dies helfen, die zuvor mehrfach entdeckten Tendenzen einer Paternalisierung der Vereinten Nationen durch den Nordatlantikrat sinnlogisch zu motivieren. Im Wissen, dass die Vereinten Nationen auf ihn angewiesen sind, könnte der Rat aus einem Gefühl der Stärke heraus agiert haben. »We will also continue,«56 Der eingeschlagene Gang der Argumentation wird hier konsequent beibehalten. Der Nordatlantikrat listet die Aktionen auf, die er bereits seit einiger Zeit ausführt und die er auch weiterhin auszuführen gedenkt. Angesichts der von ihm eingangs diagnostizierten weiteren Verschlechterung der Situation stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht vielleicht erforderlich sein könnte, anstatt der Fortführung jener Maßnahmen, die sich offenbar als nicht hinreichend erfolgreich erwiesen haben, Veränderungen zu wagen und neue Wege zu beschreiten. »together with the WEU,«57 Mit der »WEU« verweist das Dokument an dieser Stelle neuerlich auf eine so genannte Indexikalität.
Exkurs: WEU Im Zuge der Aufnahme von Italien und der Bundesrepublik Deutschland wurde der am 17. März 1948 von Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg auf 50 Jahre abgeschlossene Brüsseler Pakt 1954 zur Westeuropäischen Union (WEU) umgestaltet. Obwohl die Mitglieder zu gegenseitigem Beistand verpflichtet sind, verfügt die WEU über keine eigene Militärorganisation, sondern verweist auf die Kommandostruktur der NATO. In den Anfangsjahren bestanden ihre Hauptaufgaben in der Rüstungskontrolle und der Förderung des Integrationsprozesses der Mitglieder. Nach rund zwei Jahrzehnten am Rande der politischen Bedeutungslosigkeit erfolgten seit Mitte der 1980er Jahre Revitalisierungsversuche, die mit der Petersberger Erklärung vom 19. Juni 1992 ihren Höhepunkt erreichten. Die Erklärung sah vor, dass die WEU künftig im Auftrag der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen übernehmen soll. Im Rahmen der Institutionalisierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wurden diese Aufgaben jedoch sukzessive an die Europäische Union (vgl. Art. 17 des EU-Vertrages) übertragen, so dass die WEU heute nurmehr als Konsultationsforum besteht.58 56
»Wir werden auch fortsetzen,«. »gemeinsam mit der WEU«. 58 Diese Darstellung folgt im Wesentlichen: Rudolf Hrbek (1994): Europa in der internationalen Politik, in: Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon der Politik. Band 6: Internationale Beziehungen. Herausgegeben von Andreas Boeckh. 57
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6. Fall 2: Bosnien
*** Der Hinweis des Rats auf die Kooperation mit der Westeuropäischen Union dient als Beleg für die Kooperationsfähigkeit des Bündnisses. Es profiliert sich somit nicht nur bei der Erfüllung von Aufträgen der Vereinten Nationen, sondern vermag auch, diese Aufgabe in enger Abstimmung mit anderen Institutionen zu erledigen. Damit wird suggeriert, dass sich die NATO nahtlos in das bestehende Gefüge internationaler Krisenbewältigungsinstrumente einpasst. Zudem dokumentiert der Rat auf diese Weise, dass er nicht den Anspruch vertritt, alle Aufträge und Aufgaben auf eigene Faust und ohne Partner durchzuführen. »the maritime embargo enforcement operations in the Adriatic.«59 In Analogie zur Erzwingung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina verpflichtet sich der Rat hier also dazu, – gemeinsam mit der WEU – auch die Operationen zur Erzwingung des Seeembargos in der Adria fortzusetzen (»We will also continue«). Die beiden Maßnahmen haben offenbar das Ziel, Waffenlieferungen an die Konfliktparteien auf dem Luft- und Seeweg zu verhindern, um so die Dauer der Auseinandersetzungen zu verkürzen. Da Bosnien-Herzegowina nur im Südwesten des Landes über einen wenige Kilometer langen Zugang zum Adriatischen Meer verfügt, dürfte sich das Seeembargo, ganz der Überschrift des Kommuniqués entsprechend, auf die Küsten aller Glieder des ehemaligen Jugoslawien beziehen. Ob, wie eine extensive Deutung der unspezifischen Ausdrucksweise »in the Adriatic« suggerieren könnte, auch albanische Häfen mit in das Embargo einbezogen werden, ist ungewiss. Ausgeschlossen werden kann dagegen, dass auch die Adriahäfen des NATOPartners Italien negativ von der Maßnahme betroffen sein könnten. »We strongly support«60 Anstelle der durchaus erwartbaren Ankündigung neuer eigener Schritte, um zu einer Verbesserung der Situation im ehemaligen Jugoslawien beizutragen, schließt sich an die Aufzählung der Aktionen, die der Nordatlantikrat fortführen wird, abermals – wie schon im Falle der anhaltenden Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft um eine diplomatische Lösung – eine Unterstützungszusage an. Möglicherweise obliegt die Initiation schärferer Maßnahmen also anderen Institutionen, die der Rat nun seiner Loyalität und Mithilfe versichern könnte. Auf dem Boden der bestehenden Rechtsverhältnisse kämen dafür primär die Vereinten Nationen, aber auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Frage. Sollte die NATO hier zugunsten der Unterstützung anderer zwischenstaatlicher Einrichtungen darauf verzichten, eigene Problemlösungsstrategien zu spezifizieren, würde dies die Vermutung bestärken, dass den im Nordatlantikrat versammelten Ministern sehr daran gelegen ist, die Kooperationsfähigkeit des Bündnisses unter Beweis zu stellen. »the continued presence of UN forces in former Yugoslavia,«61 München: Beck, S.131-150, hier: S.142/43 sowie Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hg.) (2006): Europa von A bis Z. Baden-Baden: Nomos (9. Auflage). 59 »die Operationen zur Erzwingung des Seeembargos in der Adria.«. 60 »Wir unterstützen nachhaltig«.
6.1 Sequenzanalyse
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Die nachhaltige Unterstützung des Nordatlantikrats gilt also der fortdauernden Präsenz von UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien. Überraschenderweise liegt somit auch der Akzent dieser Sequenz wieder auf einer Betonung von Kontinuität und nicht auf einer Ankündigung von neuen, weiterreichenden Maßnahmen. Vor dem Hintergrund der diagnostizierten weiteren Verschlechterung der Lage erweckt dies den Anschein, als hätten die internationalen Institutionen den Spielraum ihrer Handlungsoptionen, um die kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien zu unterbinden oder zumindest einzudämmen, bereits ausgeschöpft. Darüber hinaus stellt sich hier die Frage, welche konkreten Beiträge der Nordatlantikrat zugunsten der Streitkräfte in Diensten der Vereinten Nationen zu leisten gedenkt. Das Spektrum aktiver Unterstützungsleistungen reicht von guten Worten im Sinne einer „moralischen“ Unterstützung über Waffenlieferungen bis hin zum Angebot eines NATOTruppenkontingents oder der individuellen Bereitstellung von Streitkräften seitens der Bündnispartner (ob Letzteres seinen Platz in einem Kommuniqué des Nordatlantikrats hätte, ist allerdings fraglich). In jedem Fall bürdet sich der Rat durch seine Ankündigung auch die Verpflichtung auf, den Nachweis zu erbringen, hier mehr als nur Lippenbekenntnisse von sich zu geben. »with their safety assured«62 In dieser Sequenz geht der Nordatlantikrat näher auf die – seinen eigenen Angaben zufolge von ihm nachhaltig unterstützte – fortdauernde Präsenz von UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien ein; deren Sicherheit soll garantiert sein, behauptet das Gremium hier. Im Falle einer Favorisierung der Lesart, dass sich das nordatlantische Bündnis damit zum Garanten der Sicherheit der Streitkräfte der Vereinten Nationen macht, zöge dies natürlich die Frage nach sich, wie dieses Sicherheitsversprechen eingelöst werden soll. Da die NATO in Reaktion auf die erwähnte Tötung und Geiselnahme von UN-Personal ihren Maßnahmenkatalog bislang nur wiederholt, ihm aber noch keine neuen Instrumente hinzugefügt hat, wäre es durchaus angemessen, wenn der Rat nun auch mitteilen würde, auf welche Weise er diese Garantie zu gewährleisten und seine Unterstützungsleistungen effektiver zu gestalten beabsichtigt. Nicht auszuschließen ist darüber hinaus die Lesart, dass der Nordatlantikrat hier eine Sicherheitsgarantie für die UN-Truppen fordert oder gar zur Bedingung seiner nachhaltigen Unterstützung dieser Truppen macht. »and a strengthened capability to carry out their mission«63 Im Rahmen seiner Charakterisierung der fortdauernden Präsenz von UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien nimmt der Nordatlantikrat auch deren Fähigkeit zur Durchführung ihrer Mission in den Blick. Diese soll gestärkt werden, heißt es. Da es durchaus anmaßend wäre, wenn die NATO in Eigenregie über eine Stärkung der Fähigkeiten von UN-Truppen entscheiden würde, kann wohl ausgeschlossen werden, dass sich die vorliegende Äußerung auf einen konstitutiven Beschluss des Nordatlantikrats bezieht. Stattdessen spricht einiges dafür, dass die beiden letzten Sequenzen implizit auf eine Neuregelung der Präsenz der 61
»die fortdauernde Präsenz von UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien,«. »unter der Bedingung, dass ihre Sicherheit garantiert ist«. 63 »und (unter der Bedingung) einer gestärkten Fähigkeit zur Durchführung ihrer Mission«. 62
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6. Fall 2: Bosnien
UN-Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen selbst verweisen. In diesem Fall hätte die internationale Gemeinschaft also bereits auf die vom Nordatlantikrat diagnostizierte weitere Verschlechterung der Situation im Kriegsgebiet reagiert – mit dem Ergebnis, dass die Präsenz der Truppen aufrechterhalten wird (»continued presence«), die Bedingungen ihrer Stationierung aber verbessert werden sollen (»safety assured«; »strengthened capability«). Warum aber beruft sich der Nordatlantikrat dann nicht explizit auf diese Veränderungen der Beschlusslage seitens des UN-Sicherheitsrats? Das Spektrum möglicher Antworten reicht von einer legeren Geringschätzung von Formalitäten bis hin zu Problemen bei der Anerkennung von dessen Autorität. Ungeachtet dieser Frage muss im Lichte der vorstehenden Überlegungen gleichwohl der weiter oben angedeutete Vorwurf eines (Selbst-) Täuschungsmanövers des höchsten NATO-Gremiums zurückgenommen oder zumindest entschärft werden, da die garantierte Sicherheit der UN-Truppen ebenfalls mit der mutmaßlichen Neufassung ihres Mandats in Zusammenhang steht und es sich bei dieser Sicherheitsgarantie eben nicht um eine Zustandsbeschreibung, sondern um eine auf die – unmittelbare – Zukunft bezogene Absichtserklärung handelt. Die Geltung der Lesart, dass diese Aufgabe in den Tätigkeitsbereich der NATO fällt, bleibt davon jedoch unberührt.64 »in the pursuit of clear objectives.«65 Diese Sequenz macht deutlich, dass sich hinter der impliziten Bezugnahme des Nordatlantikrats auf die mutmaßlichen Änderungen des Mandats der UN-Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien auch eine Kritik an der vorher gültigen Entscheidungsgrundlage verbergen könnte. Denn wenn nun davon die Rede ist, dass klare Ziele verfolgt werden, waren die zuvor formulierten möglicherweise unklar; wenn die Fähigkeiten gestärkt werden, waren sie bislang wohl nicht stark genug – und wenn die Sicherheit erst jetzt garantiert wird, dann war dies bisher offenbar nicht der Fall. Dies als einen Hinweis auf bestehende Unstimmigkeiten zwischen dem Nordatlantikrat und dem UN-Sicherheitsrat zu deuten, wäre nicht überzogen. Auch das diagnostizierte Bestreben der Minister, die Kooperationsfähigkeit des Bündnisses unter Beweis zu stellen, stünde dieser Lesart nicht entgegen. Ganz im Gegenteil könnte dies nun sogar als Ausdruck des Versuchs gewertet werden, von diesen Spannungen abzulenken oder sie zu kaschieren. Ungeachtet dieser Überlegungen wirft die vorliegende Sequenz aber vor allem auch die Frage auf, um welche Ziele es im Einzelnen geht und ob bzw. in welchem Umfang sich die NATO an deren Realisierung beteiligen wird. »All parties must ensure«66 Minimale Konsistenz des Sprachgebrauchs innerhalb des Kommuniqués vorausgesetzt, wendet sich der Nordatlantikrat in dieser Sequenz wieder explizit den Parteien des Konfliktes zu. Da es sich bei dem vorliegenden Dokument nicht um ein Abkommen des Bündnisses mit den Konfliktparteien handelt, geht von der Äußerung »All parties must ensure« 64
Die in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage, warum die UN-Truppen ihre Sicherheit nicht selbst garantieren können, braucht hier nicht berücksichtigt zu werden, da sie nicht zu der untersuchungsrelevanten Fallstruktur gehört. Aufgrund der erforderlichen Konzentration auf das atlantische Bündnis können solche Besonderheiten der Vereinten Nationen schlicht als „gegeben“ angesehen werden – zumindest solange, bis sie explizit im Rahmen eines zu untersuchenden Textes auftauchen. 65 »im Streben nach klaren Zielen.«. 66 »Alle Parteien müssen sicherstellen«.
6.1 Sequenzanalyse
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auch keine rechtsverbindliche Wirkung auf diese aus; im Rahmen eines »Statement« hat der vorliegende Ausdruck allenfalls den Charakter einer Forderung, eines Ultimatums, eines Lösungsvorschlags oder eines Wunsches. Vor dem Hintergrund der letzten Sequenzen ist es jedoch auch möglich, dass die Mitglieder des höchsten Entscheidungsgremiums der NATO hier weiterhin Bestandteile des jüngsten Beschlusses des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wiedergeben, ohne dies kenntlich zu machen – diesbezüglich stünde ja insbesondere die Nennung der jetzt klaren Ziele noch aus. In diesem Fall wäre der referierte Inhalt der Forderung für die adressierten Konfliktparteien bindend – wenn auch nicht aufgrund seiner Wiedergabe durch den Nordatlantikrat. Beiden Lesarten gemein ist derweil die Frage, was die Bündnispartner bzw. die Vereinten Nationen zu tun beabsichtigen, wenn ihre Forderungen von den Konfliktparteien nicht oder nur teilweise erfüllt werden. »that UN troops have freedom of movement«67 Dass alle Konfliktparteien die Bewegungsfreiheit der UN-Truppen sicherstellen müssen, lässt mindestens drei Lesarten zu. Sollte es sich dabei um eine eigenständige Forderung des Nordatlantikrats handeln, die nicht auf einen Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zurückgeht, reproduzierte sich so neuerlich die Struktur einer Paternalisierung des höchsten Gremiums der internationalen Gemeinschaft. Da der Nordatlantikrat nicht dazu berufen ist, für die Vereinten Nationen zu sprechen, handelte er hier der Tendenz nach unangemessen – und es läge abermals eine Art Bevormundung des Vormunds vor. Die zweite Lesart lautet, dass sich der Rat an dieser Stelle den Inhalt einer neuen Entscheidungsgrundlage der Vereinten Nationen aneignet, ohne dies explizit zu machen. Ein solches Vorgehen riefe die Frage hervor, worin der Zweck und vor allem die Wirkung der Paraphrasierung eines UN-Beschlusses unter der Bedingung einer intransparenten Bezugnahme darauf bestehen. Gründete das Handeln der versammelten Minister in der Annahme, dass sie die Verbindlichkeit von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats stärken können, indem sie sich wohlwollend darauf berufen und sich deren Inhalt zu eigen machen, wäre dies höchst anmaßend. Es offenbarte ein Selbstverständnis des Nordatlantikrats, das von der Idee bestimmt wäre, wirksamer oder wichtiger als der Weltsicherheitsrat zu sein. In Kombination mit dem fast schon als Verschweigen zu wertenden, höchst indirekten Verweis auf dessen Beschluss wiese dieses Vorgehen ebenfalls deutliche Züge einer Paternalisierung der Vereinten Nationen auf und hätte den Effekt einer Selbsterhöhung des statusniedrigeren Nordatlantikrats. Zudem würde, ob intendiert oder nicht, die Kompetenzverteilung zwischen den beiden Institutionen tendenziell verwischt. Eine dritte – und wohl am wenigsten plausible – Deutungsmöglichkeit besteht schließlich darin, dass der Nordatlantikrat von Seiten des UN-Sicherheitsrats dazu ermuntert oder gar aufgefordert worden sein könnte, für ihn das Wort zu ergreifen und in seinem Namen Forderungen bezüglich der Behandlung der Friedenstruppen an die Konfliktparteien zu stellen. In diesem Fall wäre der Nordatlantikrat nur der Erfüllungsgehilfe einer (möglicherweise irreversiblen) Deautonomisierung der Vereinten Nationen, die von dieser selbst in Auftrag gegeben worden wäre. Der nurmehr implizite Bezug auf den „Auftraggeber“ seitens des Bündnisses würde diesen einsetzenden Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen somit bereits konsequent widerspiegeln. 67
»dass die UN-Truppen Bewegungsfreiheit besitzen«.
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6. Fall 2: Bosnien
»and are unharmed,«68 Bezüglich der Forderung, die Unversehrtheit der UN-Truppen zu gewährleisten, sind ebenfalls die in der vorstehenden Sequenz explizierten drei Lesarten möglich. »and remove any obstacles to the delivery of humanitarian aid to the needy.«69 Und auch mit Blick auf eine sinnlogische Motivierung der Forderung, alle der Übermittlung von humanitärer Hilfe an die Bedürftigen entgegenstehende Hindernisse zu entfernen, gilt, was hinsichtlich der Gewährleistung der Bewegungsfreiheit und der Unversehrtheit der Streitkräfte im Dienste der Vereinten Nationen ausgeführt worden ist: Es handelt sich hier entweder um den Versuch, die Verbindlichkeit eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats zu erhöhen, um eine die Autonomie der Vereinten Nationen unterlaufende eigene Forderung des Bündnisses oder um eine Äußerung, die der UN-Sicherheitsrat dem Nordatlantikrat in Missachtung seiner eigenen Autonomie aufgetragen hat. Die Geltung der beiden letztgenannten Lesarten hängt im vorliegenden Fall jedoch zusätzlich von der Prämisse ab, dass die Kompetenz zur Durchführung humanitärer Hilfsmaßnahmen bei den Vereinten Nationen und nicht bei der NATO liegt. Dass die genannten Bedingungen von den Konfliktparteien erfüllt werden müssen (»All parties must«), zeigt vor allem, dass es den Vereinten Nationen und der NATO nicht möglich ist, das auf diesem Weg angestrebte Zwischenziel eigenständig zu erreichen. Sie bleiben auf die Kooperationsbereitschaft der Konfliktparteien angewiesen. Je länger aber die Liste mit den Forderungen an die Konfliktparteien wird, desto nötiger wird es auch, klar zu signalisieren, mit welchen Mitteln ihre Erfüllung gegebenenfalls erzwungen werden soll. Mit anderen Worten: wird die zum Schutz der Sicherheitszonen und der UNFriedenstruppen verfügbar bleibende NATO-Luftstreitmacht auch dann zum Einsatz kommen, wenn einer der drei jüngsten Forderungen des Nordatlantikrats – bzw. des UNSicherheitsrats – nicht erfüllt werden? »We are ready to support«70 In dieser Sequenz wird also der Kanon der Unterstützungsleistungen des Nordatlantikrats fortgeschrieben. Da im Anschluss an die Aufstellung von Forderungen durchaus mit der Spezifizierung der Mittel zu deren Durchsetzung zu rechnen ist, wäre es recht plausibel, wenn es sich bei den Aktionen, deren Unterstützung der Rat hier ankündigt, um solche handelt, die den Konfliktparteien für den Fall angedroht werden, dass sie die an sie gestellten Forderungen nicht oder nur teilweise erfüllen. Darauf deutet auch hin, dass die Unterstützung gegenwärtig noch nicht stattfindet. Denn im Gegensatz zu der zuvor zweimal gebrauchten Formulierung »We strongly support« liegt an dieser Stelle nur eine Ankündigung vor. Der Rat bekundet seine Bereitschaft, tätig zu werden (»We are ready to«), wartet aber noch auf das Startsignal, um mit der Unterstützung zu beginnen. Wer außer dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa könnte ihm dieses Signal geben? 68
»und nicht verletzt werden«. »und alle der Übermittlung von humanitärer Hilfe an die Bedürftigen entgegenstehende Hindernisse entfernen.«. 70 »Wir sind bereit, um zu unterstützen«. 69
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»efforts towards the reinforcement of UN Peace Forces in former Yugoslavia,«71 Die Ausdrucksweise nimmt hier eine recht indirekte Form an. Anstrengungen zugunsten der Verstärkung von UN-Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien zu unternehmen, wäre eine Sache; bereit zu sein, um Anstrengungen zugunsten der Verstärkung von UNFriedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien zu unterstützen, ist eine andere. Damit könnte der Nordatlantikrat ein weiteres Mal seine Kooperationsfähigkeit unter Beweis stellen wollen und zum Ausdruck bringen, dass er keine eigenverantwortlichen Anstrengungen im engeren Sinne unternehmen, sondern sich darauf beschränken wird, die Aktionen anderer zu unterstützen. Dass er damit noch nicht begonnen hat, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass diejenigen, deren Maßnahmen der Rat zu unterstützen beabsichtigt, ihm das erwartete Startsignal noch nicht gegeben haben. Dies deutet darauf hin, dass die von der NATO angebotenen Unterstützungsleistungen und ihre möglichen Konsequenzen genau geprüft werden müssen. Somit wäre plausibel, wenn es sich dabei um einen Einsatz der im Laufe des vorliegenden Dokuments schon einmal in Zusammenhang mit einer Verbesserung des Schutzes der Truppen der Vereinten Nationen erwähnten NATO-Luftstreitmacht handelt. »with the aim of reducing their vulnerability«72 Auf den ersten Blick nimmt sich das Ziel, das an die Bereitschaft des Nordatlantikrats zur Unterstützung der Anstrengungen zur Verstärkung der UN-Friedenstruppen geknüpft ist, recht bescheiden aus. Es geht nicht um die Unverwundbarkeit der Truppen, sondern lediglich um eine Verringerung ihrer Verwundbarkeit. Hat der Nordatlantikrat damit aber nicht bereits die Hoffnung aufgegeben, die Tötung und Gefangennahme von Streitkräften im Dienst der Vereinten Nationen durch die bosnischen Serben prinzipiell verhindern zu können? Spiegelbildlich kann diese Sequenz indes auch als Ausdruck der nur schwer von der Hand zu weisenden Einschätzung verstanden werden, dass die Unverwundbarkeit von Soldaten, die in ein Krisengebiet entsandt werden, eine Illusion wäre und es daher letztlich immer nur darum gehen kann, deren Verwundbarkeit so weit wie möglich zu verringern. Dieser Ansatz befände sich allerdings in einem Widerspruch zu der weiter oben in Aussicht gestellten Sicherheitsgarantie für die UN-Truppen. »and strengthening their capability to act and react.«73 Dass die verfolgten Ziele nicht als zu niedrig gegriffen interpretiert werden müssen, zeigt auch diese Sequenz. In Anbetracht der diagnostizierten weiteren Verschlechterung der Situation in Bosnien-Herzegowina wird eine Stärkung der Fähigkeit der dort stationierten UN-Truppen, zu agieren und zu reagieren, offenbar als Schlüssel zu einer Lösung des geschilderten Problems eskalierender Gewalt angesehen. Aufgrund der universellen Einsetzbarkeit des Topos vom Agieren und Reagieren kann die kurzfristige Eindämmung des abscheulichen Betragens der bosnischen Serben damit ebenso gemeint sein wie ein langfristiger Beitrag zur Rückkehr der Konfliktparteien zu einem friedlichen Zusammenleben. Vor 71
»Anstrengungen zugunsten der Verstärkung von UN-Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien,«. »mit dem Ziel ihre Verwundbarkeit zu verringern«. 73 »und zu stärken ihre Fähigkeit zu agieren und zu reagieren.«. 72
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diesem Hintergrund besteht der Anspruch des atlantischen Bündnisses also darin, an der Erhöhung des Schutzes und der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Truppen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien mitzuwirken, um auf diesem Wege einen Beitrag zur Verbesserung der Lage auf dem westlichen Balkan – konkret: zur Beendigung der Eskalation der Gewalt – zu leisten.
6.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles Der Befund der Sequenzanalyse des Kommuniqués des Nordatlantikrats vom 30. Mai 1995 soll im Folgenden anhand von zwei Handlungsproblemen erörtert werden: dem Nachweis der Legitimität des Bündnisses und der Ausgestaltung seines Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Der zweite Teil des Abschnitts ist dann der Auswahl des nächsten Falles gewidmet. Vor dem Hintergrund der Verpflichtung zu Bewaffnung und gegenseitigem Beistand, den beiden im Rahmen der Analyse des Nordatlantikvertrages zu Tage geförderten Kernaufgaben der Verbündeten, läuft die Durchführung von Militäroperationen, denen – wie im Falle der Bereitstellung der NATO-Luftstreitmacht im ehemaligen Jugoslawien – kein bewaffneter Angriff auf einen der Partner zugrunde liegt, auf eine Erweiterung des Tätigkeitsbereichs des Bündnisses hinaus. Dies kann als Versuch einer Lösung des Handlungsproblems „Nachweis der eigenen Legitimität“ verstanden werden; denn solange die Partner gemeinsam neue Aufgaben erledigen, ist es schwierig, ihren Zusammenschluss zur Disposition zu stellen.74 Darüber hinaus weist das analysierte Kommuniqué auffällige Schwankungen zwischen eher unverbindlichen Formulierungen und solchen Wendungen auf, die klare politische Ambitionen zum Ausdruck bringen. Mitunter hat es gar den Anschein, als stünde die eindrücklich geschilderte Verschlechterung der Situation in Bosnien-Herzegowina in einem gewissen Kontrast zum Festhalten an den bislang eingesetzten Mitteln und als seien die aufgestellten Forderungen der Allianz nicht hinreichend abgesichert; zumindest weist die Explikation des Drohpotentials eine gewisse Intransparenz auf. Da aus einem Abgleich mit dem äußeren Kontext (s.u.) jedoch hervorgeht, dass es wenige Tage vor der Sitzung des Nordatlantikrats zu zwei NATO-Luftangriffen auf Munitionsdepots der bosnischen Serben in Pale gekommen ist, deutet die Vagheit des Kommuniqués mit Blick auf die Durchsetzung von Forderungen wohl weit weniger auf ein Glaubwürdigkeitsproblem als auf die Absicht hin, nicht zu martialisch auftreten zu wollen. Diese Zurückhaltung bei der Ankündigung der eigenen Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel lässt sich gleichsam als Korrektiv zur Erweiterung des Aufgabenspektrums der NATO und als Beschwichtigung von (erwarteter) Kritik daran deuten. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das rekonstruierte Bemühen des Nordatlantikrats, die eigene Kooperationsfähigkeit unter Beweis zu stellen und den Eindruck zu vermitteln, dass sich das Bündnis nahtlos in das bestehende Gefüge inter74 Für sich genommen ist dieser Befund natürlich nichts Neues; für „neoliberalistische Institutionalisten“ bildet diese Transformation des Bündnisses ja gerade ein wichtiges Zeichen seiner Anpassungsfähigkeit an die neuen weltpolitischen Gegebenheiten nach dem Ende der Blockkonfrontation, während die Anhänger des „Wertegemeinschaftskonstruktivismus“ darin in erster Linie einen aktiven Beitrag der NATO zu Frieden und Demokratie auf dem Balkan erkennen dürften (vgl. Abschnitt 2.2.1).
6.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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nationaler Krisenbewältigungsinstrumente einpasst. Unabhängig davon, ob dieser Schritt aus freien Stücken oder in Reaktion auf (erwartete) Kritik an der vollzogenen Ausweitung der Agenda der NATO erfolgt ist, verweist die „Bekräftigung der eigenen Kooperationsfähigkeit“ ebenfalls auf ein Handlungsproblem, das als „Nachweis der Legitimität des atlantischen Bündnisses nach dem Ende der Blockkonfrontation“ gefasst werden kann. Dem Bemühen um institutionelle Anschlussfähigkeit steht jedoch das zweite Ergebnis der Sequenzanalyse entgegen – die ambivalente Beziehung zwischen der NATO und den Vereinten Nationen. Neben der Ankündigung, die diplomatischen Bemühungen der nicht näher spezifizierten internationalen Gemeinschaft zu unterstützen und die Erzwingung des Seeembargos in der Adria mit der Westeuropäischen Union fortzusetzen richten sich die Kooperationszusagen des Nordatlantikrats in der Hauptsache an die Vereinten Nationen. Doch obwohl die Aktivitäten des Bündnisses im Fall Bosnien (einschließlich der Verfügbarkeit seiner Luftstreitmacht) in Übereinstimmung mit bestehenden Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen durchgeführt werden und keine Selbstmandatierung der NATO vorliegt75, ist das Verhältnis zwischen den beiden Institutionen von Zweideutigkeit bestimmt. Der Nordatlantikrat erlaubt sich, für die Weltorganisation zu sprechen – macht sich zu deren Anwalt und Fürsprecher. Damit untergräbt er jedoch die Autorität der Vereinten Nationen und tendiert dazu, diese zu bevormunden. In Anbetracht der geltenden Rechtsverhältnisse kann dies auch als eine Bevormundung des Vormunds bezeichnet werden. Mit der Bezugnahme auf die Geiselnahme von UN-Personal durch die Kriegspartei der bosnischen Serben erhöht der Nordatlantikrat teilweise sogar den auf den Vereinten Nationen lastenden Handlungsdruck, der Eskalation der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien ein Ende zu bereiten. Ebenso wie die Tendenzen zur Paternalisierung kann dies darauf zurückgeführt werden, dass der Nordatlantikrat aus einer Position der Stärke heraus aufzutreten vermag, da die Fähigkeit des Bündnisses zur Projektion militärischer Macht von den Vereinten Nationen in Anspruch genommen wird und die NATO offenbar einen nicht unerheblichen Teil der vom Weltsicherheitsrat avisierten Lösung des Problems darstellt. Schließlich deutet auch die Behauptung des Nordatlantikrats, dass die fortdauernde Präsenz von UN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien nicht von Anfang an klaren Zielen gedient habe, auf bestehende Unstimmigkeiten zwischen dem atlantischen Bündnis und der Weltorganisation hin. Diese manifestieren sich sowohl in den Problemen des Nordatlantikrats mit einer Anerkennung der ihm formaljuristisch übergeordneten Autorität des UNSicherheitsrats als auch in einem Selbstverständnis, das von der Idee bestimmt zu sein scheint, wirksamer als die Weltorganisation zu agieren. Vor diesem Hintergrund könnten die Bemühungen des Nordatlantikrats, die Kooperationsfähigkeit des Bündnisses zu untermauern, durchaus als Versuch angesehen werden, um von diesen latenten Konflikten zwi75 Mithilfe eines – im Anschluss an Sequenzanalysen unproblematischen (vgl. Abschnitt 3.3.2.4) – Abgleichs mit dem äußeren Kontext kann die Völkerrechtskonformität der Aktionen des Bündnisses bestätigt werden. Aus dem Archiv der Gegenwart geht hervor, dass die am 12. April 1993 begonnene Operation Deny Flight zur Überwachung des bosnischen Luftraums – der erste Kampfeinsatz in der Geschichte der NATO – auf Resolution 816 des UN-Sicherheitsrats vom 31. März desselben Jahres zurückgeht, in der mit 14:0 Stimmen bei Enthaltung Chinas beschlossen wurde, das Flugverbot über Bosnien-Herzegowina militärisch durchzusetzen. Das Mandat dazu wurde dem atlantischen Bündnis erteilt. Zudem einigten sich beide Institutionen am 27. Oktober 1994 auf die Durchführung unangekündigter Luftangriffe in Bosnien, sofern die Gefahr für Zivilisten dabei nur gering sei. Den Krieg entschied der Einsatz der NATO-Luftstreitmacht, dies sei hier der Vollständigkeit halber angemerkt, jedoch erst im Zuge einer gravierenden Zunahme der Angriffe im Zeitraum von Ende August bis Mitte September des Jahres 1995.
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6. Fall 2: Bosnien
schen den beiden Institutionen abzulenken. Auch nach dem Ende der Blockkonfrontation wäre die „Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen“ somit als ein zentrales Handlungsproblem der NATO zu verstehen. *** Hinsichtlich der Auswahl eines möglichst maximal kontrastierenden nächsten Falles sind nun mindestens die folgenden vier Optionen denkbar. Ähnlich wie die Untersuchung des Nordatlantikvertrages legte die obige Sequenzanalyse eines Ratskommuniqués zu Bosnien abermals vor allem deutliche Spuren eines gespannten Verhältnisses zwischen dem atlantischen Bündnis und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen frei, die bisweilen sogar in einer offenen Paternalisierung des Letzteren durch den Nordatlantikrat gipfelten. Anstatt im Rahmen der dritten Analyse ein weiteres Mal dem Muster von Konflikt und Harmonie zwischen diesen beiden Institutionen zu folgen, wäre es möglich, zum zweitwichtigsten Ergebnis des ersten Falles zurückzukehren und dieses zum Referenzpunkt eines möglichst maximalen Kontrastes zu machen. Das als am zweitrelevantesten erachtete Resultat der Untersuchung des Nordatlantikvertrages hatte in einem offenen Missverhältnis zwischen der geographischen Benennung des Zusammenschlusses und der tatsächlichen Ausschöpfung des durch diese Bezeichnung implizierten Mitgliedschaftspotentials bestanden. Den erforderlichen Kontrast dazu könnte somit die sieben osteuropäische Staaten umfassende zweite Erweiterungsrunde der NATO im Jahr 2004 markieren, sofern diese als eine anpassende Reaktion auf das offene Missverhältnis zwischen dem geographischen Anspruch und der tatsächlichen Ausschöpfung des Spektrums der potentiellen Mitglieder angesehen würde. Ein solches Vorgehen setzte jedoch immer schon ein weites, d.h. seine Nebenmeere einschließendes Verständnis des Nordatlantik voraus, während die gleichzeitig geltende, dazu spiegelbildliche Lesart der (mittlerweile massiven) Überdehnung eines engen Nordatlantikbegriffs ohne Nebenmeere ausgeblendet und ohne Not entwertet würde. Ebenfalls nicht unproblematisch wäre es, nun einen Kontrast zu der an mehreren Stellen des Bosnien-Kommuniqués festgestellten Betonung der Kooperationsfähigkeit des Bündnisses zu bilden und das demgegenüber gleichsam „unilaterale“ Vorgehen der NATO im Fall Kosovo, die Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 also, zum Gegenstand der nächsten Detailuntersuchung zu machen. Gemessen an der angestrebten Steigerung des Fallibilitätspotentials könnte es sich dabei jedoch um einen allzu „leichten“ Fall handeln, da ein Konflikt zwischen den beiden Institutionen hier außer Frage steht und es zudem nicht unplausibel erscheint, dass zur Rechtfertigung des – nicht von einem Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen legitimierten – militärischen Vorgehens der NATO wiederum ein avantgardistisches Selbstverständnis sowie die größere Wirksamkeit des Bündnisses deutlich werden dürften. Eine dritte Option besteht darin, das analysierte NATO-Engagement in Bosnien unter dem Aspekt der Ausführung eines Auftrages zu thematisieren, der gemäß der Interpretation des Nordatlantikvertrages nicht zu den Kernaufgaben des Bündnisses gehört. Ein möglichst maximaler Kontrast dazu wäre dann die Erledigung einer vertraglich fixierten Grundverpflichtung seitens des Kollektivs der NATO-Partner, wie sie etwa die beiden Aufgaben der Bewaffnung und des gegenseitigen Beistands darstellen. Nicht zuletzt im Lichte der immensen politischen – und schon sehr früh auch historischen – Bedeutung, die den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zugeschrieben wurde und wird, wäre die Aktivierung
6.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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der Beistandsklausel nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages in Reaktion auf diesen „bewaffneten Angriff“ sicherlich gut geeignet, um das Kontrastkriterium „Kernaufgabe des Bündnisses“ zu erfüllen. Der angestrebten Steigerung des Fallibilitätspotentials dürfte jedoch am besten gerecht werden, wenn der in Abschnitt 4.4.2 diskutierte Vorschlag zur Reduzierung der Gefahr einer Reproduktion zuvor aufgestellter Auswahldimensionen aufgegriffen wird. Dies würde bedeuten, dass nach der inhaltlich orientierten Kontrastbildung – wie sie die Bewegung von einem latenten Konflikt zwischen der NATO und den Vereinten Nationen innerhalb des Nordatlantikvertrages hin zu einem prima vista harmonischen Verhältnis zwischen den beiden Institutionen im Rahmen der Beilegung des Bosnienkonflikts darstellt – nun ein Kontrast betont wird, der sich auf die Struktur bezieht, die dem konkreten Inhalt des zuvor angewendeten Kriteriums zugrunde liegt. Eine solche Überwindung der inhaltlich geprägten Auswahldimension „Konflikt und Harmonie zwischen der NATO und den Vereinten Nationen“ könnte durch die Auswahl eines Falles erreicht werden, bei dem das Verhältnis zwischen den beiden Institutionen, zumindest auf der Basis plausibler Vorüberlegungen, möglichst keine Rolle spielt. Dieses Kriterium dürfte vor allem von jenem der NATO zuschreibbaren Handeln erfüllt werden, das, wie die Reform ihrer institutionellen Struktur oder die Verabschiedung Strategischer Konzepte, auf eine Steigerung der Legitimität und der Effektivität des Bündnisses abzielt. Da jegliche Aktivität des Bündnisses per se auf der Ebene der internationalen Politik angesiedelt ist und insofern eine völkerrechtlich relevante Angelegenheit darstellt, bleiben streng genommen zwar auch solche, vorrangig „selbstbezüglich“ motivierten Maßnahmen stets in irgendeiner Form auf die Vereinten Nationen bezogen; im Vergleich zu konkreten Militäreinsätzen wie auf dem Balkan und in Afghanistan dürfte das Verhältnis zum UN-Sicherheitsrat bei inner-institutionellen Entscheidungen des Nordatlantikrats jedoch eine geringere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund, dass sich nach der Untersuchung der ersten beiden Fälle deutliche Anzeichen für eine Erklärung des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation herauskristallisieren, die auf eine Infragestellung der Wirksamkeit der Vereinten Nationen zugunsten der Machtposition des atlantischen Bündnisses selbst hinauslaufen, wäre es somit ganz im Sinne der zum Zweck der Steigerung des Fallibilitätspotentials entwickelten Vorgehensweise einer pfadabhängigen Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle, als nächstes einen Fall zu analysieren, bei dem die der NATO zuschreibbare Aktivität primär von einer gewissen „Selbstbezüglichkeit“ gekennzeichnet ist und eine Form inner-institutioneller Strukturveränderungen zum Gegenstand hat. Darüber hinaus wäre es angesichts der auf den Fortbestand der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation zielenden Forschungsfrage im Anschluss an die Interpretationen des 1949 unterzeichneten Nordatlantikvertrages und des Ratskommuniqués aus dem Jahr 1995 nun zudem erforderlich, ein Dokument jüngeren Datums auszuwählen. Die beiden vor dem 11. September 2001 verabschiedeten strategischen Konzepte von 1991 und 1999 sollen daher zugunsten von Strukturreformvorhaben nach den Terroranschlägen zurückgestellt werden. Mit den drei NATO-Gipfelerklärungen von Prag (November 2002), Istanbul (Juni 2004) und Riga (November 2006), den drei Ministerratskommuniqués von Juni 2005, Juni 2006 und Juni 2007, sowie den beiden ministeriellen „Statements on Capabilities“ von Juni und Dezember 2003 konnten insgesamt acht Dokumente jüngeren Datums ausfindig gemacht werden, in denen Veränderungen der inner-institutionellen Struktur des atlantischen
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6. Fall 2: Bosnien
Bündnisses thematisch sind. Unter der Prämisse, dass die Erklärungen von Staats- und Regierungschefs aufgrund von deren Gesamtverantwortung eine höhere Wertigkeit aufweisen als Stellungnahmen von Ministern, kann die Auswahl in einem ersten Schritt auf eine der drei Gipfelerklärungen beschränkt werden. Unter Zuhilfenahme des Kriteriums des geringsten Zeitabstands zur Gegenwart kann in einem zweiten Schritt sodann die „Erklärung von Riga“ von November 2006 als jenes Dokument bestimmt werden, das im Rahmen des Falles „Veränderung der internen Strukturen“ analysiert werden soll. Da die Ausführungen zum Thema Strukturreform innerhalb dieses Dokuments in Abschnitt 22 beginnen, setzt die Analyse am Anfang dieses Abschnitts ein.
7 Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
7.1 Sequenzanalyse »22. Continuing defence transformation«1 Der erste Teil der ersten Sequenz (»22.«) legt nahe, dass es sich bei dem zu interpretierenden Dokument um eine Aufzählung von Unterpunkten handelt. Unter dieser Bedingung dürfte der Anfang der Analyse wohl nicht mit dem Anfang des Dokuments übereinstimmen. Auch wenn die Koinzidenz beider Anfänge gewissermaßen der Königsweg einer Untersuchung wäre, beeinträchtigt ihr Auseinanderfallen den Wert einer Sequenzanalyse nicht, da sich eine Fallstruktur – wie in Abschnitt 3.3.2.2 dargelegt – permanent im Prozess ihrer Reproduktion oder Transformation befindet. Anschließend wird ein anhaltender Prozess beschrieben, dessen Beginn in der Vergangenheit liegt. Worum mag es sich bei diesem fortgesetzten (»Continuing«) Prozess der Verteidigungstransformation handeln? Zunächst einmal wirft der Ausdruck Verteidigung, »defence«, der hier in der britischen Schreibweise mit einem »c« und nicht wie im Amerikanischen mit einem »s« vorliegt, die Frage auf, gegen wen oder was die Verteidigung gerichtet sein könnte. Das Wortzeichen Verteidigung verweist also unmittelbar auf seinen Komplementärbegriff Angriff. Unter Berücksichtigung des Ausdrucks Transformation, der als Umwandlung, Umformung, Umgestaltung oder Übertragung übersetzt werden kann2, wird darüber hinaus deutlich, dass besagte Verteidigung einem Prozess der Veränderung unterworfen ist, der bereits begonnen hat und weiterhin andauert. Aufgrund der Neutralität des Begriffs bleibt jedoch offen, ob diese Transformation zu einer besseren oder einer schlechteren, ob sie zu mehr oder weniger Verteidigung führt. Überdies stellt sich die Frage nach dem Auslöser oder Grund der Verteidigungstransformation. Geht diesem Prozess eine Transformation auf Seiten des (potentiellen) Angreifers voraus, gegen den sich die eigene Verteidigung richtet? Oder handelt es sich um eine Maßnahme aus sich selbst heraus, für die das Tun Dritter gar keine Rolle spielt? Zudem wird hier die Frage aufgeworfen, wie es um die Offensive des „Sprechers“ bzw. desjenigen, auf dessen Verteidigung sich der Sprecher hier bezieht, bestellt ist. Gibt es eine solche überhaupt? Und falls ja: Unterliegt auch sie einer Transformation? Schließlich ergibt sich die Frage, warum die Transformation noch nicht abgeschlossen ist. Hat sie überhaupt ein klar definiertes Ende – oder ist sie vielmehr auf Dauer gestellt? Im Lichte dieser Fragen ist es durchaus bezeichnend, dass die Sequenz nicht mit einem (grammatikalischen) Satzsubjekt, sondern mit dem Objekt der fortgesetzten Verteidigungstransformation beginnt. Dies
1 »22. Fortgesetzte Verteidigungstransformation«; die Übersetzung des Dokuments stammt vom Autor der vorliegenden Arbeit. Ursula Jasper sei an dieser Stelle für ihre Hilfe bei der Analyse ebenso gedankt wie für ihre Idee, das die Fallauswahl anleitende Prinzip der möglichst maximalen Kontrastierung auf den Kontrast zwischen Konflikt und Harmonie im Verhältnis zwischen NATO und UN-Sicherheitsrat selbst anzuwenden, um so zur Untersuchung eines Falles zu gelangen, in dem dieses Verhältnis möglichst keine Rolle spielt. 2 Duden Band 5, Fremdwörterbuch (1990), Mannheim et al.: Dudenverlag (5. Auflage), S.788.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
suggeriert sowohl eine Aufwertung der Bedeutung von (transformierter) Verteidigung als auch eine „defensive Grundhaltung“ des Sprechers. »is essential«3 Dass die fortgesetzte Verteidigungstransformation nun als essentiell, also wesentlich, unentbehrlich bzw. lebensnotwendig, bezeichnet wird, erscheint durchaus stimmig, da Verteidigung in der Regel auf den Schutz von besonders wertgeschätzten materiellen oder immateriellen Gütern verweist. Angesichts des nuancierten Bedeutungsgehalts von »essential« sind überdies zwei Lesarten der Sequenz möglich. Im Falle eines Verständnisses von essentiell als wesentlich oder wesenhaft würde die fortgesetzte Verteidigungstransformation gleichsam als zum „Wesen“ des Satzsubjekts oder Referenzobjekts gehörig angesehen; sollte der Bedeutungsschwerpunkt hingegen auf lebensnotwendig liegen, ginge daraus hervor, dass das Satzsubjekt ohne fortgesetzte Verteidigungstransformation nicht fortbestehen könnte. Mutmaßlich hätte dieser Prozess dann kein (definiertes) Ende und wäre auf Dauer gestellt. »to ensure«4 Dieser Textausschnitt verfestigt den Eindruck, dass es bei der Fortsetzung der Verteidigungstransformation ums Ganze geht, um Sein oder Nichtsein gewissermaßen. Der Prozess ist essentiell, um den Bestand von etwas zu sichern oder zu garantieren, um etwas sicherzustellen oder zu schützen. Offen bleibt dagegen, worum es sich dabei handeln könnte und gegen wen oder was es verteidigt werden muss. »that the Alliance remains able«5 Sichergestellt wird also, dass eine mit bestimmtem Artikel (»the«) adressierte Allianz, d.h. ein formaler Zusammenschluss von Staaten oder politischen Gruppen, die zur Erreichung der gleichen Ziele zusammenarbeiten6, zu etwas fähig bleibt. Dies lässt mindestens die beiden folgenden Lesarten über das Verhältnis zwischen der fortgesetzten Verteidigungstransformation und der zu erhaltenden Fähigkeit der Allianz zu: Einerseits kann die besagte Fähigkeit schon vor Beginn des Transformationsprozesses bestanden haben; andererseits könnte sie aber auch eine (unmittelbare) Folge dieses Prozesses sein, deren Erhalt nun an die Fortsetzung der Verteidigungstransformation gebunden ist. Darüber hinaus bleibt offen, ob das Referenzobjekt der fortgesetzten Verteidigungstransformation mit dem grammatikalischen Satzsubjekt, der Allianz, identisch ist. Wäre dies der Fall, dann wäre die Transformation der Allianz selbst für den Erhalt (einer oder einiger) ihrer Fähigkeiten verantwortlich. Ebenso gut möglich wäre es jedoch auch, dass sich der Ausdruck Verteidigungstransformation auf einige oder alle Mitglieder des Zusammenschlusses oder auf Dritte bezieht, die der Allianz zwar nicht offiziell angehören, ihr aber dennoch dienstfertig zur Seite stehen. 3
»ist essentiell«. »um sicherzustellen«. 5 »dass die Allianz fähig bleibt«. 6 Vgl. BBC English Dictionary: A Dictionary for the World (1992), London: Harper Collins, S.30. 4
7.1 Sequenzanalyse
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»to perform its full range of missions,«7 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die fortgesetzte Verteidigungstransformation nicht weniger zur Folge hat als den Erhalt der Fähigkeit der Allianz, das volle Spektrum ihrer Aufträge zu erfüllen. Besonders interessant an dieser Äußerung ist die Implikation, dass die Allianz entweder nur defensiv tätig ist oder dass auch ihre nicht-defensive Aktivität von der Verteidigungstransformation abhängt. Ob sich Letztere auf die Allianz selbst, einige respektive alle ihrer Mitglieder, oder auf Dritte bezieht, bleibt indes weiter offen. Schließlich fällt an dieser Stelle noch der Ausdruck »missions« ins Auge. Dieser weist nicht nur eine tendenziell religiöse Konnotation auf, sondern ist vor allem enger gefasst als die Alternativen »tasks« (Aufgaben) oder »responsibilities« (Verantwortlichkeiten). Durchaus im Sinne einer (religiösen) Sendung beinhalten »missions« zumeist den Aufenthalt in anderen Ländern zum Zweck der Erfüllung besonderer Aufträge. »including collective defence and crisis response operations.«8 In diesem Textausschnitt werden zwei Missionen aus dem vollen Spektrum der Aufträge der Allianz herausgegriffen. Da kein Kriterium ihrer Auswahl expliziert wird, ist es plausibel davon auszugehen, dass der Sprecher diese beiden für besonders wichtig – und andere entsprechend für weniger wichtig – oder zumindest für geeignet hält, um einen repräsentativen Eindruck von der Art der Aufträge der Allianz zu vermitteln. Bei der ersten Mission handelt es sich um die kollektive Verteidigung derjenigen, die sich zu der erwähnten Allianz zusammengeschlossen haben. Dass der Erhalt der Fähigkeit zur Erfüllung dieses Auftrags in einen Zusammenhang mit der fortgesetzten Verteidigungstransformation gerückt wird, ist dabei durchaus stimmig. Doch wie schon im Zuge der Deutung der ersten Sequenz führt auch der Topos der kollektiven Verteidigung erneut zu der Frage nach seinem Referenzobjekt, zu der Frage also, gegen wen oder was sich die Mitglieder der Allianz mit vereinten Anstrengungen zu schützen genötigt sehen. Darüber hinaus bilden Operationen zur Beantwortung von Krisen das zweite Beispiel für Missionen der Allianz. Aufgrund der vorausgehenden Satzstruktur gilt auch für sie, dass die fortgesetzte Verteidigungstransformation essentiell ist, um sicherzustellen, dass die Allianz zur Erfüllung dieses Auftrages fähig bleibt. Dies ist insofern interessant, da es bei diesen Operationen – zumindest unter der Bedingung einer nicht-redundanten Aufzählung – offenkundig nicht um (kollektive) Verteidigung geht. Zudem deutet das als bloße Reaktion auslegbare Wortzeichen »response«, Antwort, darauf hin, dass hier nicht auf Krisen abgestellt wird, die von der Allianz selbst ausgelöst worden sind. Sollten mit den erwähnten Krisen also primär die Krisen von nicht zur Allianz gehörenden Dritten gemeint sein, implizierte dies, dass die fortgesetzte Verteidigungstransformation, das „Wesen“ bzw. die Existenz der Allianz (»is essential«) und die Beantwortung von Krisen Dritter in einen engen Zusammenhang gerückt werden. Zwar bleibt offen, wer über das Vorliegen von Krisen und deren Definition sowie das Ausmaß etwaiger Reaktionen auf der Grundlage welcher Legitimation befindet; es wird jedoch deutlich, dass sich ein Tätigwerden der Allianz auch dann abzeichnet (oder zumindest prinzipiell für notwendig erachtet wird), wenn Nichtmitglieder angegriffen werden 7 8
»das volle Spektrum ihrer Aufträge zu erfüllen,«. »einschließlich kollektiver Verteidigung und Operationen zur Beantwortung von Krisen.«.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
oder sonstigen Krisen ausgesetzt sind, die nicht von der Allianz und ihren Konstituenten hervorgerufen wurden. Obwohl dies nicht zur kollektiven Verteidigung zählt, wird hier also auch die Bewältigung solcher Situationen, in denen kein Mitglied der Allianz attackiert wird, in Abhängigkeit von der fortgesetzten Verteidigungstransformation verstanden. Auf diese Weise werden auch Operationen zur Beantwortung von Krisen als defensive Maßnahmen charakterisiert. Somit wird die Lesart bestärkt, dass der Sprecher stark auf Verteidigung fixiert ist und eine äußerst defensive Grundhaltung an den Tag legt (oder zu legen beabsichtigt), er gleichzeitig aber auch über ein sehr dehnbares Verständnis des Verteidigungsbegriffs verfügt. Für den Fall, dass defensive Maßnahmen im Kontext des Tätigkeitsbereichs der Allianz eher als gerechtfertigt angesehen werden als ihr offensives Pendant, kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass hier der Versuch unternommen wird, nicht zweifelsfrei defensive Aktivitäten als solche auszuweisen und zu legitimieren. »Our operations in Afghanistan and the Balkans«9 In dieser Sequenz ist nun erstmals ein Possessivpronomen enthalten (»Our«). Daraus geht hervor, dass es sich bei dem vom Autor dieser Arbeit bislang als „der Sprecher“ bezeichneten Verfasser des zu interpretierenden Textes um ein Kollektiv handelt oder dass hier zumindest für ein solches das Wort ergriffen wird. Über dieses Kollektiv erfahren wir, dass es Operationen in Zentralasien (»Afghanistan«) und Südosteuropa (»the Balkans«) durchführt oder durchgeführt hat. Worin diese geplanten Aktivitäten, die viele komplizierte Handlungen umfassen10, bestehen, bleibt jedoch ebenso unklar wie das Verhältnis, in dem der in dieser Sequenz neu beginnende Satz zu seinem Vorgänger steht. »confirm that NATO needs«11 Die zuvor erwähnten Operationen des Kollektivs, zu denen sich der oder die Sprecher zugehörig fühlen, bestätigen (»confirm«) also, dass die NATO etwas noch näher zu Spezifizierendes benötigt. Abgesehen davon, dass eine Bestätigung stets das Vorliegen einer Annahme zur Voraussetzung hat, fällt hier vor allem die Reproduktion der Struktur des ersten Satzes auf. Ebenso wie die fortgesetzte Verteidigungstransformation zum Erhalt der Fähigkeiten einer nicht näher bezeichneten, aber mit bestimmtem Artikel adressierten Allianz beiträgt, sind es nun die Operationen eines als Satzsubjekt firmierenden (Sprecher)Kollektivs, die – einstweilen noch unbestimmte – Bedürfnisse der NATO bestätigen. Unter der Bedingung der Geltung gewisser Mindestanforderungen an die Konsistenz und Kohärenz des zu untersuchenden Dokuments soll daher nun davon ausgegangen werden, dass das bislang fehlende Referenzobjekt der fortgesetzten Verteidigungstransformation mit jener Gruppe identisch ist, auf deren Operationen in Zentralasien und Südosteuropa soeben verwiesen worden ist. Gleichzeitig dürfte dann auch mit der Allianz bereits die NATO gemeint gewesen sein. Auch die Art der prädikativen Verknüpfung der Subjekte und Objekte der beiden Sätze stimmt in ihrer Tendenz auffallend überein. Ging es zunächst um die Feststellung eines essentiellen Zusammenhangs zwischen der fortgesetzten Verteidigungstransformation und 9
»Unsere Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan«. Vgl. BBC English Dictionary: A Dictionary for the World (1992), London: Harper Collins, S.806. 11 »bestätigen, dass (die) NATO benötigt«. 10
7.1 Sequenzanalyse
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dem Erhalt der Fähigkeit, das volle Auftragsspektrum der Allianz zu erfüllen (»is essential to«), steht nun eine Bestätigung dessen zur Debatte, was die NATO benötigt (»confirm that NATO needs«). Lebensnotwendigkeiten spielen also in beiden Fällen eine entscheidende Rolle. Unklar bleibt dagegen auch weiterhin, in welchem Verhältnis Subjekt und Objekt – also das seine Verteidigung kontinuierlich wandelnde und Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan durchführende Kollektiv der Sprecher auf der einen Seite und das nordatlantische Bündnis auf der andern – zueinander stehen. »modern, highly capable forces –«12 Die Äußerung, dass die Operationen des von dem oder den Sprechern repräsentierten Kollektivs in Afghanistan und auf dem Balkan einen Bedarf der NATO an modernen, hoch fähigen Streitkräften bestätigen, rückt einmal mehr das Verhältnis zwischen Satzsubjekt und Objekt in den Fokus. Eine erste Lesart besteht darin, dass es sich bei den Sprechern nicht um Vertreter des atlantischen Bündnisses selbst handelt. Dies würde bedeuten, dass das von ihnen repräsentierte Kollektiv Aufträge übernommen hat, deren Erfüllung der NATO aufgrund eines nicht gedeckten Bedarfs an den besagten modernen, hoch fähigen Streitkräften nicht möglich gewesen ist. In diesem Falle wäre zumindest verständlich, warum die Allianz bislang zweimal in der dritten Person Singular adressiert wurde (»the Alliance«; »NATO«). Spiegelbildlich dazu sind die Verfasser des vorliegenden Dokuments einer zweiten Lesart zufolge selbst Vertreter der NATO – und es ist nicht zuletzt die Erwähnung von Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan, die dem starke Evidenz verleiht. Diese Deutung wirft allerdings die Frage auf, aus welchen Gründen sich die Sprecher zuvor zweimal in der dritten Person über das Bündnis geäußert haben. Positiv gewendet wollten sie damit möglicherweise eine (kritische) Distanz gegenüber dem eigenen Tun zum Ausdruck bringen. Zumindest im unmittelbar zwischenmenschlichen Bereich läuft es für gewöhnlich – von den Anforderungen an wissenschaftliche Arbeiten einmal abgesehen – jedoch auf eine unverhohlene Selbstüberhöhung hinaus, in Gegenwart anderer von sich in der dritten Person zu reden, da den Umstehenden somit signalisiert wird, dass sie es nicht wert sind, das Wort direkt an sie zu richten und in einen Dialog – die Grundform aller Sozialität – mit ihnen zu treten. Das Problem wird an dieser Stelle noch dadurch verschärft, dass ein Possessivpronomen in der ersten Person Plural (»Our«) und die Adressierung des gleichen Referenzobjekts in der dritten Person Singular (»NATO«) innerhalb desselben Satzes vorzufinden sind. Eine prekäre Selbstwahrnehmung und Schwierigkeiten auf der Ebene des Rollenverständnisses und des Zugehörigkeitsgefühls der Sprecher erhalten auf diese Weise doch eine gewisse Plausibilität. Unter der Bedingung, dass das vorliegende Dokument Vertretern des atlantischen Bündnisses zugeschrieben werden kann – wie in Abschnitt 6.2 erwähnt haben wir es hier mit der Erklärung des Gipfels von Riga im November 2006 zu tun, einem Kommuniqué des Nordatlantikrats in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs also13 – wird nun 12
»moderne, hoch fähige Streitkräfte –«. An dieser Stelle ist eine kurze methodologische Zwischenbemerkung erforderlich. Die – zuweilen am leidenschaftlichsten kritisierten – Prinzipien des Einstellungswechsels und der künstlichen Naivität (vgl. Abschnitt 3.3.2.4) beinhalten keineswegs, dass der Forscher gewisse Kontextinformationen nicht haben dürfe. Es geht vielmehr darum, von ihnen zu abstrahieren und sie auszublenden, um auf diesem Wege Deutungsmöglichkeiten offen zu halten, die – wie im Falle der Selbstadressierung des Bündnisses in der dritten Person – andernfalls möglicher13
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
zudem erstmals deutlich, in welche Richtung die zu Beginn erwähnte Verteidigungstransformation führen soll. Ihr Ziel ist die Modernisierung der Streitkräfte. Dass der Bedarf der NATO an modernen, hoch fähigen Streitkräften noch nicht gedeckt ist (»needs«) greift zudem den Topos des fortgesetzten Wandels (»Continuing defence transformation«) wieder auf. Aus dem Zusammenspiel beider Sätze geht weiterhin hervor, dass die Staats- und Regierungschefs die diesbezüglichen Reformbemühungen auf einem guten Wege wähnen und dass sie den Verlauf und die Ergebnisse der noch andauernden Operationen nicht, wie eine isolierte Betrachtung des zweiten Satzes suggerieren könnte, aufgrund einer unzureichenden Modernisierung der Streitkräfte als gefährdet ansehen. So wie die bislang auf den Weg gebrachten Veränderungen den bisherigen Erfolg der Operationen ermöglicht haben, so soll die Fortführung der Modernisierung künftige Erfolge nach sich ziehen. Schließlich besteht die vielleicht größte Fraglichkeit, die sich im Lichte des momentanen Stands der Auswertung ergibt, darin, welcher Art von Tätigkeit die NATO in Afghanistan und auf dem Balkan nachgeht (der Text legt nahe, dass es dabei um die am Ende des ersten Satzes genannten Operationen zur Beantwortung von Krisen gehen könnte) und inwiefern diese Tätigkeit samt der dazu benötigten modernen, hoch fähigen Streitkräfte in einem mehr als nur rhetorischen Zusammenhang zur Verteidigung und deren fortgesetzter Transformation stehen. Um einer Antwort darauf näher zu kommen, ist es – gleichsam zur Füllung der Indexikalität Unsere Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan – einmal mehr erforderlich, Wissen aus dem äußeren Kontext heranzuziehen. Exkurs: NATO-Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan14 Mit der Übernahme der Führung der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan im August 2003 begann der erste Einsatz der NATO außerhalb des euroatlantischen Raums. Die ISAF war auf der Grundlage der Resolution 1386 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschaffen worden, um es der neuen afghanischen Übergangsregierung und der sie unterstützenden UN-Mission zu ermöglichen, ihrer Tätigkeit in Kabul und Umgebung in einem sicheren Umfeld nachzugehen. Die Übergangsregierung war im Dezember 2001 eingesetzt worden, nachdem sich das Regime der radikalislamischen Taliban, die Mitte der 1990er Jahre als führende Kraft aus den Wirren des afghanischen Bürgerkrieges hervorgegangen waren, aufgelöst hatte. Infolge der Weigerung der Taliban, den von der US-Regierung der Planung der Terrorangriffe vom 11. September 2001 beschuldigten Osama bin Laden und weitere sich in Afghanistan aufhaltende Angehörige des von diesem geführten Terrornetzwerks an die USA auszuliefern, hatten USTruppen mit britischer Unterstützung im Oktober 2001 die Operation Enduring Freedom
weise vorzeitig geschlossen worden oder nicht (in ihrer vollen Tragweite) zu Bewusstsein gekommen wären. Gleichwohl ist die gezielte (Wieder-)Einblendung der Kontextinformation über die Art und Herkunft des zu interpretierenden Textes nun aus forschungspragmatischen Gründen durchaus legitim, geht es im Rahmen der vorliegenden Arbeit doch nicht darum, die Verfasser von Texten zu erschließen, sondern vielmehr darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation immanent zu rekonstruieren. Die zu analysierenden Texte von Anfang an mit dem atlantischen Bündnis in Zusammenhang zu bringen, lässt sich daher nicht nur schwer verhindern, sondern durchaus auch verantworten. 14 Die folgende Darstellung orientiert sich an den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), Brüssel: NATO, S.143-158, die um Euphemismen bereinigt und um kritische Aspekte ergänzt wurden.
7.1 Sequenzanalyse
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aufgenommen, die dann wenige Wochen später den Sturz des Talibanregimes nach sich zog. Im Oktober 2003 legte die UN-Sicherheitsratsresolution 1510 (2003) die Grundlage für eine Ausweitung des Mandats der International Security Assistance Force auf Gebiete jenseits der Hauptstadt. So genannte Regionale Wiederaufbaumannschaften (Provincial Reconstruction Teams, PRTs) spielen bei diesem Prozess eine zentrale Rolle. Die vorrangige Aufgabe dieser zivil-militärischen Partnerschaften, deren militärischer Arm dem ISAFKommando untergeordnet ist, besteht darin, eine landesweite Ausdehnung der Macht der Zentralregierung und somit den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans zu ermöglichen. Im Dezember 2003 übernahm die ISAF das Kommando über die regionale Wiederaufbaumannschaft Kundus, bis Ende 2004 folgten vier weitere Kommandos ebenfalls im Norden des Landes. Seit der Übernahme des Kommandos über vier regionale Wiederaufbaumannschaften im Westen Mitte 2005 erstrecken sich die nunmehr neun von der ISAF geführten PRTs auf rund 50% des afghanischen Territoriums. Derweil handelt es sich bei den Operationen des atlantischen Bündnisses auf dem Balkan um Einsätze in Bosnien-Herzegowina, dem Kosovo und (der Ehemaligen Jugoslawischen Republik) Mazedonien. Nach der Bekundung ihrer Bereitschaft zur Übernahme friedenserhaltender Maßnahmen unter der Autorität der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Juni bzw. Dezember 1992 beteiligte sich die NATO von 1992 bis 1995 an der Überwachung und Erzwingung eines UN-Embargos in der Adria und einer Flugverbotszone über BosnienHerzegowina einschließlich dazugehöriger Sanktionen gegen die Kriegsparteien. Zur Unterstützung der UN Protection Force (UNPROFOR) führte die Allianz zudem vereinzelte Luftschläge aus, um der Belagerung Sarajevos und anderer von den Vereinten Nationen als Sicherheitszonen ausgewiesener Gebiete entgegenzuwirken. Zu einer ganzen Serie von NATO-Luftangriffen gegen serbische Positionen in Bosnien-Herzegowina kam es vom 30. August bis 15. September 1995 im Rahmen der Operation Deliberate Force. Am 16. Dezember 1995 übernahm die NATO dann die Führung der neu geschaffenen, 60.000 Soldaten aus NATO- und Nicht-NATO-Staaten umfassenden Implementation Force (IFOR), die am Tag zuvor durch die Resolution 1031 (1995) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen autorisiert worden war. Die Aufgabe der IFOR bestand darin, die Einhaltung des am 14. Dezember von den Repräsentanten der Parteien des bosnischen Bürgerkrieges unterzeichneten Friedensabkommens von Dayton zu überwachen. Auf der Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1088 (1996) ging das Mandat der IFOR am 20. Dezember 1996 an eine ebenfalls von der NATO geführte, 32.000 Mann starke Stabilisation Force (SFOR) über, deren vornehmliche Aufgabe es war, ein der Konsolidierung des Friedens förderliches (Sicherheits-) Umfeld zu gewährleisten. Im Zuge anhaltender Erfolge bei der Stabilisierung ging die Anzahl der SFOR-Streitkräfte bis Mitte 2004 bis auf 7.000 zurück. Seit der Übernahme des SFOR-Einsatzes durch die Europäische Union im Rahmen der Operation Althea am 2. Dezember 2004 unterhält die NATO ein militärisches Hauptquartier in Sarajewo, das den Verantwortlichen vor Ort vor allem bei der Reform der Landesverteidigung und der Vorbereitung auf eine Mitgliedschaft im NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden dienen soll. Nach dem Scheitern von Verhandlungen über eine Befriedung der serbischen Provinz Kosovo, in der es seit Februar 1998 verstärkt zu Gewaltausbrüchen zwischen serbischen Militärs und Polizisten sowie der albanischen Bevölkerungsmehrheit gekommen war, be-
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
gann die NATO am 24. März 1999 78 Tage andauernde Luftangriffe auf Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien, ohne dazu durch ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen legitimiert zu sein. Einen Tag nach der Unterzeichnung einer Militärtechnischen Übereinkunft durch Vertreter des Bündnisses und der Bundesrepublik Jugoslawien am 9. Juni 1999 setzte die NATO die Luftangriffe aus, nachdem der zugesagte Rückzug der serbischen Streitkräfte aus dem Kosovo begonnen hatte. Am 12. Juni 1999 übernahm die NATO die Führung der Kosovo Force (KFOR), die auf der Grundlage der am 10. Juni verabschiedeten UN-Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) geschaffen worden war. Zu den Aufgaben der anfangs 50.000 Soldaten aus NATOund Nicht-NATO-Staaten umfassenden KFOR gehörten u.a. Hilfe bei der Rückkehr der Vertriebenen, die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, der Schutz der Grenzen, aber auch die Unterstützung ziviler Einrichtungen. Nachdem die Kosovo Force bis Ende 2003 auf 17.500 Streitkräfte reduziert worden war, wurden in Reaktion auf Gewaltausbrüche gegen die serbische Minderheit im März 2004 2.500 zusätzliche Streitkräfte zur Unterstützung in die unter internationaler Verwaltung stehende Provinz entsandt. Zur Erhöhung der Flexibilität der Truppen traf der Nordatlantikrat im August 2005 zudem Entscheidungen zur Umstrukturierung der Zusammensetzung der Kosovo Force. Das Engagement des Bündnisses in (der Ehemaligen Jugoslawischen Republik) Mazedonien geht formell auf ein Hilfsersuchen des mazedonischen Präsidenten Trajkovski zurück. Dieser hatte die NATO im Juni 2001 um Unterstützung bei der Entwaffnung der Nationalen Befreiungsarmee und anderer albanischer Rebellengruppen gebeten. Die Förderung eines politischen Dialogs zwischen den Konfliktparteien mündete am 13. August 2001 in der Unterzeichnung des Rahmenabkommens von Ohrid, auf dessen Grundlage NATOTruppen am 27. August im Rahmen der auf 30 Tage befristeten Operation Essential Harvest zur Zerstörung jener Waffen ins Land kamen, die ihnen die albanischen Rebellen aushändigen würden. Während die am 27. September 2001 beginnende Überwachung der Umsetzung des Friedensplans der EU-Operation Amber Fox oblag, begann die NATO am 16. Dezember 2002 die Operation Allied Harmony, um die Risiken einer Destabilisierung der Lage in Mazedonien möglichst gering zu halten. Nachdem am 31. März 2003 auch die Verantwortung für diese Aufgabe an die Europäische Union übergegangen ist, hat das atlantische Bündnis ein Hauptquartier in Skopje eingerichtet, dessen 120 zivile und militärische Angehörige die Verantwortlichen der mazedonischen Regierung bei der Reform des Sicherheitssektors und der Umsetzung des Membership Action Plans (MAP), der Vorstufe einer NATO-Vollmitgliedschaft, unterstützen. *** »forces that can move quickly«15 Der Bedarf der NATO an modernen, hoch fähigen Streitkräften, den die Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan bestätigen, wird nun dahingehend spezifiziert, dass diese sich schnell bewegen können sollen. In Anbetracht der oben skizzierten Einsätze, deren Schwerpunkt auf der Erzwingung und Wahrung des Friedens in von inneren Unruhen erschütterten Gesellschaften liegt, erscheint dies auch durchaus plausibel zu sein. Denn um quasi-polizeiliche Aufgaben zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eines Ge15
»Streitkräfte, die sich schnell bewegen können«.
7.1 Sequenzanalyse
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meinwesens zu erfüllen, sind schnell bewegliche Streitkräfte von Nutzen, da sie (zumindest in der Theorie) ohne größeren Zeitverzug in lokale Krisenherde verlegt werden und so (wieder-)aufbrechende Kämpfe zwischen Konfliktparteien unterbinden können. Abgesehen davon, dass diese Aufgabe je nach Art und Umfang der Bewaffnung der Konfliktparteien möglicherweise besser in den Händen internationaler Polizeitruppen aufgehoben sein könnte, verbirgt sich hinter dem Wortzeichen schnell bewegliche Streitkräfte streng genommen jedoch auch ein eher bedeutungsleerer Allgemeinplatz. Dies wird besonders deutlich, wenn wir uns sein Gegenteil vor Augen führen: Wenig flexible Streitkräfte, die nur zu langsamen Bewegungen fähig sind, dürften gegenüber ihrem schnellbeweglichen Pendant in den meisten Einsatzsituationen im Nachteil sein. »to wherever they are needed upon decision by the NAC.«16 Die Verfügbarkeit über die schnell beweglichen Streitkräfte wird in dieser Sequenz auf ein Entscheidungsgremium übertragen. Angesichts des für North Atlantic Council stehenden Akronyms »NAC« handelt es sich dabei um jenen Rat, der laut Analyse von Artikel 9 des Nordatlantikvertrages als eine Art Bereitschaftsdienst konstituiert wurde, der zu jeder Zeit unverzüglich zusammentreten kann und in dem jedes Mitglied des Bündnisses repräsentiert ist. Mit Blick auf die Ebene der zu treffenden Entscheidung lässt die Äußerung, dass sich die Streitkräfte schnell dorthin bewegen können sollen, wo immer sie gemäß Entscheidung des Nordatlantikrats gebraucht werden, mindestens zwei Lesarten zu. Bezöge sich diese Regelung auf die Ebene eines konkreten Einsatzes könnte dies bedeuten, dass dessen Durchführung in erheblichem Maße in den Händen des Nordatlantikrats verbleiben würde. Der gerade erst als erforderlich erachteten schnellen Beweglichkeit der Streitkräfte dürfte diese Regelung allerdings wenig zuträglich sein. Die Stärkung oder Errichtung weitgehend autonomer Kommandostrukturen wäre dem Zweck einer möglichst raschen Verlegung von Truppen vermutlich dienlicher gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibler, dass es hier nicht um Entscheidungen auf der Ebene der konkreten Durchführung eines Einsatzes geht, sondern um (Grundsatz-) Entscheidungen darüber, wo die NATO überhaupt militärisch tätig werden und in welche Konflikte sie sich einschalten soll. Rechtlich unbedenklich wären solche Aktivitäten allerdings nur, wenn sie – wie im Falle Mazedoniens – im Einvernehmen mit der Regierung des Zielstaates oder – wie im Falle von SFOR, KFOR und ISAF – auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erfolgen. Aus der Nichterwähnung dieser Bedingungen kann nun natürlich geschlossen werden, dass den Sprechern die Notwendigkeit ihrer Erfüllung zur zweiten Natur geworden ist. Spiegelbildlich findet sich auf der andern Seite des Spektrums an Deutungen die Möglichkeit, dass die Staats- und Regierungschefs den Nordatlantikrat hier als eigenständige Quelle legitimer Einsatzentscheidungen etablieren und ihn an die Stelle des UN-Sicherheitsrats zu rücken beabsichtigen. Gleichsam zwischen den Extremen liegt die Lesart, dass das Verhältnis von NATO und Vereinten Nationen in dieser Frage über ein gewisses Konfliktpotential verfügt. Insbesondere das recht unmissverständliche Wortzeichen »wherever« signalisiert jedoch, dass den Entscheidungen des Nordatlantikrats an dieser Stelle eine besondere Autonomie zugeschrieben wird. 16
»wohin immer sie gemäß Entscheidung des Nordatlantikrats gebraucht werden.«.
212
7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Wenn Streitkräfte nach einer vom Nordatlantikrat getroffenen Grundsatzentscheidung besonders schnell verlegt werden müssen, dann legt dies den Schluss nahe, dass der von den Vertretern der Mitgliedstaaten diagnostizierte Handlungsbedarf besonders groß ist. Dies führt nun unmittelbar zurück zu den Überlegungen über die Art der hier thematischen Operationen. Gemeinhin wird der Handlungsbedarf wohl als am dringlichsten bewertet, wenn das Leben der eigenen Bevölkerung oder die Unversehrtheit des eigenen Territoriums auf dem Spiel stehen. Obwohl solche Gefahren im Rahmen der oben skizzierten Einsätze nicht oder zumindest nicht unmittelbar bestehen, erfordern diese dennoch eine prompte Reaktion in Form der schnellen Verlegung von Streitkräften an den Zielort. In Kombination mit der für die Erfüllung jeder Mission der NATO essentiellen fortgesetzten Verteidigungstransformation deutet also auch die Notwendigkeit schnell bewegbarer Streitkräfte darauf hin, dass die Bündnismitglieder die besagten Operationen an das Schema (Selbst-) Verteidigung assimilieren. »Building on our decisions at the Summits in Prague and Istanbul,«17 In dieser Sequenz rücken die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten ihr gegenwärtiges Tun in einen Zusammenhang mit Entscheidungen, die sie im Rahmen der Gipfeltreffen in Prag (November 2002) und Istanbul (Juni 2004) getroffen haben. Damit signalisieren sie, dass sie ihre Beschlüsse nicht willkürlich treffen, sondern auf der Grundlage ihrer früheren Entscheidungen. Im Unterschied zu seinem Gebrauch, um auf die Operationen des Bündnisses in Afghanistan und auf dem Balkan zu verweisen, bezieht sich das Possessivpronomen »our« nun also auf die höchsten Repräsentanten der NATO. Im Lichte dieser Flexibilität erscheint die zweifache Adressierung des Bündnisses in der dritten Person (»the Alliance«, »NATO«) umso fragwürdiger. »much has already been done«18 Wider Erwarten schließt sich an die Bezugnahme auf frühere Beschlüsse keine neue Entscheidung der Sprecher, sondern eine Passivkonstruktion an. Da der Nordatlantikrat – unabhängig davon, ob er auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, der Fachminister oder der Ständigen Vertreter zusammentritt – allein dazu befugt sein dürfte, Anordnungen zu treffen, deren ausführende Organe ihm nachgeordnete Gremien des Bündnisses oder unter dessen Flagge operierende Streitkräfte der Mitgliedstaaten sind, ist es gerechtfertigt anzunehmen, dass diesen hier auch das Verdienst zukommt, seit den vergangenen Treffen bereits viel getan zu haben. Auf diese Weise wird zugleich suggeriert, dass auf den NATOGipfeltreffen keine „leeren Versprechungen“ gemacht, sondern handfeste Beschlüsse gefasst werden, deren Umsetzung nicht lange auf sich warten lässt. »to make Alliance forces more capable and usable.«19 Auf der Grundlage der Beschlüsse von Prag und Istanbul wurde also bereits viel getan, um die Streitkräfte der Allianz fähiger und brauchbarer zu machen. Unter der Bedingung, dass 17
»Aufbauend auf unseren Entscheidungen auf den Gipfeln in Prag und Istanbul,«. »viel wurde bereits getan«. 19 »um (die) Streitkräfte der Allianz fähiger und brauchbarer zu machen.«. 18
7.1 Sequenzanalyse
213
die Sprecher diese Maßnahme als einen Teil der erwähnten Verteidigungstransformation verstehen, deren Fortsetzung essentiell ist, um sicherzustellen, dass die Allianz fähig bleibt, das volle Spektrum ihrer Aufträge zu erfüllen, geht aus dieser Sequenz hervor, dass dieser Anpassungsprozess (mindestens) bis auf den Prager NATO-Gipfel im November 2002 zurückgeht. Wenn Streitkräfte fähiger und brauchbarer gemacht werden, heißt dies gleichwohl auch, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als nicht (mehr) fähig und brauchbar genug angesehen worden sind. Da die gezielte Anschaffung unbrauchbaren Geräts als Möglichkeit ausgeschlossen werden kann, ist es plausibel, diese Veränderung auf einen – zumindest von den Mitgliedern des Nordatlantikrats als einen solchen diagnostizierten – Wandel des Anforderungsprofils der dem Bündnis zur Verfügung stehenden Streitkräfte zurückzuführen. In Anbetracht der Vielgestaltigkeit der Aufgaben, welche die NATO im Rahmen ihrer (den Bedarf des Bündnisses an modernen, hoch fähigen Streitkräften bestätigenden) Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan zu erfüllen hat, enthält das Dokument bislang zu wenige Hinweise auf die Beschaffenheit eines potentiellen Wandels des Tätigkeitsbereichs der Allianz. Sollte sich dahinter die Übernahme von Einsätzen zur Friedenserzwingung und Friedenserhaltung verbergen, die sich als das bestimmende Merkmal der Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan herausgestellt haben, würde dies jedoch die Frage aufwerfen, warum die Verteidigungstransformation hier vor allem mit den Gipfeln in Prag und Istanbul in Verbindung gebracht wird, wo doch der den entsprechenden Zielen verpflichtete Einsatz der NATO in Bosnien zu dieser Zeit schon seit fast einem Jahrzehnt andauerte. »We will strengthen capabilities«20 Mit der Ankündigung einer Stärkung der Fähigkeiten wird hier die bereits vor zwei Sequenzen erwartete Entscheidung getroffen, die an frühere Beschlüsse anknüpft. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Maßnahmen, die seit dem Gipfel in Prag im November 2002 in dieser Hinsicht ergriffen worden sind, von den Staats- und Regierungschefs noch nicht als ausreichend angesehen werden. Die Verteidigungstransformation stellt offenkundig eine gewaltige Herausforderung dar. »further in accordance with the direction and priorities of the Comprehensive Political Guidance.«21 Hiermit geben die Sprecher zu erkennen, woran sich ihre Entscheidungen über die Stärkung der Fähigkeiten der Streitkräfte des Bündnisses orientieren. Es sind die Richtung und Prioritäten der »Comprehensive Political Guidance«. Dass es sich dabei um einen Eigennamen handelt, geht aus den groß geschriebenen Anfangsbuchstaben der drei Wörter hervor. Bevor, wie bei solchen Indexikalitäten üblich, Informationen aus dem äußeren Kontext des vorliegenden Dokuments zur Klärung herangezogen werden, können jedoch zunächst einige eigenständige Überlegungen über die Umfassende Politische Anleitung angestellt werden, da dieser Eigenname aus Bestandteilen zusammengesetzt ist, die ohne Weiteres auch immanent auslegbar sind.
20 21
»Wir werden Fähigkeiten stärken«. »weiter gemäß der Richtung und den Prioritäten der Umfassenden Politischen Anleitung.«.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Die größte Frage, die sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist wohl die, wer überhaupt dazu befugt sein könnte, die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten, die ein Höchstmaß an Selbstbestimmung auf der Ebene des Bündnisses verkörpern, politisch umfassend anzuleiten. Da in der bündnisinternen Hierarchie niemand über dem Nordatlantikrat in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs steht, könnte die »Comprehensive Political Guidance« zum Beispiel das Ergebnis einer Auftragsarbeit sein, die der Rat an ein ihm nachgeordnetes Expertengremium delegiert hatte. Weiterhin dürfte es sich bei dieser Anleitung um eine Art Maximalprogramm handeln, dessen Vorgaben einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen. Dafür spricht, dass die Staats- und Regierungschefs hier ihr Vorhaben zum Ausdruck bringen, die Fähigkeiten der Streitkräfte weiter entsprechend der – ihnen also schon (länger) bekannten – »Comprehensive Political Guidance« zu stärken. Wenn deren Vorgaben im Rahmen einer konzertierten Aktion sofort und an einem Stück umzusetzen gewesen wären, hätte der Rat dies angesichts der essentiellen Bedeutung, die er der Verteidigungstransformation zuschreibt, wohl schon allein zur Wahrung seiner Glaubwürdigkeit veranlassen müssen. Exkurs: Comprehensive Political Guidance22 Am 21. Dezember 2005 vereinbarten die Vertreter der damals 26 Mitgliedstaaten des nordatlantischen Bündnisses die Formulierung einer „Comprehensive Political Guidance“ als neues Instrument ihrer gemeinsamen Verteidigungsplanung. Sie hat das Ziel, einen Rahmen und die Prioritäten für alle Angelegenheiten in Zusammenhang mit den Bereichen militärische Fähigkeiten, Planung und nachrichtendienstliche Information vorzugeben, die in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren von Bedeutung sein könnten. Im Juni 2006 billigten die NATO-Verteidigungsminister die „Comprehensive Political Guidance“ auf ihrem Treffen in Brüssel, im Rahmen des Gipfeltreffens in Riga im November desselben Jahres gaben auch die Staats- und Regierungschefs ihr Plazet. Auf der Grundlage einer Analyse des strategischen Kontextes, d.h. der wichtigsten mutmaßlichen Bedrohungen und Risiken in der nahen Zukunft, beschreibt das Dokument sowohl die Arten von Einsätzen, für die das Bündnis gerüstet sein muss, als auch die zu ihrer erfolgreichen Gestaltung erforderlichen militärischen Fähigkeiten. Während die „Comprehensive Political Guidance“ regelmäßig überprüft werden soll, ist es die Aufgabe von ihr nachgeordneten Dokumenten wie der „Ministerial Guidance“, detailliertere Anweisungen zu geben. *** »23. The establishment of the NATO Response Force (NRF)«23 Der dreiundzwanzigste Unterpunkt der Erklärung, auf die sich die Staats- und Regierungschefs im Rahmen des NATO-Gipfels in Riga im November 2006 geeinigt haben, ist der 22 Neben den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), S.52-54 orientiert sich die folgende Darstellung weitestgehend an Informationen, die dem Eintrag Comprehensive Political Guidance im Stichwortverzeichnis auf der NATO-Homepage entnommen sind. In der Rubrik „Basistexte“ findet sich das Dokument dort auch in voller Länge. Vgl. http://www.nato.int (13.08.2007). 23 »23. Die Errichtung der NATO Response Force (NRF)«.
7.1 Sequenzanalyse
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Errichtung einer »NATO Response Force« gewidmet. Wie bei der »Comprehensive Political Guidance« in der Vorsequenz haben wir es hier – erneut zeigen dies die Großbuchstaben an – mit einem Eigennamen zu tun, dessen Bestandteile eine immanente Interpretation zulassen. Dabei wird sogleich die Frage aufgeworfen, worauf die NRF antworten soll. Mögliche Hinweise auf eine Antwort liefert das zweite der beiden weiter oben gegebenen Beispiele für den Inhalt des vollen Spektrums der Aufträge des Bündnisses, welches auf Operationen zur Beantwortung von Krisen verwiesen hatte. Vor diesem Hintergrund wäre es nun durchaus plausibel, wenn die »NATO Response Force« zur Durchführung solcher Operationen geschaffen worden ist oder geschaffen werden soll. »which today is at full operational capability«24 Dass es den Sprechern nicht darum geht, die Gründung einer »NATO Response Force« anzukündigen, verdeutlicht diese Sequenz. Aus ihr geht hervor, dass die NRF heute ihre volle operative Fähigkeit besitzt. Wiewohl das Zeitattribut »today« nicht wortwörtlich zu nehmen sein dürfte, verweist es – wie zuvor schon die Formulierung fortgesetzte Verteidigungstransformation und die schrittweise Umsetzung der »Comprehensive Political Guidance« – auf die prozessuale Dimension der von den Staats- und Regierungschefs angestrebten Neuausrichtung der Streitkräfte des Bündnisses. Entsprechend wird seit der Verabschiedung des Beschlusses zur Errichtung der »NATO Response Force« bis heute, da sie über ihre volle operative Fähigkeit verfügt, eine gewisse Zeit verstrichen sein. Welche Komponenten im Einzelnen zur vollen operativen Fähigkeit einer mutmaßlichen Krisenreaktionsstreitmacht gehören, bleibt derweil ungeklärt. »has been a key development.«25 Unter der Bedingung minimaler Konsistenz und Kohärenz des vorliegenden Dokuments bezieht sich die Kennzeichnung der »NATO Response Force« als einer Schlüsselentwikklung an dieser Stelle wohl auf ihre Stellung im Rahmen der fortgesetzten Verteidigungstransformation im Allgemeinen und bei der Stärkung der Fähigkeiten des Bündnisses im Besonderen. Für die Staats- und Regierungschefs der atlantischen Allianz stellt es somit offenkundig eine besonders große Herausforderung dar, schnell auf Krisen reagieren zu können. Der unbestimmte Artikel (»a«) macht gleichwohl deutlich, dass es noch weitere Schlüsselentwicklungen gibt. »It plays a vital part«26 In dieser Sequenz reproduziert sich die Struktur, die besondere Wichtigkeit der »NATO Response Force« zu betonen und sie zugleich zugunsten anderer, nicht genannter Komponenten zu relativieren. Während Letzteres erneut mithilfe eines unbestimmten Artikels erfolgt (»a«), wählen die Sprecher aus Anlass der Darstellung der Bedeutung der NRF mit dem Adjektiv »vital«, lebensnotwendig, zum wiederholten Male (»essential«, »ensure«, »needs«) ein Wort, das an die binäre Konstellation von Sein und Nichtsein, von Leben und 24
»die heute ihre volle operative Fähigkeit besitzt«. »war eine Schlüsselentwicklung.«. 26 »Sie spielt eine lebenswichtige Rolle«. 25
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Tod gemahnt. Auf diesem Wege dürfte einmal mehr der Versuch unternommen werden, die dem Bündnis zurechenbaren Tätigkeiten – im konkreten Fall also das Wirken der »NATO Response Force« – unter das Schema Verteidigung zu subsumieren und als rein defensiv auszuweisen. »in the Alliance’s response to a rapidly emerging crisis.«27 Die »NATO Response Force« spielt also eine lebenswichtige Rolle bei der Antwort der Allianz auf eine sich schnell entfaltende Krise. Dies wirft einige Fragen auf. Die erste zielt darauf, was die Staats- und Regierungschefs unter einer Krise verstehen. Diesbezüglich wird hier immerhin deutlich, dass es sich bei Krisen um Situationen handelt, die mitunter eine schnelle Entwicklung nehmen können. In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität der Antwort der Allianz. Hier bleibt weiter offen, ob die Nichterwähnung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als Ausdruck der selbstverständlichen Anerkennung oder als Herausforderung von dessen Primat anzusehen ist. Wenn der NRF zudem eine lebenswichtige Rolle bei der Beantwortung von Krisen zukommt, stellt sich natürlich auch die Frage, welche Faktoren die übrigen lebenswichtigen Rollen in diesem Prozess spielen. Schließlich sorgt auch die abermalige Adressierung des Bündnisses in der dritten Person für Verwunderung. Gerade nachdem sich die Sprecher nun schon mehrfach für die Perspektive direkt Beteiligter (»our«, »We«) entschieden haben, mutet die Wahl einer objektivistischen, neutralen Darstellung – zumindest ansatzweise – wie eine Distanzierung an. »It also serves as a catalyst for transformation and interoperability«28 Der nächste Aspekt im Rahmen der Würdigung der »NATO Response Force« bezieht sich auf ihre Eigenschaft als ein Katalysator für Transformation und Interoperabilität. In der Chemie gilt ein Katalysator als Stoff, „der durch seine Anwesenheit chemische Reaktionen herbeiführt od. in ihrem Verlauf beeinflußt, selbst aber unverändert bleibt“.29 Katalysatoren bringen also per definitionem Transformation, Veränderung mit sich. Sofern die Sprecher hier bestimmte Effekte eines Katalysators im Auge haben und sie die Wendung »catalyst for transformation« beispielsweise als Metapher für die Beschleunigung eines Prozesses gebrauchen, muss es sich bei dieser Formulierung jedoch nicht zwingend um eine Tautologie handeln. Darüber hinaus stellt sich vor allem die Frage nach dem Subjekt der Transformation und der Interoperabilität. Da die beiden Begriffe ohne Spezifizierung gebraucht werden, ist es eher unplausibel, dass sie sich auf jene Gebiete beziehen, deren Krisen eine Antwort der NATO nach sich gezogen haben. Daher spricht mehr dafür, dass hier von Auswirkungen der NRF auf das Bündnis selbst die Rede ist. Beim Wortzeichen Transformation könnte es sich um eine Abkürzung des bereits eingeführten Ausdrucks »defence transformation« handeln, insgesamt bleibt der postulierte Zusammenhang aber doch reichlich vage. Im Sinne einer Kongruenz oder Kompatibilität zwischen diversen Einsätzen oder Einsatzbestandteilen kommen für den Begriff Interoperabilität mindestens die drei folgenden 27
»bei der Antwort der Allianz auf eine sich schnell entfaltende Krise.«. »Sie dient auch als ein Katalysator für Transformation und Interoperabilität«. 29 Duden Band 5, Fremdwörterbuch (1990), Mannheim et al.: Dudenverlag (5. Auflage), S.394. 28
7.1 Sequenzanalyse
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Deutungsmöglichkeiten in Betracht: Die Sicherstellung gleichzeitig durchzuführender Operationen der »NATO Response Force« an verschiedenen Orten könnte damit ebenso gemeint sein wie die Gewährleistung der Kooperation zwischen der NRF und anderen Streitkräften des Bündnisses oder zwischen Truppenverbänden aus verschiedenen Mitgliedstaaten. »and will enhance the overall quality of our armed forces,«30 Weiterhin versprechen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO auch eine Steigerung der Gesamtqualität unserer Streitkräfte. Weniger als der neuerliche Gebrauch des Possessivpronomens »our«, der einer Erklärung von Repräsentanten des Bündnisses eher gerecht wird als dessen Adressierung in der dritten Person, überrascht in dieser Sequenz die Futurform des Verbs (»will enhance«). Dass die NRF die Gesamtqualität der Streitkräfte gegenwärtig noch nicht steigert, obwohl sie inzwischen über ihre volle operative Fähigkeit verfügt, könnte bedeuten, dass die Qualitätssteigerung aus Sicht der Sprecher erst dann vollzogen ist, wenn sich die »NATO Response Force« im Einsatz befindet. »not only for NATO,«31 Wenn die Gesamtqualität unserer Streitkräfte nicht nur für die NATO gesteigert wird, dann kann – zumindest in diesem Satz – das Referenzobjekt, auf welches sich das Possessivpronomen »our« bezieht, nicht die NATO sein. In diesem konkreten Fall verweist das besitzanzeigende Fürwort also vermutlich auf die Mitgliedstaaten, die dem Bündnis ihre Streitkräfte zur Verfügung stellen. Darüber hinaus deutet das ständige Wechseln zwischen einer Adressierung der Allianz in der dritten und in der ersten Person im Lichte dieser Sequenz darauf hin, dass die Sprecher zwischen ihren Strukturpositionen als Staats- und Regierungschefs sowie als Vertreter des höchsten Entscheidungsgremiums des atlantischen Bündnisses gewissermaßen hin- und hergerissen sind. »but also for EU, UN or national purposes.«32 An dieser Sequenz irritiert zunächst das Fehlen des bestimmten Artikels vor den Akronymen »EU« und »UN«. Diese latente Verletzung des Sprachgefühls kann jedoch leicht dadurch geheilt werden, dass die beiden Kürzel auf den Ausdruck »purposes« am Ende des Satzes bezogen werden. Unter dieser Bedingung kommt die Steigerung der Qualität der Streitkräfte nicht nur dem atlantischen Bündnis, sondern auch den Zwecken der Europäischen Union, der Vereinten Nationen und jener Staaten zugute, an deren Spitze die in Riga versammelten Staats- und Regierungschefs stehen. Zur Wahrung der inneren Konsistenz der Satzkonstruktion muss der Ausdruck »purposes« wahrscheinlich auch auf das Wortzeichen »NATO« im vorstehenden Abschnitt rückbezogen werden, obwohl dieses – wie in der neunten Sequenz deutlich wurde (»confirm that NATO needs«) – keines bestimmten Artikels bedarf. Die Geltung der in der Vorsequenz vorgeschlagenen Lesart würde durch diese Modifikation jedenfalls nicht eingeschränkt, da das Wechseln der Sprecher zwischen ihrer 30
»und wird steigern die Gesamtqualität unserer Streitkräfte,«. »nicht nur für (die) NATO,«. 32 »sondern auch für EU-, UN- oder nationale Zwecke.«. 31
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
nationalen und ihrer internationalen Strukturposition auch dann beobachtbar ist, wenn nicht von der NATO, sondern von deren Zwecken die Rede wäre. Dessen ungeachtet fällt hier aber vor allem auf, dass die Staats- und Regierungschefs zur Legitimierung der Errichtung der »NATO Response Force« den Rahmen des atlantischen Bündnisses verlassen und auf deren Nutzen für andere Institutionen verweisen. Zwar bleibt offen, ob auf diesem Wege potentielle Kritiker der NRF besänftigt werden können (oder sollen), der Versuch, kooperative Beziehungen der NATO zur Europäischen Union und den Vereinten Nationen nachzuweisen, ist in dieser Sequenz gleichwohl unverkennbar. Insgesamt gesehen lässt die Äußerung, dass es die Qualität unserer Streitkräfte ist, die für Zwecke der NATO, der EU und der UN ebenso wie für nationale Zwecke gesteigert wird, nun einen interessanten Schluss auf das Selbstverständnis der Sprecher zu. Die Staats- und Regierungschefs erwecken an dieser Stelle nämlich den Eindruck, als agierten sie in erster Linie als militärische Oberbefehlshaber, die ihre Streitkräfte wahlweise dem atlantischen Bündnis, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen oder ihren eigenen Staaten zur Verfügung stellen, um deren Zwecke zu erfüllen. Ihre Identifikation mit der NATO als NATO scheint, wie auch deren wiederholte Adressierung in der dritten Person nahe legt, nicht sehr stark ausgeprägt zu sein. »We support the improved implementation of the agreed NRF concept«33 Dass die Sprecher nun ihre Unterstützung für die verbesserte Umsetzung des vereinbarten NRF-Konzepts zum Ausdruck bringen verweist auf die Möglichkeit, dass es zuvor mit Mängeln behaftete Umsetzungsbestrebungen gegeben hat, denen die Staats- und Regierungschefs ihre Unterstützung zunächst verweigerten. Eine Differenzierung zwischen der Vereinbarung eines Konzepts und dessen Umsetzung wird hier jedenfalls ebenso deutlich wie das Vorliegen (mindestens) zweier Implementierungsphasen – einer verbesserten und einer, die verbessert wurde. Vor diesem Hintergrund könnten die mutmaßlichen Identifikationsprobleme der Sprecher mit dem Bündnis Ausfluss ihrer Unzufriedenheit mit der Umsetzung des NRF-Konzepts sein. Dieser vermeintlichen Unzufriedenheit zum Trotz zeigen sich die Staats- und Regierungschefs dennoch engagiert und signalisieren mithilfe des Verbs im Präsens (»We support«), dass ihre Unterstützung bereits begonnen hat. »through mechanisms to enhance long term force generation,«34 Konkret äußert sich die Unterstützung der verbesserten Umsetzung des vereinbarten NRFKonzepts in Mechanismen, um die langfristige Erzeugung militärischer Stärke zu steigern. Bar jeder Spekulation darüber, welche Maßnahmen sich im Einzelnen hinter dieser Formulierung verbergen könnten, spricht viel dafür, dass es sich hier um eine Paraphrasierung von Aufrüstung in militärtechnischem Jargon handelt. Der Ausdruck »mechanisms« suggeriert gar, dass es in diesem Zusammenhang zu einer gewissen Automatisierung kommen könnte. »and steps to allow for a more sustainable and transparent approach«35
33
»Wir unterstützen die verbesserte Umsetzung des vereinbarten NRF-Konzepts«. »durch Mechanismen, um die langfristige Erzeugung militärischer Stärke zu steigern,«. 35 »und Schritte, die einen nachhaltigeren und transparenteren Ansatz erlauben«. 34
7.1 Sequenzanalyse
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Schritte, die einen nachhaltigeren und transparenteren Ansatz erlauben, zählen also ebenfalls zu den Aktivitäten, mit denen die Staats- und Regierungschefs die verbesserte Umsetzung des vereinbarten NRF-Konzepts unterstützen. Ohne dass bereits ersichtlich wäre, welchen Ansatz die Sprecher vor Augen haben, wird deutlich, dass sie sich hier entschieden von weniger nachhaltigen und transparenten Ansätzen abgrenzen. »to maintain the capability of the force in the future.«36 In Bezug auf das Referenzobjekt des Ansatzes, um die Fähigkeit der Streitmacht in Zukunft aufrechtzuerhalten, sind zwei Lesarten möglich. Auf die (allgemeine) militärische Stärke der Mitgliedstaaten, deren langfristige Erzeugung zu steigern die Staats- und Regierungschefs soeben beteuert haben, kann sich das Wortzeichen »force« ebenso beziehen wie auf die »NATO Response Force« selbst. Für Letzteres spräche zwar die implizite Kritik an der Nachhaltigkeit und Transparenz des Ansatzes zur Aufrechterhaltung ihrer Fähigkeit, die sehr gut mit der Unterstützung einer verbesserten Umsetzung des NRF-Konzepts zusammenstimmen würde; dagegen spricht jedoch, dass die erst heute ihre volle operative Fähigkeit besitzende »NATO Response Force« bislang eigentlich keinen Grund zu Kritik an der Art und Weise, wie ihre Fähigkeit erhalten wird, geliefert haben kann. Zudem wäre es wohl nicht unplausibel, dass der erste Buchstabe des Ausdrucks »force« in dieser Sequenz groß geschrieben worden wäre, wenn sich das Wortzeichen auf die NRF hätte beziehen sollen. Vor diesem Hintergrund dürfte es wohl wahrscheinlicher sein, dass es hier um die Streitmacht des Bündnisses im Allgemeinen geht. Dass die Staats- und Regierungschefs den bisherigen Ansatz zur Aufrechterhaltung von deren Fähigkeit weder für nachhaltig noch für transparent genug erachten, ist dennoch überaus instruktiv. Verfügte die NATO über eine eigenständige Streitmacht, wäre dies ein Fall harscher Selbstkritik. Im Lichte des oben zu Tage getretenen Selbstverständnisses der Sprecher als Hüter der Streitkräfte ihrer Nationen könnte es sich hier jedoch auch um einen Ausdruck interner Kritik handeln, die jene Staats- und Regierungschefs, die der Überzeugung sind, die Fähigkeit ihres Beitrags zur NATO-Streitmacht nachhaltig und transparent aufrechtzuerhalten, an denen üben, für die das – zumindest ihres Erachtens – nicht gilt. Da das Wortzeichen »NATO Response Force« wie oben dargestellt auch ein Eigenname ist, soll diese nie zur Gänze immanent interpretierbare Indexikalität der Vollständigkeit halber nun noch mithilfe von Informationen aus dem äußeren Kontext gefüllt werden. Exkurs: NATO Response Force (NRF)37 Die Errichtung der NATO Response Force geht zurück auf den NATO-Gipfel in Prag im November 2002. Sie besteht aus schnell stationierbaren Verbänden von Land-, See- und Luftstreitkräften, die je nach Anforderung des Einsatzes variabel zusammengestellt werden können. Binnen 5 Tagen marschbereit, ist die NRF fähig, weitere 30 Tage ohne äußere Unterstützung zu bestehen. Ihr Ziel ist die Verhinderung von Konflikten oder deren Eskalation. Die NRF soll sowohl zum Zweck der kollektiven Verteidigung nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages als auch außerhalb dieses Rahmens, d.h. zum Krisenmanagement, 36 37
»um die Fähigkeit der Streitmacht in Zukunft aufrechtzuerhalten.«. Die folgende Darstellung orientiert sich an den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), S.177/78.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
zur Unterstützung von Frieden, zur Stabilisierung oder als Vorhut größer angelegter militärischer Operationen, zum Einsatz kommen. Der 9.500 Soldaten umfassende Prototyp der NATO Response Force wurde der Öffentlichkeit im Oktober 2003 vorgestellt. Nachdem die NRF im Oktober 2004 ihre anfängliche operative Fähigkeit erreicht hatte, wurde sie im September 2005 zur Beseitigung der Schäden des Hurrikans „Katrina“ in den Vereinigten Staaten und im Oktober 2005 zur Bereitstellung humanitärer Hilfe nach einem Erdbeben in Pakistan eingesetzt. Im Vollbesitz ihrer operativen Fähigkeiten befindet sich die NATO Response Force seit Oktober 2006; ihre volle Einsatzstärke soll 25.000 Soldaten betragen.38 *** »24. The adaptation of our forces«39 Der vierundzwanzigste Unterpunkt der Rigaer Gipfelerklärung verweist sogleich auf unsere (Streit-) Kräfte. Sollte der Gebrauch des Possessivpronomens »our« denselben Regeln folgen wie zuletzt, würde dies bedeuten, dass sich die Staats- und Regierungschefs hier erneut über jene Streitkräfte äußern, die sie der NATO kraft ihrer nationalen Autorität zur Verfügung stellen. Möglicherweise nehmen die Sprecher nun aber auch eine stärker vergemeinschaftete Position ein und beziehen sich auf die Gesamtheit der dem Bündnis bereitgestellten militärischen Mittel. In diesem Fall wäre dem besitzanzeigenden Fürwort »our« innerhalb des vorliegenden Dokuments ein Doppelcharakter eigen. Es stünde sowohl für die NATO als auch für ihre Konstituenten und zielte je nach Verwendungskontext mehr in die eine oder in die andere Richtung. Gleich wem sie letztlich zugerechnet werden, enthält diese Sequenz aber vor allem die Information, dass die erwähnten (Streit-) Kräfte in Zusammenhang mit einer Anpassung stehen. Auf den ersten Blick erinnert dieser Ausdruck natürlich sofort an den Begriff Transformation, der im Lauf des Dokuments bereits zweimal verwendet worden ist – zunächst als »defence transformation«, deren Fortsetzung gewährleistet, dass die Allianz weiterhin ihr volles Aufgabenspektrum erfüllen kann, später dann als vage Folge der Errichtung der NATO Response Force. Doch während der Begriff Transformation zumindest tendenziell noch Raum für eine gewisse Selbsttätigkeit desjenigen zu lassen scheint, der über die Veranlassung einer Umgestaltung entscheidet, suggeriert das Wortzeichen Anpassung viel eher das Nichtvorhandensein einer Auswahl. »must continue.«40 In einer Erklärung von Staats- und Regierungschefs wirkt die Formulierung, dass die Anpassung unserer Streitkräfte andauern muss, noch einigermaßen überraschend, da sie der Äußerung Appellcharakter verleiht. Wäre von den Vertretern eines Gremiums mit dermaßen geballter Entscheidungskompetenz nicht viel eher die Aussage zu erwarten gewesen, dass die Anpassung andauern wird? Sollte es sich hier um einen Appell handeln, könnte 38
Im Herbst 2007 wurde indes bekannt, dass die NATO-Partner bislang nur zwei Drittel des NRF-Sollbestands von 25.000 Mann aufzubieten vermögen. Vgl. Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 26. Oktober 2007, S.1. 39 »24. Die Anpassung unserer Streitkräfte«. 40 »muss andauern.«.
7.1 Sequenzanalyse
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dieser eigentlich nur den Angehörigen jener nationalen Parlamente gelten, denen es obliegt, entsprechende Beschlüsse zu legitimieren. Wenn die Anpassung andauern muss, heißt dies aber auch, dass die Sprecher ein – zu frühes – Ende dieses Prozesses für möglich halten. Entgegen der oben geäußerten Intuition, das Wortzeichen Anpassung gemahne an den sprichwörtlichen stummen Zwang der Verhältnisse, gehen die Staats- und Regierungschefs diesbezüglich also von einem gewissen Maß an Kontingenz aus. Darüber hinaus stellt sich hier, wie schon zu Beginn der Analyse, die Frage, woran die Streitkräfte des Bündnisses bzw. der Mitgliedstaaten dauerhaft angepasst werden müssen. Angesichts der bisherigen Schwerpunktsetzung des zu untersuchenden Dokuments kann wohl kaum noch davon ausgegangen werden, dass die NATO einem konkret fassbaren potentiellen Angreifer ausgesetzt ist, auf dessen offensive Fähigkeiten sie anpassend zu reagieren hätte. Daher spricht viel dafür, dass auch der Begriff Anpassung auf jene Anforderungen bezogen ist, denen sich das Bündnis im Rahmen seiner Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan gegenüber sieht. »We have endorsed«41 Das Personalpronomen in der ersten Person Plural (»We«) bezeichnet hier nicht nur das Kollektiv der Sprecher in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten des Nordatlantikrats in seiner höchsten Zusammensetzung, sondern leitet vor allem eine Äußerung ein, wie sie von diesem Gremium eher erwartet werden darf. Der Rat hat eine Entscheidung getroffen, etwas gebilligt. »a set of initiatives to increase the capacity of our forces«42 Ähnlich wie schon im Rahmen des zweiundzwanzigsten Unterpunkts der Erklärung erfolgt im Anschluss an die Behauptung der Notwendigkeit einer Anpassung der Streitkräfte nun erneut ein Hinweis auf die Erhöhung von deren (Leistungs-) Fähigkeit. In Sachen Identifikation der Sprecher mit dem Bündnis stellt die Formulierung »our forces« hier eine bemerkenswerte Entwicklung dar, denn nach dem bisherigen Verlauf des Textes zu urteilen hätte es nicht überrascht, wäre von den Streitkräften der Allianz in der dritten Person die Rede gewesen. Wem die Durchführung der Initiativen obliegt, wozu sie konkret dienen und welche Form sie annehmen sollen, bleibt derweil unklar. »to address contemporary threats and challenges.«43 In dieser Sequenz ist erstmals eine klare Antwort auf die Frage enthalten, welchem Zweck die Anpassung der Streitkräfte – in Form einer Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit – dient: Es geht darum, gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen zu begegnen. Von besonderem Interesse ist dabei das Adjektiv »contemporary«, das die Bedrohungen und Herausforderungen der Gegenwart unweigerlich gegen jene der Vergangenheit und der Zukunft in Stellung bringt. Doch während es durchaus verständlich ist, sich – unter der Bedingung ihres Abgeschlossenseins – nicht länger mit den Bedrohungen und Herausfor41
»Wir haben gebilligt«. »einen Satz von Initiativen, um die Leistungsfähigkeit unserer Streitkräfte zu erhöhen«. 43 »um zu begegnen (den) gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen«. 42
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
derungen der Vergangenheit zu befassen, erscheint fragwürdig, ob es eine angemessene Strategie ist, möglichen zukünftigen Gefährdungen nicht bereits frühzeitig entgegenzutreten. Zwar könnte eine Erklärung für dieses Vorgehen darin bestehen, dass die gegenwärtigen Probleme, denen sich die höchsten politischen Repräsentanten der NATO ausgesetzt sehen, über ein derart gewaltiges Ausmaß verfügen, dass an die Gestaltung der Zukunft noch gar nicht zu denken ist; in diesem Fall wäre der Ton des vorliegenden Dokuments aber vielleicht ein bisschen zu unaufgeregt. Schließlich irritiert an dieser Sequenz auch das Begriffspaar »threats and challenges«. Handelte es sich dabei nicht um Synonyme, sondern um zwei verschiedene Kategorien von Vorkommnissen, dann wäre die Unterscheidung nicht trennscharf – und würde zumindest einer Definition bedürfen. Ohne eine solche gilt indes, dass zwar nicht jede Herausforderung eine Bedrohung, jede Bedrohung aber immer auch eine Herausforderung darstellt. Darüber hinaus verweist der Ausdruck Bedrohung unmittelbar auf den- oder diejenigen zurück, die sich bedroht fühlen. Je mehr Mitglieder eine Gruppe zählt, desto vielfältiger dürfte wohl der Katalog an potentiellen Bedrohungen ausfallen. Doch wie wird mit unterschiedlichen Einschätzungen darüber umgegangen, wer oder was als bedrohlich anzusehen ist? Im englischen Sprachraum scheint zudem ein eher dehnbares Konzept von »threats« vorzuherrschen: „You can refer to anything that seems likely to harm you as a threat“, behauptet jedenfalls das BBC English Dictionary.44 »These include:«45 Diese Sequenz stellt eine Auflistung der Initiativen zur Beantwortung der gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen in Aussicht. Ein eindeutiger Hinweis für die Vollständigkeit dieser Aufzählung ist die Wendung »These include:« gleichwohl nicht. » • improving our ability to conduct and support«46 Unabhängig davon, worin sie konkret bestehen wird, bedeutet die Möglichkeit oder Notwendigkeit, eine Fähigkeit zu verbessern, dass diese gegenwärtig noch nicht ausreichend entfaltet ist. Unter der Bedingung, dass die beiden Verben nicht redundant gebraucht werden, deutet diese Sequenz zudem darauf hin, dass sich die zu verbessernde Fähigkeit sowohl auf Aktivitäten des Bündnisses selbst (»conduct«) als auch auf jene anderer Einrichtungen bezieht (»support«). »multinational joint expeditionary operations«47 Es geht also um eine Verbesserung der Fähigkeit, multinationale gemeinsame Expeditionsoperationen zu führen und zu unterstützen. Im Lichte der Bedeutung des Begriffes »expeditionary forces«, der Soldaten bezeichnet, die zum Kämpfen ins Ausland entsandt werden48, dürfte der Ausdruck »expeditionary operations« auf entsprechende Einsätze verweisen. 44 Vgl. BBC English Dictionary: A Dictionary for the World (1992), London: Harper Collins, S.1220, Hervorhebung im Original. 45 »Diese schließen ein:«. 46 » • Verbessern unserer Fähigkeit, zu führen und zu unterstützen«. 47 »multinationale gemeinsame Expeditionsoperationen«. 48 Vgl. BBC English Dictionary: A Dictionary for the World (1992), London: Harper Collins, S.397.
7.1 Sequenzanalyse
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Fragen wirft hier unterdessen vor allem die Adjektivkombination »multinational joint« auf, die der Charakterisierung dieser Einsätze dient. Sie impliziert, dass es auch multinationale Auslandsoperationen geben könnte, die nicht gemeinsam (»joint«), sondern getrennt durchgeführt werden. Da es im Rahmen der Untersuchung eines Kommuniqués des Nordatlantikrats durchaus angemessen ist, bis auf weiteres davon auszugehen, dass sich das Adjektiv »joint« auf die Gesamtheit der Mitglieder des Bündnisses bezieht, wird somit an dieser Stelle deutlich, dass sich die Sprecher auch multinationale Einsätze im Ausland vorstellen können, an denen nicht alle Partner, dafür aber möglicherweise Nichtmitglieder beteiligt sind. »far from home territory«49 Da es in hohem Maße redundant wäre, explizit darauf hinzuweisen, dass Auslandsexpeditionen nicht auf heimischem Territorium stattfinden, kommt in dieser Sequenz dem Wortzeichen »far« besondere Bedeutung zu. Streng genommen suggeriert es, dass sich die besagten Einsätze nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft der das Bündnis konstituierenden Staaten ereignen werden bzw. sollen. Im Anschluss an die von den Sprechern anfangs selbst erwähnten Operationen dürfte dies eher in Richtung Afghanistan als auf den Balkan zielen. »with little or no host nation support«50 Weiterhin kennzeichnet die multinationalen gemeinsamen Auslandsoperationen, dass sie auf wenig oder keine Unterstützung der gastgebenden Nation stoßen. Da der Ausdruck »host nation« auf einen Gastgeber und das – zumindest implizite – Vorliegen einer Einladung verweist, kann diese Sequenz als wichtiges Anzeichen für die Völkerrechtskonformität der hier thematischen Expeditionsoperationen gelten. Gleichzeitig wird angedeutet, dass Einsätze dieser Art auf die gastgebende Nation beschränkt bleiben und es sich dabei vermutlich nicht um Einmischungen in zwischenstaatliche Auseinandersetzungen handelt. Mit Blick auf eine Motivierung der mangelnden Unterstützung der Gastgebernation spricht viel dafür, dass diese dazu nicht (mehr) in der Lage ist. Wenn sie nämlich nicht willens wäre, die multinationalen Einsatzkräfte zu unterstützen, so stellte sich die Frage, warum dann überhaupt eine Einladung ausgesprochen wurde. Möglicherweise muss in diesem Zusammenhang aber auch die semantische Differenz zwischen dem Ausdruck Gastgebernation und der Regierung derselben berücksichtigt werden. Unter dieser Bedingung wäre es vorstellbar, dass die Einladung ausländischer Truppen seitens der Regierung nicht im Einverständnis mit der Nation oder gewichtigen Teilen der Nation erfolgt ist. Sollte aus diesem Grund wenig oder keine Unterstützung möglich sein, deutete dies auf eine sehr angespannte Situation im Innern der Gastgebernation hin, also etwa auf einen Bürgerkrieg oder eine schwache Zentralregierung. Gleichwohl drängt sich der Schluss auf die innere Zerrüttung des Zielstaates auch ohne eine Differenzierung zwischen der Gastgebernation als Ganzer und deren Regierung auf, da allein die Einladung ausländischer Streitkräfte zum Zweck der Durchführung von – mutmaßlich über das Aus-
49 50
»weit entfernt vom heimischen Territorium«. »mit wenig oder keiner Unterstützung des Gastgeberlandes«.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
maß von Manövern hinausgehenden – militärischen Operationen auf dem eigenen Territorium (erhebliche) Schwierigkeiten im Innern der »host nation« signalisieren. »and to sustain them for extended periods.«51 Darüber hinaus soll die Fähigkeit verbessert werden, solche Operationen über ausgedehnte Zeiträume aufrechtzuerhalten. An dieser Aussage interessiert primär, wie groß die Zeiträume sein mögen, welche die Sprecher mit dem Ausdruck »extended periods« verknüpfen – nicht zuletzt weil dies Rückschlüsse auf deren Einschätzung des Zustands der Gastgebernation ermöglicht. »This requires forces that are«52 Da es bei dieser Aufzählung um Initiativen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der dem Bündnis verfügbaren Streitkräfte geht, erscheint es folgerichtig, dass nach der zu verbessernden Fähigkeit nun auch die Bedingungen genannt werden, die zu einer Realisierung des gesetzten Ziels erforderlich sind. »fully deployable, sustainable and interoperable«53 Die Streitkräfte müssen also in vollem Umfang einsetzbar, durchhaltefähig und interoperabel sein. Dabei ist es gut möglich, dass sich das Adverb »fully« nicht nur auf das erste, sondern auf alle drei der ihm folgenden Adjektive bezieht. Während die vollumfängliche Einsetzbarkeit von Streitkräften darauf verweisen dürfte, dass diese sämtliche der von ihnen zu erwartenden Funktionen erfüllen sollen, sind die beiden verbleibenden Attribute weniger selbsterklärend. Bezogen auf die technische Ausstattung von Einsatztruppen könnte die Fähigkeit zur (vollständigen) Durchhaltefähigkeit bedeuten, dass im Zuge einer Operation beschädigtes oder zerstörtes Kriegsgerät – zumindest prinzipiell – ersetzt werden kann, ohne dass Veränderungen im Produktions- oder Bereitstellungsablauf vorgenommen werden müssten. Schließlich wäre es plausibel, wenn das Erfordernis (vollumfänglich) interoperabler Streitkräfte – analog zu der u.a. als Katalysator für Interoperabilität dienenden NATO Response Force – auf die militärtechnischen Anforderungen genügende Kooperationsfähigkeit von im Einsatz befindlichen Truppen Bezug nimmt. »and the means to deploy them;«54 Mit den Mitteln, um die in vollem Umfang einsetzbaren, aufrechthaltbaren und interoperablen Streitkräfte zu stationieren, dürften weniger finanzielle Ressourcen gemeint sein, als vielmehr die technischen Mittel (also große Transportflugzeuge und Flugzeugträger), um die Bündnisstreitkräfte auch an ihre weit entfernten Einsatzziele zu bringen. Dass die Sprecher nicht darauf eingehen, wie die Erfordernisse (»This requires«) zur Verbesserung der Fähigkeit, multinationale gemeinsame Auslandsexpeditionen zu führen und zu unterstützen, 51
»und sie über ausgedehnte Zeiträume aufrechtzuerhalten«. »Dies erfordert Streitkräfte, die…sind«. 53 »in vollem Umfang einsetzbar, durchhaltefähig und interoperabel«. 54 »und die Mittel, sie zu stationieren;«. 52
7.1 Sequenzanalyse
225
konkret umzusetzen sind, stellt indes kein Problem dar. Da es sich bei dem vorliegenden Dokument um eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO – und damit um die höchste Entscheidungsebene des Bündnisses – handelt, steht zu vermuten, dass diese Aufgabe nachgeordneten Stellen obliegt. Auch der Ausdruck »Initiativen« deutet ja darauf hin, dass es hierbei vor allem um die Initiierung von Handlungen geht. » • commitments to increase strategic airlift,«55 Die zweite der angekündigten Initiativen beinhaltet eine Spezifizierung der erforderlichen Mittel zur Stationierung der Streitkräfte. Die Konstituenten des Bündnisses verpflichten sich dazu, die strategischen Lufttransport(-fähigkeiten) zu steigern. Analog zur Unterscheidung in taktische und strategische Nuklearwaffen könnte das Adjektiv »strategic« hier das Überwinden großer Entfernungen anzeigen. »crucial to the rapid deployment of forces,«56 Dass gesteigerte Lufttransportkapazitäten für die (schnelle) Streitkräftestationierung entscheidend sind, ist aus dem Zusammenspiel der letzten Sequenzen eigentlich schon klar geworden. Die explizite Addition des Adjektivs »rapid« verdeutlicht aber die besondere Größe des Handlungsbedarfs, von dem die Partner im Falle einer der zuvor skizzierten Expeditionsoperationen ausgehen. »to address identified persistent shortages.«57 Der Zweck der Steigerung der Lufttransportkapazität besteht also darin, identifizierten dauerhaften Knappheiten zu begegnen. Dass sich diese Knappheiten auf die Lage im Zielgebiet beziehen, dürfte klar sein. Weniger klar ist dagegen, ob es hier allein darum geht, Engpässe auf der Ebene der militärtechnischen Ausstattung der vor Ort operierenden Streitkräfte zu beseitigen, oder ob der Ausdruck »shortages« zum Beispiel auch Lebensmittelknappheiten im Zielgebiet umfasst, die auf dem Wege humanitärer Hilfslieferungen adressiert werden sollen. »Multinational initiatives by NATO members and Partners«58 Anstelle einer durchaus erwartbaren Spezifizierung der Knappheiten signalisieren die Sprecher nun abermals mithilfe des Adjektivs »[m]ultinational« die Öffnung des Bündnisses zugunsten von Initiativen, an denen, wie das Fehlen des bestimmten Artikels andeutet, zwar nicht alle Mitglieder beteiligt sein müssen, dafür aber Partner, also offenkundig Nichtmitglieder, die eine gewisse Affinität zu den Zielen der NATO – oder den Zielen einiger ihrer Mitglieder? – aufweisen. Diese Vorgehensweise wirft unmittelbar die Frage nach ihren Auswirkungen auf den Zusammenhalt des Bündnisses auf.
55
» • Verpflichtungen zur Steigerung des strategischen Lufttransports,«. »entscheidend für die schnelle Streitkräftestationierung,«. 57 »um identifizierten dauerhaften Knappheiten zu begegnen.«. 58 »Multinationale Initiativen durch NATO-Mitglieder und Partner«. 56
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Darüber hinaus irritiert das groß geschriebene »P« am Anfang des Wortzeichens »Partners«. Dafür, dass es sich dabei nicht um einen Tippfehler oder ein sonstiges Versehen bei der Edition des Dokuments handelt, spricht, dass die gleichermaßen gültige französische Fassung an der entsprechenden Stelle das Wortzeichen »Partenaires«, ebenfalls mit großem »P«, enthält, während auch dort der erste Buchstabe des Ausdrucks Mitglieder (»membres«) wie in »members« klein geschrieben ist. Streng genommen bedeutet dies, dass der Begriff »Partner« hier als Eigenname verwendet wird, der auf einen feststehenden – und den offiziellen NATO-Mitgliedern somit bekannten – Kreis von Staaten verweist. Gleichwohl signalisiert der auch hier fehlende bestimmte Artikel, dass nicht alle diesem mutmaßlich klar definierten Kreis angehörenden Partner an den multinationalen Initiativen beteiligt sind bzw. sein müssen. »include the already operational Strategic Airlift Interim Solution;«59 Recht verklausuliert geben die Sprecher in dieser Sequenz zu erkennen, dass zur angestrebten Steigerung der Lufttransportfähigkeit bereits eine Initiative lanciert worden ist, an der Mitglieder und Partner des Bündnisses beteiligt sind und die in einer Übergangslösung mündete. Diese »Strategic Airlift Interim Solution« stellt eine weitere Indexikalität dar, zu deren Deutung Wissen aus dem äußeren Kontext des vorliegenden Dokuments herangezogen werden darf. Die Äußerung, dass sie »already operational« – also bereits betriebsbereit – ist, deutet darauf hin, dass es sich hierbei um eine technische Lösung handeln könnte. Würde das Wortzeichen »Strategic Airlift Interim Solution« dagegen auf eine Art Abkommen verweisen, wäre der Ausdruck »already operative« – bereits wirksam – womöglich angemessener gewesen. Zudem interessiert in diesem Zusammenhang, ob die Übergangslösung auch für jene NATO-Mitglieder und Partner gilt, die sie nicht mitinitiiert haben und ob ihr Zustandekommen mithilfe von Partnern darauf zurückzuführen ist, dass dieser Schritt die Fähigkeiten der Mitglieder überstiegen hat. Exkurs: Strategic Airlift Interim Solution (SALIS)60 Im Rahmen ihrer Bemühungen, Ressourcen für den Einsatz von Spezialflugzeugen zu bündeln, um auch schweres Gerät möglichst schnell auf dem Luftweg transportieren zu können, unterzeichneten Vertreter aus 15 NATO-Staaten am 23. Januar 2006 einen Kontrakt mit der Ruslan SALIS GmbH, einer in Leipzig ansässigen Tochtergesellschaft des russischen Unternehmens Wolga Dnjepr. Gegenstand des auf drei Jahre abgeschlossenen, verlängerbaren Vertrages ist die Bereitstellung von 6 Transportflugzeugen vom Typ Antonow An124-100 durch das russische Unternehmen Wolga Dnjepr und die ukrainische ADB. Verfügbar sind die Maschinen seit Februar 2006. Zu den 15 beteiligten Bündnismitgliedern – in der Sprache der NATO: „ein Konsortium unter Führung Deutschlands“ – gehören neben der Bundesrepublik noch Dänemark, Frankreich, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, die Slowakei, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, die Türkei und Ungarn. Am 23. März 2006 schloss sich zudem Schweden der Gruppe an. 59 60
»schließen die bereits betriebsbereite Strategic Airlift Übergangslösung ein;«. Vgl. http://www.nato.int/issues/strategic-lift-air/index.html (22.08.2007).
227
7.1 Sequenzanalyse
Als Übergangslösung gilt die Verwendung der Antonows deshalb, weil auf diesem Wege (europäische) Defizite im Bereich der strategischen Lufttransportkapazitäten überbrückt werden sollen, bis das neue Transportflugzeug von Airbus, der A-400M, mutmaßlich ab dem Jahr 2010 (eher: 2012) ausgeliefert werden kann. Komplementär zur Strategic Airlift Interim Solution stellt auch die NATO Strategic Airlift Capability (NSAC) eine Initiative zur Steigerung der Lufttransportfähigkeiten des Bündnisses dar. Ebenfalls 15 Mitgliedstaaten haben mit zwei Partnerländern (Finnland und Schweden) in diesem Rahmen Verhandlungen über den Erwerb des Transportflugzeugs C-17 von Boeing aufgenommen. *** »the intent of a consortium to pool C-17 airlift assets,«61 Unter der Bedingung, dass das Semikolon am Ende der letzten Sequenz zur Kennzeichnung einer Aufzählung dient, stellt dieser Abschnitt eine weitere der multinationalen Initiativen von NATO-Mitgliedern und Partnern dar, die mithilfe des Wortzeichens »include« angekündigt worden waren. Da der Ausdruck »consortium« – zumindest bei strikter Auslegung – einen „vorübergehende[n], lose[n] Zweckverband von Geschäftsleuten oder Unternehmen zur Durchführung von Geschäften, die mit großem Kapitaleinsatz u. hohem Risiko verbunden sind“62 bezeichnet, stellt sich sogleich die Frage, wie es möglich ist, die Absicht eines solchen Zweckverbands als multinationale Initiative von NATO-Staaten auszuweisen. Aus dem Exkurs über die Strategic Airlift Interim Solution geht jedoch nicht nur hervor, dass im bündniseigenen Sprachgebrauch auch auf Gruppen von (Mitglied-) Staaten mit dem Wortzeichen Konsortium verwiesen wird (in Anbetracht des „großen Kapitaleinsatzes“, den die Anschaffung von Transportflugzeugen erfordert, zwar durchaus nachvollziehbar, die Grenzen zwischen den Sphären Politik und Wirtschaft aber doch verwischend), sondern auch, dass es neben der Übergangslösung eine weitere Initiative zur Steigerung der Lufttransportkapazitäten gibt. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass alle oder einige der Staaten, deren Vertreter über eine Anschaffung von Transportflugzeugen des Typs C-17 von Boeing verhandeln, auch jenes Konsortium bilden, dessen Absicht es ist, C-17-Lufttransportkapazitäten zusammenzulegen und damit jedem seiner Mitglieder zugänglich zu machen. »and offers to coordinate support structures for A-400M strategic airlift.«63 Da die französische Version des Dokuments an den entsprechenden Stellen jeweils ein Komma enthält, ist es hier wohl nicht erforderlich, darüber zu spekulieren, warum diese Initiative in der vorausgehenden Sequenz mittels eines Kommas abgegrenzt worden ist, während derselbe Zweck zuvor noch mithilfe eines Semikolons erledigt wurde. Was nun die genannten Angebote zur Koordination der Unterstützungsstrukturen für den Lufttransport mithilfe des neuen Transportflugzeugs von Airbus, dem »A-400M«, angeht, so dürfte es sich dabei vermutlich um Standardisierungsmaßnahmen in Zusammenhang mit technischen Erfordernissen bei der Beladung und Betankung der Maschinen einschließlich der 61
»Die Absicht eines Konsortiums, C-17-Lufttransportkapazitäten zusammenzulegen,«. Duden Band 5, Fremdwörterbuch (1990), Mannheim et al.: Dudenverlag (5. Auflage), S.423. 63 »und Angebote zur Koordination der Unterstützungsstrukturen für strategischen Lufttransport (via) A-400M.«. 62
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
entsprechenden Schulung von Personal handeln. Hervorzuheben ist schließlich noch der vorbereitende, mehr als drei Jahre in die Zukunft weisende Charakter dieser Initiative; denn die Auslieferung des »A-400M« wird bei der NATO, wie der Exkurs über die Strategic Airlift Interim Solution deutlich machte, erst für das Jahr 2010 erwartet. »Nationally,«64 Diese Sequenz legt nahe, dass sich die Sprecher im Anschluss an die multinationalen Initiativen nun jenen Maßnahmen zur Steigerung der strategischen Lufttransportkapazität zuwenden, die in der nationalen Verantwortung der Mitglieder des atlantischen Bündnisses liegen. »Allies have or plan to acquire a large number of C-17 and A-400M aircraft.«65 Dem Missverständnis, dass hier zwischen Verbündeten differenziert werden könnte, die einerseits – von sich aus – planen, eine große Anzahl von C-17- und A-400M-Flugzeugen anzuschaffen, und die dies andererseits – gleichsam ohne innere Einsicht – tun müssen (»have to«), kann an dieser Stelle unter Hinzuziehung der französischen Ausgabe der Rigaer Erklärung vorgebeugt werden: »…des Alliés ont acquis ou prévoient d’acquérir…«, heißt es dort. Was die beiden Klassen von Verbündeten unterscheidet ist also, dass die Angehörigen der einen bereits eine große Anzahl an Flugzeugen angeschafft haben, während die Vertreter der zweiten Klasse diesen Schritt gegenwärtig erst noch planen. Dass in diesem Abschnitt trotz des fehlenden bestimmten Artikels alle Verbündeten gemeint sind, gewährleistet das groß geschriebene »A«. Es macht das Wortzeichen »Allies« zu einem Eigennamen, der die Gesamtheit der in der NATO zusammengeschlossenen Verbündeten bezeichnet. Vor dem Hintergrund, dass der Airbus A-400M bis dato noch gar nicht hätte angeschafft werden können, ergibt sich hier indes auch die Lesart, dass der auf die Vergangenheit bezogene Teil der Sequenz (»ont acquis« bzw. »have (acquired)«) ausschließlich auf die C-17-, der auf die Zukunft bezogene (»prévoient d’acquérir« bzw. »plan to acquire«) dagegen allein auf die A-400M-Flugzeuge verweisen könnte. Gegen diese Deutungsmöglichkeit spricht allerdings nicht nur, dass auch die konkrete Vorbestellung von noch nicht in Serie gegangenen Großflugzeugen aufgrund der damit verbundenen langfristigen Bereitstellung von Haushaltsmitteln über das Vorhaben oder den Plan einer Anschaffung hinausgeht, sondern vor allem, dass, wie der Exkurs über die Strategic Airlift Interim Solution zu Tage gefördert hat, es auch Bündnismitglieder gibt, welche die Anschaffung von C-17Flugzeugen planen. Dessen ungeachtet stellt sich in diesem Zusammenhang aber dennoch die Frage, inwieweit die Anschaffung von Transportflugzeugen verschiedener Hersteller eher auf eine gezielte Diversifizierungsstrategie oder eher auf handfeste Interessenkonflikte und Uneinigkeiten innerhalb der nordatlantischen Allianz zurückzuführen ist. Unter der Bedingung, dass die Anschaffung einer großen Anzahl an Flugzeugen vor allem dann sinnvoll ist, wenn für deren Einsatz auch eine Notwendigkeit besteht, deutet diese Maßnahme daraufhin, dass die Vertreter des Bündnisses bzw. seiner Konstituenten 64
»National,«. »(die) Verbündete(n) haben (angeschafft) oder planen, eine große Anzahl von C-17- und A-400M-Flugzeugen anzuschaffen.«.
65
7.1 Sequenzanalyse
229
überzeugt davon sind, künftig mehrere gesteigerte Lufttransportkapazitäten erfordernde Expeditionsoperationen an weit entfernten Orten zugleich ausüben zu müssen. Weiterhin dürfte der Ausdruck »a large number« entweder auf die Summe aller angeschafften bzw. anzuschaffenden Flugzeuge bezogen sein oder in Relation zu ökonomischen Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt respektive dem Haushaltsvolumen der einzelnen Mitgliedstaaten stehen. Es wäre jedenfalls höchst unplausibel, wenn kleine Staaten in absoluten Zahlen die gleiche (oder eine ähnlich) d.h. große Anzahl an Flugzeugen anschaffen würden wie große. Nicht zuletzt in Anbetracht der zuvor bereits zweimal angeklungenen Möglichkeit, multinationale Allianzen innerhalb der Allianz zu schließen (an denen sich sogar externe Partner beteiligen können), verstärkt diese Sequenz somit zumindest ihrer Tendenz nach den Eindruck einer latenten Gefährdung des bündnisinternen Zusammenhalts auf der Grundlage einer impliziten Auszeichnung derjenigen Mitglieder, die mehr leisten können oder wollen als andere. »There have also been significant developments in the collective provision of sealift since the Prague Summit;«66 Dass es auch bei der kollektiven Bereitstellung von Seetransportkapazitäten signifikante Entwicklungen gegeben hat, lässt einige Rückschlüsse darauf zu, wie die Sprecher die von ihnen soeben angeführten Maßnahmen zur Steigerung der Lufttransportkapazitäten einschätzen. Abgesehen davon, dass das Adjektiv »significant« für sich genommen nicht zu erkennen gibt, ob die beschriebenen Entwicklungen positiv oder negativ gesehen werden – ein Muster, das auch die (zunächst) neutrale Charakterisierung der fortgesetzten Verteidigungstransformation in der ersten Sequenz zeitigte – wird hier doch recht deutlich, dass die Staats- und Regierungschefs über ein eher dünnes Verständnis des Begriffs »collective« verfügen. Denn entgegen der Erwartung, dass damit jene Formen von dem Bündnis zuschreibbarem Handeln bezeichnet werden, an dem alle seine Konstituenten beteiligt sind, wird der Begriff hier zur Kennzeichnung von Initiativen gebraucht, an denen nicht nur nicht alle Mitglieder involviert sind, sondern an denen stattdessen sogar externe Partner teilnehmen. Auch wenn dies positiv, als ein Zeichen von Offenheit, gewertet würde, knüpft sich daran nichtsdestotrotz die Frage, ob es noch bzw. auch etwas gibt, das für die Gesamtheit der Unterzeichner des Nordatlantikvertrages allein steht und diese gleichsam unverwechselbar macht. Die Bezugnahme auf den Prager Gipfel lässt derweil mindestens zwei Lesarten zu. Sollte es sich bei diesem um den unmittelbaren Vorgänger des Treffens von Riga handeln, wäre dieser Passus im Sinne eines allgemeinen Tätigkeitsnachweises für die dazwischen liegende Arbeitsperiode zu verstehen. Da, wie weiter oben ersichtlich, zwischen dem Prager Gipfel im November 2002 und dem in Riga rund vier Jahre später allerdings noch eine Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs in Istanbul (Juni 2004) stattgefunden hat, spricht indes viel dafür, dass Prag den Beginn des in dem vorliegenden Dokument zentralthematischen Prozesses der Verteidigungstransformation markiert. » • the launch of a special operations forces transformation initiative«67 66 »Auch hat es seit dem Prager Gipfel signifikante Entwicklungen bei der kollektiven Bereitstellung von Seetransportkapazitäten gegeben;«. 67 » • die Ingangsetzung einer Initiative zur Transformation von Spezialkräften«.
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Die dritte Initiative zur Beantwortung der gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen zielt auf die Ingangsetzung einer Transformation von Spezialkräften, d.h. von Streitkräften für Spezialoperationen. Zwar liegt es nahe, dass die beabsichtigte Umgestaltung in Richtung einer Steigerung von Fähigkeiten zielt, streng genommen ist der Begriff »transformation« jedoch neutral und könnte auch negativ konnotiert sein. Darüber hinaus bleibt – einmal mehr – offen, welche politischen oder zeitgeschichtlichen Entwicklungen den gesamten Transformationsprozess überhaupt erforderlich machen und worin die Aufgaben der Spezialkräfte vor und nach bzw. während ihrer Umgestaltung bestanden haben respektive bestehen (werden). Auch wäre es in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, in welchem Verhältnis die Streitkräfte für Spezialoperationen zu den regulären Truppen stehen und was den Tätigkeitsbereich der Letztgenannten kennzeichnet. Werden zum Beispiel die erwähnten Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan mehrheitlich von Spezialkräften oder von regulären Streitkräften ausgeführt? »aimed at increasing their ability to train and operate together,«68 Dass die Transformation der Streitkräfte für Spezialoperationen auf eine Erhöhung ihrer Fähigkeit gerichtet ist, zusammen zu trainieren und zu operieren, verweist zwar auf die großen Herausforderungen internationaler militärischer Zusammenarbeit, beantwortet jedoch keine der oben aufgeworfenen Fragen. So entsteht der Eindruck, dass es sich bei der fortgesetzten Verteidigungstransformation in erster Linie um einen Selbstzweck handeln könnte. Immerhin geht aus dieser Sequenz aber hervor, dass die Staats- und Regierungschefs die Kooperation der Spezialkräfte für verbesserungswürdig erachten. »including through improving equipment capabilities;«69 An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die Fähigkeit der Spezialkräfte, gemeinsam zu trainieren und zu operieren, unter anderem (»including«) durch ein Verbessern der Ausstattung (oder: der Ausstattungsfähigkeiten) gesteigert werden soll. Hinweise auf das Aufgabenspektrum der Streitkräfte für Spezialoperationen enthält jedoch auch diese Sequenz nicht. » • ensuring the ability to bring military support to«70 Die nächste Initiative zielt auf das Sicherstellen der Fähigkeit, militärische Unterstützung an einen noch zu spezifizierenden Ort zu bringen. Während das im Infinitiv verwendete Verb »to bring…to« darauf schließen lässt, dass nun abermals die Transportkapazitäten des Bündnisses zum Gegenstand gemacht werden, ermöglicht das gerundivisch gebrauchte Verb »ensuring« mindestens zwei Lesarten: Einerseits verweist es darauf, dass die Fähigkeit zum Transport militärischer Unterstützung nicht gesteigert werden muss, sondern bereits (ausreichend) vorhanden ist – und es nurmehr darum geht, sie sicherzustellen, also Vorkehrungen gegen eine Schwächung dieser Fähigkeit zu treffen. Da dies jedoch in einem gewissen Widerspruch zu den zuvor angekündigten Initiativen zur Steigerung der Luft- und
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»mit dem Ziel, ihre Fähigkeit zu erhöhen, zusammen zu trainieren und zu operieren,«. »einschließlich durch ein Verbessern der Ausstattung;«. 70 » • Sicherstellen der Fähigkeit, militärische Unterstützung zu…zu bringen«. 69
7.1 Sequenzanalyse
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Seetransportfähigkeit des Bündnisses stehen würde, könnte es hier andererseits auch darum gehen, die Anwendung dieser Transportfähigkeiten sicherzustellen. »stabilisation operations and reconstruction efforts«71 Als die räumlichen Referenzobjekte des Verbs »to bring…to« erweisen sich hier jene Orte, an denen Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen stattfinden. Wenn nun solche Maßnahmen der militärischen Unterstützung der NATO bedürfen, suggeriert dies, dass es bewaffneten Gruppen mit quasimilitärischer Stärke möglich zu sein scheint, diesen Anstrengungen – mit einigem Erfolg – entgegenzuwirken. Im Falle von Konflikten zwischen Kräften der Destabilisierung und der Zerstörung auf der einen Seite und Kräften der Stabilisierung und des Wiederaufbaus auf der anderen engagieren sich die Vertreter des atlantischen Bündnisses somit ganz klar zugunsten der Letztgenannten. Dies legt nicht nur nahe, dass die Nachsorge und Prävention von bewaffneten Auseinandersetzungen eine wichtige Aufgabe der NATO darstellt, sondern lässt es überdies gut möglich erscheinen, dass die angemessene Erfüllung dieser Aufgabe ein Ziel der fortgesetzten Verteidigungstransformation sein könnte. »in all phases of a crisis,«72 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die Staats- und Regierungschefs entweder über einen recht eingeschränkten Krisenbegriff oder über ein sehr ausgedehntes Verständnis von Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen verfügen. Denn wenn alle Phasen einer Krise nur die Stabilisierung und den Wiederaufbau betreffen können, dann folgt daraus entweder, dass die dem notwendigerweise vorausgegangenen Momente der Destabilisierung und Zerstörung nicht zur Krise gehören, oder dass – einigermaßen dialektisch – Destabilisierung und Zerstörung bereits als Teil von Stabilisierung und Wiederaufbau verstanden werden. »as required and as set out in the Comprehensive Political Guidance,«73 Diese Sequenz kann als Legitimierung ebenso wie als Bestimmung des Ausmaßes der Initiative, die Fähigkeit zur militärischen Unterstützung von Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen sicherzustellen, verstanden werden. So wie erforderlich und in der Comprehensive Political Guidance dargelegt erfolgt die militärische Unterstützung also entweder ganz allgemein (Legitimation) oder ganz konkret, d.h. auf ihr Ausmaß oder ihren Umfang bezogen. Besonders interessant ist dabei, dass in beiden Fällen eine Doppelstrategie zur Anwendung kommt. Die militärische Unterstützung respektive deren Ausmaß ist sowohl ein allgemeines Erfordernis (»as required«) als auch eine unmittelbare Forderung der Comprehensive Political Guidance (»as set out in…«), dem weiter oben erläuterten neuen Instrument der gemeinsamen Verteidigungsplanung des Bündnisses. Dies verdeutlicht einmal mehr den ausgedehnten Begriff von Verteidigung, den die Staats- und
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»Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen«. »in allen Phasen einer Krise,«. 73 »wie erforderlich und wie in der Umfassenden Politischen Anleitung dargelegt,«. 72
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Regierungschefs – zur Legitimation der dem Bündnis zuschreibbaren Aktivität – an den Tag legen. »drawing on lessons learned«74 Das nachgerade freimütige Bekenntnis der Staats- und Regierungschefs, in diesem Zusammenhang auch von gelernten Lektionen Gebrauch zu machen, deutet darauf hin, dass die Hinwendung des Bündnisses zu den Aufgaben der Prävention und Nachsorge von Konflikten nicht ohne Fehler vonstatten gegangen ist. Denn etwas gelernt zu haben bedeutet doch immer auch, etwas noch nicht gewusst oder gekonnt zu haben. Spiegelbildlich dazu signalisiert ein solches Bekenntnis stets auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion in Verbindung mit dem Versprechen, es in Zukunft besser zu machen. »and emerging from current operations on the added value of such military support;«75 Weit stärker noch als zuvor stellt sich hier die Frage nach dem Referenzobjekt dieser Nebensatzkonstruktion. Da sich das gesuchte Referenzobjekt aus laufenden Operationen auf Basis des Mehrwerts solcher militärischer Unterstützung ergibt, ist auszuschließen, dass es um die Fähigkeit zur militärischen Unterstützung selbst geht. Im Lichte einer Rekapitulation der vorangegangenen Sequenzen wird dagegen deutlich, dass sich dieser und der vorangegangene Abschnitt auf die Comprehensive Political Guidance beziehen dürften. Diese macht also nicht nur von gelernten Lektionen Gebrauch, sondern ergibt sich auch aus laufenden Operationen auf Basis des Mehrwerts solcher militärischer Unterstützung. In diesem Zusammenhang fällt nun vor allem die Differenzierung zwischen der im Rahmen dieser Initiative thematischen Fähigkeit zur militärischen Unterstützung von Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen auf der einen Seite und sich aus deren Mehrwert ergebenden laufenden Operationen auf der anderen ins Auge. Daraus folgt, dass die NATO offenkundig dazu in der Lage ist, auf dem Wege der militärischen Unterstützung der Stabilisierung und des Wiederaufbaus bestimmter – weit entfernter – Regionen oder Staaten weitere (Folge-?)Operationen zu generieren. » • work to develop a NATO Network Enabled Capability«76 Eine weitere Initiative des Nordatlantikrats zielt auf die Entwicklung einer Fähigkeit mithilfe eines NATO-Netzwerks. Zwar geben die Großbuchstaben am Anfang der vier Worte »NATO Network Enabled Capability« zu erkennen, dass diese einen Eigennamen konstituieren, da es sich dabei aber um ein auf die (nahe) Zukunft bezogenes Projekt handelt, das zum Zeitpunkt der Entstehung der vorliegenden Erklärung allenfalls im Aufbau begriffen sein konnte, wäre es voreilig, zur Füllung dieser Indexikalität sogleich Wissen aus dem äußeren Kontext heranzuziehen. Ein Blick auf die gleichermaßen rechtsverbindliche französische Version des Textes lässt zudem erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass hier
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»von gelernten Lektionen Gebrauch machend«. »und sich ergebend aus laufenden Operationen auf Basis des Mehrwerts solcher militärischer Unterstützung;«. 76 » • Arbeit, um eine Fähigkeit zu entwickeln, die ein NATO-Netzwerk ermöglicht«. 75
7.1 Sequenzanalyse
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überhaupt ein Eigenname vorliegt; ohne die Verwendung zusätzlicher Großbuchstaben ist dort nämlich nur von »une capacité en réseau de l’OTAN« die Rede. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, immanent auszubuchstabieren, was es mit der zu entwickelnden Fähigkeit auf sich haben könnte. Dabei fällt auf, dass es wesentlich plausibler ist, den Ausdruck »Enabled« auf das vor ihm stehende Hauptwort »(NATO) Network« und nicht auf das ihm folgende »Capability« zu beziehen; denn in letzterem Falle mutete das Wortzeichen (NATO-Netzwerk) Ermöglichte Fähigkeit ziemlich redundant an. Die Entwicklung einer Fähigkeit, die durch ein NATO-Netzwerk ermöglicht wird, nimmt sich dagegen sinnvoller aus. Dessen ungeachtet stellt sich hier aber vor allem die Frage, inwieweit sich dieses Netzwerk von der traditionellen Zusammenarbeit auf der Ebene des Bündnisses unterscheidet. Nicht zuletzt in Anbetracht der obigen Tendenzen in Richtung einer schleichenden Auflösung des Zusammenhalts unter den Mitgliedern könnte der Begriff Netzwerk zum Beispiel einen losen Verbund bezeichnen, an dem – einmal mehr – nicht alle Konstituenten der Allianz beteiligt sein müssen. »to share information, data and intelligence«77 In bislang nahezu unbekannter Klarheit legt dieser Abschnitt offen, dass die durch ein NATO-Netzwerk ermöglichte Fähigkeit dem Zweck dient, Nachrichten, Daten und geheimdienstliche Informationen zu teilen. Das »NATO Network« stellt also eine Art Superstruktur dar, die den nationalen Nachrichtendiensten übergeordnet sein könnte. Unter der Bedingung, dass geheimdienstliche Tätigkeit bislang zum Kernbereich nationalstaatlicher Souveränität gehört hat, wäre dies zweifellos ein erstaunlicher Schritt in Richtung einer Stärkung der Zusammenarbeit – um nicht zu sagen: der Vergemeinschaftung – zwischen den Bündnismitgliedern. Umso dringlicher stellt sich in diesem Zusammenhang daher die Frage, ob alle Konstituenten der NATO an diesem Netzwerk beteiligt sind. Darüber hinaus wäre von Interesse, welche Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass einige Staaten zwar von den Informationen und Daten anderer profitieren, die Erkenntnisse ihrer eigenen Geheimdienste aber für sich behalten. Weiterhin wird die Frage aufgeworfen, ob das Netzwerk auf den Austausch von Wissen aus dem gesamten Spektrum geheimdienstlicher Nachforschungen zielt oder ob dabei einige spezielle Bereiche im Vordergrund stehen. Hinweise auf die Auswahl der Personen bzw. Institutionen, denen das primäre Interesse der Nachrichtendienste gilt, wären schließlich dazu erforderlich, um Überlegungen darüber anzustellen, ob und inwieweit diese als Kandidaten für die gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen in Frage kommen, denen die NATO mithilfe der Initiativen zur Steigerung der Fähigkeiten ihrer Streitkräfte zu begegnen gedenkt. »reliably, securely and without delay in Alliance operations,«78 Aus dieser Sequenz geht vor allem hervor, auf welche Art und Weise die Verbündeten geheimdienstliche Informationen miteinander zu teilen beabsichtigen – nämlich verlässlich, sicher und ohne Verzögerung. Der Zusatz »in Alliance operations« wirft jedoch die Frage auf, ob sich die NATO-Mitglieder außerhalb konkreter Einsätze nicht über die Ermittlungsergebnisse ihrer Nachrichtendienste austauschen, ob sie dazu nur nicht das Netzwerk nut77 78
»um Nachrichten, Daten und geheimdienstliche Informationen zu teilen«. »verlässlich, sicher und ohne Verzögerung im Rahmen von Operationen der Allianz,«.
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zen, oder ob der Informationsfluss in diesem Fall lediglich weniger verlässlich und sicher, dafür aber mit größerem Zeitverzug vonstatten geht. Der Fokus auf Operationen der Allianz legt derweil nahe, dass die auszutauschenden Informationen der Dienste in erster Linie jene Kräfte betreffen dürften, die den Streitkräften des Bündnisses bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und damit den Zielen der Einsätze in irgendeiner Form im Wege stehen (könnten). Entsprechend dem weiter oben etablierten Muster, dass eine Bezugnahme auf die Allianz in der dritten Person anstelle mithilfe des Possessivpronomens »our« oder des Personalpronomens »we« tendenziell eine Distanzierung darstellt, soll an dieser Stelle die Vermutung geäußert werden, dass die Kooperation auf der Ebene des Austauschs von geheimdienstlichen Erkenntnissen im Rahmen von Expeditionsoperationen von den Staats- und Regierungschefs bislang als nicht ausreichend eingeschätzt wird. Auf der Grundlage dieser Annahme könnte dann zugleich die avisierte Schaffung der »NATO Network Enabled Capability« motiviert werden. »while improving protection of our key information systems against cyber attack;«79 Die zweite Hauptaufgabe der zu entwickelnden Fähigkeit besteht – durchaus komplementär zur ersten – darin, den Schutz unserer Schlüsselinformationssysteme gegen Angriffe aus dem Internet zu verbessern. Vor dem Hintergrund der unmittelbar zuvor erfolgten Distanzierung der Sprecher von der atlantischen Allianz stellt sich hier sogleich die Frage, ob sich das Possessivpronomen »our« nun auf die Informationssysteme der Mitgliedstaaten oder diejenigen des Bündnisses bezieht. Nicht minder interessant ist, wen die Staats- und Regierungschefs hinter den (potentiellen?) Angriffen aus dem Internet vermuten, auf welche Ziele diese Attacken möglicherweise gerichtet sind und welche Folgen sie zeitigen (könnten). » • the activation of an Intelligence Fusion Centre«80 Überraschenderweise besteht die nächste vom Nordatlantikrat angekündigte Initiative in der Aktivierung eines Zentrums zur Fusionierung nachrichtendienstlicher Informationen. Dies führt sogleich zu der Frage, worin sich dieses Zentrum von der durch ein NATO-Netzwerk ermöglichten Fähigkeit unterscheidet, die entwickelt werden soll, um Nachrichten, Daten und geheimdienstliche Informationen zu teilen. Für Verwunderung sorgt überdies der Ausdruck Aktivierung, der suggeriert, dass ein »Intelligence Fusion Centre« im Grunde bereits vorhanden sei und nur noch in Gang gebracht werden müsse. Sollte damit direkt auf die »NATO Network Enabled Capability« Bezug genommen werden, wäre jedoch äußerst fraglich, warum diese beiden Initiativen nicht zu einer einzigen – wirksameren? – Maßnahme zusammengeschlossen wurden oder warum eine mögliche zeitliche Abfolge der Schritte nicht klar(er) dargestellt wurde. »to improve information and intelligence sharing for Alliance operations;«81
79
»während der Schutz unserer Schlüsselinformationssysteme gegen Angriffe aus dem Internet verbessert wird;«. » • die Aktivierung eines Zentrums zur Fusionierung nachrichtendienstlicher Informationen«. 81 »um das Teilen von Nachrichten und geheimdienstlichen Informationen für Operationen der Allianz zu verbessern;«. 80
7.1 Sequenzanalyse
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Auch auf der Ebene ihrer Zwecke weisen die »NATO Network Enabled Capability« und das »Intelligence Fusion Centre« erstaunliche Parallelen auf. Beide zielen primär darauf ab, den Austausch von solchen geheimdienstlichen Erkenntnissen zwischen den Bündnispartnern zu verbessern, die für gemeinsame Operationen relevant sind. Die Reproduktion macht auch vor der – eine Distanzierung ausdrückenden – Bezugnahme auf die Allianz in der dritten Person nicht Halt. Selbst für den Fall, dass die vorstehende Initiative nicht die Entwicklung einer Fähigkeit mithilfe eines NATO-Netzwerks, sondern mithilfe der als Netzwerk bezeichneten NATO zum Gegenstand haben würde, bliebe dennoch unklar, warum zwischen dieser Maßnahme und der Aktivierung des »Intelligence Fusion Centre« eine kategoriale Trennung vorgenommen wird. » • continuing progress in the Alliance Ground Surveillance programme,«82 Weiterhin geben die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses bekannt, dass der Fortschritt des Allianz-Bodenüberwachungsprogramms fortgesetzt wird. Ähnlich wie in Zusammenhang mit dem Austausch geheimdienstlicher Informationen zieht dies die Frage nach sich, worauf dieses Programm gerichtet ist, d.h. wer oder was die Ziele der Überwachung sind. Dass (der) Fortschritt, ein Wortzeichen, das im Unterschied zu Transformation nicht neutral, sondern eindeutig positiv konnotiert ist, fortgesetzt werden soll, deutet jedenfalls an, dass die Bodenüberwachung zuletzt bereits verbessert werden konnte. »with a view to achieving real capabilities to support Alliance forces;«83 Worin das Maß des Fortschritts des Bodenüberwachungsprogramms besteht, geht unmissverständlich aus dieser Sequenz hervor. Es kommt darauf an, reale Fähigkeiten zur Unterstützung der Bündnisstreitkräfte zu erzielen. Spiegelbildlich lässt dies natürlich die Lesart zu, dass der bisherige Ertrag des Programms für die Streitkräfte der Allianz nicht wirklich von Nutzen gewesen sein könnte. Vor allem aber wird an dieser Stelle deutlich, dass sich das Überwachungsprogramm nicht in omnipotenter Absicht auf den gesamten Erdboden (»Ground«) erstreckt, sondern mit den Bündnisstreitkräften in Verbindung gebracht wird. Da deren Unterstützung vor allem dann Sinn hat, wenn sie sich im Einsatz befinden, liegt es nahe, dass sich das Bodenüberwachungsprogramm der Allianz auf das Zielgebiet von Operationen der NATO richtet und Fortschritt entsprechend in einer Präzisierung der Auskünfte über den Aufenthaltsort „feindlicher“ Kräfte besteht. » • continuing efforts to develop capabilities to counter«84 Auch die nächste Initiative verweist auf eine Tätigkeit, die zum Zeitpunkt der Niederschrift der vorliegenden Erklärung bereits begonnen hatte (»continuing«). Konkret geht es um die Fortsetzung von Anstrengungen zur Entwicklung von Fähigkeiten, die dazu geeignet sind, unerwünschten Tendenzen entgegenzuwirken. Dass es sich bei diesen eher um materielle als um rein ideelle Erscheinungsformen handelt, deutet der die Mittel des Entgegenwirkens charakterisierende Ausdruck »capabilities« an. 82
» • den Fortschritt des Allianz-Bodenüberwachungsprogramms fortsetzen,«. »mit Blick darauf, reale Fähigkeiten zur Unterstützung der Bündnisstreitkräfte zu erzielen;«. 84 » • Fortführen von Anstrengungen zur Entwicklung von Fähigkeiten, um entgegenzuwirken«. 83
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
»chemical, biological, radiological and nuclear threats;«85 Die Sorge der Staats- und Regierungschefs des Bündnisses gilt also chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen. Damit wird nun erstmals explizit darauf Bezug genommen, dass die angekündigten Initiativen dazu dienen sollen, gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen zu begegnen. Zwar erstaunt die große Vagheit der vorliegenden Sequenz; doch abgesehen davon, dass im Grunde alles, was von einem Sprecher glaubwürdig als bedrohlich bezeichnet wird, von dessen Publikum als Bedrohung empfunden werden kann, liegt es nahe, dass die hier thematisierten »threats« auf Waffen verweisen, die den Streitkräften oder allen Bürgern der NATO-Staaten gefährlich werden können. Dass die Formulierung dieser Initiative so vage ausgefallen ist – besonders interessant wäre zum Beispiel, welche Formen die Fähigkeiten des Entgegenwirkens annehmen sollen – könnte darauf hindeuten, dass in dieser Frage keine oder zumindest nur wenig Einigkeit im Rat besteht. » • transforming the Alliance’s approach to logistics,«86 In diesem Abschnitt wird abermals das Grundthema Transformation aufgegriffen. Auch die Art und Weise, wie auf der Ebene der Allianz bislang mit Fragen aus dem Bereich Logistik – der Versorgung der Truppen mit Nachschub also – umgegangen worden ist, soll umgestaltet werden. Indem die Staats- und Regierungschefs das Bündnis, das von ihnen bzw. von den Staaten, die sie repräsentieren, konstituiert wird, in der dritten Person adressieren, gehen sie neuerlich auf Distanz zu ihm. Spiegelbildlich bietet die Transformation des bündnisinternen »approach to logistics« die Chance, dass sie sich neu mit der (umgestalteten) NATO identifizieren. »in part through greater reliance on multinational solutions;«87 Die Umgestaltung der Behandlung von Fragen aus dem Bereich der Nachschubversorgung der NATO-Streitkräfte soll also zum Teil durch größeres Vertrauen in multinationale Lösungen erfolgen. Da der Verzicht auf die souveräne Ausübung von Tätigkeiten, die traditionellerweise auf der nationalen Ebene angesiedelt waren, Vertrauen in diejenigen erfordert, mit denen diese Aufgaben nun gemeinsam zu erledigen sind, verfügt diese Sequenz über ein hohes Maß an sprachlicher Prägnanz. Wird an die Rekonstruktion der Bedeutung des Wortzeichens »multinational« darüber hinaus eine immanente, d.h. dem vorliegenden Dokument selbst entnommene Richtschnur angelegt, so ergeben sich mindestens zwei Lesarten: Für den Fall, dass multinationale Lösungen einmal mehr dadurch gekennzeichnet sind, dass nicht alle Mitglieder des atlantischen Bündnisses daran beteiligt sein müssen, kann der diesbezüglich diagnostizierte Mangel an Vertrauen nämlich entweder darauf zurückgeführt werden, dass die Konstituenten der NATO bislang an rein nationalen Regelungen festhielten oder dass sie – zur Wahrung des Zusammenhalts etwa – nur solche Lösungen akzeptierten, an denen ohne Ausnahme alle Bündnismitglieder partizipieren.
85
»chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen;«. » • Transformieren des Umgangs der Allianz mit Logistik,«. 87 »zum Teil durch größeres Vertrauen in multinationale Lösungen;«. 86
7.1 Sequenzanalyse
237
» • efforts to ensure that«88 Wie im Rahmen der vierten Initiative, die auf die Sicherstellung der Fähigkeit abzielte, Stabilisierungsoperationen und Wiederaufbauanstrengungen militärisch zu unterstützen, bedienen sich die Sprecher hier erneut des Verbs »to ensure«. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil dem Ausdruck eine gewisse Ambivalenz eigen ist. Es kann nicht nur sichergestellt werden, dass etwas so bleibt wie es ist, sondern auch, dass etwas verändert wird. Zwar ist noch offen, worum es bei dieser Initiative im Detail geht; wie bereits zu Beginn der Analyse ausgeführt, suggeriert das Wortzeichen »ensure« jedoch das Vorliegen einer Frage von äußerster Wichtigkeit. »the command structure is lean, efficient and more effective; and«89 Sicherzustellen ist also, dass die Kommandostruktur schlank, leistungsfähig und wirkungsvoller ist. Durch die Kombination zweier nicht gesteigerter mit einem einfach gesteigerten Adjektiv wird die Ambivalenz des Verbs »to ensure« hier auf eigenwillige Weise aufgelöst. Denn daraus, dass sicherzustellen ist, dass die Kommandostruktur wirkungsvoller ist, als sie sich den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Riga darstellt, muss geschlossen werden, dass sie zugleich als hinreichend schlank und leistungsfähig eingeschätzt wird. In Bezug auf diese beiden Eigenschaften geht es den Sprechern also darum, den Status quo sicherzustellen, während sie hinsichtlich der dritten Eigenschaft, der Effektivität der Kommandostruktur, die Sicherstellung eines Zuwachses beabsichtigen. Dass die Kommandostruktur der NATO zwar bereits schlank und leistungsfähig, aber noch nicht hinreichend wirkungsvoll ist, verdeutlicht derweil, dass Letzteres nicht zwangsläufig von den beiden zuerst genannten Eigenschaften bedingt wird. Schließlich markiert das Wortzeichen »and« im Anschluss an das Semikolon, dass sich die Aufzählung der Initiativen ihrem Ende nähert. » • the signature of the first major contract«90 Die möglicherweise letzte der Maßnahmen, um den gegenwärtigen Bedrohungen und Herausforderungen zu begegnen, besteht in der Unterzeichnung eines Vertrages. Dessen Charakterisierung als »the first major contract« gibt zu erkennen, dass zuvor bereits ein oder mehrere Kontrakte unterzeichnet worden sein müssen, die von den Sprechern als weniger bedeutsam angesehen werden. Darüber hinaus stellen sich hier aber vor allem die Fragen, wer den besagten Vertrag abgeschlossen hat und was sein Gegenstand ist. »for a NATO Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence system«91 Der Zweck des Vertrages wird in dieser Sequenz ersichtlich. Es geht um ein vielschichtiges NATO-Abwehrsystem gegen ballistische Gefechtsfeldraketen. Aufgrund der recht vagen Formulierung Vertrag für ein Raketenabwehrsystem bleibt jedoch offen, ob es sich dabei 88
» • Anstrengungen, die sicherstellen, dass«. »die Kommandostruktur schlank, leistungsfähig und wirkungsvoller ist; und«. 90 » • die Unterzeichnung des ersten bedeutenden Vertrages«. 91 »für ein vielschichtiges NATO-Abwehrsystem gegen ballistische Gefechtsfeldraketen«. 89
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
um einen Kontrakt zwischen den Bündnismitgliedern handelt, in dem diese ihre Bereitschaft bekunden, bei der Prüfung des Bedarfs, der Planung oder der Durchführung eines solchen Systems mitzuwirken – oder ob dieser Vertrag von Handlungsbevollmächtigten des Bündnisses mit Vertretern von Rüstungs- und Technologiekonzernen abgeschlossen worden ist und bereits konkrete Schritte im Rahmen der Errichtung eines Raketenabwehrsystems stipuliert. Vor allem aber wird die Frage nach den potentiellen Angreifern und deren Zielen aufgeworfen: Wer sollte das Territorium und die Bewohner oder die Streitkräfte der in der NATO zusammengeschlossenen Staaten mit ballistischen Gefechtsfeldraketen angreifen und warum? »which is a major step towards improving the protection of deployed NATO forces.«92 In diesem Abschnitt wird deutlich, dass das Raketenabwehrsystem aus der Perspektive der Staats- und Regierungschefs einen bedeutenden Schritt in Richtung einer Verbesserung des Schutzes stationierter NATO-Truppen darstellt. Dies impliziert nicht nur, wer von dem System profitieren soll (die im Einsatz befindlichen Bündnisstreitkräfte), sondern auch, gegen wen es gerichtet ist (jene Kräfte nämlich, die den verlegten Truppen der NATO in einem Operationsgebiet „feindlich“ gegenüberstehen). Ein weiteres Mal für Irritation sorgt indes die Bezugnahme auf die stationierten »NATO forces« in der dritten Person. Im Rahmen der Ankündigung einer Initiative zur Verbesserung von deren Schutz wirkt diese latente Distanzierung einigermaßen befremdlich. Gerade auf der Ebene dieses gleichermaßen sensiblen wie zentralen Tätigkeitsbereichs des Bündnisses wäre die Wahl einer Formulierung mithilfe des Possessivpronomens »our« wohl ein angemessenerer Ausdruck für den Zusammenhalt und die Identifikation der Staats- und Regierungschefs mit der NATO gewesen. »25. At Prague we initiated«93 Zu Beginn des fünfundzwanzigsten Unterpunkts der Erklärung nehmen die Sprecher nicht nur noch einmal Bezug auf ihr Treffen in Prag vier Jahre zuvor, sondern kehren auch in den Modus der sprachlichen Markierung eines gemeinsamen Zusammenhangs zwischen ihnen zurück. Das Personalpronomen »we« weist über die jeweiligen nationalen Rollen der Staats- und Regierungschefs hinaus und konstituiert sie als Gruppe derer, die den Nordatlantikrat in seiner höchsten politischen Zusammensetzung bilden. Gleichzeitig stellen sie sich damit in die Kontinuität ihrer Beschlüsse aus der jüngeren Vergangenheit. Sie geben zu erkennen, dass sie über ein „institutionelles Gedächtnis“ verfügen und dass ihre Entscheidungen nicht für den Tag gemacht sind: Was in Prag initiiert wurde, das ist auch in Riga noch präsent. »a Missile Defence Feasibility Study«94
92
»das ein bedeutender Schritt in Richtung einer Verbesserung des Schutzes stationierter NATO-Truppen ist.«. »25. In Prag initiierten wir«. 94 »eine Raketenabwehrmachbarkeitsstudie«. 93
7.1 Sequenzanalyse
239
Konkret beziehen sich die Staats- und Regierungschefs also auf eine Raketenabwehrmachbarkeitsstudie, die sie in Prag initiiert haben. Auf der inhaltlichen Ebene wird damit noch einmal der Gegenstand der letzten Initiative zur Begegnung gegenwärtiger Bedrohungen und Herausforderungen aufgegriffen, die den vierundzwanzigsten Unterpunkt der Rigaer Erklärung besiegelte. Mutmaßlich geht es den Sprechern nun darum, die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie zu veröffentlichen oder Vorhaben bekannt zu geben, die über die besagte Initiative hinausgehen. »in response to the increasing missile threat.«95 In dieser Sequenz legitimieren die Sprecher ihre Prager Entscheidung, eine Raketenabwehrmachbarkeitsstudie in Auftrag zu geben. Sie sehen darin eine Antwort auf die zunehmende Bedrohung durch Raketen. Im Lichte des erwähnten Vertrages für ein vielschichtiges NATO-Abwehrsystem gegen ballistische Gefechtsfeldraketen führt dies zu der Frage, ob diese zunehmende Bedrohung durch Raketen auf die im Ausland operierenden Bündnisstreitkräfte beschränkt ist oder ob davon auch das Territorium und die Bewohner der Mitgliedstaaten der NATO betroffen sind. Insbesondere wenn Letzteres der Fall sein sollte, interessierte natürlich auch, um wen es sich bei den potentiellen Angreifern handelt, d.h. wer die Bedrohung verkörpert. »We welcome its recent completion.«96 Die – abermals in der kollektiven Wir-Form ausgedrückte – Würdigung der Vollendung der Machbarkeitsstudie schürt die Erwartung, dass nun deren Ergebnisse und daran geknüpfte Folgerungen präsentiert werden. »It concludes that missile defence is technically feasible«97 Die Studie war offenbar ein voller Erfolg für die Staats- und Regierungschefs, denn sie kommt zu dem Schluss, dass Raketenabwehr technisch machbar ist. Dies lässt darauf schließen, dass diejenigen, die für die Durchführung der Studie verantwortlich sind, glaubwürdig nachweisen konnten, dass es möglich ist, Raketen, die sich im Anflug auf ein bestimmtes Ziel befinden, noch in der Luft unschädlich zu machen. Diese Überlegung führt zu der Frage, ob die Sprecher nun mit weiteren technischen Details der Studie aufwarten oder ob sie sich sogleich den politischen Implikationen zuwenden, die sie daraus gezogen haben. Angesichts der großen Zurückhaltung, die das vorliegende Dokument bislang in Bezug auf kleinteilige Darstellungen an den Tag gelegt hat, erscheint die zweite Option plausibler zu sein. »within the limitations and assumptions of the study.«98
95
»als Antwort auf die zunehmende Bedrohung durch Raketen.«. »Wir begrüßen ihre kürzlich erfolgte Vollendung.«. 97 »Sie kommt zu dem Schluss, dass Raketenabwehr technisch machbar ist«. 98 »innerhalb der Grenzen und Annahmen der Studie.«. 96
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
In dieser Sequenz erfährt der Bedeutungsgehalt der vorstehenden Äußerung eine erhebliche Einengung. Die technische Machbarkeit der Raketenabwehr wird auf die Grenzen und Annahmen der Studie beschränkt. Daraus resultiert nicht nur die Frage, worin deren Grenzen bestehen, sondern vor allem, inwieweit ihre Annahmen den potentiellen Anwendungskontexten der NATO entsprechen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den politischen Schlussfolgerungen, die der Nordatlantikrat in Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs aus der Machbarkeitsstudie gezogen hat, nun umso dringlicher. »We tasked continued work«99 An dieser Sequenz fällt zunächst der Gebrauch des Hauptworts »task« (Aufgabe) in der Form eines Tätigkeitsworts im Präteritum (»tasked«) auf. Ein Blick in die französische Fassung des Dokuments, in der die entsprechende Stelle durch den Wortlaut »Nous avons demandé que les travaux se poursuivent« gekennzeichnet ist, legt nahe, dass dieser Begriff dem Verb »demand« – fordern, verlangen, bitten – entspricht. Die Forderung der Staatsund Regierungschefs, die Arbeit (in Zusammenhang mit der Machbarkeitsstudie) fortzusetzen, deutet daraufhin, dass sie sich über ihre Implikationen noch nicht hinreichend sicher sind oder noch keine Einigung erzielen konnten. Gleichzeitig zeugt dieses Vorgehen von der besonderen Bedeutung, die sie dem Thema Raketenabwehr beimessen. »on the political and military implications of missile defence«100 Die Sprecher spezifizieren hier, welche Arbeit fortzusetzen sie gefordert haben – nämlich die Arbeit an den politischen und militärischen Implikationen der Raketenabwehr. Dies lässt mindestens die folgenden Lesarten zu: Einerseits bleibt weiterhin denkbar, dass sich die Staats- und Regierungschefs über die Folgerungen der Studie so wenig sicher sind, dass sie diese Aufgabe nun an ein Expertengremium delegiert haben könnten. Den gleichen Schritt könnten sie aber auch deshalb veranlasst haben, weil ihnen nicht möglich war, sich zu einigen. Andererseits ist es ebenso plausibel, dass die Formulierung politischer und militärischer Implikationen ohnehin schon einem Ausschuss übertragen worden war und dass hier, mangels eindeutiger Ergebnisse, die Fortsetzung von dessen Arbeit erbeten bzw. angeordnet wird. »for the Alliance«101 Dass es hier um die politischen und militärischen Implikationen der Raketenabwehr für die Allianz geht, kann nicht verwundern. Aufgrund des bisherigen Verlaufs der Analyse ist es an dieser Stelle, da – wie in Zusammenhang mit der verbesserten Umsetzung des vereinbarten NRF-Konzepts – interne Probleme bzw. Schwierigkeiten auftreten, aber nachgerade „typisch“, dass sich die Sprecher zum wiederholten Male in der dritten Person auf das Bündnis beziehen und damit in gewisser Weise auf Distanz zu ihm gehen. In solchen Fällen ist es offenbar nicht ihre NATO, sondern bloß »die«.
99
»Wir haben gefordert, die Arbeit fortzusetzen«. »an den politischen und militärischen Implikationen der Raketenabwehr«. 101 »für die Allianz«. 100
7.1 Sequenzanalyse
241
»including an update on missile threat developments.«102 Aus diesem Abschnitt geht hervor, dass die fortzusetzende Arbeit auch eine Aktualisierung der Entwicklungen im Bereich der Bedrohung durch Raketen einschließt. Dies lässt mindestens die folgenden drei Deutungsmöglichkeiten zu: Zunächst einmal dürfte es natürlich eine Art bündnisinterne Routine sein, in regelmäßigen Zeitabständen die Bedrohung des Territoriums und der Bewohner sowie der dislozierten Streitkräfte der NATO-Staaten durch Raketen festzustellen. Im Lichte der mutmaßlichen Unsicherheiten oder gar Unstimmigkeiten hinsichtlich der politischen und militärischen Implikationen der Raketenabwehr ergeben sich darüber hinaus allerdings noch zwei weitere Lesarten. Im Sinne einer Sonderprüfung könnte die Aktualisierung der Einschätzung einer Gefährdung durch Raketen von jenen Mitgliedern des Nordatlantikrats veranlasst worden sein, die sich davon neue – wenngleich unschöne, weil bedrohliche – Argumente für die (Dringlichkeit der) Errichtung eines Raketenabwehrsystems erwarten. Spiegelbildlich dürften die Ratsmitglieder, die der Machbarkeitsstudie weniger weitreichende politische und militärische Folgerungen entnehmen, darauf hoffen, dass das »update on missile threat developments« ein Schwinden der Bedrohung zu Tage fördern könnte. Ungeachtet der Überlegungen, von welcher Fraktion der vorliegende Vorschlag letztlich ausgegangen ist, stellt er doch in jedem Fall ein salomonisches Urteil dar, um das mutmaßliche Patt im Nordatlantikrat aufzulösen und neue Argumente in die Debatte einzuspeisen. »26. We are committed«103 In der nächsten Sequenz, die zugleich den Anfang des sechsundzwanzigsten Unterpunkts der Rigaer Erklärung markiert, bringen die Sprecher zum Ausdruck, dass sie verpflichtet sind. Analog zu der Verantwortung, die sie als Staats- und Regierungschefs ihren nationalen Gemeinwesen – ihren Völkern – gegenüber haben, sind die Sprecher als Konstituenten des Nordatlantikrats in seiner höchsten politischen Zusammensetzung in allererster Linie der Gesamtheit an Nationen verpflichtet, die in der NATO zusammengeschlossen sind. »to continuing to provide,«104 Dass die besagte Verpflichtung in der Fortführung einer Tätigkeit besteht, macht klar, dass sie nicht neu ist, sondern zum Zeitpunkt des Gipfeltreffens in Riga bereits bestanden hat. Da das Verb »to provide« – bereitstellen, versorgen, beliefern – transitiv ist und ziemlich direkt auf die Personen verweist, für die etwas bereitgestellt wird, wäre es zudem durchaus plausibel, wenn die Sprecher diesen Personen gegenüber verpflichtet wären. »individually and collectively,«105 Aus dieser Sequenz geht hervor, auf welche Art und Weise die Staats- und Regierungschefs ihrer Verpflichtung zur Fortführung eines Akts der Bereitstellung nachzukommen geden102
»einschließlich einer Aktualisierung der Entwicklungen im Bereich der Bedrohung durch Raketen.«. »26. Wir sind verpflichtet«. 104 »(dazu verpflichtet) fortzufahren, bereitzustellen,«. 105 »individuell und kollektiv,«. 103
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
ken. Dass sie dies individuell und kollektiv zu tun beabsichtigen, lässt vor allem zwei Lesarten zu: Am meisten spricht dafür, dass das Wortzeichen »individually« auf Aktivitäten der Mitgliedstaaten bezogen ist, während der Ausdruck »collectively« auf solche Handlungen verweist, die dem Bündnis als Ganzem zuzuschreiben sind. Im Falle einer äußerst starken Identifikation der Sprecher mit der NATO wäre es darüber hinaus vorstellbar, dass hier zwischen Tätigkeiten differenziert wird, die dem Bündnis selbst zuzuordnen sind (»individually«) und die seine Handlungsbevollmächtigten in Kooperation mit den Repräsentanten anderer (Zusammenschlüsse von) Staaten vollziehen (»collectively«). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dessen, dass sich die Staats- und Regierungschefs im Rahmen des vorliegenden Dokuments wiederholt von der Allianz distanziert haben, ist die zweite Deutungsmöglichkeit jedoch äußerst unwahrscheinlich. »the resources that are necessary to allow our Alliance«106 Die Verpflichtung der Sprecher besteht also darin, Ressourcen bereitzustellen, die notwendig sind, um der Allianz eine noch zu spezifizierende Tätigkeit zu gestatten. Somit bleibt zwar offen, ob die Staats- und Regierungschefs sich in erster Linie ihren Nationen, der Gesamtheit ihrer Nationen oder dem Bündnis verpflichtet sehen; der in diesem Zusammenhang erstmals verwendete Ausdruck »our Alliance« gibt jedoch zu erkennen, dass den Sprechern diese – Identifikation sowohl ausdrückende als auch stiftende – Formulierung durchaus geläufig ist und dass die geradezu konträr dazu verlaufenden zahlreichen Adressierungen des Bündnisses in der dritten Person als sinnlogisch motiviert zu gelten haben. »to perform the tasks that we demand from it.«107 In dieser Sequenz wird schließlich offenbar, wozu die Ressourcen dienen, zu deren fortgesetzter individueller und kollektiver Bereitstellung die Staats- und Regierungschefs nach eigenen Angaben verpflichtet sind. Sie sind notwendig, um unserer Allianz zu gestatten, die Aufgaben zu erfüllen, die wir von ihr verlangen. Für das Selbstverständnis der Sprecher und ihre Sicht auf die NATO ist diese Äußerung höchst aufschlussreich. Sie unterscheiden strikt zwischen der Ebene der Mitgliedstaaten auf der einen und der des Bündnisses auf der anderen Seite. Als die höchsten Repräsentanten ihrer Nationen stellen die Staats- und Regierungschefs der Allianz zwar Ressourcen bereit; dies erfolgt jedoch nur, damit das Bündnis die Aufgaben erfüllen kann, die sie selbst von ihm verlangen. Aus dieser Perspektive ist die NATO keine autonome Instanz, sondern die Summe und der Besitz (»our«) ihrer Mitglieder. Mithilfe politikwissenschaftlicher Fachbegriffe ausgedrückt stellt das atlantische Bündnis also keinen supranationalen, sondern einen intergouvernementalen Zusammenschluss von Staaten dar, an den keinerlei Souveränität abgegeben wird. Für Irritation sorgt in diesem Zusammenhang allerdings die Formulierung der Sprecher, der Allianz zu gestatten, das zu tun, was sie von ihr verlangen. Jemandem nicht zu gestatten, das zu tun, was man von ihm verlangt, wäre wohl der Inbegriff willkürlicher und totalitärer Herrschaft. Mutmaßlich handelt es sich hier also um einen Ausdruck des Machtbewusstseins der Sprecher, den sie zugleich gönnerhaft und jovial zu überspielen suchen. Vor dem Hintergrund dieser eindeutigen Anordnung der Machtverhältnisse spricht somit 106 107
»die Ressourcen, die notwendig sind, um unserer Allianz zu gestatten«. »die Aufgaben zu erfüllen, die wir von ihr verlangen.«.
7.1 Sequenzanalyse
243
wenig dafür, dass die besagte Verpflichtung der Sprecher gegenüber dem Bündnis besteht. Aufgrund ihres unmissverständlich artikulierten Verständnisses als höchste Repräsentanten der Mitgliedstaaten werden sie sich ausschließlich ihren Völkern verpflichtet wissen. »Therefore,«108 Aus dem Vorstehenden leiten die Staats- und Regierungschefs offenbar eine Schlussfolgerung ab. »we encourage nations whose defence spending is declining«109 Die Sprecher wenden sich Staaten zu, deren Verteidigungsausgaben abnehmen. Da es sich hier um eine Folgerung aus den Ausführungen über das Verhältnis zwischen dem Bündnis und seinen Konstituenten handelt, wäre es höchst unplausibel, wenn nun alle Staaten adressiert würden, deren Verteidigungsausgaben abnehmen. Vielmehr dürfte es um jene Mitglieder der NATO gehen, auf die dieses Kriterium zutrifft. Im Lichte der vorangegangenen Aktualisierung der Verpflichtung zur individuellen und kollektiven Bereitstellung von Ressourcen für die Allianz überraschte es nicht, wenn die betroffenen Staaten im Folgenden dazu ermutigt würden, den Trend umzukehren und ihre Verteidigungsausgaben wieder zu erhöhen. »to halt that decline and to aim to increase defence spending in real terms.«110 Wie erwartet zielt der Appell tatsächlich darauf, den Rückgang zu stoppen und eine reale, also auch inflationsbereinigte, Erhöhung der Verteidigungsausgaben anzustreben. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang, dass auch die Spitzen jener Staaten, an die der Appell gerichtet ist, dem Kollektiv der Sprecher angehören. Dies legt nahe, dass das Personalpronomen »we« in diesem Falle nicht, wie mehrmals zuvor, primär auf die nationalen Rollen der Sprecher als höchste Repräsentanten ihrer Völker verweist, sondern dass sie sich nun (auch wieder) als Vertreter des höchsten politischen Gremiums der NATO verstehen, die ihren gemeinsamen Willen artikulieren. Dass sie dies jedoch nicht vermittels eines rechtsverbindlichen Aktes, sondern nur in Form eines Appells zu tun vermögen (»we encourage«) ist ihrer eigenen (sprachlichen) Konstruktion des Bündnisses als bloßem Anhängsel seiner Mitgliedstaaten geschuldet, wie sie unmittelbar zuvor deutlich geworden ist. Welche Wirkung der Rat mit dieser Vorgehensweise erzielt, muss gleichwohl offen bleiben. »As set out in the Comprehensive Political Guidance,«111 In dieser Sequenz berufen sich die Sprecher zum wiederholten Male auf die Comprehensive Political Guidance. Es steht zu vermuten, dass dieser Schritt dazu dienen wird, die Legitimität einer Forderung an die Mitgliedstaaten zu erhöhen. Doch gleich welche Aspekte die108
»Daher,«. »wir ermutigen Staaten (Nationen), deren Verteidigungsausgaben abnehmen«. 110 »diesen Rückgang zu stoppen und danach zu streben, die Verteidigungsausgaben real zu erhöhen.«. 111 »Wie in der Umfassenden Politischen Anleitung dargelegt,«. 109
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
ses (weiter oben vorgestellten) neuen Instruments zur gemeinsamen Verteidigungsplanung sie auch anführen werden, dürfte es den Staats- und Regierungschefs, die dem Bündnis lediglich das zu tun gestatten, was sie von ihm verlangen, recht schwer fallen, daraus eine verbindliche Forderung abzuleiten. »the development of capabilities will not be possible without the commitment of sufficient resources.«112 Bezüglich ihrer reservierten Haltung gegenüber der NATO als eigenständiger Handlungsebene bleiben die Sprecher an dieser Stelle insofern konsistent, als dass sie unter Verweis auf die Comprehensive Political Guidance nun keine expliziten Forderungen an die Mitgliedstaaten richten. Im Anschluss an ihren Appell für eine Erhöhung der nationalen Verteidigungsausgaben erinnern sie lediglich an die von ihnen unterzeichnete Anleitung, die (ebenfalls) darlege, dass die Entwicklung von (militärischen) Fähigkeiten nicht ohne ein ausreichendes Maß an Ressourcen möglich sein werde. Im Ganzen trägt diese Äußerung jedoch nicht einmal Züge eines Appells, sondern stellt wohl eher einen schlichten Hinweis dar. Vor dem Hintergrund der ermöglichten Bildung von (multinationalen) Allianzen in der Allianz, einem Muster, das im Laufe der Analyse mehrfach zu Tage gefördert wurde, wirkt diese Unverbindlichkeit allerdings beinahe wie ein Eingeständnis, dass es aussichtslos sei, diejenigen Mitglieder, deren Verteidigungsausgaben sinken, davon zu überzeugen, den Trend umzukehren und wieder mehr Haushaltsmittel in den Verteidigungssektor fließen zu lassen. »Those resources should be used efficiently«113 Dass jene Ressourcen effizient eingesetzt werden sollen, ist sicherlich mehr als ein bloßer Hinweis. Über den Status eines moralischen Appells kommt jedoch auch diese Äußerung nicht hinaus. Die Maxime, dass die Mittel öffentlicher Haushalte, die sich in der Regel zum größten Teil aus Steuern und Abgaben des Souveräns zusammensetzen, grundsätzlich so einzusetzen sind, dass sie einen möglichst hohen Wirkungsgrad erzielen (»efficiently«), ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und bedarf keiner zusätzlichen Legitimation oder Illustration durch den Nordatlantikrat. Spiegelbildlich muss wohl daraus, dass sich der Rat bemüßigt sieht, solch elementare Zusammenhänge anzusprechen, geschlossen werden, dass diese Maxime (zuletzt) nicht von allen Mitgliedern beachtet worden ist. »and focused on the priorities identified in the Comprehensive Political Guidance.«114 Gleichsam als kleine Handreichung zur künftigen Vermeidung des ineffizienten Einsatzes von Mitteln des Verteidigungshaushalts verweisen die Staats- und Regierungschefs an dieser Stelle abermals auf die – von ihnen ja erst auf dem Gipfel in Riga unterzeichnete – Comprehensive Political Guidance. Auf die darin identifizierten Prioritäten sollte der Ressourceneinsatz konzentriert sein. Dem Problem des bloßen Appellcharakters ihrer Äußerung entkommen die Sprecher hier allerdings nicht. 112
»wird die Entwicklung von Fähigkeiten nicht möglich sein ohne das Engagement ausreichender Ressourcen.«. »Jene Ressourcen sollten effizient eingesetzt werden«. 114 »und auf die von der Umfassenden Politischen Anleitung identifizierten Prioritäten konzentriert sein.«. 113
7.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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»27. We endorse«115 Als ein Gremium mit – weithin wahrnehmbarer – Entscheidungsmacht präsentiert sich das Kollektiv der Sprecher auch zu Beginn des siebenundzwanzigsten Unterpunkts des vorliegenden Dokuments nicht unbedingt. Einerseits wird eine Billigung stets nachträglich vollzogen und nimmt somit auf eine Handlung Bezug, die zum Zeitpunkt des Sprechens bereits begonnen oder möglicherweise schon wieder beendet worden ist; andererseits bleibt zumeist offen, ob es den Sprechern möglich wäre, das Geschehen, auf das sich ihre Billigung richtet, zu verhindern, sollten sie nicht damit einverstanden sein. »the drive for greater efficiency and effectiveness«116 Gebilligt wird jedenfalls der Antrieb zu größerer Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit. Dies deutet zwar in eine ähnliche Richtung wie der Abschnitt zuvor (erneut ist der verantwortungsvolle Umgang mit knappen Mitteln thematisch) wirft aber die Frage auf, wessen Antrieb hier gutgeheißen wird und worauf sich dieser konkret richtet. »in NATO Headquarters and its funding practices.«117 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass der von den Staats- und Regierungschefs gebilligte Antrieb zu größerer Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit sowohl auf die Gestaltung der Arbeitsabläufe in den NATO-Hauptquartieren als auch auf deren Finanzierungspraxis gerichtet ist. Unter der Bedingung, dass die NATO über einen eigenen Haushalt verfügt, aus dem sie unter anderem ihre Hauptquartiere zu finanzieren hat (es wäre zum Beispiel denkbar, dass sich dieser Haushalt aus jenen Ressourcen speist, welche die Mitgliedstaaten dem Bündnis zur Verfügung stellen, damit es die Aufgaben erfüllt, die sie von ihm verlangen), wären die Adressaten dieses als Billigung getarnten Lobes also die Angehörigen der NATO selbst. Im Unterschied zu einigen Regierungen der Mitgliedstaaten, so die versteckte Botschaft dieser Äußerung, ist sowohl das in die diversen Hauptquartiere abkommandierte als auch das für die Verwendung der dem Bündnis bereitgestellten Finanzmittel zuständige Personal also bereits bestens mit den Prinzipien eines effizienten Einsatzes knapper Ressourcen vertraut.
7.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles Der Versuch der Staats- und Regierungschefs, nahezu alle potentiellen Einsätze der NATO unter die Überschrift Verteidigung zu subsumieren und ihre Tendenz, sich bei internen Schwierigkeiten vom Bündnis zu distanzieren, bilden die beiden zentralen Ergebnisse der Sequenzanalyse jenes Ausschnitts der Gipfelerklärung von Riga, die dem Aspekt interner Reformanstrengungen der atlantischen Allianz gewidmet ist. Vor der Auswahl des nächsten Falles im zweiten Teil dieses Abschnitts soll dieser Befund zunächst anhand von vier eng 115
»Wir billigen«. »den Antrieb zu größerer Leistungsfähigkeit (Effizienz) und Wirksamkeit«. 117 »in den NATO-Hauptquartieren und bei deren Finanzierungspraxis.«. 116
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
miteinander verbundenen und sich teilweise überlappenden Handlungsproblemen illustriert werden. Bei diesen handelt es sich um den Nachweis der Legitimität des Bündnisses im Allgemeinen und der angestrebten Verteidigungstransformation im Besonderen, die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, den Entwurf eines Selbstbildes und die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Am Anfang der Darstellung steht die Problematik des Legitimitätsnachweises. Aus der Analyse des Nordatlantikvertrages, die hier als Vergleichsfolie herangezogen werden darf, da der Kontrakt außerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums (der Ära nach dem Ende der Blockkonfrontation) unterzeichnet wurde, waren die kollektive Verteidigung der Vertragspartner und eine Rüstungsverpflichtung zur Erfüllung dieses Zwecks als die zwei Hauptaufgaben des Bündnisses und seiner Mitglieder hervorgegangen. Beide Momente kehren – in modifizierter Form – im Rahmen des soeben analysierten Dokuments wieder. Während die Verpflichtung zur Aufrüstung hinter dem semantisch neutralen Wortzeichen Verteidigungstransformation verborgen ist, das jedoch ein ganzes Bündel an Initiativen zur Erhöhung der militärischen Schlagkraft beschreibt, wird dem vollen Spektrum der Aufträge der Allianz neben der kollektiven Verteidigung noch die Beantwortung von Krisen hinzugefügt. Wie der Verweis auf die NATO-Operationen in Afghanistan und auf dem Balkan veranschaulicht, handelt es sich bei Letzterem insbesondere um die Übernahme quasipolizeilicher Aufgaben im Kontext der Befriedung bzw. Stabilisierung von (Bürger-) Kriegsgebieten mit schwachen Zentralregierungen. Besondere Beachtung verdient dabei, dass auch diese Tätigkeiten ganz explizit zu den Erfordernissen – transformierter – Verteidigung gezählt werden. Das Aufgabenspektrum des Bündnisses wird hier also unter Zuhilfenahme der traditionellen defensiven Terminologie erheblich erweitert. Gleichwohl ist der Prozess der Verteidigungstransformation kein Selbstzweck, sondern auf die Erfüllung des um Operationen zur Beantwortung von Krisen erweiterten Aufgabenspektrums der Allianz ausgerichtet. Wohingegen die Bedrohungen und Herausforderungen, die den Prozess der Verteidigungstransformation nötig machen, nicht spezifiziert werden, präsentieren die Staats- und Regierungschefs ein Argument zur Legitimation der vereinbarten Rüstungsanstrengungen, das kaum zu erschüttern ist: Aus ihrer Perspektive stellt die Umgestaltung der Verteidigungskapazitäten eine Lebensnotwendigkeit dar. Sie ist essentiell für die Durchführung aller Arten von Aufgaben oder Missionen des Bündnisses. In erster Linie verweist diese Ausdrucksweise natürlich auf das Leben der Bewohner der Mitgliedstaaten der Allianz, das geschützt – verteidigt – werden muss. Nicht zuletzt im Lichte der zu beantwortenden Forschungsfrage ist hier aber auch der Fortbestand der NATO selbst thematisch; denn die Fortsetzung der Verteidigungstransformation garantiert, dass das Bündnis weiterhin eine Rolle auf der Weltbühne spielt. Die Art und Weise, wie die Errichtung der NATO Response Force (NRF), ein Kernstück des Transformationsprozesses, gerechtfertigt wird, deutet indes darauf hin, dass der Druck zur Legitimation der verabschiedeten Maßnahmen größer sein könnte als es zunächst den Anschein hat. Dass die NRF nicht nur der Allianz, sondern auch den Zwecken der Europäischen Union, der Vereinten Nationen und der Mitgliedstaaten dient, signalisiert zwar die institutionelle Anschlussfähigkeit des Bündnisses und seiner Streitkräfte, relativiert – zumindest tendenziell – aber auch die Bedeutung der NATO. Die Existenz anderer, mitunter kompatibler Institutionen ist auch auf der Ebene des zweiten Handlungsproblems, der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungs-
7.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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strukturen des Bündnisses, von Bedeutung. Mehr noch: Gerade in Bezug auf die gleichzeitige Wahrnehmung ihrer Doppelfunktion an der Spitze der Allianz und der diese konstituierenden Nationalstaaten werden mehrfach Identifikationsprobleme der Sprecher mit dem Bündnis erkennbar. Angesichts ihrer Zugehörigkeit zu beiden Handlungsebenen stellt dieser Befund für sich genommen noch keine Besonderheit dar. Interessant zu sehen ist allerdings die Regelmäßigkeit, mit der die Bereitschaft der Staats- und Regierungschefs, sich mit der NATO zu identifizieren, stets dann nachlässt, wenn Themen berührt werden, die – wie die Einsätze in Afghanistan und Bosnien, die Umsetzung des NRF-Konzepts, die Institutionalisierung des Austauschs von Geheimdienstinformationen, die bisherige Handhabung der Versorgung der Truppen mit Nachschub und die Implikationen der Machbarkeitsstudie zur Raketenabwehr – mit latenten Schwierigkeiten oder offenen Problemen und Unstimmigkeiten behaftet sind. Mit Blick auf die Zukunft des Bündnisses machen diese Distanzierungstendenzen unmissverständlich deutlich, dass der Fortbestand der NATO einer möglichst wohlwollenden Beurteilung ihres Wirkens durch die Vertreter der Mitgliedstaaten bedarf. Doch während sich solche positiven Einschätzungen wohl am ehesten auf dem Wege einer erfolgreichen Implementation von gemeinsamen Entscheidungen erreichen lassen, bieten die Hinweise auf die Anschaffung von Transportflugzeugen konkurrierender Hersteller und die knappen Ausführungen zu chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen – neben dem Ringen um die politischen und militärischen Implikationen der Machbarkeitsstudie zur Raketenabwehr – weiteren Anlass für heftige Kontroversen in der NATO. Ebenfalls von Uneinigkeit im Nordatlantikrat zeugt, dass der untersuchte Ausschnitt der Rigaer Erklärung – mit Ausnahme eines eher vagen Bündels an Initiativen zur Erhöhung der militärischen Schlagkraft – weniger verbindliche Entscheidungen als unverbindliche Appelle enthält. Dass die Staats- und Regierungschefs gewillt sind, der Uneinigkeit auf der Ebene des höchsten Gremiums der Allianz zu begegnen, zeigen ihre Bemühungen um eine Erhöhung der Flexibilität der internen Abläufe. Die zu diesem Zweck lancierten multinationalen Arrangements, an denen – wie bei der Durchführung von Expeditionsoperationen im Ausland und der Anschaffung von Transportflugzeugen – nicht alle Mitglieder beteiligt sein müssen, bergen jedoch die Gefahr einer Schwächung des Zusammenhalts. Dass der Ausdruck »kollektiv« nicht zur Beschreibung des ohne Ausnahme alle Mitglieder verbindenden Handelns, sondern zur Kennzeichnung von solchen selektiven multinationalen Allianzen in der Allianz gebraucht wird, kann durchaus als Anzeichen nachlassender Kohäsion gewertet werden. Jenseits all dieser Indizien für ein zunehmendes Maß an Unstimmigkeit innerhalb des atlantischen Bündnisses bietet das untersuchte Dokument gleichwohl auch wichtige Anhaltspunkte für eine Erklärung des Fortbestands der NATO. Auf der Ebene des Handlungsproblems „Entwurf eines Selbstbildes“ etwa lässt die Bezeichnung der neuen Einsätze als Missionen und Expeditionen ein gewisses „Sendungsbewusstsein“ derer erkennen, die hier für die NATO sprechen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass diese Einsätze fern der Heimat und mitunter ohne Unterstützung der Gastgebernation durchgeführt werden müssen. Die Art der neuen Aufgaben und die Form ihrer Darstellung lassen jedoch nicht nur Rückschlüsse auf das Selbstbild der Staats- und Regierungschefs in ihrer Funktion als Repräsentanten des höchsten politischen Gremiums der atlantischen Allianz und auf die Eignung dieses Selbstbildes als die NATO einigende Klammer zu; auch die Gestaltung des
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7. Fall 3: Veränderung der internen Strukturen
Verhältnisses zu den Vereinten Nationen wird hier einmal mehr thematisch. Dies erfolgt zwar höchst implizit; die Äußerung, dass das Bündnis moderne Streitkräfte benötigt, die sich rasch überall dort hinbegeben können, wo sie aufgrund einer Entscheidung des Nordatlantikrats gebraucht werden, kann aber ohne Zweifel auch als eine Herausforderung des UN-Sicherheitsrats verstanden werden. *** Nach den zentralen Befunden eines avantgardistischen Selbstverständnisses als eine Art besserer und effektiverer Vereinte Nationen sowie deren latenter Paternalisierung in den Kapiteln 5 und 6 wurde im Rahmen des jüngst untersuchten Dokuments nun also erstmals auch eine Blaupause für den potentiellen Niedergang des Bündnisses – sein Verschwinden in der politischen und militärischen Irrelevanz – erkennbar. Der Fortbestand der NATO ist nicht sicher, sondern bedarf der beständigen Aushandlung einvernehmlicher und praktikabler Lösungen, die den Vorstellungen ihrer Mitglieder entsprechen. Dieses Teilergebnis vermag zwar nicht wirklich zu überraschen; dennoch fällt auf, wie klar es sich – vermittels der zahlreichen Akte der Distanzierung in Zusammenhang mit Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten auf der Ebene des Bündnisses – aus dem untersuchten Dokument herausschälen ließ. Aufgrund seiner herausragenden Bedeutung bietet es sich an, das Muster der (latenten) Distanzierung der Sprecher von der NATO nun auch heranzuziehen, um den nächsten Fall der Untersuchungsreihe nach der Regel der möglichst maximalen Kontrastierung auszuwählen. Da es sich bei der Verteidigungstransformation allen aufgedeckten Unstimmigkeiten zum Trotz um ein Projekt handelt, auf das sich die Gesamtheit der Mitglieder des atlantischen Bündnisses verständigen konnte, stellt sich die Frage, wie sich mögliche Spaltungstendenzen darstellen, wenn der Nordatlantikrat in einer bestimmten Angelegenheit keinen Konsens erzielt hat. Das prominenteste oder spektakulärste Beispiel dieser Kategorie der „Nichtereignisse“ in Bezug auf die NATO (vgl. Abschnitte 4.1.3.2 und 4.2) stellt in der jüngsten Zeit wohl die Vorbereitung des Krieges der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs gegen den Irak im Frühjahr 2003 dar. Sollte das „Scheitern“ des Rats in der Irakfrage protokolliert worden sein, d.h. Eingang in ein Kommuniqué gefunden haben, könnte in diesem Zusammenhang zugleich zu Tage gefördert werden, ob die oben diagnostizierte rasche Bereitschaft zur Distanzierung vom Bündnis auch für die Fachminister aus den Mitgliedstaaten charakteristisch ist. Angesichts der „Klassifizierung“ der Ratskommuniqués in Zusammensetzung der Ständigen Vertreter bildete die Bewegung von einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs hin zu einer Stellungnahme der Außen- oder Verteidigungsminister ihrerseits einen Kontrast. Ferner steht zu vermuten, dass auch der Fall Irak die Handlungsprobleme „Nachweis der Legitimität des Bündnisses“, „Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen“, „Entwurf eines Selbstbildes“ und „Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen“ berühren könnte. Diesbezüglich wäre es ebenfalls interessant zu sehen, ob es Unterschiede gibt, wenn sich die Mitglieder der NATO, wie im Falle der Verteidigungstransformation, grundsätzlich einig sind oder nicht. Zudem kann die Auswahl eines Dokuments zum jüngsten Irakkrieg damit gerechtfertigt werden, dass zu einem weiteren wichtigen Teilergebnis der Analyse der Rigaer Erklärung, nämlich der Erweiterung des Aufgabenspektrums der Allianz, ein Kontrast lediglich theoretisch formuliert, aber nicht – zu-
7.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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mindest nicht prima vista – in der „Empirie“ des Bündnisses aufgefunden werden kann: Eine dezidierte Beschränkung des bestehenden Aufgabenspektrums der NATO ist dem Autor der vorliegenden Arbeit jedenfalls nicht bekannt. Schließlich wäre es zwar möglich, dass die Rechtfertigung der Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 ein Muster enthält, das möglichst maximal kontrastiert mit der soeben diagnostizierten Unterordnung von nahezu allem dem Bündnis zuschreibbaren Handeln unter den Begriff Verteidigung; in Anbetracht der Erwartung, dass der „Fall Kosovo“ vor allem die Lesart eines Selbstverständnisses der für die NATO Handelnden als Angehörige einer effektiveren UN reproduzieren könnte, erweist sich eine Untersuchung des „Nichtereignisses“ Irak demgegenüber womöglich als der spannendere, d.h. (ergebnis-)offenere Fall. Vor diesem Hintergrund besteht die nächste Aufgabe nun darin, ein dem nordatlantischen Bündnis zuzurechnendes Dokument auszuwählen, in dem der Krieg der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs gegen den Irak im Frühjahr 2003 „zeitnah“ behandelt wird: Frei zugänglich sind eine Stellungnahme der Staats- und Regierungschefs auf dem Prager Gipfel (21. November 2002), ein „Decision Sheet“ des Verteidigungsplanungsausschusses über die Unterstützung der Türkei nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages (16. Februar 2003), zwei Stellungnahmen des damaligen Generalsekretärs Lord Robertson – eine in Reaktion auf den Beginn von Operationen einiger der Verbündeten im Irak (20. März 2003) und eine in Reaktion auf die Anschuldigung, türkische Truppen hätten die Grenze zum Irak überquert (22. März 2003) – sowie ein Kommuniqué des Nordatlantikrats auf der Ebene der Außenminister (3./4. Juni 2003). Während gegen die Stellungnahme der Staats- und Regierungschefs und das Kommuniqué der Außenminister der relativ große zeitliche Abstand von jeweils rund einem Vierteljahr zu den atlantischen Verwicklungen des Frühjahrs 2003 spricht, haftete den Verlautbarungen des NATO-Generalsekretärs – zumindest im Verhältnis zu denen des Rats – der Makel geringerer politischer Verbindlichkeit und Legitimität an. Unter der Bedingung, dass die Entscheidung des Verteidigungsplanungsausschusses hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit und Legitimität höher bewertet wird als eine Stellungnahme des Generalsekretärs, wäre es folglich ratsam, die Untersuchung des Falles Irak auf dieser Datengrundlage durchzuführen.
8 Fall 4: Irak
8.1 Sequenzanalyse »Press Release«1 Aus der ersten Sequenz geht hervor, dass es sich bei dem vorliegenden Text um die Mitteilung einer Person oder Institution handelt, mit der eine Öffentlichkeit auf dem Wege der Presse informiert werden soll. Dies legt nahe, dass dem Absender die Adressaten mehrheitlich nicht persönlich bekannt sein dürften und dass der Inhalt der Mitteilung prinzipiell alle Menschen angeht, die sich aus der Presse informieren. Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass der „Sprecher“, d.h. die für die Herausgabe des »Press Release« verantwortliche Instanz, eine Einrichtung von besonderer öffentlicher Relevanz ist. »{Number}«2 Unter der Bedingung, dass dieser Ausdruck die Presseerklärung spezifiziert, dürfte das Wortzeichen »Number« innerhalb der Klammer eine Art Platzhalter für die noch einzufügende laufende Nummer des vorliegenden Dokuments darstellen. Dies setzt voraus, dass die Pressemitteilung nicht die erste ihrer Art ist, sondern ihre Veröffentlichung einer gewissen Regelmäßigkeit folgt. Wenn solche Veröffentlichungen eine Routine bilden, dann könnte auch dies als Zeichen für die öffentliche Relevanz der beteiligten Institution gelten. Gleichzeitig hat der Herausgeber die laufende Nummer des zur Veröffentlichung freigegebenen Schriftstücks offenbar nicht präsent, sondern muss sich mit der Chiffre »{Number}« begnügen. Sofern diese Vorgehensweise nicht als Versehen oder vorsätzliche Täuschung gewertet wird, kann daraus zwar nicht unmittelbar auf das Vorliegen einer handfesten Krise, aber doch auf eine Situation erhöhten Handlungsdrucks geschlossen werden. »16 Feb. 2003« Dass dieses Datum den Tag anzeigt, an dem die Mitteilung verfasst oder an die Presse weitergeleitet worden ist, erscheint recht plausibel. »Decision Sheet«3 Im Anschluss an das Veröffentlichungsdatum wird hier ein neuer Sinnabschnitt eröffnet, der das vorliegende Dokument inhaltlich kennzeichnen dürfte. Paradox erscheint es, dass der Begriff »Decision Sheet« einerseits das Vorhandensein einer Art Vordruck suggeriert, Entscheidungen aber andererseits nicht standardisierbar sind, sondern in Unkenntnis ihrer Konsequenzen in die offene Zukunft hinein vollzogen werden. 1
»Presseerklärung«; die Übersetzung des vorliegenden Dokuments stammt vom Autor dieser Arbeit. »{Nummer}«. 3 »Entscheidungsblatt«. 2
8.1 Sequenzanalyse
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Dass die Sprecher mit Entscheidungsmacht ausgestattet sind, führt derweil zu der Frage, wer sie ihnen verliehen hat. Sind sie demokratisch legitimiert? Interessant ist auch, dass eine getroffene Entscheidung hier nicht schon per se öffentlich ist, sondern erst noch veröffentlicht werden muss, also wahrscheinlich von einem bestimmten Personenkreis hinter verschlossenen Türen getroffen worden ist. Die Veröffentlichung einer Entscheidung deutet somit auf eine Institution hin, bei der es sich nicht um ein Parlament handeln dürfte. »of the Defence Planning Committee«4 Die drei Großbuchstaben deuten zwar an, dass die Wortzeichen »Defence Planning Committee« als ein Eigenname zu verstehen sind, zu dessen Interpretation Wissen aus dem äußeren Kontext herangezogen werden darf, aufgrund der Allgemeinverständlichkeit der drei enthaltenen Wortbestandteile kann die Bedeutung eines Ausschusses zur Verteidigungsplanung aber zunächst auch immanent interpretiert werden. In Verbindung mit dem genannten Datum und dem Ausdruck »Defence« verweist der Begriff »Committee« auf eine zeitgenössische nationale oder internationale politische Organisation, deren Struktur mindestens zwei Ausschüsse vorsieht, da die Spezifizierung eines Ausschusses ohne das Vorliegen eines zweiten keinen Sinn hätte. Vor dem Hintergrund, dass der Ausdruck Verteidigung unmittelbar auf sein Gegenteil, d.h. auf einen Angriff, verweist, dürfte das Grundproblem eines »Defence Planning Committee« darin bestehen, Vorkehrungen in Form von schnellstmöglichen Reaktionen für den Fall überraschender oder angekündigter Angriffe zu treffen; Verteidigungsplanung bedeutet also Vorsorge für alle Eventualitäten. Da es naheliegt, dass im Ernstfall eines Angriffs auf die Vorbereitungen und Vorschläge des Ausschusses zurückgegriffen wird, kommt es wohl darauf an, möglichst viele Szenarien durchzuspielen. »NATO Support to Turkey«5 Weil sich an die Wortzeichen »Defence Planning Committee« keine Präposition anschließt, wird hier abermals ein neuer Sinnabschnitt eröffnet. Dabei könnte es sich um den Anfang des ersten Satzes des Haupttextes oder um eine weitere Spezifizierung der beiden vorangegangenen Sequenzen handeln, die offenbar als eine Art Überschrift des vorliegenden Dokuments fungieren. Der Gegenstand des »Decision Sheet« des Verteidigungsplanungsausschusses wäre demnach die NATO-Unterstützung für die Türkei. Unter der Bedingung, dass die Sprecher einigermaßen konsistent zwischen Verteidigung und Verteidigungsplanung unterscheiden, dürfte es jedoch nicht darum gehen, einen akuten Angriff auf die Türkei abzuwehren, sondern darum, Vorbereitungen für einen solchen Fall zu treffen. Darüber hinaus wirft der Ausdruck Unterstützung (»Support«) die Frage auf, ob und in welchem Umfang in diesem Zusammenhang über bloße Absichtserklärungen hinausgegangen wird. Dass die Türkei unterstützt wird, bedeutet schließlich, dass deren Repräsentanten bereits in irgendeiner Weise selbst tätig geworden sind. »within the Framework of Article 4 of the North Atlantic Treaty«6 4
»des Verteidigungsplanungsausschusses«. »NATO-Unterstützung für die Türkei«. 6 »innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages«. 5
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8. Fall 4: Irak
Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die NATO-Unterstützung der Türkei innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages erfolgt. Da der Vertrag in Kapitel 5 bereits vollständig analysiert wurde, ist es, um Redundanzen zu vermeiden, an dieser Stelle zulässig, auf das Ergebnis der Untersuchung von Artikel 4 Bezug zu nehmen, ohne dadurch die prinzipielle inhaltliche Unabhängigkeit der Sequenzanalysen zu gefährden. Artikel 4 des Nordatlantikvertrages besagt, dass die Unterzeichner im Falle einer Bedrohung des Territoriums oder der politischen Unabhängigkeit und der Sicherheit eines Partners gemeinsam beraten. Indem sie vereinbaren, sich gegenseitig zu konsultieren, legen sich die Vertragspartner also auf Multilateralität fest. Darüber hinaus sieht Artikel 4 vor, dass Konsultationen einberufen werden können, sowie eines der Mitglieder sich oder einen seiner Partner für bedroht hält. Der latenten Gefahr einer gegenseitigen Paternalisierung der Mitglieder steht dabei der Vorteil gegenüber, dass gemeinsame Beratungen auch dann möglich sind, wenn ein Partner nicht mehr selbst festzustellen vermag, dass er bedroht wird. Vor dem Hintergrund einer eventuellen Bedrohung der Türkei stellen sich nun nicht nur die Fragen, von wem diese Bedrohung ausgehen könnte und warum, sondern auch, ganz prinzipiell, was überhaupt eine Bedrohung ist und wie allgemeine von akuten Bedrohungen unterschieden werden (können). »At the Prague Summit,«7 Der Großbuchstabe zu Beginn der Präposition »At« markiert den Anfang eines neuen Satzes. Daraus geht hervor, dass die Sequenzen zuvor, die kein Verb enthalten haben, zwei Überschriften des vorliegenden Dokuments bilden. Die erste dieser Überschriften bezeichnet den Dokumenttyp (»Decision Sheet«), die zweite dessen konkreten Gegenstand – die NATO-Unterstützung der Türkei nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages. Somit ist es sehr plausibel, dass der Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels aus einem Schriftstück des Verteidigungsplanungsausschusses des nordatlantischen Bündnisses besteht. In einem nächsten Schritt soll nun aus Gründen der Vollständigkeit die immanente Deutung des Eigennamens »Defence Planning Committee« mithilfe von Informationen aus dem äußeren Kontext ergänzt werden. Exkurs: Defence Planning Committee (DPC)8 Der Verteidigungsplanungsausschuss (Defence Planning Committee, DPC) ist das wichtigste Entscheidungsgremium der NATO im Kontext ihrer integrierten Militärstruktur. Den Vorsitz des Ausschusses, der sowohl auf der Ebene der Ständigen Vertreter und Botschafter als auch – mindestens zweimal jährlich – auf der Ebene der Verteidigungsminister zusammentritt, hat der NATO-Generalsekretär. Inzwischen sind wieder alle Mitglieder des Bündnisses im DPC vertreten. Von 1966-2009 hatte sich Frankreich aus der integrierten Militärstruktur der NATO zurückgezogen und keinen Repräsentanten entsandt. Die Hauptaufgabe des Verteidigungsplanungsausschusses besteht in der Anweisung und Beratung der militärischen Führungsebene in Fragen der gemeinsamen Verteidigung sowie der Streit7
»Auf dem Prager Gipfel,«. Die folgende Darstellung orientiert sich an den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), Brüssel: NATO, S.36. 8
253
8.1 Sequenzanalyse
kräfteplanung des Bündnisses. Dabei stützt er sich auf diverse ihm nachgeordnete Stellen wie den „Ausschuss Verteidigungsüberprüfung“ (Defence Review Committee, DRC). *** Unter der Bedingung, dass die „Sprecher“, d.h. die Verfasser bzw. Herausgeber des vorliegenden Dokuments, den Verteidigungsplanungsausschuss der NATO konstituieren, dürfte die Sequenz »At the Prague Summit,« zudem dazu dienen, einen Bezug zu einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (»Summit«) herzustellen, das am 21. und 22. November 2002 in der tschechischen Hauptstadt stattgefunden hat. »the NATO Allies committed themselves to«9 An dieser Sequenz fällt auf, dass die NATO-Verbündeten, die sich auf dem Gipfel in Prag getroffen haben, in der dritten Person adressiert werden. Da es sich dabei um ein Treffen der Staats- und Regierungschefs handelte, im Verteidigungsplanungsausschuss aber entweder die Ständigen Vertreter oder die Verteidigungsminister des Bündnisses zusammenkommen, manifestiert sich in dieser Formulierung eher eine Differenzierung als eine Distanzierung – die Sprecher reden hier also nicht über sich selbst in der dritten Person. Darüber hinaus wird an dieser Stelle die Autonomie der NATO markiert. Denn dass sich die Verbündeten in Prag selbst zu etwas verpflichteten bedeutet auch, dass sie nicht von Dritten in die Verantwortung genommen worden sind. Schließlich stellt sich hier die Frage, ob jeder einzelne der Verbündeten eine Verpflichtung eingegangen ist oder alle zusammen. Angesichts des Großbuchstabens zu Beginn des Wortzeichens »Allies« spricht viel dafür, dass die Gruppe der Verbündeten bezeichnet wird. »take effective action«10 In Prag haben sich die NATO-Verbündeten also offenbar selbst dazu verpflichtet, wirksame Schritte zu unternehmen. Dies führt zu den Fragen, welchem Ziel diese Schritte dienen und auf welche Art und Weise die auf dem Gipfeltreffen in Prag vereinbarten Beschlüsse mit dem Handeln der im Verteidigungsplanungsausschuss versammelten Personen verknüpft werden. »to assist and support«11 Dass sich die Verbündeten auf dem Prager Gipfeltreffen zu Maßnahmen verpflichtet haben, die auf die Unterstützung von Handlungen Dritter ausgerichtet sind, wird hier mithilfe zweier unterschiedlicher Verben ausgedrückt. Während der Ausdruck »to assist« den Schwerpunkt darauf legt, jemandem beizustehen oder zu helfen, könnte »to support« auch im Sinne der Verteidigung einer Sache verstanden werden. Darüber hinaus wäre es wohl nicht unplausibel, wenn die Sprecher hier zwischen tatkräftiger und verbaler Unterstützung unterschieden. 9
»die NATO-Verbündeten verpflichteten sich selbst (zu)«. »(dazu) wirksame Schritte zu unternehmen«. 11 »um zu assistieren und zu unterstützen«. 10
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8. Fall 4: Irak
»the efforts of the United Nations to«12 Es sind also die Anstrengungen der Vereinten Nationen, zu deren wirksamer Unterstützung sich die NATO-Verbündeten in Prag selbst verpflichtet haben. Dies suggeriert nicht nur, dass es den Partnern auch möglich gewesen wäre, die UN nicht zu unterstützen, sondern auch, dass die Vereinten Nationen – die aufgrund ihres Namens als ein Zusammenschluss aller nationalstaatlich verfasster politischer Verbünde gelten können – über keine Handhabe verfügen, um die Mitglieder des atlantischen Bündnisses zu einer effektiven Unterstützung von UN-Maßnahmen zu verpflichten. Die Betonung der Autonomie des nordatlantischen Bündnisses richtet sich also gegen die Vereinten Nationen. Die UN wird nicht unterstützt, weil sie dies fordert oder erzwingt, sondern weil die NATO selbst es so für richtig hält und sich entsprechend verpflichtet hat. Jenseits aller dadurch hervorgerufenen Spekulationen über das Verhältnis der beiden Institutionen steht am Ende der Deutung dieser Sequenz aber vor allem die Frage, welche Anstrengungen der Vereinten Nationen hier gemeint sind. »ensure full and immediate compliance by Iraq,«13 Die von der NATO aufgrund eines Akts der Selbstverpflichtung wirksam unterstützten Anstrengungen der Vereinten Nationen sind also darauf gerichtet, sicherzustellen, dass der Irak vollständig und mit sofortiger Wirkung Vorschriften befolgt, die ihm, d.h. seiner Regierung, aufgetragen worden sind. Dies führt zu den Fragen, welche Regeln die irakische Führung konkret zu beachten und wer sie ihr vorgegeben hat. Unter der Bedingung, dass Staaten souverän sind, können solche Vorgaben wohl nur von den Vereinten Nationen selbst erlassen worden sein. Falls dies im vorliegenden Fall nicht so wäre, bedeutete dies, dass sich die UN zum Werkzeug Dritter hätte machen lassen. Für den – wahrscheinlicheren – Fall aber, dass die Vereinten Nationen der Absender der Vorschriften sind, auf die sich das eingeforderte irakische Wohlverhalten richtet, deutete dies auf einen handfesten Konflikt zwischen der Regierung in Bagdad und der Weltorganisation hin. Schließlich stellt sich hier die Frage, worin der Beitrag des atlantischen Bündnisses zur Sicherstellung der Regeleinhaltung seitens des Irak bestehen könnte. »without conditions or restrictions,«14 Das Ziel der Anstrengungen der Vereinten Nationen wird in dieser Sequenz weiter präzisiert. Der Irak soll die ihm auferlegten Vorschriften ohne Bedingungen oder Einschränkungen einhalten. Jenseits aller Überlegungen, auf welche Aspekte des politischen Lebens sich diese Vorgaben im Einzelnen beziehen könnten, stellt sich hier die Frage, ob die dem Verteidigungsplanungsausschuss der NATO angehörenden Verfasser des vorliegenden Dokuments die Handlungsziele der UN angemessen wiedergeben und inwieweit ihre Interpretation auch eigenen Interessen dient. »with UN Security Council Resolution 1441.«15 12
»die Anstrengungen der Vereinten Nationen (zu)«. »die vollständige und sofortige Befolgung (einer Vorschrift) durch den Irak sicherzustellen,«. 14 »ohne Bedingungen und Einschränkungen,«. 15 »(die volle und sofortige Befolgung) der UN-Sicherheitsratsresolution 1441.«. 13
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8.1 Sequenzanalyse
Das eingeforderte Wohlverhalten des Irak richtet sich also auf die Resolution 1441 des UNSicherheitsrats. Dabei handelt es sich um eine Indexikalität, die nicht immanent erschlossen werden kann, so dass es an dieser Stelle nicht nur gerechtfertigt, sondern auch erforderlich ist, Informationen aus dem äußeren Kontext heranzuziehen. Exkurs: United Nations Security Council Resolution 144116 Auf seiner 4.644sten Sitzung verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 8. November 2002 einstimmig die Resolution 1441. Unter Bezugnahme auf frühere Entschließungen, die bis in die Zeit des völkerrechtswidrigen Einmarschs irakischer Truppen in Kuwait im August 1990 zurückreichen, erinnert der Rat zunächst daran, dass seine Forderung nach einer vollständigen Offenlegung der irakischen Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und ballistischen Raketen mit einer Reichweite von über 150 Kilometern noch immer nicht erfüllt worden sei. Um dieser von ihm als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit bewerteten Situation entgegenzuwirken, verkündet der Rat sodann vierzehn Maßnahmen auf Basis von Kapitel VII der UN-Charta – Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen also. Die Entscheidung, dem Irak eine letzte Gelegenheit zur Erfüllung seiner Abrüstungsverpflichtungen zu gewähren, wird dabei flankiert von der Forderung an die Regierung in Bagdad, die Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission der Vereinten Nationen (UNMOVIC), die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und den Rat selbst binnen 30 Tagen vollständig über alle Aspekte ihrer Programme zur Entwicklung von chemischen, biologischen und nuklearen Waffen sowie von ballistischen Raketen und allen sonstigen Trägersystemen in Kenntnis zu setzen. Darüber hinaus habe der Irak den Vertretern von UNMOVIC und IAEA uneingeschränkt und mit sofortiger Wirkung Zugang zu sämtlichen Stätten und Kontakt zu allen Personen zu ermöglichen, die mit seinen Rüstungsbemühungen in Verbindung stehen. Im Anschluss an die Feststellung, dass die Resolution den Irak rechtlich binde, ersucht der Sicherheitsrat schließlich alle Mitglieder der Vereinten Nationen, UNMOVIC und IAEA voll zu unterstützen, und erinnert daran, dass der Irak ernsten Konsequenzen entgegensehen werde, sollte er seine Verpflichtungen weiterhin verletzen. *** Auf der Grundlage von Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats wird deutlich, dass der in das »Decision Sheet« des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO eingegangene Konflikt zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak die Nichterfüllung von Auflagen durch die Regierung in Bagdad zum Gegenstand hat, deren Zweck darin besteht, Transparenz und Kontrolle des irakischen Rüstungsprogramms zu gewährleisten. In diesem Kontext bleiben zwar die genaue Rolle des atlantischen Bündnisses und dessen Gründe für eine Unterstützung der Türkei unklar – da der Rat von den Mitgliedern der Vereinten Nationen verlangt, der Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission (UNMOVIC) und der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zur Seite zu stehen, dürfte es sich bei der angeblichen Selbstverpflichtung der NATO-Mitglieder zugunsten der UN aber vor allem 16 Die folgende Darstellung orientiert sich am Wortlaut von Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats, die unter http://www.un.org/documents/scres.htm (26. Oktober 2007) abrufbar ist.
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8. Fall 4: Irak
um den Versuch handeln, den eigenen Handlungsspielraum gegenüber den Vereinten Nationen größer darzustellen als er de jure ist. »This remains our policy.«17 Da das vorliegende Dokument, wie aus der dritten Sequenz hervorgeht, vom 16. Februar 2003 datiert, die Resolution 1441 aber schon am 8. November 2002 verabschiedet wurde und auch der Prager Gipfel bereits am 21./22. November 2002 stattgefunden hat, bringen die Sprecher hier zum Ausdruck, dass sich die Haltung des Bündnisses innerhalb des letzten Vierteljahres nicht geändert hat. Beachtung verdient dabei der Wechsel der Perspektive, der an dieser Stelle vollzogen wird. Während die in Prag vereinbarte Position zunächst den Verbündeten – in der dritten Person Plural – zugewiesen worden war, wählen die Sprecher jetzt die erste Person Plural (»our policy«). Ihre Botschaft lautet: Worauf sich die Staatsund Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen verständigt haben, das ist auch drei Monate später noch immer die unangefochtene Politik des Bündnisses – und wird auch von uns, vom Verteidigungsplanungsausschuss, mitgetragen. Dies erhöht die Plausibilität der Lesart, dass die vorausgegangene Adressierung der Staats- und Regierungschefs in der dritten Person primär dazu diente, die verschiedenen bündnisinternen Entscheidungsebenen zu markieren. Dessen ungeachtet bleibt allerdings nach wie vor die Frage, in welchem Zusammenhang die in der Überschrift des vorliegenden Dokuments thematisierte NATOUnterstützung für die Türkei mit den Anstrengungen der Vereinten Nationen steht, den Irak dazu zu bewegen, die ihm vom UN-Sicherheitsrat auferlegten (Abrüstungs-) Verpflichtungen zu erfüllen. Auch Resolution 1441 liefert dafür keinen Anhaltspunkt. »Following Turkey’s request for consultations within the framework of Article 4 of the North Atlantic Treaty,«18 Die Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages, auf die bereits in der Überschrift des Dokuments implizit hingewiesen wurde, gehen also auf eine Bitte der Türkei zurück. Da solche Beratungen, wie oben ausgeführt, für den Fall der – potentiellen – Bedrohung eines der Mitglieder vorgesehen sind, bedeutet dies, dass die Regierung in Ankara ihr Land – oder einen Verbündeten – in Gefahr wähnt. Gleichzeitig kündigen die Sprecher hier etwas an, das auf den Wunsch der Türkei zurückgeht und unmittelbar daraus folgt, mutmaßlich die Erfüllung dieses Wunsches. »as expressed in its letter of 10 February 2003,«19 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die türkische Bitte um Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages sechs Tage vor der Anfertigung oder Veröffentlichung des »Decision Sheet« in einem Brief formuliert worden ist. Während sich das sächliche Personalpronomen in dem Ausdruck »its letter« auf die Türkei bezieht und als Abkürzung für die türkische Regierung zu verstehen ist, stellt sich hier die Frage, an 17
»Dies bleibt unsere Politik.«. »Der Bitte der Türkei um Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages folgend,«. 19 »wie in ihrem Brief vom 10. Februar 2003 zum Ausdruck gebracht,«. 18
8.1 Sequenzanalyse
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wen der besagte Brief adressiert wurde. Aufgrund seiner exponierten Stellung kommt dafür wohl vor allem der NATO-Generalsekretär in Betracht. Dieser sitzt jedoch nicht nur dem Verteidigungsplanungsausschuss, sondern auch dem direkt auf den Nordatlantikvertrag zurückgehenden Nordatlantikrat vor. Somit ergibt sich die Anschlussfrage, an welche der beiden Vorsitzendenrollen des Generalsekretärs der Brief der türkischen Regierung gerichtet war. Da es sich hier um ein Dokument des Verteidigungsplanungsausschusses handelt, liegt es nahe, dass der Brief an den (Vorsitzenden des) DPC adressiert worden ist. Offen bleibt in diesem Zusammenhang schließlich auch, inwieweit die Befassung des Verteidigungsplanungsausschusses durch die Türkei überhaupt sachlich gerechtfertigt ist. Könnte es, sofern sich die Regierung in Ankara akut bedroht fühlt, für langwierige Planungsprozeduren nicht schon zu spät sein? Und wäre es in diesem Fall nicht angemessener, den Nordatlantikrat einzuschalten? Aufgrund der bis auf die Abwesenheit eines französischen Vertreters identischen Struktur der beiden Gremien – beiden sitzt der Generalsekretär vor und beide tagen auf der Ebene der Minister oder der Ständigen Vertreter – kann nicht ausgeschlossen werden, dass die türkische Regierung oder der Generalsekretär den Nordatlantikrat gezielt umgangen haben. Ebenso gut möglich wäre jedoch, dass das Anliegen der Türkei vom Nordatlantikrat an den Verteidigungsplanungsausschuss delegiert worden ist. »and pursuant to Article 4 of the Treaty«20 Wie die Verknüpfung »and« deutlich macht, geht die erwartete Ankündigung von Maßnahmen des Verteidigungsplanungsausschusses neben der Bitte der Türkei um Beratungen noch auf eine zweite Quelle der Legitimation zurück. Dabei handelt es sich um Artikel 4 des Vertrages. Da auch das türkische Konsultationsersuchen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages angesiedelt ist, erweckt der Text – unter der Bedingung, dass sich die Wortzeichen Vertrag und Nordatlantikvertrag auf den gleichen Gegenstand beziehen – an dieser Stelle den Eindruck, redundant zu sein. »which states that “the Parties will consult whenever, in the opinion of any of them, the territorial integrity, political independence or security of any of the Parties is threatened”,«21 Die vollständige Zitation von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages, der im Zuge der Deutung der siebten Sequenz des vorliegenden Dokuments bereits Erwähnung fand, bestärkt die Lesart, dass die Sprecher hier zwei Legitimationsquellen zu etablieren beabsichtigen, die unabhängig voneinander gelten. Zum einen ist dies die türkische Bitte, Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages durchzuführen, zum andern der Wortlaut des Artikels selbst. Als nicht redundant können diese beiden Quellen betrachtet werden, sofern das Konsultationsersuchen der Türkei auf eine Bedrohung des eigenen Landes bezogen ist und die eigenständige Nennung von Artikel 4 bedeutet, dass noch (mindestens) ein weiteres NATO-Mitglied der Auffassung ist, dass die Unversehrtheit des Territoriums, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit eines Verbündeten in Gefahr sei. In diesem Falle stellt sich jedoch die Frage, warum jenes Land nicht – wie die Türkei – 20
»und gemäß Artikel 4 des Vertrages«. »der erklärt, dass „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Territoriums, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind“,«. 21
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beim Namen genannt, sondern hinter Artikel 4 und dessen scheinbar automatischer Aktivierung versteckt wird. »Allies have begun consultations.«22 Die aufgrund der bisherigen Satzstruktur erwartete Ankündigung besteht also darin, dass die Konsultationen – auf der Basis der türkischen Bitte um Beratungen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 und aufgrund von Artikel 4 selbst – bereits begonnen wurden. Da der Großbuchstabe zu Beginn des Wortzeichens »Allies« das Fehlen eines bestimmten Artikel zu kompensieren vermag und die Bezeichneten mit einem Eigennamen versieht, kann davon ausgegangen werden, dass hier nicht bloß einige, sondern alle in der NATO zusammengeschlossenen Verbündeten gemeint sein dürften. Darüber hinaus fällt auf, dass Handelnde im Kontext des atlantischen Bündnisses abermals in der dritten Person Plural adressiert werden. Unter der Bedingung minimaler Konsistenz des Sprachgebrauchs ist daher bis auf weiteres davon auszugehen, dass sich die Sprecher hier abermals auf die Staats- und Regierungschefs der NATO – oder auf den Nordatlantikrat in ministerieller Zusammensetzung – beziehen. Unter der Bedingung, dass es nicht die Aufgabe des Verteidigungsplanungsausschusses sein kann, die Tätigkeiten des Rats zu protokollieren, wirft dies die Frage auf, in welchem Zusammenhang die Beratungen auf der höchsten Ebene des Bündnisses mit dem Wirkungsbereich des DPC stehen. »As part of these consultations,«23 In dieser Sequenz deutet sich an, dass die Verfasser des vorliegenden Dokuments nicht nur feststellen, dass die Verbündeten Konsultationen begonnen haben, sondern diese Konsultationen im Folgenden spezifizieren und möglicherweise mit den eigenen Befugnissen verknüpfen. »the Chairman of the Military Committee briefed«24 Aus diesem Abschnitt geht hervor, dass der Vorsitzende des Militärausschusses im Rahmen der Beratungen Informationen weitergegeben hat. Ungeachtet der Frage, wen der Ausschussvorsitzende worüber informiert hat – aufgrund der Transitivität des Verbs »to brief« dürfte dies im Laufe der folgenden Sequenzen geklärt werden –, ist es auch an dieser Stelle zulässig, die durch die beiden Großbuchstaben gekennzeichnete Indexikalität »Military Committee« mithilfe von Wissen aus dem äußeren Kontext zu füllen. Exkurs: Military Committee (MC)25 Der Militärausschuss bildet die höchste militärische Instanz der NATO. Er untersteht dem Nordatlantikrat, dem Verteidigungsplanungsausschuss und der Nuklearen Planungsgruppe 22
»haben (die) Verbündete(n) Beratungen aufgenommen.«. »Als Teil dieser Beratungen,«. 24 »hat der Vorsitzende des Militärausschusses informiert«. 25 Die folgende Darstellung orientiert sich an den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), S.37. 23
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8.1 Sequenzanalyse
und verbindet diese drei Gremien daher mit der integrierten Militärstruktur des Bündnisses. Zu den wichtigsten Aufgaben des Militärausschusses, dem alle Mitgliedstaaten angehören, zählen neben der Führung von Militäreinsätzen und der beständigen Umgestaltung der militärischen Strukturen der NATO auch die Beaufsichtigung der Entwicklung der Militärpolitik und -doktrin sowie die Anweisung der obersten Befehlshaber. Unterstützt wird der Militärausschuss durch den Internationalen Militärstab des atlantischen Bündnisses. *** »the North Atlantic Council on 10 February 2003,«26 Just an dem Tag, an dem die türkische Regierung in einem Brief um Beratungen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages gebeten hat, versorgte der Vorsitzende des Militärausschusses den Nordatlantikrat also mit bestimmten Informationen. Aber worüber? »assessing the potential threat against Turkey«27 Sofern sich das Wortzeichen »assessing« auf das Satzsubjekt »the Chairman of the Military Committee« bezieht, hat der Vorsitzende des Militärausschusses dem Nordatlantikrat am 10. Februar 2003 also seine Bewertung der potentiellen Bedrohung der Türkei mitgeteilt. Vor dem Hintergrund, dass der Brief, in dem die Regierung in Ankara um Konsultationen gemäß Artikel 4 bittet, vom selben Tag datiert (»its letter of 10 February 2003«), gewinnt die Lesart an Plausibilität, dass auch ein anderes NATO-Mitglied die Türkei für bedroht hält – und noch vor ihr nach Beratungen in dieser Angelegenheit verlangt hat. Denn selbst wenn der Brief der Türkei vom 10. Februar seinen Adressaten, zum Beispiel den NATOGeneralsekretär, an jenem Tag erreicht haben sollte, auf den er datiert worden ist – möglicherweise wurde der Brief vom Ständigen Vertreter Ankaras im NATO-Hauptquartier verfasst und dem Generalsekretär dort auch sogleich übergeben – würde dies bedeuten, dass nicht nur der unmittelbare Empfänger, sondern (auf dessen oder des Nordatlantikrats Geheiß) auch der Vorsitzende des Militärausschusses blitzschnell auf das Schreiben reagiert hätte. Eine schwächere Lesart dieser Sequenz lautet daher schlicht, dass der Brief der Türkei das atlantische Bündnis nicht überrascht haben kann. In diesem Fall bliebe aber offen, warum die Beratungen im Allgemeinen und das Handeln des Militärausschussvorsitzenden im Besonderen neben der konkreten Bitte aus Ankara noch mithilfe einer scheinbar automatischen Aktivierung von Artikel 4 legitimiert worden sind. »and informing about planning requirements for the reinforcement of Turkey’s defence,«28
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»den Nordatlantikrat am 10. Februar 2003,«. »die potentielle Bedrohung der Türkei bewertend«. 28 »und über Planungserfordernisse zur Verstärkung der Verteidigung der Türkei informierend,«. 27
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Darüber hinaus informierte der Vorsitzende des Militärausschusses den Nordatlantikrat am 10. Februar 2003 auch über Planungserfordernisse zur Verstärkung der Verteidigung der Türkei. Da es sich dabei um eine Kernkompetenz des Verteidigungsplanungsausschusses handeln dürfte, wäre es recht plausibel, wenn der DPC diese Aufgabe an den ihm unterstehenden Militärausschuss delegiert hätte. Sofern sich all dies – die innerorganisatorische Koordination sowie die Bewertung der Bedrohung der Türkei und die Erarbeitung von Maßnahmen zur Stärkung von deren Verteidigung – nicht an ein- und demselben Tag ereignet hat, spricht viel dafür, dass der Brief, in dem die Regierung in Ankara Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages ersucht, nicht der entscheidende Grund für die vielfältigen Bündnistätigkeiten im Kontext einer potentiellen Bedrohung der Türkei ist. »including relevant timelines.«29 Schließlich legen die Sprecher wert darauf, dass zu den Planungserfordernissen zur Verstärkung der Verteidigung der Türkei, über die der Vorsitzende des Militärausschusses den Nordatlantikrat informiert hat, auch relevante Zeitrahmen gehören. Dabei dürfte der Handlungsbedarf umso dringlicher sein, je gravierender die Bedrohung der Türkei eingeschätzt wird. »In this context, the DPC:«30 Im Lichte dieser Sequenz erscheint der bisherige Text als eine Art Ouvertüre. Aller Voraussicht nach werden die Sprecher nun darlegen, welche Rolle dem Verteidigungsplanungsausschuss im Rahmen der wirksamen Unterstützung der Vereinten Nationen und der bündnisinternen Konsultationen über eine potentielle Bedrohung der Türkei zugewiesen wurde – und somit rechtfertigen, warum das vorliegende Dokument die Bezeichnung »Decision Sheet« trägt. Angesichts des Doppelpunkts, der auf eine Aufzählung von mehreren Tätigkeiten des DPC, zum Beispiel Appelle, Beschlüsse oder Anweisungen, hindeutet, besteht überdies Grund zu der Vermutung, dass im Folgenden auch ersichtlich wird, in welchem Zusammenhang die NATO-Unterstützung der Anstrengungen der Vereinten Nationen zur Sicherstellung der Befolgung von UN-Sicherheitsratsresolution 1441 durch den Irak mit den Beratungen des Bündnisses über eine potentielle Bedrohung der Türkei stehen. Eine Begründungslast diesbezüglich haben sich die Sprecher bereits in der dreizehnten Sequenz aufgebürdet, ohne bislang auch nur den Hauch einer Erklärung geliefert zu haben. » • notes the Turkish request for consultations within the framework of Article 4 of the North Atlantic Treaty;«31 In Anbetracht des bereits zweimal erfolgten Verweises auf die Unterstützung für bzw. die Beratungen über die Türkei gemäß Artikel 4 des Nordatlantikvertrages bewegen sich die Sprecher hier an der Grenze zur Redundanz. Dass die Kenntnisnahme des Beratungsge29
»einschließlich relevanter Zeitrahmen.«. »In diesem Zusammenhang, der DPC:«. 31 » • nimmt zur Kenntnis die Bitte der Türkei um Konsultationen innerhalb des Rahmens von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages;«. 30
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suchs der Türkei am Anfang der Aktivitäten des Verteidigungsplanungsausschusses steht, erscheint zwar folgerichtig, könnte aber auch für selbstverständlich erachtet werden. Diese Vorgehensweise deutet daher auf ein Bemühen um formelle Korrektheit hin. Angesichts der zu Beginn des Dokuments aufgestellten, formal unrichtigen Behauptung, dass sich die Verbündeten in Prag selbst zur effektiven Unterstützung der Vereinten Nationen verpflichtet hätten, spricht dies dafür, dass die Bemühungen der NATO um die Beachtung etablierter Prozeduren und die Wahrung der Form primär innerhalb des Bündnisses handlungsleitend sind. » • notes that all Allies«32 Auch die zweite Aktivität des Verteidigungsplanungsausschusses im Kontext der effektiven Unterstützung der Vereinten Nationen und der Beratungen über eine potentielle Bedrohung der Türkei besteht darin, etwas zur Kenntnis zu nehmen. Im Lichte der bisherigen Deutung der Großschreibung des Wortzeichens »Allies« als Eigenname für die Gesamtheit der Verbündeten hat es hier zunächst den Anschein, als bezeichnete dieser Ausdruck nur dann alle Unterzeichnerstaaten des Nordatlantikvertrages, wenn ihm ein zusätzliches Attribut – wie der Begriff »all« – vorangestellt wird. Vor dem Hintergrund, dass Frankreich keinen Vertreter in den DPC entsendet, ist es jedoch möglich, die ursprüngliche Lesart aufrechtzuerhalten. Dazu bedarf es der Annahme, dass sich die Sprecher an dieser Stelle nicht nur auf die im Verteidigungsplanungsausschuss repräsentierten, sondern auf alle Verbündeten, also auch auf Frankreich, beziehen. »have reaffirmed«33 Der Verteidigungsplanungsausschuss nimmt zur Kenntnis, dass alle Verbündeten (kürzlich?) etwas erneut bekräftigt haben. Im Grunde genommen setzt eine erneute Bekräftigung eine erste Bekräftigung voraus, die wiederum zur Bedingung hat, dass eine Äußerung – eine Absicht oder ein Bekenntnis zum Beispiel – ein erstes Mal getätigt worden ist. Gleich was den propositionalen Gehalt jenes Sprechakts ausmachen wird, den der DPC zur Kenntnis genommen und allen Mitgliedern der NATO zugeschrieben hat, handelt es sich dabei also um nichts Neues, sondern um etwas, das zuvor bereits zweimal geäußert worden ist. »their determination to fulfil all of their obligations«34 Dass die Partner des Nordatlantikvertrages in der Wahrnehmung der Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses erneut ihre Entschlossenheit bekräftigt haben, all ihre Verpflichtungen zu erfüllen, verdeutlicht – ungeachtet der Frage, in welchem Zeitraum dies erfolgt ist – die Differenz zwischen der Erfüllung von Verpflichtungen auf der einen Seite und der Bekräftigung der Entschlossenheit zur Erfüllung von Verpflichtungen auf der anderen. In Unkenntnis des konkreten Inhalts der zur Debatte stehenden Verpflichtungen wäre es zwar unangemessen, allein aus der erneuten Bekräftigung der Entschlossenheit zu ihrer Erfüllung darauf zu schließen, dass die Verpflichtungen noch nicht erfüllt worden sind (es 32
» • nimmt zur Kenntnis, dass alle Verbündeten«. »haben erneut bekräftigt«. 34 »ihre Entschlossenheit, all ihre Verpflichtungen zu erfüllen«. 33
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könnte sich dabei ja um Aufgaben handeln, die erst unter bestimmten Bedingungen entstehen), doch deutet die erneute Bekräftigung der Entschlossenheit, alle Verpflichtungen zu erfüllen zumindest auf einen erhöhten Rechtfertigungsdruck der Verbündeten hin. Gibt es Zweifel an ihrer Entschlossenheit? Und falls ja: bei wem? In den eigenen Reihen, oder bei Dritten? Bei den potentiellen Angreifern gar? »deriving from the spirit and the letter of the North Atlantic Treaty towards Turkey;«35 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass hier Verpflichtungen der Verbündeten gegenüber der Türkei thematisch sind, die sich aus dem Geist und dem Buchstaben des Nordatlantikvertrages herleiten. In Anbetracht der aufgenommenen Beratungen aufgrund einer potentiellen Bedrohung der Türkei dürfte dies bedeuten, dass die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten zuletzt vor allem ihre Entschlossenheit bekräftigt haben, ihrer Beistandsverpflichtung im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen Partner nachzukommen; denn neben einer Art Rüstungsverpflichtung war diese im Rahmen der Analyse in Kapitel 5 als inhaltlicher Kern des Nordatlantikvertrages rekonstruiert worden. Während der Verweis auf den Geist des Vertrages als implizite Referenz an die politische Gemeinschaft zwischen den Unterzeichnerstaaten gelesen werden kann, die den Abschluss eines Kontraktes überhaupt erst möglich gemacht hat, wird in diesem Abschnitt abermals ein gewisser Hang der Sprecher erkennbar, Handlungen im Kontext des Vertrages als Automatismen darzustellen. Denn ähnlich wie im Fall der bloßen Erwähnung von Artikel 4, der weiter oben neben der türkischen Bitte um Konsultationen als ein zweiter Grund dafür angegeben worden ist, dass die Verbündeten Beratungen begonnen haben (eine Formulierung, die nur so gedeutet werden konnte, dass sich neben der Regierung in Ankara noch ein anderer Partner für Konsultationen im Zuge einer potentiellen Bedrohung der Türkei ausgesprochen haben muss), so suggerieren die Sprecher mithilfe der Verwendung des Gerundiums »deriving« auch an dieser Stelle, dass die Durchführung bestimmter Handlungen keiner Interpretation bedarf, sondern sich – wie von selbst – aus dem Vertrag, seinem Geist wie seinem Buchstaben, herleitet. Paradoxerweise steht dieser Versuch einer rhetorischen Stärkung des quasi-automatischen Zusammenhalts der NATO-Partner in einem Missverhältnis zu der von ihnen mindestens dreimal getätigten Behauptung, zur Erfüllung aller Verpflichtungen entschlossen zu sein. Denn wenn die Verbündeten es als notwendig erachtetet haben, ihre Entschlossenheit – mehrfach – zum Ausdruck zu bringen, so ist es durchaus plausibel, dies als Reaktion auf vorhandene Zweifel zu deuten. » • recalls the«36 Dass der Verteidigungsplanungsausschuss darüber hinaus an etwas erinnert, impliziert, dass aus seiner Sicht Wichtiges in Vergessenheit zu geraten droht oder bereits vergessen worden ist. Dies führt sogleich zu der Frage, wer hier woran erinnert werden soll. »provisions of Article 1 of the North Atlantic Treaty,«37 35
»sich herleitend aus dem Geist und dem Buchstaben des Nordatlantikvertrages gegenüber der Türkei;«. » • erinnert an den/die/das«. 37 »(die) Bestimmungen von Artikel 1 des Nordatlantikvertrages,«. 36
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Auf den ersten Blick kann sich eine Erinnerung an die Bestimmungen von Artikel 1 des Nordatlantikvertrages eigentlich nur an Dritte richten, da prinzipiell davon auszugehen ist, dass die Konstituenten des atlantischen Bündnisses bestens mit den Inhalten des Kontrakts, der die formelle Grundlage ihres Zusammenschlusses bildet, vertraut sind. Im Umkehrschluss deutete es allerdings auf eine handfeste Krise innerhalb der NATO hin, wenn sich die Mitglieder im Rahmen eines öffentlichen Dokuments gegenseitig an die Fundamente ihrer Partnerschaft erinnern müssten. Vor dem Hintergrund, dass Artikel 1 des Nordatlantikvertrages die Partner zur friedlichen Regelung aller Streitfälle verpflichtet, an denen sie beteiligt sind, gewinnt jedoch die Lesart an Plausibilität, dass die Mitglieder der NATO im Rahmen ihrer Beratungen über die potentielle Bedrohung der Türkei an einem Punkt angelangt sein könnten, an dem sie sich aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über die Art und Weise ihrer Reaktion der gemeinsamen Grundlage ihres Handelns erinnern müssen. Sollte dieser Abschnitt dagegen an Dritte, etwa die Quelle(n) der potentiellen Bedrohung der Türkei, gerichtet sein, so lautete die reichlich untypische Botschaft dieser Sequenz: „Keine Sorge, selbst wenn wir anders wollten, dürften wir doch nur mit friedlichen Mitteln zu Werke gehen.“ Für den Fall, dass die Erinnerung an Artikel 1 des Nordatlantikvertrages primär an die Vereinten Nationen gerichtet ist, wäre darin schließlich das Bemühen zu erkennen, die Anerkennung von deren Prinzipien zu demonstrieren. »and in particular«38 Einem Bestandteil von Artikel 1 des Vertrages messen die Sprecher offenbar besondere Bedeutung bei. »the undertaking of Allies«39 Dabei handelt es sich um die Verpflichtung der Verbündeten … »to refrain in their international relations from the threat or use of force in any manner inconsistent with the purposes of the United Nations;«40 … sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist. Auf diese Weise ordnet der Verteidigungsplanungsausschuss die Aktivitäten des nordatlantischen Bündnisses an dieser Stelle unmissverständlich den Zielen der Vereinten Nationen unter. Angesichts der bisherigen Analyse könnte dies als Mahnung an die Türkei oder ein anderes Mitglied verstanden werden, auf vorschnelle Aktionen im Zuge der zu beratenden (und vom Vorsitzenden des Militärausschusses bewerteten) potentiellen Bedrohung der Türkei zu verzichten. Im Anschluss an die zu Beginn des Dokuments ausgedrückte effektive Unterstützung der Vereinten Nationen ergibt sich zudem die – einigermaßen kuriose – Lesart,
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»und im Besonderen«. »die Verpflichtung der Verbündeten«. 40 »sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist;«. 39
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dass das Bündnis hier an sich selbst appelliert, im Rahmen seiner Unterstützung der UN nicht gegen deren Ziele zu verstoßen. » • notes the actions taken by Allies to support Turkey;«41 Weiterhin nimmt der Verteidigungsplanungsausschuss die Maßnahmen zur Kenntnis, die von Verbündeten ergriffen wurden, um die Türkei zu unterstützen. Da das Semikolon nach dem Wortzeichen »Turkey« bereits das Ende dieses vierten Unterpunkts im Kontext der Aktivität des DPC markiert, kann ausgeschlossen werden, dass die erwähnten »actions« noch in irgendeiner Form spezifiziert werden. Dies allein hätte Rückschlüsse auf die Schwere der potentiellen Bedrohung der Türkei und den Charakter der Reaktion des Bündnisses und seiner Mitglieder zugelassen. Aufgrund der öffentlichen Zugänglichkeit des vorliegenden Dokuments steht zu vermuten, dass weiterreichende Angaben just aus diesem Grund nicht gemacht werden. Aus dem Fehlen eines Artikels vor dem Wortzeichen »Allies« kann – trotz der Großschreibung – an dieser Stelle zudem darauf geschlossen werden, dass nicht alle Verbündeten Schritte zur Unterstützung der Türkei unternommen haben. Ob – nur? – Frankreich, das dem DPC nicht angehört, nicht willens oder nicht in der Lage ist, der Regierung in Ankara zur Seite zu stehen, bleibt derweil offen. » • agrees that, as a consequence of the Turkish request, the NATO Military Authorities should«42 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass der Verteidigungsplanungsausschuss darin übereinstimmt, dass die türkische Bitte nach Konsultationen gemäß Artikel 4 des Nordatlantikvertrages eine Konsequenz für die Militärbehörden der NATO haben sollte. Während die drei mit Großbuchstaben beginnenden Begriffe »NATO Military Authorities« einen Eigennamen konstituieren, der einigermaßen selbsterklärend sein dürfte, fällt hier vor allem die Formulierung »should« auf. Da der DPC die Befugnis hat, die militärische Führungsebene anzuweisen, erscheint diese Wortwahl recht zurückhaltend. Streng genommen ist es daher nicht nur möglich, dass der Verteidigungsplanungsausschuss die Militärbehörden ganz einfach noch nicht angewiesen hat, sondern auch, dass Letztere sich seiner Anordnung widersetzen. »provide military advice to the DPC«43 Der Verteidigungsplanungsausschuss stimmt also darin überein, der militärischen Beratung durch die NATO-Militärbehörden zu bedürfen. Interessanterweise adressieren die Sprecher das von ihnen repräsentierte Gremium in diesem Zusammenhang erstmals in der dritten Person (»the DPC«). Auf diese Weise distanzieren sie sich – zumindest der Tendenz nach – ein Stück weit von sich selbst. Vor diesem Hintergrund könnte der Gebrauch des die eigenen Befugnisse nicht ausschöpfenden Verbs »should« im Abschnitt zuvor durchaus als Manifestation der eigenen Unsicherheit oder latenten Überforderung gedeutet werden. »on the feasibility, implications and timelines of the following possible missions:«44 41
» • nimmt zur Kenntnis die von Verbündeten ergriffenen Maßnahmen, um die Türkei zu unterstützen;«. » • stimmt darin überein, dass, als eine Konsequenz der türkischen Bitte, die NATO-Militärbehörden sollten«. 43 »den DPC militärisch beraten«. 42
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8.1 Sequenzanalyse
In dieser Sequenz wird ersichtlich, wofür die Sprecher die für hilfreich erachtete Beratung durch die NATO-Militärbehörden gern in Anspruch nehmen würden: Deren Empfehlung sollte auf die Machbarkeit, Implikationen und Zeitrahmen möglicher Aufträge gerichtet sein. Ungeachtet seiner tendenziell religiösen Konnotation, die den nicht selten auf eine Sendung in ferne Länder verweisenden Begriff »missions« von den weiter gefassten Alternativen »tasks« (Aufgaben) oder »responsibilities« (Verantwortlichkeiten) unterscheidet, wird der an das vorliegende Dokument geknüpfte Anspruch, als »Decision Sheet« zu gelten, nun erstmals erfüllt. In Zusammenhang mit der wirksamen Unterstützung der Vereinten Nationen und den Beratungen über die potentielle Bedrohung der Türkei hat der Verteidigungsplanungsausschuss offenbar mindestens zwei mögliche Handlungsoptionen für die dem Bündnis zur Verfügung stehenden Streitkräfte entwickelt. Dass diese Möglichkeiten, die sich nicht per se gegenseitig ausschließen müssen, sogleich dargestellt werden, legt der Doppelpunkt hinter dem Wortzeichen »missions« nahe. »a. preventive deployment to Turkey of NATO AWACs and supporting logistics,«45 Der mithilfe des Signifikanten »a.« gekennzeichnete erste mögliche Auftrag besteht in der präventiven Verlegung von »NATO AWACs« samt unterstützender Logistik in die Türkei. Während es zur Auslegung des indexikalischen Kürzels AWACs nun neuerlich zulässig ist, den äußeren Kontext zu bemühen, kommt dem Adjektiv »preventive« an dieser Stelle entscheidende Bedeutung zu. Angesichts einer potentiellen Bedrohung der Türkei dürfte der vorbeugende Charakter der hier vorgeschlagenen Maßnahme darin bestehen, zu verhindern, dass aus der potentiellen eine akute Bedrohung oder gar ein Angriff wird. Was aber hat es mit den »NATO AWACs« konkret auf sich? Exkurs: AWACS46 Das Kürzel AWACS steht für Airborne Warning and Control Systems und bezeichnet ein luftgestütztes Frühwarn- und Leitsystem. Dieses setzt sich zusammen aus einer Flotte von zur Durchführung von Aufklärungs- und Überwachungsflügen einsetzbaren Flugzeugen sowie den dazugehörigen integrierten Radar- und Infrastruktureinrichtungen. Erstmals eingesetzt wurde das System 1977 von der US-Luftwaffe. *** »under SACEUR command,«47 In diesem Abschnitt bestimmt der Verteidigungsplanungsausschuss, wer das Kommando über die NATO-Aufklärungsflugzeuge ausüben würde, sofern aus der Möglichkeit von deren Verlegung in die Türkei Wirklichkeit werden sollte. Diese Kompetenz läge bei »SACEUR«, einer nicht immanent interpretierbaren Indexikalität, die mithilfe von Wissen aus 44
»über die Machbarkeit, Implikationen und Zeitrahmen der folgenden möglichen Aufträge:«. »a. präventive Verlegung von NATO-AWACs und unterstützender Logistik in die Türkei,«. 46 Die folgende Darstellung orientiert sich an den Angaben aus dem NATO Handbook (2006), S.96/97 und 279/80. 47 »unter SACEUR-Kommando,«. 45
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dem äußeren Kontext als Abkürzung des Wortzeichens »Supreme Allied Commander Europe«, dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa also, identifiziert werden kann. »for defensive purposes,«48 Die Behauptung, dass die Verlegung der AWACS-Flugzeuge in die Türkei zu defensiven Zwecken erfolgen würde, impliziert, dass der offensive Charakter der Aktionen, die von den NATO-Partnern als eine potentielle Bedrohung der Türkei bewertet werden, auch von Dritten zu erkennen sein muss. Möglich ist zudem, dass die DPC-Mitglieder hier zugestehen, dass die von ihnen avisierte Maßnahme durchaus auch als eine offensive Handlung aufgefasst werden könnte, sie diese aber nicht so interpretiert sehen wollen. »as required for surveillance, early warning and maintaining the integrity of Turkish airspace;«49 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass der Verteidigungsplanungsausschuss einen möglichen Einsatz der »NATO AWACs« aus drei Gründen für erforderlich hält: der Überwachung, der Frühwarnung und der Aufrechterhaltung der Integrität des türkischen Luftraums. Dies legt nahe, dass die Bedrohung der Türkei aus der Luft als am vordringlichsten eingeschätzt wird. »b. NATO support for possible deployment by Allies of theatre missile defences to Turkey«50 Zweitens erachtet es der DPC als eine Möglichkeit, dass die NATO Verbündete bei der Verlegung von Gefechtsfeldwaffen in die Türkei unterstützt. Dass auch diese Maßnahme defensiven Zwecken dient, suggeriert die Bezeichnung »theatre missile defences«. Es steht also zu vermuten, dass die Türkei von Raketen bedroht werden könnte. Vor dem Hintergrund, dass die weiter oben angeführte Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats auf eine Forderung der Vereinten Nationen an den Irak verweist, derzufolge die Regierung in Bagdad unter anderem ihre Programme zur Entwicklung von ballistischen Raketen mit einer Reichweite von über 150 Kilometern vollständig offen zu legen hat, wird an dieser Stelle deutlich, dass die wirksame Unterstützung von UN-Maßnahmen gegen den Irak und die Beratungen über eine Bedrohung der Türkei nicht zufällig Eingang in dasselbe Dokument des Verteidigungsplanungsausschuss gefunden haben. Von einer gezielten Explikation dieses Zusammenhangs kann hier gleichwohl keine Rede sein. »and their incorporation into the NATO Integrated Extended Air Defence System;«51 Da in der vorangegangen Sequenz Gefechtsfeldwaffen einzelner Verbündeter Erwähnung fanden, erscheint es in dieser Sequenz durchaus folgerichtig, wenn ein hochrangiges Gre48
»zu defensiven Zwecken,«. »wie erforderlich zur Überwachung, Frühwarnung und Aufrechterhaltung der Integrität des türkischen Luftraums;«. 50 »b. NATO-Unterstützung für (die) mögliche Verlegung von Gefechtsfeldwaffen durch Verbündete in die Türkei«. 51 »und ihre (deren) Eingliederung in das Integrierte Ausgedehnte NATO-Luftverteidigungssystem;«. 49
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mium der diese Verbündeten vereinenden Institution nun dafür Sorge trägt, dass diese Waffen miteinander verbunden und in ein integriertes System eingegliedert werden – sofern sie, daran sei noch einmal erinnert, überhaupt zum Einsatz kommen sollten. Auf diesem Wege dürfte auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bündnispartner gestärkt werden. »c. NATO support for possible deployment by Allies of«52 Bei der dritten Option der NATO handelt es sich ebenfalls um die Unterstützung einzelner Verbündeter bei der möglichen Verlegung von Rüstungsgütern oder Truppenteilen (»deployment«). »chemical and biological defence capabilities to Turkey;«53 Dass auch die Verlegung von Verteidigungsfähigkeiten gegen chemische und biologische Waffen in die Türkei erwogen wird, verdeutlicht das Ausmaß der wahrgenommenen Bedrohung und enthält eine weitere – implizite – Verbindung zur Resolution 1441 des UNSicherheitsrats, die dem Irak unter anderem auferlegt hat, binnen 30 Tagen über alle Aspekte seiner Programme zur Entwicklung von chemischen, biologischen und nuklearen Waffen zu informieren. » • agrees that, as a further consequence of the Turkish request:«54 Der sechste Unterpunkt im Rahmen der Darstellung der Tätigkeiten des Verteidigungsplanungsausschusses im Kontext der NATO-Unterstützung für die Vereinten Nationen und die Türkei reproduziert die Struktur seines Vorgängers. Erneut besteht Übereinstimmung über eine Konsequenz der türkischen Bitte. »a. SACEUR is authorised«55 Das Zeichen »a.« lässt darauf schließen, dass die Sprecher nun abermals verschiedene – sich nicht zwingend gegenseitig ausschließende? – Handlungsoptionen des atlantischen Bündnisses präsentieren. Die erste dieser Maßnahmen rückt ein weiteres Mal den Obersten Alliierten Befehlshaber Europa in den Blickpunkt. Vor dem Hintergrund, dass die hier eröffnete Aufzählung von Tätigkeiten nicht – wie dies noch zuvor der Fall war – mit dem Zusatz »the following possible missions« versehen ist und der Verteidigungsplanungsausschuss nun auch nicht mehr der Beratung durch die Militärbehörden des Bündnisses bedarf, fällt vor allem das Hilfsverb im Indikativ Präsens auf (»is«). Offenbar sind sich die Sprecher ihrer Sache nun wieder sicherer. Doch wozu sehen – oder: haben? – sie den SACEUR berechtigt? »to liaise directly with national military authorities«56 52
»c. NATO-Unterstützung für (die) mögliche Verlegung von … durch Verbündete«. »von chemischen und biologischen Verteidigungsfähigkeiten in die Türkei;«. 54 » • stimmt darin überein, dass, als eine weitere Konsequenz der türkischen Bitte:«. 55 »a. SACEUR ist ermächtigt«. 56 »zur Herstellung einer direkten Verbindung mit nationalen Militärbehörden«. 53
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8. Fall 4: Irak
Dass der Oberste Alliierte Befehlshaber Europa dazu berechtigt ist, eine direkte Verbindung zu nationalen Militärbehörden herzustellen, wirft die Fragen auf, ob es sich dabei um eine prinzipielle Befugnis oder um eine Sondergenehmigung durch den Verteidigungsplanungsausschuss handelt und ob dieses Recht von allgemeiner Geltung oder zweckgebunden ist. »with respect to these possible defensive missions;«57 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass sich die Befugnis des Obersten Befehlshabers zur Herstellung einer direkten Verbindung mit den nationalen Militärbehörden auf die zuvor präsentierten drei Handlungsoptionen des Bündnisses richtet. Die nochmalige Betonung des defensiven Charakters dieser möglichen Aufträge bietet derweil Anlass zu der Vermutung, dass diesbezüglich Zweifel bestehen könnten oder bereits – von Dritten? – artikuliert worden sind. »b. the NMAs«58 Eine zweite Übereinstimmung des Verteidigungsplanungsausschusses betrifft die NMAs. Unter der Bedingung, dass die Sprecher mithilfe dieses Kürzels auf eine eigene Formulierung zurückgreifen, könnte »NMAs« für »NATO Military Authorities« ebenso stehen wie für »national military authorities«. Während die Verwendung von Großbuchstaben die erste Möglichkeit unterstützt, spricht für die zweite Option, dass der Ausdruck »national military authorities« erst zwei Sequenzen zuvor gebraucht wurde und die Quelle der Bezugnahme somit „näher“ liegen würde. »should review contingency plans«59 Dass die nationalen bzw. die NATO-Militärbehörden Notfallpläne überprüfen sollten, wirft mindestens zwei Fragen auf. Die erste zielt darauf, welche Pläne hier gemeint sein könnten, die zweite hat – wie bereits einige Sequenzen zuvor – die Ausschöpfung des Machtpotentials durch den Verteidigungsplanungsausschuss zum Gegenstand. Wenn dieser nämlich dazu berechtigt wäre, die NMAs zur Überprüfung von Notfallplänen aufzufordern, so hätten die Sprecher dies problemlos mithilfe der Formulierung »has to« anstelle des Wortzeichens »should« zum Ausdruck bringen können. »related to the reinforcement of Turkey in the context of the current situation,«60 Zumindest die erste der beiden Fragen, die in der Vorsequenz aufgeworfen worden sind, findet an dieser Stelle eine Antwort: Die zur Überprüfung empfohlenen Notfallpläne stehen mit der Verstärkung der Türkei im Kontext der gegenwärtigen Situation in Zusammenhang. Da die gegenwärtige Situation als potentielle Bedrohung der Türkei gekennzeichnet wurde und auch das Wortzeichen »reinforcement« im Rahmen seiner bisher einzigen Verwendung 57
»was diese möglichen defensiven Aufträge anbelangt;«. »b. die NMAs«. 59 »sollten überprüfen Notfallpläne«. 60 »zusammenhängend mit der Verstärkung der Türkei im Kontext der gegenwärtigen Situation,«. 58
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weiter oben im Text auf die Verteidigung der Türkei gerichtet war, dürfte diese Formulierung auf Vorkehrungen für den Fall verweisen, dass aus der potentiellen Bedrohung eine akute wird. »update the plans as needed, and report to the Council.«61 Darüber hinaus sollten die NMAs die Notfallpläne wie benötigt, also wie sie es in der gegenwärtigen Situation für erforderlich halten, aktualisieren und dem Rat berichten. Die Empfehlung an die Militärbehörden, ihren Bericht nicht an den Verteidigungsplanungsausschuss, sondern an den Rat, also den Nordatlantikrat, das höchste Entscheidungsgremium des atlantischen Bündnisses, zu übermitteln, macht es möglich, nun auch einen Versuch zur Beantwortung der zweiten der beiden Fragen zu unternehmen, die sich oben ergeben haben – jene nach der Ausschöpfung des Machtpotentials des DPC. Denn als Manifestation der Zurückhaltung bei der unmissverständlichen Formulierung von Anordnungen deutet diese Empfehlung darauf hin, dass eigentlich der Nordatlantikrat Herr des Verfahrens ist. Diese Lesart führt zwar zu der Anschlussfrage, warum der Verteidigungsplanungsausschuss dann überhaupt tätig wurde, unterstreicht aber auch die schon zuvor diagnostizierte Präferenz der Sprecher zugunsten der Einhaltung der internen Verfahrensregeln des Bündnisses. »Our Heads of State and Government«62 Mithilfe des Possessivpronomens »Our« betonen die Sprecher in dieser Sequenz zwar die gemeinsame Basis ihres Handelns, markieren gleichzeitig aber auch die (Ober-) Grenze ihres Zusammenschlusses. Diese besteht darin, dass die Staats- und Regierungschefs eine – wenn nicht die – zentrale Referenzgröße des Bündnisses bleiben, der keine Instanz übergeordnet ist. »at Prague«63 Wie schon zu Beginn des Dokuments wird wohl auch an dieser Stelle auf das Gipfeltreffen der NATO Bezug genommen, welches rund ein Vierteljahr zuvor – im November 2002 – in der tschechischen Hauptstadt stattgefunden hat. Nicht zuletzt aufgrund der Wahl des Possessivpronomens in der Vorsequenz wäre es ziemlich überraschend, wenn sich die Sprecher im Folgenden von einem der in Prag gefassten Beschlüsse distanzieren würden. Stattdessen ist davon auszugehen, dass das vorliegende »Decision Sheet« in die Kontinuität der Entscheidungen des Gipfels gerückt wird. »pledged our full support«64 Zusammengenommen wirft die Äußerung, dass unsere Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen in der Tschechischen Republik unsere volle Unterstützung zusicherten infolge des zweifachen Gebrauchs des Possessivpronomens »our« und ungeachtet aller Überlegun61
»die Pläne wie benötigt aktualisieren, und dem Rat berichten«. »Unsere Staats- und Regierungschefs«. 63 »in Prag«. 64 »sicherten unsere volle Unterstützung zu«. 62
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8. Fall 4: Irak
gen, wem diese Unterstützung gelten könnte, vor allem die Frage nach dem Selbstverständnis der Sprecher auf. Während die erste Verwendung des Fürworts im Rahmen der Sequenz »Our Heads of State and Government« auf ihre Position als Fachminister oder Ständige Vertreter der Mitgliedstaaten im NATO-Hauptquartier bezogen zu sein schien, bereitet es nun Schwierigkeiten, dem gleichen Wortzeichen die gleiche Bedeutung zu unterstellen. Denn warum sollten die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Treffen die volle Unterstützung von Ministern oder Botschaftern zum Ausdruck bringen, wenn sie dies kraft ihrer größeren Legitimität im eigenen Namen wirkungsvoller tun könnten? Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass die Sprecher mithilfe des Fürworts »our« nicht unmittelbar auf sich selbst, sondern auf das Bündnis als Ganzes verweisen. Da auf diese Weise zudem Frankreich, das keinen Repräsentanten in den Verteidigungsplanungsausschuss entsendet, mit einbezogen wird, hätte die sprachliche Erzeugung eines gemeinsamen Zusammenhalts, einer politischen Vergemeinschaftung, an dieser Stelle eine besonders starke Ausprägung erreicht. »for the implementation of UNSCR 1441,«65 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die Unterstützung des Bündnisses als Ganzes der Umsetzung von UN-Sicherheitsratsresolution 1441 gilt. Im Anschluss an ihre Ausführungen über die Konsultationen im Kontext einer potentiellen Bedrohung der Türkei kehren die Sprecher somit zu ihrem Ausgangsthema zurück. Doch nachdem die Absicht der höchsten NATO-Repräsentanten zur Unterstützung der Anstrengungen der Vereinten Nationen in Zusammenhang mit Resolution 1441 bereits hinreichend klar dargelegt worden ist, stellt sich hier die Frage, warum die Sprecher es für notwendig erachten, sich zu wiederholen. Reagieren sie damit auf Zweifel Dritter an den Absichten der Handlungsverantwortlichen des nordatlantischen Bündnisses? Dient auch dieses Vorgehen – wie die Bestätigung der Geltung der Bestimmungen des Nordatlantikvertrages zuvor – in erster Linie der Selbstvergewisserung? Oder „verstecken“ die Sprecher hier gar jüngere Entwicklungen und Pläne hinter einem drei Monate alten Gipfelbeschluss der Staats- und Regierungschefs der NATO? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen verweist darauf, dass sich das Verhältnis der NATO zu den Vereinten Nationen und das Bündnis selbst in einer Krise befinden und dass zwischen diesen beiden Krisen ein Zusammenhang bestehen könnte. »and this decision to approve the planning of protection measures for Turkey«66 Stärker noch als das Komma unmittelbar vor dieser Sequenz macht ihr Inhalt deutlich, dass hier ein neuer Hauptsatz eingeleitet wird, der nicht mehr auf die Zusicherung der vollen Unterstützung der NATO bezogen ist. Denn für eine im Februar 2003 getroffene Entscheidung des Verteidigungsplanungsausschusses hätten die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses im November 2002 ihre volle Unterstützung noch gar nicht zum Ausdruck bringen können. Darüber hinaus enthält diese Sequenz aber vor allem eine interessante Selbsteinschätzung der Sprecher über den Status des vorliegenden Dokuments, das sie als eine Entscheidung verstehen, um die Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei zu billigen. Einmal mehr verdeutlichen sie damit ihre Präferenz zur genauen Einhaltung der 65 66
»für die Umsetzung von UNSRR 1441,«. »und diese Entscheidung, die Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei zu billigen«.
8.1 Sequenzanalyse
271
internen Verfahrensregeln, die der vollen Ausschöpfung des Legitimitätspotentials des Bündnisses dienen könnte. »is fully consistent with the deliberations and efforts in the United Nations.«67 Nach der Erinnerung an Artikel 1 des Nordatlantikvertrages, die nicht nur als Unterordnung der Aktivitäten unter die Ziele der Vereinten Nationen, sondern auch als – paradoxer? – Appell des Bündnisses an sich selbst, im Rahmen seiner Unterstützung der UN nicht gegen deren Ziele zu verstoßen, gedeutet werden konnte, unternehmen die Sprecher nun einen weiteren Versuch, um die vollständige Konsistenz ihres Tuns mit dem der Vereinten Nationen unter Beweis zu stellen. Was aber sollte an einer Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei nicht vollständig mit den Verhandlungen und Anstrengungen in den Vereinten Nationen konsistent sein? Ebenso wie im Rahmen ihrer nicht notwendigen Wiederholung der NATO-Unterstützung für Resolution 1441 unmittelbar zuvor laufen die Sprecher hier erneut Gefahr, mehr Zweifel an ihren Absichten zu säen denn für Klarheit zu sorgen. Bemerkenswert ist zudem, dass die beiden zentralen Themen des »Decision Sheet« nun zwar erstmals in einem Satz angesprochen werden, die Sprecher einen möglichen Zusammenhang zwischen den Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Kontrolle des irakischen Rüstungsprogramms und der potentiellen Bedrohung des NATO-Mitglieds Türkei aber noch immer nicht zu explizieren vermögen. »We continue«68 Mithilfe des erstmals verwendeten Personalpronomens »We« setzen die Sprecher auch an dieser Stelle den schon seit einigen Abschnitten anhaltenden Trend der sprachlichen Bekräftigung des sie einenden Bundes fort. Die NATO-Partner konstituieren also – nach wie vor – ein Wir. Dieses Vorgehen ist wohl durchaus als – unbewusste? – Reaktion auf die im Zuge der Selbstvergewisserung der Geltung der Artikel des Nordatlantikvertrages weiter oben diagnostizierten Anzeichen einer internen Krise zu verstehen. Zwar bleibt einstweilen offen, ob das Personalpronomen »We« hier für die Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses oder, wie zuvor im Falle des Possessivpronomens »our«, für das Bündnis als Ganzes steht, doch dient dessen ungeachtet auch die Auswahl des Verbs fortfahren dazu, die Kontinuität des Handelns der Sprecher bzw. des von ihnen repräsentierten Verbunds zu betonen und den Sinn für Gemeinsamkeiten zu stärken. »to support efforts in the United Nations«69 Auf der Grundlage des Verbs »continue« wird die NATO-Unterstützung für Anstrengungen in den Vereinten Nationen in dieser Sequenz also in die Zukunft verlängert. Dies setzt voraus, dass die Vertreter des atlantischen Bündnisses solche Anstrengungen bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des vorliegenden Dokuments unterstützt haben. Vor dem Hintergrund, dass die Sprecher zu Beginn behauptet haben, die Anstrengungen der Vereinten Nationen – als Ganze – wirksam zu unterstützen, bedeutet dies, dass sie die unmittelbar 67
»ist vollständig konsistent mit den Beratungen und Anstrengungen in den Vereinten Nationen.«. »Wir fahren fort«. 69 »Anstrengungen in den Vereinten Nationen zu unterstützen«. 68
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8. Fall 4: Irak
zuvor geäußerte vollständige Konsistenz ihrer Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei mit den Verhandlungen und Anstrengungen in den Vereinten Nationen schon als Akt der Unterstützung dieser Anstrengungen ansehen. Dies deutet darauf hin, dass die im DPC zusammengeschlossenen Partner nur ein eher minimalistisches Verständnis des Begriffs Unterstützung besitzen – zumindest wenn dieser auf die UN bezogen ist. Da überdies davon auszugehen ist, dass weder der Verteidigungsplanungsausschuss des atlantischen Bündnisses noch die NATO als Ganze über eine Repräsentanz bei den Vereinten Nationen verfügen, wird die eine Stärkung des Zusammenhalts der Partner unterstellende Lesart des Gebrauchs des Personalpronomens »We« in der Vorsequenz hier umgehend wieder abgeschwächt. In den Vereinten Nationen können die Mitgliedstaaten der NATO lediglich je individuell eine im Vorfeld abgestimmte gemeinsame Position vertreten, aber nicht als Bündnis tätig werden. »to find a peaceful solution to the crisis.«70 Hier wird ersichtlich, welche Anstrengungen die NATO-Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen zu unterstützen beabsichtigen – jene nämlich, die darauf abzielen, eine friedliche Lösung der Krise zu finden. Da das Dokument bislang keinerlei Anzeichen für eine Behandlung der potentiellen Bedrohung der Türkei im Rahmen der UN-Organisation enthält, ist davon auszugehen, dass der Begriff Krise an dieser Stelle auf die Schwierigkeiten im Zuge der Durchsetzung einer internationalen Kontrolle des irakischen Rüstungsprogramms verweist, welche in der Resolution 1441 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen deutlich werden. »This decision relates only to the defence of Turkey,«71 Würden die Wortzeichen »This decision« auf den unmittelbar vorausgehenden Satz bezogen, stünde diese Sequenz in einem starken Widerspruch zu den bislang geäußerten Bekundungen einer Unterstützung der auf den Irak gerichteten Anstrengungen der Vereinten Nationen durch das atlantische Bündnis. Plausibler ist es dagegen, dass hier abermals auf die Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei Bezug genommen wird. Die Behauptung, dass sich diese Entscheidung nur auf die Verteidigung der Türkei bezieht, erweckt allerdings den Eindruck, redundant zu sein. Denn ist es nicht selbstverständlich, dass der Beschluss zugunsten der Verstärkung des Schutzes eines konkreten Staates nur dessen Verteidigung betrifft? Was bedeutet es, dass die Sprecher dies nicht für selbstverständlich erachten? Offenkundig sind sie davon überzeugt, Spekulationen – im Innern wie im Äußeren – entgegentreten zu müssen, denen zufolge diese Entscheidung mehr als nur die Verteidigung der Türkei zum Gegenstand haben könnte. »and is without prejudice to any other military operations by NATO,«72
70
»um eine friedliche Lösung der Krise zu finden.«. »Diese Entscheidung bezieht sich nur auf die Verteidigung der Türkei,«. 72 »und berührt keine anderen Militäroperationen der NATO,«. 71
8.1 Sequenzanalyse
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Da die Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses es zudem für notwendig erachten zu behaupten, dass die Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei keine anderen Militäroperationen der NATO berührt, ist es nicht unplausibel davon auszugehen, dass es – im Innern des Bündnisses oder außerhalb – Zweifel an einer Nichtbeeinträchtigung anderer Einsätze gibt. Auf diese Weise könnten die Sprecher also zum Ausdruck bringen, dass im Rahmen der Unterstützung der Türkei kein Personal oder Material zum Einsatz kommt, das von anderen Militäroperationen der NATO abgezogen werden müsste – ganz gleich, ob es sich dabei um gegenwärtige oder zukünftige Operationen handelt. »and future decisions by NATO«73 An der Äußerung, dass die vorliegende Entscheidung auch zukünftige Entscheidungen der NATO nicht berührt, irritiert zunächst, dass die Sprecher die kommenden Beschlüsse des Bündnisses noch gar nicht kennen können. Sollte diese Behauptung im Umkehrschluss daher als eine Art Selbstverpflichtung zu verstehen sein, liefen die Mitglieder des DPC hier jedoch Gefahr, sich – zumindest der Tendenz nach – selbst zu dementieren und ihre Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei zu relativieren. Denn wenn diese Entscheidung zukünftige Entscheidungen der NATO nicht berührt, so bedeutet dies, dass die kommenden Beschlüsse des Bündnisses im Zweifel auch zu Lasten der Maßnahmen zum Schutz der Türkei formuliert werden können. Für den Fall, dass die Regierung in Ankara derlei Entscheidungen mittragen würde, signalisierte dies, dass sie die gegenwärtige Bedrohung für weniger gravierend hält, als in ihrem Brief vom 10. Februar 2003 dargelegt; für den Fall aber, dass die Türkei einem späteren Beschluss zulasten der Stärkung ihrer Verteidigung die Zustimmung verweigern würde, wäre eine Selbstblockade des Bündnisses vorprogrammiert. Eine weitere Lesart dieser Sequenz besteht schließlich darin, dass die Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses hier zum Ausdruck bringen, dass sie sich im Falle einer ähnlich gelagerten Konstellation nicht zwangsläufig an ihrer Entscheidung zum Schutz der Türkei orientieren werden, sondern sich vorbehalten, anders zu reagieren. »or the UN Security Council.«74 In dieser Sequenz wird die Ansicht der Sprecher deutlich, dass ihr Türkei-Beschluss auch die zukünftigen Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats nicht berührt. Dabei erstaunt vor allem die Gleichrangigkeit, mit der (künftige) Beschlüsse des Bündnisses und jene des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen behandelt werden. Über eine Maxime, derzufolge Entschlüsse von NATO-Gremien Entscheidungen der UN gleichsam aus Prinzip gar nicht berühren können oder dürfen, scheinen die Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses somit nicht zu verfügen. Stattdessen scheinen sie fallweise zu überprüfen, ob ihre Beschlüsse zukünftige Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats berühren oder nicht, nehmen also durchaus in Kauf, dass dies passieren kann. Dass ihr Streben nach einer Maximierung der Autonomie der Gremien des atlantischen Bündnisses zulasten des Handlungsspielraums der Vereinten Nationen geht, zeigt sich auch daran, dass sich die Sprecher hier anmaßen, 73 74
»und (keine) zukünftigen Entscheidungen der NATO«. »oder des UN-Sicherheitsrats.«.
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8. Fall 4: Irak
für den UN-Sicherheitsrat das Wort zu ergreifen. Sofern sie nicht den Standpunkt vertreten, dass Entscheidungen der NATO die Kompetenzen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen prinzipiell nicht berühren dürfen, ist es auch nicht die Aufgabe der Mitglieder des Verteidigungsplanungsausschusses zu beurteilen, ob und wie sich ihr Handeln auf den Verantwortungsbereich der UN auswirkt. Just indem sie aber genau dies tun, offenbaren sie an dieser Stelle eine Tendenz zur Selbstermächtigung. »The DPC will decide on the implementation of the defensive measures«75 Unter der Bedingung, dass sich die Wortzeichen »defensive measures« auf die weiter oben skizzierten Handlungsoptionen des Bündnisses zur Stärkung der Verteidigung der Türkei beziehen, wird hier nochmals deutlich, was es mit der Bezeichnung des vorliegenden Dokuments als »Decision Sheet« auf sich hat. Der Zweck eines solchen Entscheidungsblattes besteht offenbar darin, mehrere – sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließende – Handlungsalternativen zusammenzutragen, um jenen, die letztlich über die Auswahl der Optionen befinden, eine konstruktive Diskussion darüber zu ermöglichen. Es ist just die Entscheidung über eine solche Auswahl, die der Verteidigungsplanungsausschuss hier in Form einer Umsetzung der Verteidigungsmaßnahmen ankündigt. »as a matter of urgency;«76 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die angekündigte Entscheidung auf Basis des vorliegenden »Decision Sheet« nicht im Rahmen eines routinemäßigen Arbeitsmodus getroffen werden wird, sondern als eine Angelegenheit von Dringlichkeit. Auf diesem Wege verstärken die Sprecher den Eindruck, dass sie die potentielle Bedrohung ernst nehmen und die Zeit (sie) drängt. »will continue to consult«77 Im Anschluss an das Semikolon am Ende der vorausgegangenen Sequenz dürften sich die Verben in diesem Abschnitt ebenfalls auf das Satzsubjekt »The DPC« beziehen. Auch nach seiner Entscheidung über die Umsetzung der Verteidigungsmaßnahmen wird der Verteidigungsplanungsausschuss seine Beratungen also fortsetzen. »in the context of the Turkish request under Article 4;«78 Indem die Sprecher abermals betonen, dass ihre Beratungen im Kontext der türkischen Bitte unter Artikel 4 stattfinden, stellen sie ein weiteres Mal unter Beweis, dass sie strengstens auf die Einhaltung der internen Verfahrensregeln ihres Zusammenschlusses achten. Während ihre Konsultationen also strikt auf die Bestimmungen des Nordatlantikvertrages zurückgeführt werden können, ist es just diese Genauigkeit, welche die Bündnispartner mit
75
»Der DPC wird über die Umsetzung der Verteidigungsmaßnahmen entscheiden«. »als eine Angelegenheit von Dringlichkeit;«. 77 »wird fortfahren, sich zu beraten«. 78 »im Kontext der türkischen Bitte unter Artikel 4;«. 76
8.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
275
Blick auf ihre Beziehungen zu den Vereinten Nationen an der ein- oder anderen Stelle dieses Dokuments haben vermissen lassen. »and will continue to follow closely discussion in the UN Security Council«79 Darüber hinaus wird der DPC also fortfahren, die Diskussion im UN-Sicherheitsrat genau zu verfolgen. Indem sie hier also implizit behaupten, ihr Tun bereits zuvor an der Diskussion im UN-Sicherheitsrat orientiert zu haben, bemühen sich die Sprecher, ihr Verhältnis zu den Vereinten Nationen als gut und harmonisch darzustellen. Das eigene Handeln an einer Diskussion auszurichten ist jedoch etwas anderes als die Einhaltung von Entscheidungen, die dieser Diskussion folgen. Streng genommen könnte diese Aussage sogar bedeuten, dass sich die NATO-Partner nur an bestimmten Aspekten einer Diskussion zu orientieren gedenken – an jenen nämlich, die von den Vertretern der Mitgliedstaaten des Bündnisses in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingebracht wurden, die dort einen Sitz haben. Nicht auszuschließen ist derweil auch die (noch weniger wohlwollende) Lesart, dass die DPC-Mitglieder hier ankündigen, das Handeln des UN-Gremiums auch weiterhin sehr genau beäugen (und gegebenenfalls eigene Maßnahmen durchführen?) zu wollen. »and the implementation of UNSCR 1441.«80 Bezeichnend für die das vorliegende Dokument kennzeichnende Ambivalenz im Verhältnis zwischen der NATO und der UN ist schließlich auch die Äußerung, dass der Verteidigungsplanungsausschuss fortfährt, die Umsetzung von Resolution 1441 des UNSicherheitsrats genau zu verfolgen. Abgesehen davon, dass die Sprecher damit ihr Versprechen relativieren, die Implementation von »UNSCR 1441« wirksam zu unterstützen, wäre es – auch unter der Bedingung, dass sie Vorbehalte gegenüber der prinzipiellen Geltung von Resolutionen des Rats hegen würden – unmissverständlicher gewesen, wenn die Mitglieder des Bündnisses erklärt hätten, dass sie der vollumfänglichen Umsetzung der Resolution verpflichtet sind.
8.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles Zu den zentralen Ergebnissen der Sequenzanalyse des Entscheidungsblattes des NATOVerteidigungsplanungsausschusses zur Unterstützung der Türkei gehören Anzeichen für eine handfeste Krise im Innern, das Bemühen um eine strikte Einhaltung der bündnisinternen Prozeduren und vor allem ein höchst ambivalentes Verhältnis zu den Vereinten Nationen, das von einer Unterordnung unter deren Ziele bis hin zur Infragestellung des prinzipiellen Vorrangs von UN-Entscheidungen reicht. Vor der Auswahl des fünften und letzten Falles im zweiten Teil dieses Abschnitts sollen die Themenkomplexe, die das untersuchte Dokument streift, nun anhand von drei Handlungsproblemen samt – soweit möglich – der dazugehörigen, einer Bearbeitung dieser Probleme dienenden Handlungsregeln veranschaulicht werden. Bei den zum Teil äußerst eng miteinander verflochtenen und einander über79 80
»und wird fortfahren, die Diskussion im UN-Sicherheitsrat genau zu verfolgen«. »und die Umsetzung von UNSRR 1441.«.
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8. Fall 4: Irak
lappenden Handlungsproblemen handelt es sich um die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung im Kontext der potentiellen Bedrohung eines Mitglieds, die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen des Bündnisses und um die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung im Kontext der potentiellen Bedrohung eines Mitglieds – im konkreten Fall: der Türkei – bildet das konstitutive Handlungsproblem des analysierten Dokuments. Die Verbündeten reagieren darauf – außerhalb ihrer Routine – mit einer Maßnahme, die sie selbst als Entscheidung zur Billigung der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Türkei bezeichnen; die ihrer Reaktion implizit zugrundeliegende Handlungsregel lässt sich auch als Aktivierung der Verteidigungsplanung und des Beistandsversprechens fassen. Zwar wird die avisierte Unterstützung der Türkei gleichsam in die Auseinandersetzung zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak über die internationale Kontrolle der Rüstungsprogramme des Regimes in Bagdad eingebettet, interessanterweise explizieren die Verfasser des Entscheidungsblattes jedoch nicht, in welchem Zusammenhang diese beiden Geschehnisse zueinander stehen. Vor dem Hintergrund der dem Irak aus Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats erwachsenden Verpflichtung, seine Programme zur Entwicklung von so genannten Massenvernichtungswaffen sowie von ballistischen Raketen offenzulegen, konnten allein die dem Schutz der Türkei vor Raketenangriffen sowie vor biologischen und chemischen Waffen dienenden Vorkehrungen des Bündnisses so interpretiert werden, dass die Bedrohung der Türkei vom Irak ausgehen könnte. Unter der Bedingung der Kenntnis des äußeren Kontextes mag dieser Zusammenhang als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, expliziert wurde er gleichwohl nicht. Dies ist insofern überraschend, als dass andere – immanent als solche interpretierte – Selbstverständlichkeiten wie die Geltung der Bestimmungen des Nordatlantikvertrages in das Dokument aufgenommen worden sind. Mehr noch: Mit der wiederholten Betonung des defensiven Charakters der geplanten Maßnahmen und deren expliziter Beschränkung auf die Türkei, aber auch mit der Behauptung, andere Einsätze oder zukünftige Beschlüsse des Bündnisses würden durch die gebilligte Entscheidung nicht berührt, säen die Verbündeten geradezu Zweifel an ihren Absichten und laden zu Spekulationen – in vielerlei Richtung wohlgemerkt – ein. Während das Handlungsproblem einer Bedrohung des Mitgliedstaats Türkei einen äußeren Krisenherd zur Voraussetzung hat, korrespondiert mit diesem auch eine handfeste Krise in Zusammenhang mit der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen des Bündnisses. Die Anzeichen dafür sind geradezu frappant; an erster Stelle stehen die explizite Selbstvergewisserung über die Geltung von Artikel 1 des Nordatlantikvertrages und die Bekräftigung der Entschlossenheit, alle Verpflichtungen in Bezug auf den Beistand für die Türkei zu erfüllen. Dass sich die Verbündeten öffentlich an die Fundamente ihrer Partnerschaft erinnern müssen, lässt darauf schließen, dass selbst eine Fortsetzung der Zusammenarbeit in Frage gestellt worden ist. Die möglichen Gründe hierfür weisen in zwei Richtungen. Der kuriose Appell der NATO-Partner an sich selbst, im Rahmen ihrer Unterstützung der Vereinten Nationen nicht gegen deren Ziele zu verstoßen und die Betonung des Primats der friedlichen Streitbeilegung deuten darauf hin, dass es Tendenzen innerhalb des Bündnisses gibt, sich der Quelle der potentiellen Bedrohung der Türkei auf nichtfriedliche Weise anzunehmen, noch bevor ein akuter Angriff erfolgt ist. Andererseits spricht der Hinweis, dass nicht alle Verbündeten die Regierung in Ankara unterstützen,
8.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
277
dafür, dass mindestens eines der NATO-Mitglieder Zweifel an einer Bedrohung der Türkei hegen könnte. Darüber hinaus könnte die in diesem Zusammenhang rekonstruierte Handlungsregel zugunsten einer strikten Einhaltung der eigenen Bestimmungen auch als Strategie zur Lösung der soeben skizzierten Krise innerhalb der NATO verstanden werden – mutmaßlich auf dem Weg einer Steigerung der eigenen Legitimation. Am deutlichsten wird dieses Muster anhand der Begründung der Konsultationen, die mehrfach auf die Bestimmungen von Artikel 4 des Nordatlantikvertrages zurückgeführt werden. Darüber hinaus konnte auch die diagnostizierte Zurückhaltung des Verteidigungsplanungsausschusses hinsichtlich der Ausschöpfung seines Machtpotentials als Ausdruck der Präferenz zur Einhaltung der internen Verfahrensregeln gedeutet werden. Denn da der DPC den ihm nachgeordneten Militärbehörden empfiehlt, nicht ihm selbst, sondern dem Nordatlantikrat über die eventuelle Aktualisierung von Notfallplänen zu berichten, scheint der Rat der eigentliche Herr des Verfahrens zu sein. Zumindest der Tendenz nach konterkariert wird die Demonstration des Bemühens der Partner um die genaue Einhaltung der internen Verfahrensregeln jedoch durch den Hang der Sprecher, gewisse Abläufe als Automatismen darzustellen, die anscheinend nicht des aktiven Zutuns der Verbündeten bedürfen. So wird nicht nur behauptet, dass die Konsultationen aufgrund der türkischen Bitte gemäß Artikel 4 und aufgrund von Artikel 4 selbst stattfinden, sondern auch, dass sich einige Verpflichtungen der Partner unmittelbar aus dem Buchstaben und Geist des Vertrages herleiten – und somit offenbar keinerlei Diskussion oder Interpretation mehr erfordern. Den heftigsten Stoß versetzt dem Bemühen um Glaubwürdigkeit und Transparenz bezüglich der scheinbar genauen Beachtung der bündnisinternen Regelungen allerdings, dass es dem Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses bereits an jenem Tag, an dem die türkische Regierung einen Brief verfasst hat, auf den die Konsultationen der Partner zurückgeführt werden, möglich gewesen ist, die potentielle Bedrohung der Türkei zu bewerten und über Erfordernisse zur Stärkung ihrer Verteidigung zu informieren. Dies deutet darauf hin, dass der besagte Brief nicht der entscheidende Grund für die vielfältigen Bündnistätigkeiten im Kontext der potentiellen Bedrohung der Türkei gewesen sein kann. Nicht unplausibel erscheint dagegen die Lesart, dass der Verweis auf Artikel 4, der gleichrangig mit der türkischen Bitte nach Beratungen gemäß Artikel 4 zur Begründung der Konsultationen angeführt wird, dazu dient, bündnisinterne Vorbereitungen für eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Türkei zu tarnen, die – polemisch gewendet – bereits begonnen worden sind, bevor sich die Regierung in Ankara bedroht fühlte.81 Auf der Ebene der Bestimmung des eigenen Handlungsspielraums nach außen liegt dem Vorgehen der Sprecher die Überzeugung oder Handlungsregel zugrunde, die eigene Autonomie zu betonen und nach Möglichkeit zu mehren. Dass dies auch zu Lasten der Vereinten Nationen geschieht, verweist schließlich auf ein drittes und letztes Handlungsproblem – die Ausgestaltung des Verhältnisses der NATO zu den Vereinten Nationen. Dieses Verhältnis ist von großer Ambivalenz gekennzeichnet. So steht der wohl in erster 81
Dass sich dieses Ergebnis mit einem Bestandteil des im Rahmen der Interpretation ausgeblendeten Wissens um den äußeren Kontext deckt – die Maßnahmen zum Schutz der Türkei sind im Grunde auf Initiative der USA erfolgt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10. Februar 2003, S.1) – bietet zweifellos Anlass für Auseinandersetzungen über die Interpretationsmaxime der Nichteinblendung des äußeren Kontextes (vgl. Abschnitt 3.3.2.4). Beschwichtigend könnte angeführt werden, dass die Beantwortung der Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht von Überlegungen über den USamerikanischen Einfluss auf die Türkei im Zuge der Vorbereitung des Irakkrieges abhängen wird.
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8. Fall 4: Irak
Linie als interne Warnung vor vorschnellen militärischen Aktionen zu verstehenden unmissverständlichen Unterordnung unter die Ziele der Vereinten Nationen die Tendenz gegenüber, den Handlungsspielraum der Bündnismitglieder gegenüber der UN größer darzustellen, als er de jure ist. Dass sich die Verbündeten zudem das Recht vorbehalten, fallweise zu prüfen, ob ihre Beschlüsse UN-Entscheidungen berühren, kann auch als Ausdruck der Handlungsregel „Maximierung der eigenen Autonomie auf Kosten der Vereinten Nationen“ gedeutet werden. Vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe von Äußerungen erscheint es jedoch durchaus vertretbar zu sein, die Ambivalenz dahingehend aufzulösen, dass die Verbündeten sich lediglich darum bemühen, ihr Verhältnis zu den Vereinten Nationen als gut und harmonisch darzustellen. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das minimalistische Verständnis des Begriffs Unterstützung zu nennen, den die NATO-Partner im letzten Teil des Dokuments mit Blick auf die Vereinten Nationen an den Tag legen; zur Erinnerung: unterstützt werden sollen nicht deren Anstrengungen als Ganze, sondern nur jene in den Vereinten Nationen, möglicherweise also nur die Anstrengungen der NATO-Mitglieder selbst. Im Lichte des äußeren Kontextes ist dies besonders aufschlussreich, da die zu dieser Zeit im UN-Sicherheitsrat vertretenen Bündnispartner – die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Spanien auf der einen, Frankreich und Deutschland auf der anderen Seite – verschiedene Positionen vertreten haben. Streng genommen deutet dies darauf hin, dass die Angehörigen der atlantischen Allianz die Lösung einer Streitfrage von internationalem Ausmaß sogar dann noch bei sich in den besseren Händen wähnen, wenn sie sich selbst nicht einig sind. Damit offenbaren die Verbündeten ein avantgardistisches Selbstverständnis von ganz erstaunlichem Ausmaß. In eine ähnliche Richtung weisen die Gleichsetzung von zukünftigen NATO- und UNBeschlüssen, die Tendenz zur Selbstermächtigung in Form ungefragten Ergreifens des Wortes zugunsten der Vereinten Nationen und schließlich auch das Eingeständnis, sich an der Diskussion im UN-Sicherheitsrat, nicht aber an deren Ergebnissen zu orientieren. Wie im Kontext der scheinbaren Beachtung der etablierten Prozeduren innerhalb des Bündnisses gelingt es den Verbündeten also auch auf der Ebene der Ausgestaltung ihres Verhältnisses zu den Vereinten Nationen nicht, ihre Handlungsregel „Wahrung der Form“ hinreichend überzeugend zu entfalten. *** Alles in allem hat die Sequenzanalyse des Entscheidungsblattes des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO zur Unterstützung der Türkei also zwei zentrale Ergebnisse zu Tage gefördert. Neben der Fragilität im Innern – angesichts der Beratungen über die potentielle Bedrohung eines Mitglieds befindet sich das Bündnis in einer Krise, die so weit reicht, dass sich die Partner gegenseitig der Geltung der Bestimmungen des Nordatlantikvertrages versichern und sie die Erfüllung der ihnen daraus erwachsenden Verpflichtungen bekräftigen müssen – ist dies vor allem ein schwieriges, von Konkurrenz gekennzeichnetes Verhältnis der NATO zu den Vereinten Nationen. Da dieses Konkurrenzverhältnis auch im Rahmen der vorangegangenen Analysen zu den zentralen Ergebnissen gehört und die Fallauswahl bereits in verschiedene Richtungen angeleitet hat, kommen im Lichte der oben skizzierten Resultate für die pfadabhängige, kontrastive Auswahl des fünften und letzten Falles der „Untersuchungsreihe“ zum Fortbe-
8.2 Zusammenfassung und Auswahl des nächsten Falles
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stand des atlantischen Bündnisses nun primär die beiden folgenden Überlegungen in Betracht. Die Reaktion der Verbündeten auf einen bewaffneten Angriff auf einen von ihnen könnte als möglichst maximaler Kontrast zur Vorbereitung von Gegenmaßnahmen für einen solchen Fall konzeptualisiert werden. Da der Gegensatz zwischen der Vorbereitung und der Durchführung von Verteidigungsanstrengungen allerdings nicht allzu groß anmutet, könnte schnell der Verdacht entstehen, die Reihe der zu analysierenden Fälle auf diesem Wege gezielt um ein Dokument zu erweitern, das die Geschehnisse im Zuge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 thematisiert – den bis dato einzigen bewaffneten Angriff auf einen der Unterzeichner des Nordatlantikvertrages also. Unverfänglicher wäre es daher, die diagnostizierte Selbstvergewisserung der Verbündeten inmitten einer handfesten Krise ihres Zusammenschlusses zur Bestimmung des die Auswahl des letzten Falles anleitenden möglichst maximalen Kontrastes heranzuziehen. Kontrastiv zur Bestätigung der fortdauernden Geltung der Gründe ihres Zusammenschlusses in einer Krise könnte ein Beispiel für die Selbstbetrachtung im „Modus der Muße“ analysiert werden, aus Anlass eines Jubiläums wie der fünfzigsten oder fünfundfünfzigsten Wiederkehr der Gründung des Bündnisses etwa. Es käme also darauf an, nun ein gewissermaßen „feierliches“ Dokument des Nordatlantikrats auszuwählen, in dem – jenseits eines akut krisenhaften Ereignisses wie der Verteidigung gegen einen Angreifer oder der Vorbereitung von Maßnahmen in Reaktion auf einen erwarteten Angriff – die Betonung von gemeinsamen Zielen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weniger überraschend als vielmehr programmatisch wäre. Bezogen auf den Zeitraum seit dem fünfzigsten Geburtstag des nordatlantischen Bündnisses im April 1999 führt die Suche nach frei zugänglichen Dokumenten des Nordatlantikrats, in denen eine Art „Selbstbespiegelung“ des Bündnisses betrieben werden könnte, zu zwei Ergebnissen. Dabei handelt es sich um das unter der Überschrift „Eine Allianz für das 21. Jahrhundert“ stehende Kommuniqué des Washingtoner Gipfels vom 24. April 1999 und um die Istanbuler Erklärung „Unsere Sicherheit in einer neuen Ära“ mit Datum vom 28. Juni 2004. Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung von Dokumenten aus den Jahren 1949, 1995, 2006 und 2003 würde eine Auswahl der Erklärung von 2004 den Schwerpunkt der Untersuchung auf die letzten fünf Jahre legen, während das Kommuniqué aus dem Jahr 1999 eine recht gleichmäßige Verteilung der Dokumente innerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums, den Jahren nach 1989 also, sicherstellte. Darüber hinaus gilt es jedoch zu beachten, dass die rund anderthalb DinA4-Seiten lange Erklärung von 2004 problemlos „am Stück“ sequenzanalysiert werden könnte, während sich das Washingtoner Gipfel-Kommuniqué über zwölf Seiten erstreckt. Dies hätte zur Folge, dass auf der Ebene des Dokuments selbst gegebenenfalls noch eine weitere Auswahl der im Detail zu untersuchenden Textteile zu treffen wäre, der Autor dieser Arbeit sich damit aber dem Vorwurf aussetzen könnte, nur die „schönen Stellen“ zu betrachten. Letztlich gibt jedoch die schon allein aufgrund des Veröffentlichungsdatums recht gute Chance, aus Anlass des fünfzigsten Geburtstags ihres Zusammenschlusses mit mehr oder weniger weitreichenden selbstreflexiven Überlegungen der Verbündeten konfrontiert zu werden, den Ausschlag zugunsten einer Analyse des Washingtoner Kommuniqués vom 24. April 1999. Um dem Vorwurf einer manipulativen oder interessierten Auswahl von Textteilen entgegenzuwirken, empfiehlt es sich dabei, mit der Untersuchung wie üblich am Anfang des Dokuments zu beginnen und erst einmal die Entwicklung abzuwarten, bevor die Analyse überstürzt abgebrochen und an einer anderen Stelle neu aufgenommen wird.
9 Fall 5: 50 Jahre NATO
9.1 Sequenzanalyse »Press Release NAC-S(99)64«1 Sofern das Kürzel »NAC« für »North Atlantic Council« steht, dürfte die erste Sequenz des zu untersuchenden Textes diesen als eine Presseerklärung des Nordatlantikrats kennzeichnen. Die Ratsmitglieder sind also der Ansicht, in Besitz einer Botschaft zu sein, die prinzipiell alle Menschen angeht, die sich aus der Presse informieren. Indes dient der Ausdruck »-S(99)64« wahrscheinlich der Einordnung des Dokuments in einen Gesamtbestand an Verlautbarungen des Nordatlantikrats. Während je eines der beiden mithilfe einer Klammer voneinander getrennten Ziffernpaare »(99)« und »64« eine Jahreszahl und eine laufende Nummer anzeigen könnte, bleibt offen, was der Buchstabe »S« symbolisiert. Vor dem Hintergrund, dass der Nordatlantikrat in drei verschiedenen Konfigurationen, nämlich auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, der Fachminister oder der Ständigen Vertreter, tagt, wäre es nicht unplausibel, wenn diesbezüglich ein Zusammenhang bestünde. »24 Apr. 1999« Dieser Abschnitt legt nahe, dass die vorliegende Presseerklärung des Nordatlantikrats am 24. April 1999 verfasst oder veröffentlicht worden ist. Entsprechend indiziert der Ausdruck »(99)« in der Vorsequenz die beiden letzten Ziffern einer Jahreszahl, wohingegen die »64« entweder die Anzahl aller Ratsveröffentlichungen, nur jene aus dem Jahr 1999, alle Dokumente des Typs »S« oder allein die Typ »S«-Presseerklärungen im Jahr 1999 durchnummerieren könnte. Möglich ist schließlich auch, dass sowohl die veröffentlichten als auch die unveröffentlicht und geheim bleibenden Schriftstücke des Rats fortlaufend gekennzeichnet werden. »Washington Summit Communiqué«2 In dieser Sequenz wird das vorliegende Dokument als offizielle Mitteilung über einen Gipfel in Washington spezifiziert. Unter der Bedingung, dass die Presseerklärung dem Nordatlantikrat zugeordnet werden kann, würde dies bedeuten, dass die für ein Gipfeltreffen (»Summit«) konstitutiven Staats- und Regierungschefs des nordatlantischen Bündnisses rund 50 Jahre nach dem Vollzug des formellen Gründungsaktes ihres Zusammenschlusses an den Ort der Vertragsunterzeichnung zurückkehren. Damit signalisieren die Handlungsbevollmächtigten des Jahres 1999, sich der Anfänge und der Geschichte der NATO bewusst zu sein – und reproduzieren auf diese Weise zugleich die besondere Stellung, die den 1 »Presseerklärung NAC-S(99)64«; die Übersetzung des vorliegenden Dokuments stammt vom Autor dieser Arbeit. 2 »Washingtoner Gipfel-Kommuniqué«.
9.1 Sequenzanalyse
281
Vereinigten Staaten im Rahmen der Ausrichtung der Gründungszeremonie des Bündnisses zuteil wurde. »Issued by the Heads of State and Government«3 Da sich das Kommuniqué auf einen Gipfel bezieht, kann nicht überraschen, dass es von den Staats- und Regierungschefs herausgegeben wurde, denn in der Regel macht erst deren Anwesenheit aus einer Zusammenkunft ein Gipfeltreffen. »participating in the meeting of the North Atlantic Council«4 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass die Staats- und Regierungschefs an einem Treffen des Nordatlantikrats teilgenommen haben. Dies suggeriert, dass sich der Rat nicht per se in Zusammensetzung der obersten Repräsentanten der Mitgliedstaaten getroffen hat, sondern dass sich diese einer turnusgemäßen Sitzung des Nordatlantikrats auf der Ebene der Fachminister oder Ständigen Vertreter angeschlossen haben. Daran knüpfen sich die Fragen, ob es einen besonderen Grund für die Hinzuziehung der Staats- und Regierungschefs gegeben hat und wie sich deren aktive Präsenz (dass sie sich nicht auf eine Zuschauerrolle beschränkt haben dürften, deutet das Gerundium »participating« an) auf den Verlauf des Treffens und dessen Dokumentierung ausgewirkt haben. Mutmaßlich wird die Routine der regelmäßigen Ratstreffen hier durch die zusätzliche Teilnahme der höchsten Vertreter der Bündnismitglieder zu einem tendenziell krisenhaften Akt. Vor dem Hintergrund des Ortes und des Datums der Zusammenkunft ist es zwar nicht unplausibel, davon auszugehen, dass dieses Vorgehen mit der fünfzigsten Wiederkehr der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages am 4. April 1949 in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten in Zusammenhang steht, doch bliebe in diesem Falle offen, aus welchen Gründen der Jahrestag um knapp drei Wochen verpasst worden ist. »in Washington, D.C. on 24th April 1999«5 In dieser Sequenz wird deutlich, dass das vorliegende Kommuniqué noch am Tage des Treffens selbst verfasst bzw. veröffentlicht worden ist. Dies spricht dafür, dass es im Verlauf der Sitzung keine allzu kontroversen Diskussionen gegeben hat. Um keine Zeit zu verlieren, haben sich die Verbündeten also vermutlich schon im Vorfeld ihres Treffens miteinander abgestimmt und vielleicht sogar strittige Passagen aus der vorbereiteten Erklärung entfernt. Der Hinweis auf Washington, D.C. als Ort des Geschehens bestätigt derweil die oben geäußerte Vermutung, dass das erste Wortzeichen innerhalb des Ausdrucks »Washington Summit Communiqué« auf die Hauptstadt der USA verweist. »An Alliance for the 21st Century«6
3
»Herausgegeben von den Staats- und Regierungschefs«. »teilnehmend am Treffen des Nordatlantikrats«. 5 »in Washington, D.C. am 24. April 1999«. 6 »Ein Bündnis für das 21. Jahrhundert«. 4
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
Nachdem die Presseerklärung zuvor als »Washington Summit Communiqué« spezifiziert und der Kontext des Treffens erläutert wurde, erhält das Dokument an dieser Stelle gewissermaßen eine thematische Überschrift, wenn nicht sogar ein Motto: Ein Bündnis für das 21. Jahrhundert. Die Verbündeten charakterisieren ihren Zusammenschluss hier also als »Alliance«, d.h. als einen formalen Zusammenschluss von Staaten oder politischen Gruppen, die zur Erreichung der gleichen Ziele zusammenarbeiten.7 Dies schürt zunächst einmal die Erwartung, dass die Verbündeten im Folgenden erläutern könnten, welche Ziele sie auch fünfzig Jahre nach der Gründung ihrer »Alliance« miteinander teilen. Durch das einer Logik der Werbung nicht unähnliche Attribut »for the 21st Century« laufen die Sprecher hier allerdings Gefahr, das 21. Jahrhundert zu einem Handlungs- und Anpassungszwang zu verdinglichen, der den Verbündeten diktiert, was sie zu tun oder zu lassen haben. Es wird suggeriert, als bestimme nicht die konkrete politische Gesamtsituation, sondern der Kalender das Handeln der Verbündeten. Gleichzeitig wirft die Zeitdimension des Wortzeichens »21st Century« Fragen auf, die das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Bündnisses betreffen, die Aspekte Kontinuität, Wandel, Erhalt und Niedergang also. »1. We, the Heads of State and Government of the member countries of the North Atlantic Alliance,«8 Unmittelbar nach der thematischen Überschrift markiert die Ordnungszahl »1.« den Beginn des Fließtextes und lässt darauf schließen, dass die Verfasser das vorliegende Dokument in einzelne Unterpunkte zerlegt haben. Mithilfe des Personalpronomens »We« verdeutlichen die Sprecher sogleich, dass sie einem gemeinsamen Handlungszusammenhang angehören und eine Gruppe bilden. Dass es sich bei ihnen um die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer des nordatlantischen Bündnisses handelt, war bereits im Zuge der Deutung der Überschriften klar geworden. Gleichwohl ist dieser Passus nun nicht als redundant zu verstehen, da es zuvor ja nur geheißen hatte, dass das Dokument von den Staats- und Regierungschefs herausgegeben wurde. Erst an dieser Stelle machen sie dagegen deutlich, dass sie – ihrer Stellung als höchste Repräsentanten der Konstituenten des Bündnisses entsprechend – auch die relevanten Akteure der (turnusgemäßen?) Sitzung des Nordatlantikrats gewesen sind, an der sie teilgenommen haben. »have gathered in Washington to«9 Dass sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitglieder in Washington versammelt haben, war bereits aus der Überschrift des Dokuments hervorgegangen. Vor diesem Hintergrund legt die sofortige Wiederholung dieser Information zu Beginn des Fließtextes nahe, wie viel den Sprechern der Ort ihrer Zusammenkunft bedeutet. Zudem wird der Blick sogleich auf den Grund des Treffens gerichtet, der im Folgenden zu ersehen sein dürfte. »celebrate the 50th anniversary of NATO«10 7
Vgl. BBC English Dictionary: A Dictionary for the World (1992), London: Harper Collins, S.30. »1. Wir, die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer des nordatlantischen Bündnisses,«. 9 »haben uns in Washington versammelt, um zu«. 10 »feiern den 50. Jahrestag der NATO«. 8
9.1 Sequenzanalyse
283
Die Staats- und Regierungschefs sind also in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten zusammengekommen, um den 50. Jahrestag der NATO zu feiern. Da der Jahrestag nicht weiter spezifiziert wird, was wohl nur mithilfe des Genitivs »NATO’s« möglich wäre, ist davon auszugehen, dass hier auf den 50. Jahrestag der Gründung des nordatlantischen Bündnisses verwiesen wird – auf die Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages also, die am 4. April 1949 ebenfalls in Washington stattgefunden hat. Indem die Sprecher die Feier dieses Ereignisses zum ersten Grund ihrer Zusammenkunft machen, vergegenwärtigen sie eine gemeinsame Vergangenheit und demonstrieren ihre Bereitschaft, die Erinnerung an fünf Jahrzehnte gemeinsamer Praxis wach zu halten. Die Gründung der NATO wird als ein freudiges Ereignis, als ein Grund zum Feiern dargestellt. Darüber hinaus steht diese Sequenz in einer produktiven Spannung zu der mottoartigen Überschrift »An Alliance for the 21st Century«. Denn ohne dass darin der konkrete Zweck oder die Aufgaben des Bündnisses ersichtlich würden, entspricht dieses Motto zwar einer oberflächlichen Werbelogik, enthält aber doch auch die Botschaft, dass die NATO noch über einhundert Jahre, also mindestens bis zum Silvestertag des Jahres 2100, fortbestehen soll. Vor diesem Hintergrund signalisiert die Zusammenkunft aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages somit möglicherweise auch, dass die Verbündeten gewillt sind oder als willens wahrgenommen werden wollen, ihre gemeinsame Vergangenheit zum Maßstab ihres zukünftigen Handelns zu machen. »and to set forth our vision of«11 Als zweiten Grund des Gipfeltreffens nennen die Sprecher, dass sie ihre Vision von etwas darzulegen beabsichtigen. Da eine Vision zumeist auf die Vorstellung einer – gegenüber der Gegenwart veränderten – Zukunft verweist, greifen die Staats- und Regierungschefs hier sofort die unmittelbar zuvor erzeugte Spannung auf, die zwischen der Vergegenwärtigung einer gemeinsamen Vergangenheit und dem ungewissen Blick nach vorn besteht. Mithilfe des Possessivpronomens »our« stärken die transatlantischen Partner dabei zugleich die Grundlage ihres Zusammenschlusses; sie rücken gewissermaßen enger zusammen, um den vor ihnen liegenden Herausforderungen im Kollektiv entgegenzutreten. Doch welche Vision ist es, die sie miteinander teilen? »the Alliance of the 21st century.«12 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass sich die gemeinsame Vision der Staats- und Regierungschefs auf deren Zusammenschluss selbst bezieht. Diese radikale Selbstbezüglichkeit ist insofern überraschend, als dass eine Vision im Kontext der nationalen wie der internationalen Politik durchaus auch das Ziel einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit hätte implizieren können. Stattdessen bedienen sich die Sprecher hier abermals einer Logik der (Eigen-) Werbung. Dabei wird das 21. Jahrhundert neuerlich in den Rang einer politisch relevanten Kategorie erhoben, die gewisse Anpassungen erforderlich zu machen scheint. Allerdings bleibt zunächst unklar, weshalb gerade der 1. Januar 2001 ein besonderes Datum in der Geschichte des Bündnisses sein sollte.
11 12
»und (um) darzulegen unsere Vision der/des«. »Bündnisses des 21. Jahrhunderts.«.
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
Aufgrund ihrer Anleihen bei der Sprache der Werbung setzen sich die Sprecher dem Verdacht aus, dass etwaige Anpassungen des Bündnisses nicht material geboten sind, sondern nur erfolgen, um „mit der Zeit zu gehen“ und als auf dem neuesten Stand zu erscheinen. Sofern den Staats- und Regierungschefs die Zukunft im Allgemeinen und das 21. Jahrhundert im Besonderen jedoch als Symbole für Fortschritt und Qualität gelten, präsentieren sie sich hier möglicherweise als Modernisierer und gebrauchen das Wortzeichen »Alliance of the 21st century« im Sinne einer Metapher für die Notwendigkeit von Reformen. »The North Atlantic Alliance,«13 In diesem Abschnitt wechseln die Sprecher die Perspektive. Nachdem sie soeben von sich in der ersten Person Plural gesprochen haben, adressieren sie nun ihren Zusammenschluss als Ganzen in der dritten Person Singular. Gleichsam von außen betrachten die Staats- und Regierungschefs das nordatlantische Bündnis, welches, wie sie zuvor kundgetan haben, das Referenzobjekt einer gemeinsamen Vision ist. »founded on the principles of«14 In Übereinstimmung mit den Erwartungen an das Begehen eines Jahrestages wenden sich die Staats- und Regierungschefs hier dessen Gegenstand zu – der Gründung der transatlantischen Vertragsgemeinschaft. Dabei machen sie deutlich, dass das Bündnis ihrer Ansicht nach zuallererst auf Prinzipien gegründet ist, auf Überzeugungen bezüglich des eigenen Handelns also.15 Dies suggeriert, dass sich die Verbündeten ihre Entscheidungen nicht von außen diktieren ließen, sondern ihr Tun an selbst bestimmten Maßstäben orientierten. Auf diese Weise werfen die Sprecher die Frage auf, wie gut es den Bündnispartnern in den Jahren 1949-1999 gelungen ist, die aus der Gründungsphase stammende Prämisse innengeleiteten Handelns zu beherzigen. »democracy, individual liberty and the rule of law,«16 An dieser Stelle explizieren die Staats- und Regierungschefs die Prinzipien, auf denen ihre Amtsvorgänger das nordatlantische Bündnis ein halbes Jahrhundert zuvor begründet haben. Dabei handelt es sich, wie in der Präambel des Nordatlantikvertrages dargelegt, um die Grundsätze der Demokratie, also vor allem die Verknüpfung von Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz als Kennzeichen des modernen Staates, die individuelle Freiheit bzw. Freiheit der Person in Form von Grundrechten und um Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage einer Teilung der Gewalten. »remains the basis of our collective defence;«17
13
»Das nordatlantische Bündnis,«. »gegründet auf den Prinzipien von/der/des«. 15 Vgl. BBC English Dictionary (1992), S.910. 16 »(der) Demokratie, individuellen Freiheit (Freiheit der Person) und der Rechtsstaatlichkeit,«. 17 »bleibt die Grundlage unserer kollektiven Verteidigung;«. 14
9.1 Sequenzanalyse
285
In dieser Sequenz reagieren die Sprecher erneut auf die zuvor erzeugte Spannung zwischen der Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit und der Herausforderung, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Mithilfe des in die Zukunft gerichteten Verbs »remain« versuchen sie, eine Brücke zu schlagen, die – in der Sprache der Verbündeten – das 21. Jahrhundert mit den Anfängen der NATO nach dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Auch in Zukunft bleibt das auf den Prinzipien der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit begründete nordatlantische Bündnis die Grundlage der kollektiven Verteidigung seiner Konstituenten. Im Lichte der Opposition der Begriffe Angriff und Verteidigung führt dies unweigerlich zu der Frage, gegen wessen Angriffe sich die Unterzeichnerstaaten des Nordatlantikvertrages kollektiv zur Wehr setzen zu müssen fürchten. Gleichzeitig markiert die Äußerung, dass die NATO die Grundlage unserer kollektiven Verteidigung bleibt, eine deutliche Grenze zwischen dem Bündnis auf der einen Seite und dessen Mitgliedern, den Einzelstaaten, auf der anderen Seite. Der Akt der sprachlichen Erzeugung von Vergemeinschaftung, der hier mithilfe des Possessivpronomens »our« vollzogen wird und dabei eine Bedeutungsstruktur reproduziert, die sich bereits in den Ausdrücken »We…have gathered« und »our vision« manifestiert hat, bleibt auf die Staats- und Regierungschefs bzw. die von ihnen repräsentierten staatlichen Gebilde beschränkt. Das nordatlantische Bündnis wird derweil in einen latenten Gegensatz zu seinen Konstituenten gerückt; es bildet nur eine Art Hilfsfunktion, während die Souveränität in Form der zentralen Handlungskompetenzen auf der Ebene der Mitgliedstaaten verbleibt. Dass das Bündnis an dieser Stelle als die Grundlage der Vergemeinschaftung der Partner und deren kollektiver Verteidigung bezeichnet wird, kann daher auch als Versuch angesehen werden, die Gewichte innerhalb des Verhältnisses zwischen der NATO und ihren Gliedern etwas mehr in Richtung der Allianz als Ganzer zu verschieben. »it embodies the transatlantic link that binds North America and Europe«18 Die Charakterisierung ihres Zusammenschlusses setzen die Sprecher an dieser Stelle mit der Äußerung fort, dass das Bündnis jene transatlantische Verknüpfung verkörpert, die Nordamerika und Europa (ver-) bindet. Dies impliziert, dass die den Nordatlantik überbrückende Verbindung unabhängig von der NATO besteht und dass das Bündnis nur eine – möglicherweise die zeitgenössische – Ausdrucksform dieser (Ver-)Bindung ist. Die Bedeutung der NATO wird auf diese Weise deutlich relativiert. Sie ist nicht der Garant enger transatlantischer Beziehungen, sondern deren Manifestation. Umgekehrt ist es die transatlantische Verknüpfung zwischen Nordamerika und Europa, die das Bündnis hervorgebracht hat und der sich die Partner verpflichtet wissen. Da es sich bei der NATO, den Sprechern zufolge, um einen Zusammenschluss von demokratischen Nationalstaaten handelt, der diesen ermöglicht, sich kollektiv zu verteidigen, so ist darüber hinaus davon auszugehen, dass der von der NATO verkörperte »transatlantic link« primär politischen bzw. militärischen Charakters ist und sich auf starke Loyalitäten stützt. In diesem Zusammenhang fällt weiterhin auf, dass die (Nord-)Atlantikanrainer in Mittel- und Südamerika von der transatlantischen Verknüpfung mit Europa ausgeschlossen werden, während die Staats- und Regierungschefs den so genannten alten Kontinent als Ganzen in ihr Beziehungsgeflecht einweben, obwohl einige europäische Staaten weder an den Nordatlantik noch an dessen Nebenmeere angrenzen. Dies legt nahe, dass hinter der 18
»es verkörpert die transatlantische Verknüpfung, die Nordamerika und Europa (ver-)bindet«.
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
geographischen Benennung des Bündnisses politische Motive stecken könnten. Und wenn zudem Staaten aus einem Verbund ausgegrenzt werden, der auf den Grundsätzen der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit beruht – auf zumindest ihrer Tendenz nach universalisierbaren Prinzipien also –, so deutet dies darauf hin, dass die Repräsentanten aus Nordamerika und Europa diese Grundsätze nur vorgeschoben haben könnten, dass sie sich als deren einzig würdige Vertreter verstehen oder dass sie aus anderen Gründen lieber unter sich bleiben wollen. »in a unique defence and security partnership.«19 Die Staats- und Regierungschefs spezifizieren die Nordamerika und Europa (ver-) bindende transatlantische Verknüpfung, die von der NATO verkörpert wird, hier als eine einzigartige Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft. Da das atlantische Bündnis somit lediglich die gegenwärtige – wenngleich auch schon seit fünfzig Jahren bestehende und der Vision der Sprecher zufolge noch mindestens die nächsten einhundert Jahre überdauernde – Manifestation dieser Partnerschaft ist, stellt sich die Frage, wie lange diese Partnerschaft schon besteht. Mithilfe des Adjektivs »unique« bedienen sich die Verbündeten in dieser Sequenz erneut einer Sprache, die ihrer Tendenz nach an Werbung erinnert. Während abzuwarten bleibt, wie sie die „These“ der Einzigartigkeit ihrer Partnerschaft nach außen argumentativ einlösen wollen, dürfte diese Ausdrucksweise nach innen vor allem den Effekt einer Selbstvergewisserung nach sich ziehen. Darüber hinaus rückt hier auch der Zusammenhang von Verteidigung und Sicherheit in den Fokus. Im Grunde genommen setzen die Staats- und Regierungschefs den Prozess der Selbstbeschreibung ihres Zusammenschlusses fort. Nachdem sie bislang nur auf ihre kollektive Verteidigung verwiesen haben, fügen sie den Politikbereichen, die von der NATO im Besonderen und der das Bündnis tragenden Partnerschaft im Allgemeinen abgedeckt werden, nun noch die Felder Verteidigung, also auch alle Formen der nicht-kollektiven Verteidigung, und Sicherheit an. Während der Begriff Verteidigung direkt auf sein Gegenteil verweist und jede Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen gewissermaßen eines Angriffs bedarf, handelt es sich bei dem Wortzeichen Sicherheit um einen recht schillernden Begriff – auch unter der Bedingung, dass er nur als auf ein politisches oder militärisches Wortfeld verweisend gedeutet wird. Zwei Beispiele: Sollte Sicherheit als Oberbegriff des Wortzeichens Verteidigung zu verstehen sein (so wie Letzteres zuvor als Oberbegriff des Signifikanten kollektive Verteidigung gedeutet worden ist), hätte dies zur Folge, dass das Tätigkeitsspektrum der transatlantischen Partnerschaft nicht nur Verteidigungsmaßnahmen, sondern auch deren Gegenteil, d.h. die Durchführung von Angriffen, umfassen könnte. Wird, zweites Beispiel, der Ausdruck »security partnership« indes als eine Partnerschaft zur Erzeugung von Sicherheit aufgefasst, führt dies zu der Anschlussfrage, ob damit primär die Sicherheit der Partner voreinander, jene vor Dritten oder ob beide Arten gemeint sind. »2. Fifty years ago,«20
19 20
»in einer einzigartigen Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft.«. »2. Vor fünfzig Jahren,«.
9.1 Sequenzanalyse
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Auch zu Beginn des zweiten Unterpunktes der Washingtoner Gipfel-Erklärung stellen die Sprecher sogleich eine Verbindung zur Gründungsphase des nordatlantischen Bündnisses vor fünfzig Jahren her. Damit demonstrieren sie neuerlich, sich ihrer gemeinsamen Vergangenheit bewusst zu sein. »the North Atlantic Alliance was founded in troubled and uncertain times.«21 Nachdem sie mit den Prinzipien, auf denen die NATO beruht, im ersten Passus des Kommuniqués gewissermaßen die intrinsische Motivation des Gründungsaktes des Bündnisses vergegenwärtigt haben, erinnern die Staats- und Regierungschefs nun an den äußeren Kontext der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages. Dass diese in schwierigen und ungewissen Zeiten erfolgt sei, läuft einerseits, zumindest tendenziell, auf eine Heroisierung, in jedem Fall aber auf eine Würdigung der Beteiligten hinaus – und führt andererseits doch auch zu der Frage, ob es Zeiten gibt, die für die darin lebenden, sterblichen Menschen nicht schwierig und ungewiss sein mögen. Vor diesem Hintergrund hat es hier den Anschein, als kreierten oder reproduzierten die Staats- und Regierungschefs eine Art Gründungsmythos des Bündnisses. Damit könnten sie zum Beispiel das Ziel verfolgen, den Zusammenhalt unter den Partnern zu stärken. »It has withstood the test of five decades«22 Die unmittelbar zuvor begonnene Würdigung der Gründungsväter des nordatlantischen Bündnisses wird in dieser Sequenz auf die historische Leistung der Allianz als Ganzer ausgeweitet. Die Äußerung, dass das Bündnis der Prüfung von fünf Dekaden standgehalten habe, verweist auf eine religiös imprägnierte Bewährungslogik. Ihrer Skizze der Gründungserzählung lassen die Sprecher also sofort eine Darstellung der Bewährungserzählung der transatlantischen Partnerschaft folgen. Dabei ist das sächliche Personalpronomen (»It«), welches auf das Wortzeichen »the North Atlantic Alliance« verweist, als Abkürzung für das Führungspersonal des Bündnisses zu verstehen. Zwar wäre eine Formulierung der Art »It has passed the test of five decades« auf den ersten Blick möglicherweise weniger rätselhaft gewesen, dialektisch gewendet stellt es allerdings auch eine positive Bewährungsleistung dar, wenn einer Prüfung – im Sinne einer Versuchung – widerstanden wird. Mehr noch: Mit Blick auf den (Fort-) Bestand der NATO kann dies durchaus so gedeutet werden, dass das Bündnis der Versuchung widerstanden hat, sich aufzulösen. Vor allem geben die Sprecher an dieser Stelle zu erkennen, dass nicht nur die Gründungsphase des Bündnisses, sondern alle fünf Dekaden seiner Geschichte schwierig und ungewiss gewesen sind. Da das Verb »to withstand« schließlich auch im Sinne von einem Angriff standhalten zu verstehen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Staatsund Regierungschefs dazu neigen, die NATO permanent in einem Zustand der kollektiven Verteidigung zu wähnen, der über die Abwehr eines akuten Angriffs hinausgeht. Dies wirft die beiden Fragen auf, gegen wessen Angriffe die Partner, deren Zusammenschluss auf den Grundsätzen der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit gegründet ist, sich unablässig zu verteidigen glauben müssen und ob dieses dezidiert wehrhafte Selbstverständnis überhaupt gerechtfertigt ist. 21 22
»wurde das nordatlantische Bündnis in schwierigen und ungewissen Zeiten gegründet«. »Es hat der Prüfung von fünf Dekaden standgehalten«.
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»and allowed the citizens of Allied countries«23 In diesem Abschnitt nehmen die Sprecher ebenfalls die Würdigung einer Leistung des nordatlantischen Bündnisses vor. Auf diese Weise rechtfertigen sie immer auch den (Fort-) Bestand ihres Zusammenschlusses und verbreitern dessen Legitimitätsbasis. Nach der Auszeichnung der Gründergeneration und des gesamten Führungspersonals aus fünf Jahrzehnten greifen die Staats- und Regierungschefs nun also eine Errungenschaft der NATO auf, die sie unmittelbar mit den Bürgern der Mitgliedstaaten (»Allied countries«) in Verbindung bringen. Während der Großbuchstabe zu Beginn des Signifikanten »Allied« den fehlenden bestimmten Artikel kompensiert und somit davon ausgegangen werden kann, dass hier nicht nur einige, sondern alle Länder des Bündnisses gemeint sind, stellt sich die Frage, warum an dieser Stelle nicht auf die Völker der Mitgliedstaaten verwiesen wird. Angesichts der Äußerung, dass die NATO auf den Prinzipien der Demokratie, der Freiheit der Person und der Rechtsstaatlichkeit gegründet ist, könnte es sein, dass die Sprecher den Ausdruck Bürger für weniger profan erachten als den Begriff Völker und mit seinem Gebrauch zu verstehen geben, dass die Bündnisstaaten infolge einer Orientierung an den besagten Prinzipien Bürger beheimaten, wohingegen nichtdemokratisch verfasste Nationalstaaten diese Entwicklungsstufe noch nicht erreicht haben und daher auch nicht von Bürgern, sondern lediglich von Völkern konstituiert werden. »to enjoy an unprecedented period of peace, freedom and prosperity.«24 Die politische Leistung, welche die Sprecher dem nordatlantischen Bündnis hier zuschreiben, könnte größer nicht sein. Fünfzig Jahre gestattete es die NATO den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten, eine beispiellose Epoche von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu genießen. Das Bündnis, das zuvor als Manifestation einer transatlantischen Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft charakterisiert worden war, zeitigt also Wirkungen, die über die Gewährleistung der territorialen Integrität der zusammengeschlossenen Staaten hinausgehen und bis in den Bereich der materiellen Lebensbedingungen der einzelnen Bürger hineinreichen. Interessanterweise geht die Herstellung von äußerer Sicherheit allerdings nicht zu Lasten der Wohlfahrt. Als hätte es den nachgerade klassischen Gegensatz zwischen der Produktion von Kanonen und Butter nie gegeben, stehen Frieden, Freiheit und Wohlstand hier einträchtig beieinander – auf der Seite der positiven Bilanzposten der NATO. Mehr noch: Indem die Abwesenheit von kriegerischen Auseinandersetzungen, in die der wehrfähige Teil der Bürger hätte verwickelt werden können, die Abwesenheit anderweitiger Einschränkungen zulasten der Handlungsmöglichkeiten der Bürger und auch die Abwesenheit von Armut, Mangel und Not zu Errungenschaften erklärt werden, die das atlantische Bündnis in den vergangenen fünf Jahrzehnten ermöglicht hat, wird aus dieser Epoche eine Art goldenes Zeitalter. Dass diese Idealisierung dem Zweck dient, die Legitimität der NATO zu erhöhen und ihren (Fort-)Bestand zu rechtfertigen, liegt recht nahe. »Here in Washington,«25 23
»und gestattete den Bürgern Alliierter Länder«. »eine beispiellose Epoche von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu genießen.«. 25 »Hier in Washington,«. 24
9.1 Sequenzanalyse
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Mit der insgesamt vierten Nennung des Namens der Hauptstadt der Vereinigten Staaten verdeutlichen die Staats- und Regierungschefs einmal mehr, wie wichtig ihnen der Ort ist, an dem sie sich versammeln (»Here«). Mutmaßlich jenseits eingeschliffener Routine haben sie sich dort versammelt, wo ihre Amtsvorgänger fünfzig Jahre zuvor den Nordatlantikvertrag unterschrieben haben. »we have paid tribute to the achievements of the past«26 Dass die Verbündeten hier in Washington den Leistungen der Vergangenheit Anerkennung gezollt haben, ist bereits aus den zuletzt analysierten Sequenzen hervorgegangen. Insofern stellt dieser Abschnitt lediglich eine Ergebnissicherung dar, die dem Dokument keine neuen Informationen hinzufügt – außer der Erkenntnis vielleicht, dass die Sprecher von der Sorge getragen sind, nicht verstanden zu werden. Dies kann durchaus als Hinweis darauf gedeutet werden, wie wichtig den Staats- und Regierungschefs der im Laufe von fünf Jahrzehnten angehäufte Bestand an Errungenschaften der NATO als Quelle von deren Legitimation ist. »and we have shaped a new Alliance«27 In Anbetracht der aufgeführten Leistungen überrascht es, dass die Sprecher nun – geradezu beiläufig – darauf verweisen, dass sie in Washington auch ein neues Bündnis geformt haben. Da das alte sich doch offenbar ganz vorzüglich bewährt hat, lässt diese Äußerung vor allem die beiden folgenden Schlüsse zu: Entweder haben die Staats- und Regierungschefs bei der Darstellung der Errungenschaften der NATO in den letzten fünfzig Jahren maßlos übertrieben – oder es hat sich die Ausgangslage in jüngster Zeit derart dramatisch verändert, dass das alte Bündnis seine Leistungen künftig gar nicht mehr erbringen könnte und die Formung eines neuen Zusammenschlusses erforderlich geworden ist. Nicht zuletzt wird hier die Frage aufgeworfen, inwiefern sich das neue Bündnis hinsichtlich der zuvor genannten Gründungsprinzipien von der alten NATO unterscheidet. »to meet the challenges of the future.«28 An dieser Stelle liefern die Sprecher sogleich die Begründung für die Schaffung eines neuen Bündnisses nach. Dass dieser Schritt nötig wurde, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen, impliziert, dass sich jene deutlich von den Herausforderungen unterscheiden, vor welche die NATO in der Vergangenheit gestellt war und welche sie so bravourös meisterte. Da es das entscheidende Charakteristikum der Zukunft ist, ungewiss zu sein, interessiert in diesem Zusammenhang besonders, auf welchen Grundannahmen die Zukunftserwartungen der Staats- und Regierungschefs beruhen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Mächte oder historischen Kräfte die Verbündeten vor die besagten Herausforderungen stellen – als Kandidat kommen wohl einmal mehr vor allem solche Staaten und Staatenbünde in Betracht, die nicht auf den Grundsätzen der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit gegründet sind.
26
»wir haben den Leistungen der Vergangenheit Anerkennung gezollt«. »und wir haben ein neues Bündnis geformt«. 28 »um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen.«. 27
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»This new Alliance will be«29 Anhaltspunkte für die Beschaffenheit der Herausforderungen der Zukunft enthält möglicherweise die Charakterisierung des neuen Bündnisses, der sich die Sprecher in dieser Sequenz zuwenden. Die Verwendung des Futurums »will be« deutet derweil darauf hin, dass die Formung des neuen Bündnisses in Washington zunächst nur auf dem Papier erfolgt ist, während die Realisierung dieses Vorhabens noch bevorsteht. »larger, more capable and more flexible,«30 Dass das neue Bündnis den Staats- und Regierungschefs zufolge größer, fähiger und flexibler sein wird, impliziert, dass sich die neuen Herausforderungen nicht kategorial von den alten unterscheiden. Während die NATO bisher bereits groß, fähig und flexibel sein musste, bedarf es nun also vor allem einer Steigerung dieser Eigenschaften. Daraus kann geschlossen werden, dass die Grundstruktur des Bündnisses erhalten bzw. übernommen werden kann und dass die Veränderungen – auf der Ebene der NATO wie auf der Ebene ihrer Herausforderungen – eher quantitativer denn qualitativer Art sind. Gleichwohl stellt sich in diesem Kontext natürlich die Frage, wo die Grenze zwischen graduellen und kategorialen Veränderungen eines Bündnisses verläuft. »committed to collective defence«31 Eine weitere Eigenschaft des neuen Bündnisses wird also darin bestehen, kollektiver Verteidigung verpflichtet zu sein. Da die Sprecher zuvor beteuert haben, dass das nordatlantische Bündnis die Grundlage ihrer kollektiven Verteidigung bleibt, handelt es sich bei diesem Charakteristikum des neuen Bündnisses nicht um ein Novum. Ganz im Gegenteil beruhte die kollektive Verteidigung der transatlantischen Partner offenbar schon auf der alten NATO. Viel stärker noch als in der Vorsequenz wird dadurch deutlich, dass der Übergang vom alten zum neuen Bündnis zu einem großen Teil von Kontinuität gekennzeichnet ist. Dies erhöht den auf den Sprechern lastenden Rechtfertigungsdruck. Sie tragen schwer an der Beweislast dafür, dass ihr neues Bündnis für das 21. Jahrhundert nicht bloß eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung, sondern eine echte Innovation darstellt. Dessen ungeachtet wirft jede Erwähnung von kollektiver Verteidigung immer wieder aufs Neue die Frage auf, gegen wen sie gerichtet ist. »and able to undertake new missions«32 In dieser Sequenz lösen die Staats- und Regierungschefs ihren Anspruch, in Washington ein neues Bündnis geformt zu haben, ein. Wenn die NATO nämlich imstande sein wird, neue Aufträge (»missions«) zu übernehmen, kann dies durchaus als ausreichende Begründung für deren Neukonzipierung angesehen werden. Von entscheidender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang jedoch die Fragen, wie die neuen Aufträge des Bündnisses beschaf29
»Dieses neue Bündnis wird sein«. »größer, fähiger und flexibler,«. 31 »kollektiver Verteidigung verpflichtet«. 32 »und imstande, neue Aufträge zu übernehmen«. 30
9.1 Sequenzanalyse
291
fen sein werden, worin sie sich von den alten unterscheiden und ob sie diese ergänzen oder ersetzen. Darüber hinaus reproduziert sich in diesem Abschnitt die (Bedeutungs-) Struktur, dass das neue Bündnis in nicht unerheblichem Maße eine Fortentwicklung des alten ist. Denn dass die NATO neue »missions« übernehmen wird, setzt ja voraus, dass die Ausführung solcher Tätigkeiten schon in der Vergangenheit in ihren Verantwortungsbereich gefallen ist. Dies ist insofern interessant, als dass der Begriff »missions« im Unterschied zu den weiter gefassten Alternativen »tasks« (Aufgaben) oder »responsibilities« (Verantwortlichkeiten) seiner Tendenz nach religiös konnotiert ist und auf eine Sendung in ferne Länder verweist. Kollektive Verteidigung suggeriert dagegen vor allem eine gewisse Nähe zu den Grenzen des eigenen Territoriums. »including contributing to effective conflict prevention«33 Zu den neuen Aufträgen des neuen Bündnisses gehören, zuallererst, Beiträge zur wirksamen Konfliktverhinderung. Vor dem Hintergrund, dass es sich dabei um eine Mission handelt, einen Auftrag also, dem das Moment einer Sendung innewohnt, liegt es nahe, dass es hier nicht um Konflikte geht, die sich in oder zwischen den Mitgliedstaaten ereignen könnten, sondern um Auseinandersetzungen zwischen Dritten oder zwischen Dritten und dem Bündnis bzw. dessen Gliedern. Unter der Bedingung, dass Konflikte konstitutiv für menschliches Zusammenleben sind, stellt sich an dieser Stelle überdies die Frage, ob die Handlungsverantwortlichen des neuen Bündnisses künftig wirklich soviel missionarischen Eifer aufbringen sollen, um jede Form sozialer Auseinandersetzung zu verhindern, an der Nichtmitglieder beteiligt sind. Da das vorliegende Dokument eindeutig makro-politische Bezüge aufweist, ist jedoch davon auszugehen, dass die Staats- und Regierungschefs hier nicht die Beilegung von Uneinigkeit und Streit ganz allgemein, sondern allein solche zwischen- und innerstaatlichen Konflikte vor Augen haben, welche die Schwelle zu kriegerischen Auseinandersetzungen bereits überschritten haben oder zu überschreiten drohen. Dass die Sprecher implizit zwischen wirksamen und unwirksamen Varianten der Konfliktverhinderung unterscheiden, führt schließlich zu den Fragen, ob sich die Beiträge des alten Bündnisses zur Abwendung von Konflikten als unwirksam herausgestellt haben und ob wirksame Konfliktverhinderung auch illegitime oder illegale, also völkerrechtswidrige, Formen annehmen könnte. »and engaging actively in crisis management,«34 Als zweites Beispiel zur Illustration der neuen Aufträge des neuen Bündnisses wählen die Staats- und Regierungschefs die aktive Beteiligung an der Bewältigung von Krisen. Das Adverb »actively« suggeriert, dass sich das alte Bündnis lediglich passiv oder überhaupt nicht an der Bewältigung von Krisen beteiligt hat. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Sequenz stellt sich hier zudem die Frage nach den Unterschieden zwischen Konflikten und Krisen. Möglicherweise ist – wiederum auf makro-politische Kontexte bezogen – jeder Konflikt eine Krise, aber nicht jede Krise ein Konflikt. Unter dieser Bedingung wäre Krise der allgemeinere der beiden Begriffe; entsprechend deckte der neue Auftrag zur Kri33 34
»einschließlich Beiträgen zur wirksamen Konfliktverhinderung«. »und aktiver Beteiligung an der Bewältigung von Krisen,«.
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senbewältigung ein breiteres Tätigkeitsspektrum ab. Im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders könnte die Bewältigung von Krisen überdies auch Konflikte zum Gegenstand haben, deren Verhinderung misslang. Die Frage, wessen Krisen die NATO zu bewältigen beabsichtigt, lässt sich schließlich so beantworten, dass jedes der Mitglieder eines auf den Prinzipien der Demokratie, der Freiheit der Person und der Rechtsstaatlichkeit gegründeten Bündnisses über ein hinreichend großes Spektrum an Verfahren zur Krisenbewältigung verfügen dürfte, um Krisen im Inland auf der nationalen Ebene behandeln zu können. Krisen auf NATO-Ebene scheiden ebenfalls aus, da das Bündnis wohl kaum der Prüfung von fünf Dekaden standgehalten hätte, wenn es keine wie auch immer geartete Verpflichtung der Partner gegeben hätte, sich der Krisen anzunehmen, die zwischen ihnen entstehen. Somit bleiben vornehmlich die (politischen) Krisen Dritter bzw. zwischen Dritten übrig, zu deren Bewältigung sich das neue Bündnis verpflichten wird. Im Lichte des religiösen Rests, der dem Wortzeichen »mission« innewohnt, handelt es sich hier also um die Sendung zur Bewältigung von Krisen in fernen Ländern, ganz gleich, ob diese „Ferne“ geographisch, politisch oder soziokulturell zu verstehen ist. Diese Überlegungen führen nun unmittelbar zu der Frage, aus welchen Gründen die Staats- und Regierungschefs des atlantischen Bündnisses im einundfünfzigsten Jahr von dessen Bestehen dazu übergehen, Konflikte und Krisen in nicht der NATO angehörenden Staaten als Herausforderung der Zukunft zu begreifen. Stellten frühere Konflikte und Krisen von Nichtmitgliedern keine Herausforderung dar? Eine zweite wichtige Frage in diesem Kontext lautet, auf der Grundlage welcher Legitimation die Verantwortlichen des neuen Bündnisses die neuen Aufträge überhaupt auszuführen gedenken. Sind der NATO, deren Kernaufgaben der Untersuchung des Nordatlantikvertrages in Kapitel 5 zufolge in der Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand und beständiger Rüstung bestehen, möglicherweise neue Befugnisse übertragen worden? Und wenn ja: von wem? »including crisis response operations.«35 Im Rahmen ihrer Veranschaulichung der neuen Aufträge eröffnen die Sprecher nun eine zweite Ebene der Illustration, indem sie die Mission, sich aktiv zur Krisenbewältigung zu verpflichten, ihrerseits anhand von Operationen zur Beantwortung von Krisen darstellen. Bringen die Staats- und Regierungschefs der NATO damit nicht zum Ausdruck, dass ihrer Ansicht nach auch die Nichtbeantwortung von Krisen mit der Verpflichtung zur Krisenbewältigung kompatibel ist? Da diese Lesart nicht zuletzt dem Aktivismus der transatlantischen Partner zuwiderlaufen würde, die sich noch unmittelbar zuvor in der redundanten Formulierung »engaging actively« manifestiert hat, muss der aus drei Hauptwörtern bestehende Ausdruck »crisis response operations« an dieser Stelle einer genaueren Analyse unterzogen werden. Sofern Operationen einer militärisch-politischen Organisation wie dem nordatlantischen Bündnis in der Regel mit dem Einsatz von dessen militärischem Potential in Zusammenhang stehen, wäre es wohl durchaus vertretbar zu behaupten, dass der Begriff »crisis response operations« hier für militärische Reaktionen auf eine Krise stehen könnte. Unter dieser Bedingung hätte die vorliegende Sequenz die Bedeutung, dass dem Spektrum der aktiven Verpflichtung zur Krisenbewältigung sowohl militärische als auch nicht35
»einschließlich Operationen zur Beantwortung von Krisen.«.
9.1 Sequenzanalyse
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militärische Optionen zuzurechnen sind. Allein, die Frage nach der Legitimationsbasis, auf der die Verbündeten ihre neuen Aufträge durchzuführen beabsichtigen, bleibt hier weiterhin offen. »The Alliance will work with other nations and organisations«36 In dieser Sequenz setzen die Staats- und Regierungschefs die Charakterisierung des neuen Bündnisses fort, welches sie in Washington geformt haben. Aus dem Gebrauch des Futurums »will work« geht hervor, dass die alte NATO bisher nicht mit anderen Nationen und Organisationen gearbeitet hat; das Gegenteil hätte mithilfe der Formulierung »will continue to work« problemlos zum Ausdruck gebracht werden können. Für leichte Irritation sorgt in diesem Zusammenhang auch die Wahl des Verbs »work«. Um darauf hinzuweisen, dass das Bündnis mehr oder weniger eng mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten wird, wäre das Prädikat »cooperate« vermutlich die bessere Wahl gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, dass die Verbündeten keine Kooperation mit anderen Nationen und Organisationen anstreben. Mit diesen zu arbeiten könnte dann lediglich bedeuten, ihr Bestehen und ihre Pläne in das eigene Handlungskalkül einzubeziehen. Infolge der Verwendung des Futurums ergeben sich an dieser Stelle somit die beiden konkurrierenden Lesarten, dass die Handlungsverantwortlichen der NATO früher entweder prinzipiell von anderen Nationen und Organisationen unabhängig agiert oder grundsätzlich mit diesen kooperiert haben. Im einen wie im anderen Falle dürfte die Veränderung der organisatorischen Routinen mit den noch nicht spezifizierten Herausforderungen der Zukunft in Zusammenhang stehen, zu deren Bewältigung die Formung des neuen Bündnisses ja überhaupt erst nötig wurde. »to advance security, prosperity and democracy throughout the Euro-Atlantic region.«37 Unabhängig von der Frage, ob das neue Bündnis eine Zusammenarbeit mit anderen Nationen und Organisationen anstrebt oder einen instrumentellen Umgang mit ihnen üben wird, macht dieser Abschnitt deutlich, dass die als »work with other nations and organisations« umschriebene Tätigkeit dem Ziel dient, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in der ganzen euro-atlantischen Region zu fördern. Dies kann nun auf mindestens dreierlei Weisen gedeutet werden. Erstens könnte die (Zusammen-?)Arbeit der alten NATO mit Dritten – zumindest teilweise – anderen Zielen gedient haben, zweitens könnte das Bündnis sein Ziel einer Förderung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie ausschließlich auf sich allein gestellt zu erreichen versucht haben und schließlich könnte es bis dato weder mit anderen gearbeitet haben noch dem Ziel verpflichtet gewesen sein »to advance security, prosperity and democracy throughout the Euro-Atlantic region«. Zumindest im letzten dieser drei Fälle ergäbe sich jedoch eine gewisse Spannung zu der weiter oben getätigten Behauptung, dass die NATO es den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten in den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens gestattete, eine beispiellose Epoche von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu genießen. Da es sich dabei, wie das Verb gestatten anzeigt, nicht zwingend um ein explizites Ziel des Bündnisses gehandelt haben muss, ist es 36 37
»Das Bündnis wird mit anderen Nationen und Organisationen arbeiten«. »um Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in der ganzen euro-atlantischen Region zu fördern«.
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
gleichwohl möglich, diese Spannung wieder aufzulösen: Im Sinne einer direkten Zielvorgabe könnte die Förderung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie erst 1999 Eingang in den Kanon der dem Bündnis zuschreibbaren Handlungsregeln gefunden haben. Entscheidend ist an dieser Stelle aber in jedem Falle die Information, dass ein zentraler Teil der Aktivität der neuen NATO darauf gerichtet ist, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in der euro-atlantischen Region zu fördern. Mit anderen Worten: Die Staats- und Regierungschefs verstehen ihren Zusammenschluss also in erster Linie als eine Einrichtung zur Verbreitung just dieser drei politischen Ziele. Auch wenn sie zuvor bereits angedeutet haben, dass ihrer Ansicht nach – zumindest während der ersten fünf Dekaden der Bündnisgeschichte – kein (fundamentaler) Konflikt zwischen der Verwirklichung von Frieden, Freiheit und Wohlstand bestand, stellt sich hier doch die Frage nach der Vereinbarkeit der zu verfolgenden Ziele. So ist es zum Beispiel durchaus vorstellbar, dass Zuwächse an Sicherheit zulasten der Demokratie gehen – im Zuge exekutiver Selbstermächtigung etwa – oder dass umgekehrt demokratisch legitimierte Entscheidungen die äußere Sicherheit eines Gemeinwesens beeinträchtigen. Auch wäre zu überlegen, ob die Reihenfolge, in der die drei Begriffe genannt werden, Rückschlüsse auf die Präferenzen der Sprecher zulassen. Die geographische Beschränkung der Verbreitung der genannten Ziele lenkt den Blick schließlich auf die Definition und die Grenzen der euro-atlantischen Region. Dieser Begriff ist mindestens auf zweierlei Weisen zu verstehen: Sollte er zwischen Europa und der atlantischen Region differenzieren, würde Europa vom Atlantik abgetrennt. Daher ist es wohl plausibler davon auszugehen, dass das Wortzeichen »Euro-Atlantic region« impliziert, dass es mehrere, d.h. mindestens zwei, Regionen gibt, die an den Atlantischen Ozean angrenzen. In diesem Fall gilt das Interesse der Staats- und Regierungschefs des Bündnisses hier nicht den Teilen Afrikas oder der beiden Amerikas, die am Atlantik gelegen sind, sondern allein den europäischen Atlantikanrainern. Eine grundsätzliche Absage an globale Zwecke geht damit gleichwohl nicht einher. Da zuvor von neuen Aufträgen (»new missions«) die Rede war, die stets den etymologischen Rest einer Sendung in ferne Länder enthalten, ist es möglich, dass die Verbündeten in anderen Weltgegenden andere Ziele verfolgen. Es ist somit nicht auszuschließen, dass sie die Förderung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie außerhalb der euro-atlantischen Region entweder für nicht lohnenswert oder für nicht (mehr) notwendig erachten. Infolge der Selbstbezeichnung als »North Atlantic Alliance« – ein Name, der (zumindest) auf die beiden Kontinente Europa und Nordamerika verweist – fragt es sich hier aber vor allem, wie die Agenda der NATO für den nördlichen Teil der amerikanischen Landmasse beschaffen ist. »The presence today of three new Allies«38 Aus dieser Sequenz geht hervor, dass das Bündnis zeitnah um drei neue Mitglieder erweitert worden sein muss, die in Washington nun möglicherweise zum ersten Mal an einer Sitzung des Nordatlantikrats teilgenommen haben. Dies lässt darauf schließen, dass der NATO zunächst nicht angehörende Staaten auch fünfzig Jahre nach der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages noch einen Grund haben können, um eine Mitgliedschaft im Bündnis anzustreben und dass dessen Handlungsverantwortliche spiegelbildlich dazu auch nach fünf Jahrzehnten noch ein Interesse an der Aufnahme neuer Partner haben. Letzteres ist wohl 38
»Die heutige Anwesenheit von drei neuen Verbündeten«.
9.1 Sequenzanalyse
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nicht zuletzt damit zu erklären, dass eine Erhöhung der Anzahl der Mitglieder immer auch eine Verbreiterung der Legitimitätsgrundlage mit sich bringt. Polemisch gewendet: Solange ein Verein neue Mitglieder begrüßen kann, stellt sich die Frage seiner Schließung eigentlich nicht. Darüber hinaus liefern die Sprecher mithilfe des Verweises auf drei neue Verbündete hier in Ansätzen auch eine weitere Rechtfertigung ihrer Äußerung, dass sie in Washington ein neues Bündnis geformt haben. Denn sofern die Repräsentanten der neuen Mitglieder auf dem Gipfel in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten erstmals bei einer Sitzung des Nordatlantikrats anwesend waren, hätte sich das Bündnis gegenüber der letzten Ratssitzung in der Tat erneuert. Gleichwohl empfiehlt es sich, die Metaphorik des Neuen nicht überzustrapazieren, da sie sonst Gefahr läuft, sich sehr schnell abzunutzen und dabei ihre argumentative Kraft einzubüßen. »- the Czech Republic, Hungary and Poland -«39 So wie es bislang nicht klar geworden ist, in welchem Verhältnis die (Zusammen-)Arbeit der NATO mit anderen Nationen und Organisationen zur Förderung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie mit den zuvor erwähnten neuen Aufträgen des neuen Bündnisses steht, bleibt auch hier offen, wie die Anwesenheit der drei neuen Mitglieder Tschechische Republik, Ungarn und Polen mit der Förderung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in der ganzen euro-atlantischen Region zusammenhängt. Da es sich bei den drei genannten Neumitgliedern um Staaten handelt, die keine zehn Jahre vor dem Treffen in Washington noch dem unmittelbaren Machtbereich der Sowjetunion angehört haben, wäre es (wenigstens aus einer westlichen Perspektive) nicht überraschend, wenn die Sprecher diesen Ländern einen gewissen Nachholbedarf in Sachen Förderung von Wohlstand und Demokratie attestieren würden. Ferner muss an dieser Stelle noch darauf hingewiesen werden, dass die Erwähnung neuer Mitglieder, die rund ein Jahrzehnt zuvor noch einer konkurrierenden Machtsphäre angehört haben, erneut unmittelbar auf den Handlungskomplex „Rechtfertigung des Bestehens der NATO“ verweist. Hier wird also einmal mehr der Versuch unternommen, die Legitimationsgrundlage des Bündnisses zu verbreitern. »demonstrates that we have overcome the division of Europe.«40 Nachdem die Sprecher zuvor einige Charakteristika des neuen Bündnisses vorgestellt haben, kehren sie in diesem Abschnitt recht unvermittelt zu einer Würdigung früherer Leistungen der NATO zurück, die, der Gebrauch des Perfekts »have overcome« zeigt es an, allerdings noch immer einen Bezug zur Gegenwart aufweisen. Da auch diese Vorgehensweise geeignet ist, einer Verbreiterung der Legitimationsbasis des Bündnisses zu dienen, liegt es nahe, dass sich die Verbündeten einem Legitimationsproblem ausgesetzt sehen, dessen Bewältigung sie sich für ihr Gipfeltreffen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten vorgenommen haben. Besondere Aufmerksamkeit zieht in diesem Zusammenhang jene Leistung auf sich, derer sich die Staats- und Regierungschefs hier rühmen: Sie behaupten, die Teilung Euro39 40
»- die Tschechische Republik, Ungarn und Polen -«. »zeigt, dass wir die Teilung Europas überwunden haben.«.
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
pas überwunden zu haben. Nicht zuletzt aufgrund ihres Interesses an der euro-atlantischen Region spricht einiges dafür, dass die Verbündeten nicht als neutraler Schlichter, sondern als Konfliktpartei in diesen Prozess involviert gewesen sind. Mit dem vergemeinschaftenden Personalpronomen »we« könnten sie dabei i) nur sich selbst, ii) alle Handlungsverantwortlichen der NATO und ihrer Mitglieder, die in den letzten Jahrzehnten über Entscheidungskompetenz verfügt haben, oder iii) eine Mischung aus diesen beiden Varianten meinen. Vor dem Hintergrund, dass zu einer »division« (mindestens) zwei Teile gehören41, die zusammen ein Ganzes bilden, stellt sich überdies die Frage, welchen Anteil jener Part des europäischen Ganzen an der Überwindung der Teilung hat, dem die drei neuen Bündnismitglieder Tschechische Republik, Ungarn und Polen zuvor angehört haben. Da sich eine Teilung wohl nur überwinden lässt, wenn alle, die daran beteiligt sind, zusammenarbeiten, neigen die Sprecher an dieser Stelle möglicherweise zu einer Verklärung ihrer historischen Rolle. Die vermutlich einzige Chance, um dieser Deutung zu entkommen, besteht darin, dass die Verbündeten das Personalpronomen »we« gar nicht auf sich oder die NATO als Ganze, sondern auf all diejenigen beziehen, deren Zutun sich die Überwindung der Teilung Europas verdankt. Spiegelbildlich zur Überhöhung des Bündnisses im Kontext der ersten Lesart liefe dies jedoch auf eine erstaunliche Relativierung der NATO hinaus. Auf diese Weise würde das transatlantische Bündnis in einen übergeordneten Vergemeinschaftungszusammenhang der Überwinder von Europas Teilung eingebettet. Der Strategie, die Legitimität des eigenen Zusammenschlusses zu erhöhen, würde somit allerdings einiger Schaden zugefügt. Im einen wie im andern Fall geben die Sprecher in diesem Abschnitt schließlich einen Hinweis darauf, dass die Herausforderungen der Zukunft, welche die Formung eines neuen Bündnisses nötig gemacht haben, sich aus makro-historischen Umbrüchen in Europa ergeben haben könnten. Wenn die Verbündeten in der Überwindung der Teilung Europas ein vorrangiges Ziel ihrer Organisation sahen, sie dieses Ziel nun aber erreicht haben, stehen sie vor dem Problem, sich neuen Aufgaben und Herausforderungen zuwenden zu müssen, um nicht als überholt zu gelten. »3. The Alliance takes the opportunity of this 50th anniversary«42 Zu Beginn des dritten Paragraphen des vorliegenden Dokuments wird deutlich, dass die Sprecher den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages als eine Gelegenheit begreifen, als eine Situation also, in der es ihnen möglich ist, das zu tun, was sie tun möchten.43 Was die Verbündeten bislang aus Anlass des Jahrestages tun mochten, war es, über ihren Zusammenschluss sowie dessen Vergangenheit und Zukunft nachzusinnen. Da die Öffentlichkeit in Form einer Pressemitteilung über die Ergebnisse dieser Selbstvergewisserung informiert wird, ist es nicht unplausibel, davon auszugehen, dass sich die Partner auf diesem Wege gegenüber dem Souverän, d.h. den Bürgern der Mitgliedstaaten, erklären und so der Verpflichtung nachkommen, ihr Tun zu begründen. Möglich ist ebenfalls, dass die Botschaft an Dritte gerichtet ist, an jene anderen Nationen und Organisationen etwa, 41 Der BBC English Dictionary definiert »division« unter anderem als Differenz oder Konflikt zwischen zwei Gruppen. Vgl. BBC English Dictionary (1992), S.331. 42 »3. Das Bündnis ergreift die Gelegenheit dieses 50. Jahrestages«. 43 Vgl. BBC English Dictionary (1992), S.807.
9.1 Sequenzanalyse
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mit denen das Bündnis den Bekundungen der Sprecher zufolge arbeiten wird, oder an weitere, ehemals an der Teilung Europas beteiligte Konfliktparteien. »to recognise and express its heartfelt appreciation for«44 Dass die Sprecher die Gelegenheit dieses 50. Jahrestages ergreifen, um tiefempfundenen Dank anzuerkennen und auszudrücken deutet auf die Würdigung verdienter Persönlichkeiten hin, die in den letzten fünf Dekaden eine besondere Rolle gespielt haben. Für Irritation sorgt in diesem Zusammenhang jedoch die anthropomorphisierende Formulierung, dass das Bündnis seinen – tiefempfundenen – Dank ausspricht. Auch unter der Bedingung, dass es sich dabei um eine Abkürzung für herausgehobene Handlungsverantwortliche des Bündnisses handelt, suggeriert diese Ausdrucksweise doch, dass die Adressaten des Danks außerhalb der NATO zu finden sind. Warum die avisierte Würdigung dann aber aus Anlass der kollektiven Erinnerung an die Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages erfolgt, bliebe ein Rätsel. »the commitment, sacrifice, resolve and loyalty of the servicemen and women of all Allies«45 Der Dank des Bündnisses gilt also den Militärangehörigen aller Verbündeten. Indem sie zwischen der Ebene der NATO als Ganzer und den das Ganze konstituierenden Gliedern, d.h. den einzelnen Verbündeten samt deren Armeen, differenzieren, verdeutlichen die Sprecher erneut, dass die Souveränität in Form der zentralen Handlungskompetenzen auf der Ebene der Mitgliedstaaten verbleibt. Auch dann, wenn ihr Engagement und Opfer, ihre Entschlossenheit und Loyalität der NATO zugute kommen und entsprechend von dieser gewürdigt werden, sind die Militärangehörigen der Verbündeten doch in erster Linie nationale Streitkräfte. Die Schaffung einer gemeinsamen nordatlantischen Armee gehört somit augenscheinlich nicht zu den Kernanliegen des Bündnisses. Gleichwohl ist die explizite Würdigung von Militärangehörigen an dieser Stelle durchaus stimmig. Denn dass die NATO primär militärischen Zwecken dient, wurde bereits zuvor mehrfach erkennbar, etwa als die Staats- und Regierungschefs das Bündnis als Grundlage der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder und als Verkörperung jener transatlantischen Verknüpfung bezeichnet haben, die Nordamerika und Europa in einer einzigartigen Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft verbindet. Je klarer das militärische Profil des atlantischen Bündnisses hervorsticht, umso größer wird jedoch die Verpflichtung der Sprecher, ihre Behauptung zu begründen, dass die neue NATO nicht nur die Sicherheit, sondern auch Wohlstand und Demokratie in der euro-atlantischen Region fördern wird. »to the cause of freedom.«46 In diesem Abschnitt geben die Staats- und Regierungschefs zu erkennen, dass es nicht die Dienstfertigkeit der Militärangehörigen als solche ist, der die Auszeichnung und der tiefempfundene Dank des Bündnisses gelten. Engagement, Opfer, Entschlossenheit und Loyali44
»um anzuerkennen und auszudrücken seinen tiefempfundenen Dank für«. »Engagement, Opfer, Entschlossenheit und Loyalität der Militärangehörigen aller Verbündeten«. 46 »zugunsten der Sache der Freiheit.«. 45
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9. Fall 5: 50 Jahre NATO
tät der Streitkräfte der Verbündeten dienen, so zumindest die Ansicht der Sprecher, einem alles überragenden Ziel: der Sache der Freiheit. Der Verzicht auf eine Spezifizierung des Wortzeichens »freedom« – im Sinne von »freedom from« oder »freedom to« etwa – lässt darauf schließen, dass es dabei nicht um einzelne Freiheitsrechte, sondern um die am weitesten reichende Dimension von Freiheit geht, um Freiheit im Gegensatz zu Gefangenschaft, Sklaverei oder anderen Formen der Fremdherrschaft und politischen Fremdbestimmung also. Wenn nun Militärangehörige der Sache der Freiheit dienen, dürfte dies prinzipiell auf zweierlei Weise erfolgen. Einerseits können Streitkräfte zur Befreiung eines für unfrei gehaltenen Territoriums entsandt werden, andererseits vermögen sie die Unversehrtheit von Territorien gegen Angriffe von außen zu verteidigen. In beiden Fällen bedarf es also eines Kontrahenten, der als ein Symbol der Unfreiheit gelten kann. Dass es im vorliegenden Fall den Militärangehörigen mehrerer miteinander verbündeter Staaten vorbehalten ist, der Freiheit zu dienen, deutet überdies darauf hin, dass die Partner nicht nur über eine gemeinsame Einschätzung dessen verfügen, was Freiheit bedeutet, sondern auch, dass sie sich einig sind, wer deren Gegner sind. Da schließlich der Dienst der Streitkräfte für die Sache der Freiheit nicht auf einen bestimmten Zeitabschnitt wie die (überwundene) Teilung Europas beschränkt wird, ist davon auszugehen, dass die Militärangehörigen der NATO-Partner in der Wahrnehmung der Staats- und Regierungschefs permanent der Freiheit dienen. Möglicherweise werden also nicht potentielle oder aktuelle Gegner des Bündnisses zu Symbolen der Unfreiheit stilisiert, sondern umgekehrt alle Staaten oder Staatenverbünde, die das Freiheitsverständnis der Mitglieder der NATO nicht teilen, als Gegner angesehen, gegen die es sich zur Wehr zu setzen gilt. In diesem Falle wäre den Verbündeten ein gewisser missionarischer Eifer zur Verbreitung der eigenen Ideale wohl nicht abzusprechen. »The Alliance salutes these active and reserve forces' essential contributions,«47 Nachdem die Sprecher zwei Sequenzen zuvor explizit die Leistungen der männlichen und der weiblichen Militärangehörigen (»servicemen and women«) hervorgehoben haben, differenzieren sie nun sorgsam nach aktiven und Reservestreitkräften. Die Würdigung der Verdienste der Militärangehörigen der Mitgliedstaaten des Bündnisses soll offenbar über jeden Verdacht einer Diskriminierung erhaben sein. Dass sowohl die aktiven als auch die Reservestreitkräfte wesentliche Beiträge geleistet haben, kann derweil nicht überraschen, geht es den Angaben der Staats- und Regierungschefs zufolge doch stets um die Sache der Freiheit. »which for 50 years have guaranteed freedom«48 In dieser Sequenz konkretisieren die Sprecher die der Sache der Freiheit dienenden wesentlichen Beiträge der Militärangehörigen der Mitgliedstaaten. Die Äußerung, dass die Streitkräfte die Freiheit seit 50 Jahren garantiert haben, impliziert, dass dieser Wert in den letzten fünf Jahrzehnten nicht (auf dem Schlachtfeld) erkämpft werden musste, sondern bereits vorhanden war und seither verteidigt wird. Die kollektive Verteidigung der Partner, deren 47 48
»Das Bündnis würdigt die wesentlichen Beiträge dieser aktiven und Reservestreitkräfte,«. »die seit 50 Jahren (die) Freiheit garantiert haben«.
9.1 Sequenzanalyse
299
Grundlage das nordatlantische Bündnis dem Willen der Staats- und Regierungschefs nach ja auch in Zukunft bleibt, hat also kein geringeres Ziel als die Freiheit zu garantieren. Auf diesem Wege wird der Fortbestand der NATO zu einer Frage der Aufrechterhaltung der Freiheit und gewissermaßen von konkreten weltpolitischen Konstellationen wie der Teilung Europas abgekoppelt. Solange es politische Kräfte gibt, die von den Verbündeten als Quelle der Unfreiheit angesehen werden, bietet das atlantische Bündnis in Form der Militärangehörigen seiner Mitglieder also eine (zumindest auf dem Papier stehende) Garantie gegen ein Übergreifen von Unfreiheit auf die Territorien der NATO-Staaten. »and safeguarded trans-Atlantic security.«49 Die Tendenz, den Daseinszweck des transatlantischen Bündnisses von konkreten weltpolitischen Konstellationen abzukoppeln, setzt sich in diesem Abschnitt fort. Seit 50 Jahren haben die Streitkräfte der Verbündeten nicht nur die Freiheit garantiert, sondern auch die transatlantische Sicherheit gewährleistet. Wie schon im Fall von Sicherheit und Wohlfahrt vermögen die Sprecher somit auch zwischen Freiheit und Sicherheit keinen (prinzipiellen) Gegensatz zu erkennen. Darüber hinaus stellt sich hier aber vor allem die Frage nach der Bedeutung des Wortzeichens »trans-Atlantic security«. Unter der Bedingung, dass er auf die (militärische) Sicherheit im transatlantischen Raum verweist, ist es möglich, dass der Begriff die Sicherheit der verbündeten Anrainer beider Seiten des Atlantischen Ozeans voreinander, deren gemeinsame Sicherheit gegenüber Dritten oder auch beide Formen bezeichnet. Da das nordatlantische Bündnis weiter oben als auf den Grundsätzen der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit basierend vorgestellt wurde, sollte der Aspekt der Sicherheit der Partner voreinander jedoch keine allzu große Rolle spielen. Falls er dies aber doch tut, wäre zu prüfen, inwieweit sich das mit den drei erwähnten Gründungsprinzipien der NATO verträgt. »Our nations and our Alliance«50 Im Anschluss an die tendenziell anthropomorphisierende, das Bündnis zu einer tiefe Dankbarkeit empfindenden Instanz überhöhenden Ausdrucksweise rücken die Sprecher die Verhältnisse an dieser Stelle wieder zurecht. Sie, die Staats- und Regierungschefs, sind die höchsten Repräsentanten der NATO und mit entsprechender Handlungskompetenz ausgestattet. Augenscheinlich laufen die Fäden bei ihnen zusammen. Mithilfe der Rede von unseren Nationen und unserem Bündnis stärken sie vor allem das einigende Band zwischen ihnen als Spitzen der Exekutive. Vermutlich begreifen die Sprecher das Zusammenspiel der Verbündeten als eine Funktion ihres gemeinsamen Wollens, als eine Folge harmonischer Beziehungen untereinander. »are in their debt and offer them profound thanks.«51
49
»und (die) transatlantische Sicherheit gewährleistet (haben).«. »Unsere Nationen und unser Bündnis«. 51 »stehen in ihrer Schuld und entbieten ihnen tiefen Dank.«. 50
300
9. Fall 5: 50 Jahre NATO
Anstelle eines Endes der Vermenschlichung des Bündnisses reproduzieren die Sprecher hier ihre Äußerungen der vorangegangenen Sequenzen. Unsere Nationen und unser Bündnis stehen nicht nur in der Schuld der Militärangehörigen, sondern entbieten ihnen auch tiefen Dank. Ungeachtet der etwas unglücklichen Ausdrucksweise ist dieses Vorgehen gleichwohl völlig legitim. Denn kraft ihres Amtes sind die Staats- und Regierungschefs gewissermaßen mit Definitionsmacht über die Gefühlsregungen derer ausgestattet, die sie – direkt oder indirekt – in die Position gebracht haben, die sie momentan bekleiden. Und vor dem Hintergrund just dieser Position und dieser Macht halten es die höchsten Repräsentanten des atlantischen Bündnisses offenbar für angebracht, ein Gefühl der Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, das ihrer Ansicht nach nicht nur die Bürgerinnen und Bürger der von ihnen vertretenen Gemeinwesen, sondern eben auch die NATO als Ganze den Militärangehörigen aller Verbündeten gegenüber empfinden sollte(n). Spiegelbildlich laufen die Staats- und Regierungschefs auf diesem Wege Gefahr, den Status des Militärs zu überhöhen und die Aktivitäten der Streitkräfte gegen eine für alle Institutionen demokratischer Gemeinwesen geltende prinzipielle Kritisierbarkeit zu immunisieren. »4. The NATO of the 21st century starts today«52 Nachdem sie den Militärangehörigen der Bündnisstaaten so emphatisch für ihren Dienst zugunsten der Sache der Freiheit und der transatlantischen Sicherheit gedankt haben, dass sich nachgerade unmöglich macht, wer das Tun der Streitkräfte noch in irgendeiner Form kritisieren sollte, kehren die Sprecher nun zu dem von ihnen bereits in der Überschrift des vorliegenden Dokuments geprägten Reklamevers zurück. Ihrer Tendenz nach unterläuft die Äußerung, dass die NATO des 21. Jahrhunderts bereits heute, also am 24. April 1999 ihren Anfang nimmt, allerdings das chronologische Ordnungsprinzip, das dieser Charakterisierung immanent ist. Sofern den Staats- und Regierungschefs das Wortzeichen »NATO of the 21st century« aber vor allem als Metapher für die Notwendigkeit von Reformen gilt, wäre diese Sequenz auch so zu deuten, dass die Handlungsverantwortlichen des Bündnisses ihre „Hausaufgaben“ bereits gemacht haben und schon heute auf die Anforderungen von morgen vorbereitet sind. »- a NATO which retains the strengths of the past«53 Dass die Schaffung der neuen NATO kein revolutionärer Akt ist, zeigt sich auch in dieser Sequenz, in der die Sprecher klarmachen, dass das Bündnis des 21. Jahrhunderts die Stärken der Vergangenheit bewahren wird. Zu diesen Stärken dürften all jene Errungenschaften gehören, die einen Anteil daran hatten, dass die transatlantische Sicherheit über fünf Jahrzehnte gewährleistet werden konnte und die es den Bürgern der Mitgliedstaaten ermöglicht haben, eine beispiellose Epoche von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu genießen. Die Staats- und Regierungschefs reproduzieren hier also nicht nur ihre Konstruktion eines engen Zusammenhangs zwischen der Vergangenheit und der Zukunft der NATO, die sie bereits im Rahmen der Charakterisierung des neuen Bündnisses im zweiten Paragraphen etabliert haben, sondern unterminieren im Zuge der starken Betonung von Aspekten der Kontinuität – ebenfalls wie zuvor – ihre Strategie, das Bündnis als neu darzustellen. 52 53
»4. Die NATO des 21. Jahrhunderts nimmt heute ihren Anfang«. »- eine NATO, welche die Stärken der Vergangenheit bewahrt«.
9.2 Zusammenfassung
301
»and has new missions, new members and new partnerships.« 54 Da sich auch der Hinweis auf neue Aufträge und neue Mitglieder als Reproduktion von bereits vollgültig rekonstruierten Sinnstrukturen herausstellt – der Begriff neue Partnerschaften dürfte auf die Verregelung der Beziehungen zu anderen Organisationen und zu solchen Staaten verweisen, die (noch) nicht für eine Mitgliedschaft in Frage kommen – kann die Sequenzanalyse des Washingtoner Gipfelkommuniqués an dieser Stelle abgebrochen werden. Da der Aspekt, der herangezogen wurde, um die Auswahl des vorliegenden Dokuments zu begründen – die Selbstbetrachtung des Bündnisses im „Modus der Muße“ aus Anlass eines Jubiläums oder Jahrestags nämlich – im Laufe der bisherigen Analyse bereits ausgiebig zur Geltung gekommen ist, ist diese Entscheidung methodologisch unproblematisch und auch aus forschungspragmatischer Sicht verantwortbar.
9.2 Zusammenfassung Die Untersuchung der Eröffnungssequenzen des Washingtoner Gipfelkommuniqués hat deutlich gemacht, dass sich die Staats- und Regierungschefs des nordatlantischen Bündnisses sehr stark darum bemühen, die Legitimationsbasis ihres Zusammenschlusses zu verbreitern. Auf diesem Wege soll die Durchführung neuer Aufträge gerechtfertigt werden, auf die sie sich während ihres Treffens verständigt haben. Konkret geht es dabei um die Verhinderung von Konflikten und die (militärische) Bewältigung von Krisen, in die keine NATOMitglieder involviert sind. Dieser Befund soll im Folgenden anhand zweier Handlungsprobleme veranschaulicht werden, an denen sich die höchsten Repräsentanten des Bündnisses abarbeiten: dem Entwurf eines Selbstbildes und dem Nachweis der Legitimität der atlantischen Allianz. Was den Entwurf eines Selbstbildes betrifft, so präsentieren sich die Verbündeten durchgängig als sich ihrer gemeinsamen Geschichte bewusst. Interessanterweise reicht diese gemeinsame Geschichte (weit?) über die Errichtung der NATO hinaus, die nicht der Garant, sondern eine konkrete Manifestation der engen verteidigungs- und sicherheitspolitischen transatlantischen Verknüpfung ist. Zur Stärkung des Zusammenhalts untereinander erinnern sich die Staats- und Regierungschefs der Gründung der NATO in schwierigen und ungewissen Zeiten. Dabei folgt ihre Darstellung einer religiös imprägnierten Bewährungslogik. Gleichzeitig laufen sie jedoch Gefahr, das Bündnis unter inhaltsleere Werbefloskeln zu subsumieren. Denn während ihnen die Zukunft selbst schon als ein Symbol für Fortschritt und Qualität zu gelten scheint (»An Alliance for the 21st Century«), neigen sie dazu, ihr eigenes Innovationspathos durch eine starke Betonung von Aspekten der Kontinuität der Entwicklung der NATO abzuschwächen. Das am stärksten prägende Muster auf der Ebene des Entwurfs eines Selbstbildes besteht jedoch in einer Verbindung der gegenseitigen Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung mit tendenziell abstrakten politischen Prinzipien. So erwecken die Verbündeten nicht nur den Eindruck, sich unablässig verteidigen zu müssen, sondern begreifen ihren Zusammenschluss gleichzeitig auch als eine Einrichtung zur Verbreitung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in Europa (und darüber hinaus). Sie teilen ein wehrhaftes Selbstverständnis, das sich sowohl auf ein gemeinsames Territorium als auch auf die Grundsätze der 54
»und neue Aufträge, neue Mitglieder und neue Partnerschaften hat.«.
302
9. Fall 5: 50 Jahre NATO
Demokratie, der Freiheit der Person und der Rechtsstaatlichkeit bezieht. Vor allem aber sehen die Staats- und Regierungschefs nahezu alle Aktivitäten der Streitkräfte der NATOMitglieder als einen Dienst an der Sache der Freiheit an. Es wird deutlich, dass die höchsten Vertreter der atlantischen Allianz eine Art Habitus der kollektiven Verteidigung der Freiheit miteinander verbindet. Da sich bei ihnen das Gefühl, sich kollektiv verteidigen zu müssen, recht schnell einstellt, scheint es allerdings, als seien sie nur in Besitz einer eher prekären Freiheit. Darüber hinaus werden die politischen Motive hinter der geographischen Benennung des nordatlantischen Zusammenschlusses rasch erkennbar: Den Beteiligten geht es primär um die Verteidigung und Verbreitung eines bestimmten Konzepts der Freiheit. Eng mit dem Entwurf eines Selbstbildes verknüpft ist das Handlungsproblem „Nachweis der Legitimität des Bündnisses“, das gewissermaßen am Übergang von der Verteidigung zur Verbreitung der Freiheit angesiedelt ist. Zu seiner Lösung bemühen die Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten vor allem Errungenschaften aus der fünfzigjährigen Geschichte der NATO, gehen aber auch auf jüngere Ereignisse ein: Das Bündnis habe nicht nur der Prüfung von fünf Dekaden standgehalten – also wohl vor allem der Versuchung, sich aufzulösen –, sondern auch Wirkungen entfaltet, die über die Gewährleistung territorialer Integrität hinausgehen. Zu nennen ist hier insbesondere die Behauptung, dass die NATO den Bürgerinnen und Bürgern ihrer Mitgliedstaaten Frieden, Freiheit und Wohlstand in einem nie gekannten Ausmaß beschert habe. Diese Überhöhung der Bündnisgeschichte zu einer Art goldenem Zeitalter verschärft jedoch auch die Begründungsverpflichtung der Staats- und Regierungschefs in Bezug auf die während ihres Treffens vereinbarte Formung einer neuen NATO. Angesichts der dargestellten Erfolge aus der Vergangenheit wäre ein solch radikaler Bruch wohl nur unter Verweis auf dramatische Veränderungen der äußeren Bedingungen zu rechtfertigen. Dass die Sprecher, wie oben angemerkt, ihr eigenes Innovationspathos durch Kontinuitätsrhetorik spürbar abmildern, lässt sich daher so deuten, dass sie vom Vorliegen derart gravierender Veränderungen nicht wirklich überzeugt sind. Die Frage, welche Gründe die Verbündeten dazu bewogen haben könnten, die Legitimationsbasis ihres Zusammenschlusses zu verbreitern, lässt sich derweil mit Blick auf die neuen Aufträge (»new missions«) beantworten, von denen im Washingtoner Kommuniqué die Rede ist. Bei diesen Aufträgen handelt es sich um die Verhinderung von Konflikten und die Bewältigung von Krisen in und zwischen nicht der NATO angehörenden Staaten. Doch da sie die Legitimationsbasis zur Durchführung dieser neuen Aufträge augenscheinlich nicht mithilfe externer Quellen – wie einem Mandat der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – verbreitern können, versuchen die Staats- und Regierungschefs, ihr Ziel auf dem Wege eines Nachweises der besonderen Leistungen des Bündnisses zu erreichen. Zu diesem Zweck verweisen die Verbündeten neben der Verbreitung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in ihren Mitgliedstaaten auch auf die Überwindung der Teilung Europas. Als Sinnbild der Attraktivität ihrer Allianz gilt ihnen daher nicht zuletzt die Aufnahme von neuen Mitgliedern, die einer ehemals konkurrierenden Machtsphäre angehört haben. In diesem Zusammenhang erstaunt, dass die Staats- und Regierungschefs ihre Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung im Grunde genommen gleich für die nächsten einhundert Jahre verlängern; was sich in den vergangenen fünfzig Jahren bewährt hat, soll offenbar auch im 21. Jahrhundert Bestand haben.
9.2 Zusammenfassung
303
Die gemeinsame Klammer der Aktivitäten der NATO bildet schließlich das Eintreten der Streitkräfte ihrer Mitgliedstaaten für die Sache der Freiheit. Mit mehr oder weniger missionarischem Eifer soll die Freiheit in Zukunft auch dort verteidigt werden, wo Mitglieder des Bündnisses gar nicht involviert sind. In gewisser Weise wird Unfreiheit oder das, was die NATO-Partner darunter verstehen, hier zum permanenten Gegner der nordatlantischen Verbündeten. Der Bündniszweck wird tendenziell von der konkreten weltpolitischen Konstellation abgekoppelt, die NATO als eine Garantie gegen die Ausbreitung von Unfreiheit dargestellt.
IV. Fazit
10 Beantwortung der Forschungsfrage
Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, auf der Grundlage der Teilergebnisse der fünf Sequenzanalysen eine Antwort auf die Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation zu formulieren. Erreicht werden soll dieses Ziel in fünf Schritten: Zunächst erfolgt eine Darstellung der im Rahmen der Sequenzanalysen rekonstruierten „Fallstrukturen“, jenen Handlungsproblemen und Handlungsregeln also, die sich in den untersuchten Dokumenten manifestieren (10.1). Anschließend werden Zusammenhänge zwischen den – insgesamt fünf – rekonstruierten Handlungsproblemen sowie Auffälligkeiten in Bezug auf deren jeweilige chronologische Entwicklung diskutiert (10.2). In einem dritten Schritt werden die Befunde mit den Ergebnissen der Untersuchung des Nordatlantikvertrages abgeglichen (10.3), ehe schließlich besonders frappante Teilresultate an den Forschungsstand zurückgebunden werden (10.4) und die Forschungsfrage beantwortet wird (10.5).
10.1 Darstellung der rekonstruierten Handlungsprobleme und Handlungsregeln Die Befunde, die im Rahmen der in den Kapiteln 5-9 durchgeführten Sequenzanalysen der Fälle „Nordatlantikvertrag“, „Bosnien“, „Veränderung der internen Strukturen“, „Irak“ und „50 Jahre NATO“ rekonstruiert worden sind, lassen sich mithilfe von insgesamt fünf Handlungsproblemen veranschaulichen. Bei diesen handelt es sich um den Entwurf eines Selbstbildes, die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung, die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, den Nachweis der Legitimität und die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Mit jedem dieser Handlungsprobleme korrespondiert ein Satz von Handlungsregeln oder Überzeugungen, dem die Verantwortlichen des Bündnisses bewusst oder unbewusst folgen. Diese Handlungsregeln, die ebenfalls im Rahmen der Sequenzanalysen rekonstruiert worden sind, dienen den Bündnispartnern zur Lösung gemeinsamer Handlungsprobleme und verweisen so auf zentrale Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO. Der erste Schritt, um zu einer Antwort auf die Forschungsfrage zu gelangen, besteht daher in einer Gesamtdarstellung der rekonstruierten Handlungsprobleme und Handlungsregeln. Mit anderen Worten: Es gilt, eine Synthese der Zusammenfassungen der fünf Sequenzanalysen zu bilden. Da der Fortbestand des Bündnisses nach dem Ende der Blockkonfrontation im Zentrum der Debatte in den Internationalen Beziehungen steht, wird die Analyse des Nordatlantikvertrages, dessen Unterzeichnung im Jahre 1949 außerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums, d.h. den Jahren seit 1989/91, liegt, zunächst ausgeblendet (ein Abgleich mit den Resultaten der Analyse der „Gründungsurkunde“ der NATO folgt jedoch in Abschnitt 10.3).1 1 An dieser Stelle sei angemerkt, dass Handlungsprobleme und Handlungsregeln in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie Fälle und Dokumente. Hier wie dort ist es letztlich nicht entscheidend, wie ein Handlungsproblem oder ein Fall abgegrenzt oder benannt wird; Überschneidungen sind wohl in beiden Fällen eher die Regel als die Ausnahme. Vielmehr kommt es darauf an, dass ein Handlungsproblem stets auf einen Satz von Handlungs-
308
10. Beantwortung der Forschungsfrage
Gemäß der oben vorgeschlagenen Reihenfolge ist der Entwurf eines Selbstbildes das erste der zu erörternden Handlungsprobleme. Zu den auf dieses Problem verweisenden Handlungsregeln gehört vor allem die Präsentation von Geschichtsbewusstsein. Die Verbündeten geben zu erkennen, dass sie über eine gemeinsame Deutung der Geschichte ihres Zusammenschlusses verfügen, die sie zum Maßstab ihres zukünftigen Handelns machen wollen. Darüber hinaus suggerieren sie, dass ihre gemeinsame Geschichte über die Gründung der NATO hinausweist; das Bündnis selbst ist für sie nur die zeitgenössische Verkörperung einer engen verteidigungs- und sicherheitspolitischen transatlantischen Bindung. Während die Partner die vergangenen Leistungen der Allianz mithilfe einer tendenziell religiös imprägnierten Bewährungslogik würdigen, sind sie zwischen dem Pathos einer Neuschaffung und Neuerfindung des Bündnisses auf der einen und einer Betonung seiner kontinuierlichen Entwicklung auf der anderen Seite hin- und hergerissen. Kontinuität symbolisieren in erster Linie die gegenseitige Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung und die (kollektiv zu verteidigenden) abstrakten Prinzipien der Demokratie, der Freiheit der Person und der Rechtsstaatlichkeit, auf denen die NATO gegründet wurde. Vor dem Hintergrund eines gewissen Sendungsbewusstseins der Verbündeten hat es schließlich den Anschein, als würde der Begriff der kollektiven Verteidigung immer umfassender (wenn nicht gar offensiver) interpretiert und als sollten die politischen Grundsätze, die dem gemeinsamen Handeln der Partner zugrunde liegen, an immer ferneren Orten verteidigt werden. Ganz eng mit dem Entwurf eines Selbstbildes verknüpft ist also ein zweites Handlungsproblem des Bündnisses, die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung. Auch wenn, wie der Fall „Irak“ gezeigt hat, die Bedrohungswahrnehmungen der NATOPartner nicht immer deckungsgleich sind, folgt ihr Handeln im Kontext der potentiellen Bedrohung eines Mitglieds dennoch der Regel, dass das Beistandsversprechen, das sie sich wechselseitig gegeben haben, zu aktivieren und umgehend mit der Planung von Maßnahmen zur kollektiven Verteidigung zu beginnen ist – zur Not auch ohne eine Beteiligung aller Verbündeten. Dem Ziel einer Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung dient auch die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, die ein drittes der nordatlantischen Allianz zuschreibbares Handlungsproblem darstellt. Der Fall einer potentiellen Bedrohung des NATO-Mitglieds Türkei durch den Irak hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Verbündeten in einer Krise, die sowohl das Binnenverhältnis der Partner untereinander als auch deren gemeinsame Außenbeziehungen zu anderen Staaten oder Organisationen betrifft, dazu neigen, sich explizit der Grundlagen ihres Zusammenschlusses zu vergewissern, insbesondere der Geltung der Bestimmungen des Nordatlantikvertrages. Ihr Bestreben, die eigenen Bestimmungen einzuhalten, geht mitunter so weit, dass interne Abläufe wie die Durchführung von Konsultationen aus Anlass der potentiellen Bedrohung eines Mitglieds als Automatismen dargestellt werden, die keiner Diskussion mehr bedürfen. Die Gestaltung des eigenen Handlungsspielraums nach außen ist in solchen
regeln verweist – ganz so, wie einem Fall stets eine Anzahl an Dokumenten zugeordnet werden kann (im Grenzfall beträgt die Größe des Handlungsregel-Satzes und beläuft sich die Dokumenten-Anzahl auf 1). Darüber hinaus sei erwähnt, dass im Folgenden darauf verzichtet wird, die Handlungsregeln als Konsekutivsätze („Ein Sprecher S ist überzeugt, dass X“) zu formulieren. Entscheidend ist allein, dass es prinzipiell möglich ist, den semantischen Gehalt einer Handlungsregel als Konsekutivsatz darzustellen.
10.1 Darstellung der rekonstruierten Handlungsprobleme und Handlungsregeln
309
Krisen derweil an der Handlungsregel orientiert, die Autonomie der NATO zu betonen und nach Möglichkeit zu mehren – auch zu Lasten Dritter. Im Kontext der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen wurde auch ein Muster deutlich, welches zeigt, dass der Fortbestand des Bündnisses nicht als ein „Selbstläufer“ erachtet werden kann. Die Existenz der Allianz als einer effektiven Organisation ist vielmehr davon abhängig, dass die Repräsentanten der Mitgliedstaaten ein wohlwollendes Urteil über die Fähigkeit ihres Zusammenschlusses zur Lösung gemeinsamer Probleme fällen. Dass die Identifikation der Verbündeten mit der NATO vor allem dann nachlässt, wenn Themen zur Sprache kommen, für die latente Schwierigkeiten oder offene Unstimmigkeiten kennzeichnend sind – im Rahmen der Analyse interner Strukturveränderungen waren dies insbesondere die Einsätze in Afghanistan und Bosnien, die Umsetzung des NATO Response Force-Konzepts, die Institutionalisierung des Austauschs von Geheimdienstinformationen, die Handhabung der Versorgung der Truppen mit Nachschub und die Implikationen einer Machbarkeitsstudie zur Raketenabwehr –, zeigt an, wo die Grenzen der kollektiv geteilten Definition von Handlungsproblemen verlaufen und entlang welcher Konfliktlinien es zu kleineren Verwerfungen, tiefen Gräben oder unüberwindbaren Brüchen zwischen den Konstituenten des Bündnisses kommen kann. Indes hat die eingeschlagene Strategie, Dissonanzen auf dem Wege einer Erhöhung der Flexibilität der internen Abläufe zu begegnen, möglicherweise den Nachteil, bestehende Tendenzen einer nachlassenden Kohäsion unter den transatlantischen Partnern weiter zu verstärken. Da das Nachaußentragen interner Differenzen das Ansehen der NATO zu schädigen vermag, bildet der Nachweis der Legitimität ein viertes Handlungsproblem, mit dem sich die Repräsentanten des Bündnisses konfrontiert sehen. Die Überzeugungen, denen das auf eine Lösung des Legitimitätsproblems gerichtete Handeln der Verbündeten folgt, beinhalten eine Erweiterung des Tätigkeitsbereichs der Allianz und die Bekräftigung von deren Kooperationsfähigkeit in Verbindung mit einer gewissen Zurückhaltung bei der Ankündigung der eigenen Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel. Weiterhin wird die Existenz der NATO damit gerechtfertigt, dass sie „den Prüfungen von fünf Jahrzehnten standgehalten“ und Wirkungen gezeitigt habe, die über die Gewährleistung der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten hinausgehen. So hat sich das Bündnis den eigenen Angaben zufolge nicht nur bei der Bewältigung seiner Kernaufgabe bewährt, also dem Schutz des Lebens der Bürgerinnen und Bürger seiner Mitgliedstaaten auf Grundlage der gegenseitigen Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung und Aufrüstung, sondern auch dadurch, dass es die Teilung Europas überwand und neue Mitglieder aus einer ehemals konkurrierenden Machtsphäre aufgenommen hat. Im Zuge der Verbreitung von Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in Europa hat die NATO dem alten Kontinent gewissermaßen eine Art goldenes Zeitalter beschert. Zu den neuen Aufgaben des Bündnisses, die stets als Missionen bezeichnet werden und somit einen religiösen Bedeutungsrest transportieren, gehören die Verhinderung von Konflikten und die Bewältigung von Krisen jenseits des eigenen Territoriums. Während die Bedrohungen und Herausforderungen zumeist nicht konkret benannt werden, empfiehlt sich die Allianz, nicht zuletzt aufgrund der multiplen Verwendbarkeit der ihr zur Verfügung stehenden Streitkräfte, als Garantie gegen eine Ausbreitung von Unfreiheit. Das fünfte und letzte der rekonstruierten Handlungsprobleme verweist auf die Gestaltung des Verhältnisses der NATO zu den Vereinten Nationen. Auf gute oder harmonische (Arbeits-)Beziehungen zwischen den beiden Institutionen deutet hin, dass die transatlanti-
310
10. Beantwortung der Forschungsfrage
schen Partner im Rahmen der (Bürger-) Kriege auf dem westlichen Balkan zunächst vor einer Selbstmandatierung zurückschrecken und sie sich noch wenige Wochen vor Beginn des von den USA initiierten Krieges gegen den Irak (auf dem Wege einer expliziten Bestätigung der Geltung von Artikel 1 des Nordatlantikvertrages) den Zielen der UN unterordnen. Der Fall „Bosnien“ hat jedoch auch gezeigt, dass das Verhältnis von Zweideutigkeiten geprägt ist, die in einer offenen Paternalisierung der Vereinten Nationen durch ihren (formaljuristischen) „Filius“, die NATO, gipfeln. Geschickt erhöhen die Verantwortlichen des atlantischen Bündnisses den Handlungsdruck auf die UN, um sich sodann als wirksamere Problemlösungsalternative zu präsentieren. Auf diese Weise suggerieren sie, dass die Ziele der Vereinten Nationen, zu denen sie sich klar bekennen, in ihren Händen besser aufgehoben sind. Im Zuge der Irakkrise neigen die Bündnispartner dazu, ihren Handlungsspielraum größer darzustellen als er ist. Sie maximieren ihre Autonomie auf Kosten der UN und offenbaren eine gewisse Neigung zur Selbstermächtigung. Eigene Entscheidungen werden mit UNBeschlüssen gleichgesetzt. Während sich die angekündigte Unterstützung der Vereinten Nationen tendenziell auf die Vorschläge der im UN-Sicherheitsrat vertretenen NATOMitglieder beschränkt, geben die Verbündeten zu erkennen, zwar die Diskussionen in diesem Gremium zu verfolgen, sich aber nicht zwingend an deren Ergebnisse gebunden zu fühlen. Da die im Sicherheitsrat vertretenen Bündnispartner in der Irakfrage verschiedene Positionen vertreten haben, deutet dies zugleich darauf hin, dass die Angehörigen der atlantischen Allianz über ein avantgardistisches Selbstverständnis von erstaunlichem Ausmaß verfügen: Offenbar glauben sie auch dann noch, am besten zur Lösung einer internationalen Streitfrage geeignet zu sein, wenn sie selbst uneins sind. Allem Anschein nach bekleidet die atlantische Allianz gegenüber den Vereinten Nationen im Allgemeinen und dem UNSicherheitsrat im Besonderen also die Position eines Herausforderers.
10.2 Zusammenhänge zwischen den Handlungsproblemen und chronologische Auffälligkeiten Vor dem Hintergrund der obigen Darstellung wird deutlich, dass Zusammenhänge zwischen den fünf rekonstruierten Handlungsproblemen vor allem entlang zweier Linien bestehen. Zum einen ist dies der Konnex aus dem Entwurf eines Selbstbildes, der Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung sowie der Ausgestaltung der internen Machtund Entscheidungsstrukturen, zum andern die Beziehung zwischen dem Nachweis der Legitimität und der Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen. Die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung fungiert als eine Art Bindeglied zwischen dem Entwurf eines Selbstbildes und der Ausgestaltung der internen Machtund Entscheidungsstrukturen der NATO. Im Sinne eines (übergeordneten) Ziels prägt dieses Handlungsproblem sowohl die Sicht der Verbündeten auf sich selbst als auch die Anordnung und Handhabung der (Macht-) Mittel zu seiner Erreichung. Ganz ähnlich verweist die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen meist unmittelbar auf ein Legitimitätsproblem der nordatlantischen Allianz. Zur Lösung dieses Problems suggerieren die Partner, wirksamer als die UN selbst zu sein, deren Ziele sie teilen.2 2 Indem der Anspruch, wirksamer als die Vereinten Nationen zu sein, seinerseits auf den Entwurf eines Selbstbildes zurückverweist, wird abermals deutlich, dass es sich bei der Abgrenzung der Handlungsprobleme um eine
10.2 Zusammenhänge zwischen den Handlungsproblemen und chronologische Auffälligkeiten
311
Diese beiden größeren Komplexe, in welche die fünf Handlungsprobleme weiter unterteilt werden können, also die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung als Basis des Entwurfs eines Selbstbildes und der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen auf der einen Seite und das Herausfordern der Vereinten Nationen zur Erhöhung der eigenen Legitimität auf der anderen, stehen nun ihrerseits in einem besonderen Verhältnis zueinander. Das Ansehen des Bündnisses bzw. das Problem, dessen Legitimität nachzuweisen, hängt von der Fähigkeit der transatlantischen Partner ab, nach innen wie nach außen den Eindruck zu vermitteln, nicht nur über eine gemeinsame Agenda zu verfügen, sondern auch über den politischen Willen, diese (gegebenenfalls in offener Konkurrenz zur UN) mit vereinten Kräften zu verwirklichen. *** Um feststellen zu können, ob es innerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums, d.h. den Jahren seit dem Ende der Blockkonfrontation, zu Veränderungen auf der Ebene der Handhabung der fünf dem Bündnis zuschreibbaren Handlungsprobleme gekommen ist, bedarf es zunächst einer Abkehr von der Reihenfolge, in der die Sequenzanalysen angefertigt worden sind. Stattdessen bietet es sich an, die untersuchten Dokumente chronologisch anzuordnen (siehe Tabelle 10.1). Auf dieser Grundlage wird es möglich, zu Aussagen darüber zu gelangen, ob – in der Sprache der objektiven Hermeneutik ausgedrückt – die rekonstruierten „Fallstrukturen“ über Zeit reproduziert oder transformiert worden sind. Diese chronologische Entwicklung soll nun kurz anhand der einzelnen Handlungsprobleme veranschaulicht werden.3
kontingente Strukturierung der verschiedenen Ergebnisse der Sequenzanalysen handelt. Mit anderen Worten: Handlungsregeln (wie die Formulierung des Anspruches, wirksamer als die Vereinten Nationen zu sein) können sich auf mehr als ein Handlungsproblem beziehen. 3 Zuvor sei angemerkt, dass der Wert der Forschungsergebnisse nicht dadurch eingeschränkt wird, dass nicht jedes Handlungsproblem in jedem untersuchten Fall anzutreffen ist. Ganz im Gegenteil ist es höchst interessant zu sehen, dass die Strukturierung der Ergebnisse der fünf Sequenzanalysen mithilfe von nicht mehr als einer Handvoll wiederkehrender Dimensionen vorgenommen werden kann. Zudem lassen sich aufgrund der engen Verflechtung und der kontingenten Benennung der einzelnen Handlungsprobleme Spuren, die auf den Entwurf eines Selbstbildes hindeuten, auch in den Ergebnissen der Analyse des Falles „Bosnien (1995)“ finden, ganz so wie Hinweise auf eine Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung auch in den Fällen „50 Jahre NATO (1999)“ und „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ oder Momente des Nachweises der Legitimität des Bündnisses auch im Fall „Irak (2003)“ enthalten sind. Vor diesem Hintergrund besteht durchaus Grund zu der Annahme, dass das Gesamtergebnis der vorliegenden Arbeit ähnlich ausgefallen wäre, wenn andere Fälle berücksichtigt, d.h. andere Dokumente sequenzanalysiert worden wären.
312
10. Beantwortung der Forschungsfrage
Tabelle 10.1: Übersicht über die rekonstruierten Handlungsprobleme in chronologischer Anordnung der untersuchten Fälle
Fall
Handlungsproblem
Fall 1 (Kap. 5)
Fall 2 (Kap. 6)
Fall 5 (Kap. 9)
Fall 4 (Kap. 8)
Fall 3 (Kap. 7)
NordatlantikVertrag
Bosnien
50 Jahre NATO
Irak
Veränderung der internen Strukturen
1949
1995
1999
2003
2006
Entwurf eines Selbstbildes
X
X
X
Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung
X
X
Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen
X
X
Nachweis der Legitimität
X
X
Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen
X
X
X
X
X
X
X
Die Teilergebnisse auf der Ebene des Handlungsproblems Entwurf eines Selbstbildes verhalten sich weitestgehend komplementär zueinander. Das im Rahmen des Falles „50 Jahre NATO (1999)“ diagnostizierte Ensemble aus Geschichtsbewusstsein, religiös imprägnierter Bewährungslogik und einer Verbindung der kollektiven Verteidigung mit abstrakten Prinzipien findet im Kontext der „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ jedoch in einem gewissen Sendungsbewusstsein seine Fortsetzung, so dass diesbezüglich durchaus von einer Strukturreproduktion innerhalb des Zeitraums seit 1989/91 ausgegangen werden kann. Unterdessen erfolgte eine explizite Zusammenfassung von Befunden unter der Überschrift Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung zwar allein im Fall „Irak (2003)“, die Wichtigkeit dieses Ziels bzw. Handlungsproblems wird allerdings auch in den Fällen „50 Jahre NATO (1999)“ und „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ deutlich. Daher dürfte die Diagnose Strukturreproduktion hier ebenfalls gerechtfertigt sein. Was die Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen anbelangt, so ist eine gewisse Bewegung von der (quasi-automatischen) Einhaltung der internen Bestimmungen und Abläufe im Fall „Irak (2003)“ hin zu einer Erhöhung der Flexibilität und zu Identifikationsproblemen der Verbündeten mit ihrem Zusammenschluss im Fall der „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ zu erkennen (Strukturtransformation). Die auf den Nachweis der Legitimität des Bündnisses gerichteten Handlungsregeln der transatlantischen Partner kennzeichnen derweil vor allem kontinuierliche Hinweise auf die
10.3 Abgleich mit den Ergebnissen der Untersuchung des Nordatlantikvertrages
313
Erweiterung des Aufgabenspektrums und die Kooperationsfähigkeit der NATO (Strukturreproduktion). Während die anfängliche Zurückhaltung bei der Ankündigung der eigenen Bereitschaft zum Einsatz von Zwangsmitteln im Fall „Bosnien (1995)“ einer stärkeren Betonung der militärischen Fähigkeiten im Rahmen der Fälle „50 Jahre NATO (1999)“ und „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ gewichen ist (Strukturtransformation), bilden die Garantie gegen eine Ausbreitung von Unfreiheit im Fall „50 Jahre NATO (1999)“ sowie die Nichtbenennung der Bedrohungen und Herausforderungen und das Ziel des Schutzes des Lebens der Bewohner im Fall der „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ eine Art zeitübergreifendes Amalgam der Legitimität der NATO (Strukturreproduktion). Schließlich ist die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen nahezu durchgängig von einer Ambivalenz geprägt, die einem (latenten) Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Institutionen entspringt und die sich zumeist in einer Herausforderung des UN-Sicherheitsrats durch die atlantische Allianz manifestiert (Strukturreproduktion).
10.3 Abgleich mit den Ergebnissen der Untersuchung des Nordatlantikvertrages Im Anschluss an die Darstellung der rekonstruierten Handlungsprobleme, der Zusammenhänge zwischen diesen und der chronologischen Auffälligkeiten (innerhalb des Zeitraums seit dem Ende der Blockkonfrontation) besteht der nächste Schritt in Richtung einer Beantwortung der Forschungsfrage nun darin, die bisherigen Resultate zu den Ergebnissen der Sequenzanalyse des Gründungsdokuments der NATO in Beziehung zu setzen. Ein solcher Abgleich ermöglicht es, die Suche nach reproduzierten oder transformierten Bedeutungsstrukturen auf die Anfänge der atlantischen Allianz auszudehnen. Da der 1949 abgeschlossene Nordatlantikvertrag seither nicht außer Kraft gesetzt wurde, hat er seine Gültigkeit bis heute behalten; er wurde außerhalb des von der Fragestellung aufgespannten Zeitraums unterzeichnet, liegt aber nicht außerhalb des Untersuchungszeitraums. Auf der Ebene des Entwurfs eines Selbstbildes hat die Analyse des Nordatlantikvertrages neben der Verpflichtung der Partner zu gegenseitigem Beistand und der Fortsetzung der Weltkriegsallianz(en) eine gewisse religiöse Tendenz, die Bekundung eines gemeinsamen zivilisatorischen Erbes und ein avantgardistisches Selbstverständnis der Verbündeten zu Tage gefördert. Dem entsprechen die Ergebnisse der Fälle nach 1990, die als Reproduktion dieser Bedeutungsstrukturen angesehen werden können. Dies gilt insbesondere für das ausgeprägte Geschichts- und Sendungsbewusstsein sowie die religiös imprägnierte Bewährungslogik, aber auch für die Verbindung der kollektiven Verteidigung mit abstrakten Prinzipien und die Gleichzeitigkeit von Innovationspathos und einer Betonung der kontinuierlichen Entwicklung des Bündnisses. Auch die Versuche zur Lösung des Handlungsproblems Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung werden epochenübergreifend reproduziert. Die existentielle Bindung der Partner aneinander, die sich im Rahmen des Nordatlantikvertrages in einer Verpflichtung zu Bewaffnung, Rüstungskooperation und gegenseitigem Beistand manifestiert, setzt sich aus Anlass einer Bedrohung der Türkei, NATO-Mitglied seit 1952, noch über fünfzig Jahre nach der Unterzeichung des Vertrages in der Aktivierung der Verteidigungsplanung und des Beistandsversprechens fort.
314
10. Beantwortung der Forschungsfrage
Die vertragliche Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen ist derweil in erster Linie von einer gewissen Vagheit und Flexibilität, von Spielräumen zugunsten der Definitionshoheit des stärksten Partners und von der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten über das Bündnis geprägt. Neben Bestimmungen zur Beseitigung wirtschaftlicher Konflikte und zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung der individuellen und kollektiven Widerstandskraft gegen Angriffe kennzeichnet den Nordatlantikvertrag nicht zuletzt die Bildung von Gruppen innerhalb der Verbündeten, die in der Schaffung einer Art „Kernatlantik“ mündet. Demgegenüber nimmt sich die im Kontext der Veränderung der internen Strukturen diagnostizierte Erhöhung der Flexibilität der internen Abläufe wie eine Strukturreproduktion auf erweiterter Stufenleiter aus. Dieser Schritt erfolgt jedoch um den Preis eines Nachlassens des Zusammenhalts zwischen den Verbündeten, das sich in deren verstärkten Identifikationsproblemen mit dem Bündnis äußert. Das Deutlichwerden der Abhängigkeit des Fortbestands der NATO von der Kompromissbereitschaft ihrer Mitglieder im Fall der „Veränderung der internen Strukturen (2006)“ kann daher ebenso als Strukturtransformation aufgefasst werden wie die Betonung und Mehrung der Autonomie des Bündnisses nach außen und die Betonung der (quasi-automatischen) Einhaltung der internen Bestimmungen und Abläufe im Fall „Irak (2003)“. Der Nachweis der Legitimität erfolgt innerhalb des Nordatlantikvertrages vor allem auf zweierlei Weise, mithilfe eines avantgardistischen Selbstverständnisses nach innen und außen sowie auf dem Wege einer geographischen (Schein-?)Rechtfertigung des „nordatlantischen“ Charakters des Zusammenschlusses. Während Spuren eines avantgardistischen Selbstverständnisses der Partner, die Darstellung der Allianz als Garantie gegen eine Ausbreitung von Unfreiheit und Ambivalenzen in Zusammenhang mit der geographischen Benennung des Bündnisses auch in jenen Dokumenten reproduziert werden, welche die Entwicklung der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation repräsentieren, ist das Handlungsproblem Nachweis der Legitimität zugleich Gegenstand einiger Strukturtransformationen. Hinweise auf die Erweiterung des Aufgabenspektrums und die Kooperationsfähigkeit der NATO sind dabei ebenso zu nennen wie die Betonung von deren militärischen Fähigkeiten. Was schließlich die Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen betrifft, so ist der Nordatlantikvertrag in erster Linie von einer starken Ambivalenz und von immensem Legitimationsdruck der Partner gekennzeichnet. Die diagnostizierten Mehrdeutigkeiten reichen von dem Bemühen, den transatlantischen Zusammenschluss in einem möglichst spannungsfreien Verhältnis zu den Vereinten Nationen oder sogar als deren Regionalorganisation zu präsentieren, bis hin zu einer nachhaltigen Schwächung der Glaubwürdigkeit der (religiös gefärbten) Loyalitätsbekundungen zugunsten des Vorrangs der UN-Charta. Es wird deutlich, dass beide Institutionen in einem latenten Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Diese Ambivalenzen setzen sich in den Fällen nach dem Ende der Blockkonfrontation fort (Strukturreproduktion). Weil sie die NATO für wirksamer als die Vereinten Nationen halten, erhöhen die Verbündeten den auf der Weltorganisation lastenden Handlungsdruck und fordern den UN-Sicherheitsrat heraus. Die transatlantischen Partner neigen zu Selbstermächtigung und maximieren ihre Autonomie auf Kosten der Vereinten Nationen, die sie tendenziell bevormunden.
10.4 Rückbindung zentraler Befunde an den Forschungsstand
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10.4 Rückbindung zentraler Befunde an den Forschungsstand Der vierte und vorletzte Schritt im Rahmen der Beantwortung der Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation besteht in einer Rückbindung der in den Sequenzanalysen rekonstruierten Teilergebnisse an den Forschungsstand, der in Kapitel 2 dargestellt worden ist. Dabei wird deutlich, dass die mit dem Handlungsproblem Entwurf eines Selbstbildes korrespondierenden Handlungsregeln vor allem von den Wertegemeinschaftskonstruktivisten und Postparadigmatisten thematisiert werden, während die im Kontext der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, des Nachweises der Legitimität und der Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung aufgeworfenen Aspekte in erster Linie von den Vertretern des neoliberalistischen Institutionalismus adressiert werden. Der Komplex der Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen, der die mutmaßlich erkenntnisträchtigste und deutungsintensivste Dimension der Resultate der vorliegenden Arbeit verkörpert, spielt dagegen in keiner der für den Forschungsstand konstitutiven theoretischen Strömungen der Internationalen Beziehungen eine besondere Rolle. Gleichwohl verhält es sich jedoch auch so, dass bestimmte Aspekte des Forschungsstands von keinen der in den Sequenzanalysen rekonstruierten Handlungsproblemen und Handlungsregeln berührt werden. Dies gilt insbesondere für die Argumente der Neorealisten, die auf die Struktur des internationalen Systems und deren Eigenschaften, auf Anarchie und Polarität, Bezug nehmen. Ob es sich bei dieser „Nichtübereinstimmung“ um eine Funktion des Forschungsdesigns handelt oder ob Annahmen über die Systemstruktur generell nur schwer „empirisch“, d.h. am konkreten Material, einzulösen sind, muss in diesem Zusammenhang offen bleiben. Zweifellos mag die Herangehensweise der vorliegenden Arbeit im weitesten Sinne jener der zwei mutmaßlichen Hauptherausforderer des Neorealismus, den Anhängern des Institutionalismus und des Wertegemeinschaftskonstruktivismus, entsprechen, wird doch die NATO selbst und nicht das internationale System zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht. Streng fallibilistisch gedacht hätten die Charakteristika des internationalen Systems jedoch aus den analysierten Dokumenten der NATO herauszulesen sein müssen, sofern sie für die Forschungsfrage von besonderer Relevanz gewesen wären. Dass dies nicht der Fall ist, stellt durchaus ein ernst zu nehmendes Argument dar, um der Behauptung zu begegnen, die gewählte Herangehensweise hätte verhindert, dass Faktoren auf der Ebene der Struktur des internationalen Systems für eine Antwort in Betracht kommen. Dessen ungeachtet sind die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit alles andere als inkommensurabel mit neorealistischen Argumenten. So kann Kenneth Waltz’ Behauptung, die NATO habe aufgehört zu existieren, weil nicht mehr klar sei, gegen wen sie einen Garantievertrag bilde, entgegengehalten werden, dass (zumindest) die Verbündeten selbst ihren Zusammenschluss als eine Garantie gegen die Ausbreitung von Unfreiheit verstehen. Vor allem aber kann den Neorealisten im Lichte der Untersuchung der Veränderung der internen Strukturen darin zugestimmt werden, dass die Erhöhung der Flexibilität des Bündnisses auf Kosten des Zusammenhalts zwischen den Partnern erfolgt. Da das Argument der neuen NATO als eines nurmehr losen politischen Verbundes ebenso von Vertretern der These des Fortbestands der atlantischen Allianz gemacht wird, muss dieser Punkt allerdings auch dem Konto der neoliberalistischen Institutionalisten, namentlich Helga Haftendorn, „gutgeschrieben“ werden. Zweifellos wurde deutlich, dass
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das Bündnis nach dem Ende der Blockkonfrontation neue Funktionen, Formen, Rollen – und vor allem neue Kernaufgaben – übernommen hat. Die klassische Behauptung der Institutionalisten, dass Organisationen unabhängig von den Gründen ihrer Entstehung fortbestehen können, erwies sich anhand der NATO jedoch als weit weniger bedeutsam: Die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung in Form einer Verpflichtung zu Bewaffnung und gegenseitigem Beistand, die sich als Hauptzweck des Nordatlantikvertrages herausgestellt hat, wird von den Verbündeten heute noch ähnlich heftig beteuert wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.4 Was die Charakterisierung des Bündnisses durch die Anhänger des Wertegemeinschaftskonstruktivismus anbelangt, die in der NATO primär einen Zusammenschluss von liberalen Demokratien erkennen, die ihre Überzeugungen externalisieren, so weisen einige der Befunde im Kontext des Handlungsproblems Entwurf eines Selbstbildes durchaus in eine ähnliche Richtung. Im Sinne einer kollektiven Identität scheint der Konnex aus Demokratie, Freiheit und Sicherheit für die Sicht der transatlantischen Partner auf sich und die Welt sowie ihr daran geknüpftes Handeln durchaus von Bedeutung zu sein. Anstatt die NATO deshalb aber sogleich zum Inbegriff eines „demokratischen Friedens“ zu überhöhen, neigt der Autor der vorliegenden Arbeit eher der latenten Skepsis der zweiten Generation der Wertegemeinschaftsverfechter zu, die daran erinnern, dass es sich bei den transatlantischen Gemeinsamkeiten vor allem um diskursive Erzeugnisse der Verbündeten, um mit politischen Absichten verknüpfte Selbstbeschreibungen also, handelt. Darüber hinaus kann die Kritik, die einige der dem postmodernen Spektrum zugeordneten Autoren am politischen Konzept des Westens üben, als negative Bewertung des avantgardistischen Selbstverständnisses der transatlantischen Partner verstanden werden, das sich am deutlichsten in der Analyse des Nordatlantikvertrages, aber auch im Fall „Irak (2003)“ gezeigt hat. Zudem lassen sich wohl auch die postparadigmatistischen Einlassungen, die NATO als Gegenstand ernst zu nehmen, gemeinsame Normen und Regeln nicht per se als demokratische Praktiken zu interpretieren und das „Überleben“ des Bündnisses mit dessen Formbarkeit und der Veränderung der Konzepte der NATO von sich selbst in Zusammenhang zu bringen, an jene Resultate zurückbinden, die nicht nur, aber auch im Kontext des Handlungsproblems Entwurf eines Selbstbildes erzielt worden sind. Dass sich schließlich die Positionen der Wertedifferenzen-Realisten, der optimistischen Realisten und der klassischen Liberalisten zumindest auf den ersten Blick kaum in den Ergebnissen der Sequenzanalysen widerspiegeln, könnte abermals dem Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit angelastet werden. Einer solchen Behauptung wäre jedoch nicht nur entgegenzuhalten, dass die im Fall der „Veränderung der internen Strukturen“ (2006) diagnostizierten Identifikationsprobleme der Verbündeten mit ihrem Zusammenschluss durchaus als Ausdruck von Differenzen zwischen den Partnern im Allgemeinen bzw. den USA und ihren europäischen Verbündeten im Besonderen aufgefasst werden können (ganz gleich, ob diese Differenzen nun eher politischer, wirtschaftlicher oder soziokultureller Art sein mögen), sondern auch, dass jedweder Konsens unter den Verbündeten, der im Rahmen der Sequenzanalyen aufgespürt worden ist, als Manifestation transatlantischer Kompromissbildung oder gleichgerichteter Werte und Interessen zu gelten hat. Die diesbezüglich zu Tage geförderten Ergebnisse weisen also in beide Richtungen; Konsens und Dissens existieren nebeneinander. 4 Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang noch angemerkt, dass sich in den Sequenzanalysen so gut wie keine Anhaltspunkte für die Kosten-Nutzen-Kalküle des ökonomischen Institutionalismus finden ließen.
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Weiterhin enthält insbesondere die Untersuchung des Nordatlantikvertrages auch Anhaltspunkte, die der auf die Mitgliedstaaten gerichtete klassische Liberalismus in den Blick nimmt. So lassen (selbst im Falle einer strikt immanenten Interpretation) die Flexibilität und Vagheit bei der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen, die offen gelassenen Spielräume zugunsten der Definitionshoheit des stärksten Partners und die Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten über das Bündnis den Schluss zu, dass den USA eine ganz besondere Rolle im Prozess der Gewährleistung des Fortbestands der NATO zukommt.
10.5 Beantwortung der Forschungsfrage Im Lichte der vorausgegangenen Abschnitte lässt sich die Forschungsfrage nun folgendermaßen beantworten: Zu den entscheidenden Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation gehört, dass die Verbündeten ihren Zusammenschluss insbesondere auf der Grundlage eines avantgardistischen Selbstverständnisses als wirksamere Alternative zu den Vereinten Nationen präsentieren. Sie sind davon überzeugt, die Prinzipien der UN-Charta besser verwirklichen zu können und versuchen, die Legitimität der Allianz auf Kosten des UN-Sicherheitsrats zu erhöhen. Die NATO-Partner fordern die Vereinten Nationen heraus und bemühen sich, das Bündnis auf eine Stufe mit der Weltorganisation zu stellen – vor allem, was seine Kompetenzen anbelangt. Nicht zuletzt äußert sich die unmittelbare Konkurrenz zwischen den beiden Institutionen darin, dass die transatlantischen Verbündeten dazu neigen, die Vereinten Nationen zu bevormunden.5 In diesem Zusammenhang ist derweil von zentraler Bedeutung, dass sich die Partner bei den meisten Sachfragen über zahlreiche Details einig sein müssen. Die Verständigung auf eine gemeinsame Agenda und deren Umsetzung bildet den von Fall zu Fall immer wieder neu zu lösenden Schlüsselkonflikt mit Blick auf den weiteren Fortbestand der NATO als einer effektiven, d.h. der Lösung gemeinsam definierter Handlungsprobleme dienenden, zwischenstaatlichen Einrichtung. Spiegelbildlich dazu führt, wie die Untersuchung der Veränderung der internen Strukturen gezeigt hat, ein Mangel an Einigkeit, ganz gleich ob in Form von latenten Schwierigkeiten oder offenen Unstimmigkeiten, rasch zu Identifikationsproblemen der Partner mit dem Bündnis, die in dessen Selbstblockade münden können. Jede Entscheidungssituation auf der Ebene der Allianz wird somit zum Test dafür, ob die Verbündeten ihren tendenziell weitreichenden Vorrat an Gemeinsamkeiten schon aufgebraucht haben oder ob sie ihn noch ein weiteres Mal zur kollektiven Lösung miteinander
5 Gegen diese Argumentation könnte vorgebracht werden, dass sie immer schon auf einer formaljuristischen Überordnung der Vereinten Nationen über das Bündnis basiert – und dass es sich dabei um eine zu starre und legalistische Annahme handelt, wenn nicht sogar um den typischen Ausdruck eines idealistisch-deutschen Gesinnungsfundamentalismus, der versucht, Recht und Moral gegen Macht auszuspielen. Einer solchen Behauptung wäre entgegenzuhalten, dass das Verhältnis zwischen der NATO und den Vereinten Nationen vermittels des Aspekts der Verrechtlichung zweifellos ein Kernproblem der (Theorie der) internationalen Beziehungen berührt. Gleichwohl soll hier weder ein Plädoyer für das Völkerrecht gehalten, noch sollen die guten Vereinten Nationen gegen eine weniger gute NATO ausgespielt werden.
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10. Beantwortung der Forschungsfrage
geteilter Handlungsprobleme (und damit zur Schaffung neuer Gemeinsamkeiten) heranzuziehen vermögen.6 Wie die im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysierten Fälle gezeigt haben, besteht der Vorrat an Gemeinsamkeiten, über den die transatlantischen Partner verfügen, vor allem aus einem Bewusstsein ihrer gemeinsamen Vergangenheit, einer tendenziell religiös gefärbten Sichtweise auf die Welt und sich selbst, sowie aus einem gewissen Sendungsbewusstsein. Darüber hinaus verbinden die NATO-Mitglieder ihr vorrangiges Ziel – die Stärkung der nationalen und kollektiven Verteidigung auf dem Wege einer Verpflichtung zu Bewaffnung, Rüstungskooperation und gegenseitigem Beistand – mit den abstrakten Prinzipien der Demokratie, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit. Zudem teilen sie einen umfassenden Verteidigungsbegriff, der über die Sicherung des eigenen Territoriums hinausgeht und sich auf die Gewährleistung eines ganzen Lebensmodells erstreckt. Eng mit diesem avantgardistischen Selbstverständnis der atlantischen Partner verknüpft ist ihr hochgradig ambivalentes Verhältnis zu den Vereinten Nationen, das ebenfalls nicht nur in den Fällen nach dem Ende der Blockkonfrontation reproduziert wird und sich wie ein roter Faden durch die jüngere Geschichte der Allianz zieht, sondern bis auf den 1949 abgeschlossenen Nordatlantikvertrag zurückgeht. Die Handlungsbevollmächtigten der NATO befinden sich in einem latenten Konkurrenzverhältnis zu den Vereinten Nationen und sind sehr darum bemüht, unter Beweis zu stellen, dass ihr Zusammenschluss der wirksamere ist. Zu diesem Zweck erhöhen sie nicht nur den auf der Weltorganisation lastenden Handlungsdruck, sondern maximieren auch den Handlungsspielraum des Bündnisses auf Kosten der UN. Die transatlantischen Partner bevormunden, ja paternalisieren die Vereinten Nationen und neigen dazu, sich selbst zu ermächtigen.7 Zur Steigerung der Legitimität erweitern die Verbündeten das Aufgabenspektrum und die Mitgliederbasis der NATO. Sie betonen nicht nur die Kooperations- und institutionelle Anschlussfähigkeit des Bündnisses, sondern auch die Mehrfachverwendung seiner militärischen Komponente. Gleichzeitig erhöhen die Partner die bereits innerhalb des Nordatlantikvertrages angelegte Flexibilität hinsichtlich der Ausgestaltung der internen Macht- und Entscheidungsstrukturen. Auf diese Weise laufen sie allerdings Gefahr, den Zusammenhalt untereinander zu schwächen. In diesem Kontext ist die im Fall „Irak (2003)“ diagnostizierte Ambivalenz zwischen der Betonung der strikten Einhaltung der eigenen Bestimmungen auf der einen Seite und der angeblichen Automatisierung der internen Abläufe auf der anderen ebenso als Reaktion 6 Mit Blick auf die kontinuierliche Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ist es zum Beispiel vorstellbar, dass die Repräsentanten jener NATO-Mitglieder, die auch der Europäischen Union angehören, mittelfristig dazu übergehen könnten, nicht länger die transatlantische Allianz, sondern die EU als die wirksameren Vereinten Nationen anzusehen und ihr Handeln auf der übernationalen Ebene entsprechend neu auszurichten. 7 In Anbetracht des hier rekonstruierten spannungsgeladenen Verhältnisses der NATO zu den Vereinten Nationen erweist sich die Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands des atlantischen Bündnisses nach dem Ende der Blockkonfrontation, die seit bald zwanzig Jahren zum Inventar der Internationalen Beziehungen gehört, nachgerade als falsch gestellt. Es scheint weniger eine potentielle Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Satelliten, als der latente Konflikt mit den UN zu sein, der – in der Sprache der Neorealisten ausgedrückt – den „Kitt“ bildet, welcher die NATO zusammenhält. Dieser Konflikt ist jedoch so beschaffen, dass in dem (außerordentlich unwahrscheinlichen) Fall einer Auflösung der Vereinten Nationen – im Unterschied zur Selbstabwicklung der Sowjetunion – kein neues „Rätsel“ des Fortbestands der atlantischen Allianz entstehen dürfte: Ganz im Gegenteil wäre es in einem solchen Fall wohl eher ein Rätsel, wenn die NATO nicht versuchen würde, endgültig an die Stelle der UN zu treten.
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10.5 Beantwortung der Forschungsfrage
auf Uneinigkeiten im Innern zu deuten wie die an die Stelle verbindlicher Entscheidungen rückenden unverbindlichen Appelle im Fall der „Veränderung der internen Strukturen“ (2006). Überdies weisen die ebenfalls anhand der „Veränderung der internen Strukturen“ rekonstruierten Identifikationsprobleme der Partner mit dem Bündnis darauf hin, dass dessen Fortbestand (als effektive Organisation) in hohem Maße davon abhängig ist, ob sich die Mitglieder bei den meisten Sachfragen über zahlreiche Details einigen können. Dieser Befund mag trivial anmuten, ist angesichts der starken Ansprüche der Verbündeten auf den Ebenen des Entwurfs eines Selbstbildes und der Gestaltung des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen, welche den Fortbestand der NATO beinahe wie einen „Selbstläufer“ erscheinen lassen, dennoch überraschend. *** Schließlich stellt sich die Frage, wie die im Rahmen der vorliegenden Arbeit erzielten Ergebnisse in einen weiterreichenden Diskussionszusammenhang innerhalb der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen eingebettet werden können. Auf einer über den konkreten Forschungsgegenstand hinausweisenden, abstrakteren theoretischen Ebene verweisen die rekonstruierten Spannungen zwischen der NATO und den Vereinten Nationen unmittelbar auf einen Aspekt, dem die Vertreter des Faches bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dabei handelt es sich um Konflikte, die auf der Grundlage widerstreitender Ansprüche von verschiedenen zwischenstaatlichen Einrichtungen bzw. deren Konstituenten entstehen.8 Dass die Untersuchung inter-institutioneller Konflikte in den Internationalen Beziehungen bisher vernachlässigt worden ist, dürfte durchaus auf den großen Einfluss zurückzuführen sein, den die neorealistische Theorie, insbesondere in den USA, auf die Forschungsagenda des Faches ausübt. So gehen die Verfechter der orthodoxen Variante des Neorealismus davon aus, dass Institutionen die Aussichten auf internationale Stabilität nicht merklich verbessern, primär die weltweite Machtverteilung widerspiegeln, auf eigeninteressierten Kalkulationen der Großmächte basieren und somit keine unabhängigen Wirkungen auf das „Verhalten“ von Staaten haben.9 Vor dem Hintergrund dieser nachgerade fundamentaloppositionellen Haltung kann es nicht überraschen, wenn Diskussionen über internationale Institutionen zumeist bei der Frage enden, wie Kooperation zwischen Staaten überhaupt möglich sei. Im Zentrum des Interesses standen daher auch eher die (gleichfalls fundamentalen) Aspekte, warum internationale Institutionen, Organisationen ebenso wie Regime, bestehen, wie sie funktionieren und welche Wirkungen sie (wenn überhaupt) auf das internationale System, das Handeln von Regierungen oder die Innenpolitik der beteiligten Staaten haben.10 8
Sein Verständnis für die Bedeutung dieses Aspekts verdankt der Autor Benjamin Herborth. Vgl. John J. Mearsheimer (1994/95): The False Promise of International Institutions, in: International Security, 19: 3, S.5-49, hier: S.7. 10 Vgl. Beth A. Simmons/Lisa L. Martin (2002): International Organizations and Institutions, in: Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth A. Simmons (Hg.): Handbook of International Relations. London: Sage, S.192-211; Kenneth W. Abbott/Duncan Snidal (1998): Why states act through formal international organizations, in: Journal of Conflict Resolution, 42: 1, S.3-32; Friedrich Kratochwil/John G. Ruggie (1986): International Organization: A State of the Art on an Art of the State, in: International Organization, 40: 4, S.753-775; Christian Reus-Smit (1997): The constitutional structure of international society and the nature of fundamental institutions, in: International Organization, 51: 4, S.555-589 und Andrew P. Cortell/James W. Davis (1996): How do international institu9
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10. Beantwortung der Forschungsfrage
Die langjährige Dominanz des Neorealismus, dessen Anhänger internationale Politik im Grunde als einen strukturell erzwungenen „Überlebenskampf“ von Staaten verstehen, könnte indes noch in einer weiteren Hinsicht dazu beigetragen haben, dass die Untersuchung inter-institutioneller Konflikte in den Internationalen Beziehungen bis heute ein Desiderat geblieben ist: Im Rahmen ihrer Erforschung zwischenstaatlicher Einrichtungen könnten die tendenziell von einer harmonischen Perspektive angeleiteten „liberalistischen“ Institutionalisten und Konstruktivisten Konflikten (unbewusst) ausgewichen sein, um nicht in ihrer eigenen Domäne Zugeständnisse an die konfliktive Weltsicht der Realisten machen zu müssen. Jenseits solcher Spekulationen über die möglichen Gründe ihres Fehlens bleibt als weiteres Ergebnis der vorliegenden Arbeit festzuhalten, dass die Internationalen Beziehungen einer Theorie der „Institutionenkonkurrenz“ bedürfen. Eine solche Theorie hätte sich zum Beispiel der Fragen anzunehmen, auf welche Art und Weise inter-institutionelle Konflikte ausgetragen werden, welche Überzeugungen die beteiligten Akteure leiten, wodurch legitime und illegitime Formen von Konflikten zwischen internationalen Institutionen gekennzeichnet sind und, vor allem, wo die Grenze zwischen diesen beiden Konfliktformen verläuft. Auch mithilfe einer solchen Theorie sollte es möglich werden, politische Prozesse auf der zwischen- und überstaatlichen Ebene besser auf den Begriff zu bringen. Vor diesem Hintergrund lässt der zentrale Befund der vorliegenden Arbeit auch die von Politikern, Leitartiklern und Politikwissenschaftlern regelmäßig vorgebrachte Klage über die mangelnde Effektivität der Vereinten Nationen in neuem Licht erscheinen. Denn ungeachtet der Frage, wie angemessen diese Klage sein mag, dürfte unstreitig sein, dass der politische Wille der Mitglieder – ihre Bereitschaft etwa, ein ausreichendes Maß an Ressourcen und qualifiziertem Personal zur Verfügung zu stellen – das Leistungsvermögen eines Zusammenschlusses wie der Vereinten Nationen nennenswert zu beeinflussen vermag. Wenn nun aber eine gewisse Zahl dieser Mitglieder seit sechs Jahrzehnten von der Überzeugung geleitet wird, dass sich die Prinzipien der UN-Charta viel wirksamer von einer anderen Einrichtung – der NATO – realisieren lassen, so kann ein Mangel an Effektivität auf Seiten der Vereinten Nationen wahrlich nicht überraschen.
tions matter? The domestic impact of international rules and norms, in: International Studies Quarterly, 40: 4, S.451-478.
11 Methodenreflexion
Nachdem im vorangegangenen Kapitel eine Antwort auf die Forschungsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation formuliert worden ist, die auf den Ergebnissen der fünf in den Kapiteln 5 bis 9 durchgeführten Sequenzanalysen beruht, besteht die letzte der im Rahmen dieser Arbeit zu erfüllenden Aufgaben in einer Reflexion des eigenen Vorgehens. Zur Erinnerung: Neben den rekonstruktionslogischen Interpretationsverfahren der „objektiven Hermeneutik“, die den größten Teil des methodologischen Innovationspotentials der vorliegenden Arbeit ausmachen dürften, bildet die „pfadabhängige“ Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle das zweite Hauptcharakteristikum der gewählten Vorgehensweise. Die konkrete Handhabung dieser beiden Aspekte ist es daher auch, die nun mit Blick auf mögliche Einwände kritischer Leser überprüft werden soll. Ein solches Prozedere dient nicht zuletzt dem Ziel, etwaige Probleme und Strittigkeiten bei der Durchführung ähnlicher Forschungsvorhaben in Zukunft zu verhindern. Mögliche Einwände gegen die Anwendung der Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik dürften wohl vor allem die Ausgestaltung der (Nicht-)Einbeziehung von Kontextwissen sowie eine Problematisierung der Untersuchungsergebnisse und ihres Stellenwerts zum Gegenstand haben. Sofern der Eindruck entstanden ist, dass die Analysen an der ein- oder anderen Stelle entgegen den vorab formulierten Maximen mit Wissen über den äußeren Kontext angereichert worden sind, bieten die intersubjektive Nachprüfbarkeit und Transparenz des Vorgehens jederzeit die Möglichkeit einer einvernehmlichen Überprüfung dieser Stellen. Ganz abgesehen davon, dass die Durchführung der besagten methodischen Operationen eine nicht standardisierbare Kunstlehre darstellt und dass mitunter nicht zu verhindernde Kompromisse auf der Ebene der Forschungspraxis daher kein Grund sind, um auf die Vorabformulierung von regulativen Interpretationsprinzipien zu verzichten, wäre zu prüfen, ob sich die implizite Inanspruchnahme von Kontextwissen auch auf die Forschungsergebnisse ausgewirkt hat. Sollte dies der Fall sein, wäre zu überlegen, die Sequenzanalyse an den entsprechenden Stellen nachzubessern. Gegen die konkrete Gestaltung des Kontextabgleichs im Rahmen der Zusammenfassungen der Sequenzanalysen könnte derweil angeführt werden, dass dieser eher sporadisch erfolgt und auch in Kapitel 3 nur notdürftig erläutert worden ist. Während die knappe Erläuterung damit entschuldigt werden kann, dass der Autor diesbezüglich über keinerlei praktische Vorerfahrungen verfügt und auch in der einschlägigen Literatur weitgehend auf eine Illustration dieser Operation verzichtet wird (von der Analyse der „objektiven Daten“ eines Sozialisanden einmal abgesehen), ist die Durchführung des Kontextabgleichs an der Prämisse orientiert, einen Beitrag zur Klärung jener Fragen zu leisten, die im Rahmen der Bedeutungsrekonstruktionen aufgeworfen wurden und im Verlauf der Analyse nicht immanent beantwortet werden konnten. Darüber hinaus könnte ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der recht komplexen Explikation der Vorgehensweise und den vergleichsweise trivial anmutenden Sequenzanalysen konstatiert werden. Dem wäre entgegenzuhalten, dass die ausführliche Darstellung
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11. Methodenreflexion
der sozialtheoretischen Prämissen und forschungspraktischen Implikationen der objektiven Hermeneutik die entscheidende Vorbedingung der relativ simplen Handhabung der Interpretationen verkörpert. Im Rahmen der Analyse rücken riskante Gedankenexperimente und ein im besten Sinne naives Dilettieren an die Stelle des Versuchs, den Untersuchungsgegenstand auf das Vorwissen des Forschers zu reduzieren. Gegen Behauptungen der Art, dass die Analysen zu viel Leerlauf enthalten und dass der Aufwand und Umfang der Arbeit insgesamt zu groß sind, kann argumentiert werden, dass dies der Preis dafür ist, das erkennen zu können, was sonst vielleicht zu schnell übersehen wird. Zudem kann nicht oft genug betont werden, dass die Forschungsergebnisse intersubjektiv nachprüfbar gewonnen und bereits im Prozess ihrer Entstehung kritisiert werden können. Während Transparenz also einen Wert an sich darstellt, ist die rekonstruktive Vorgehensweise der objektiven Hermeneutik immer auch als Versuch zu verstehen, den Prozess der Entfaltung von Argumenten innerhalb eines akademischen Diskurses sichtbar zu machen. Aus forschungsethischer Perspektive wäre die strategische Nachbearbeitung einer Sequenzanalyse, ob in Form einer Streichung missliebiger Stellen oder der Überdramatisierung relativ zäher Passagen, jedenfalls in hohem Maße verantwortungslos. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Orientierung an den Interpretationsprinzipien mittelfristig zur Einübung eines Forscherhabitus führen dürfte, der dabei behilflich ist, mit der Ambivalenz umgehen zu lernen, sich bei der Analyse einerseits stets vor der Ungeduld der Leser zu sorgen, deren Zeit knapp bemessen ist, andererseits aber dennoch keine Hektik aufkommen zu lassen, die ein Übersehen der möglicherweise entscheidenden Bedeutungsstrukturen nach sich ziehen könnte. Ungeachtet der permanenten Gefahr, selbst geduldige und wohlwollende, für nicht-positivistische und nichtempiristische Alternativen grundsätzlich offene Leser zu verlieren, ist es jedoch die Überzeugung des Autors der vorliegenden Arbeit, dass es besser ist, zunächst hehre Interpretationsmaximen zu formulieren und dann gegebenenfalls forschungspragmatische Zugeständnisse an deren Anwendung in Kauf zu nehmen, als sich ohne stringente methodische Vorüberlegungen, mithilfe des Aneinanderreihens von mehr oder weniger suggestiven Zitaten etwa, „durchzuwursteln“.1 Angesichts der (gemessen am Forschungsstand) doch recht überraschenden Ergebnisse dieser Arbeit wäre der Vorwurf, dass die Sequenzanalysen nur Evidentes dupliziert haben, wohl nicht gerechtfertigt. Ob es sich dabei bloß um „Anfängerglück“ oder um eine andere Form von Zufall handelt, wird sich erst nach weiteren Arbeiten mit dieser Vorgehensweise auf dem Feld der Internationalen Beziehungen herausstellen. Doch auch im Falle von weniger überraschenden Resultaten wären die intersubjektive Nachprüfbarkeit und die Transparenz des gewählten Vorgehens noch immer positiv zu Buche geschlagen. Gegen den Einwand, dass die vorliegende Arbeit keine Relevanz für die politische Praxis besitzt, könnte darauf verwiesen werden, dass ihr eine eher theoretische Forschungsfrage zugrundeliegt, die dem Autor gewissermaßen von der Forschergemeinschaft vorgegeben worden ist. Da es zudem nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, dass die zu Tage geförderten Ergebnisse bei den Vereinten Nationen mit Interesse zur Kenntnis genommen werden könnten, wäre es vermutlich auch möglich, dem Vorwurf mangelnder Praxisrelevanz etwas offensiver zu begegnen. Weiterhin müsste auch die etwaige Behauptung, dass die Ergebnisse der Untersuchung des Nordatlantikvertrages im Rahmen der vier sich daran 1 Ein derart verstandener Pragmatismus hätte mit den sozialtheoretischen Überlegungen, wie sie der hier verwendeten Methodologie zugrunde liegen, nicht mehr gemein als seinen Namen.
10.5 Beantwortung der Forschungsfrage
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anschließenden Sequenzanalysen in das Material hineingelesen – und nicht, wie vom Autor beteuert, aus den Texten herausgelesen – worden ist, konkret an den entsprechenden Stellen der Interpretationen nachgewiesen werden. Zu weiterreichenden Zugeständnissen bereit ist der Autor schließlich, wenn es um den Status der Ergebnisse seiner Arbeit geht. Der Anspruch, zu einer ewigen Wahrheit über das nordatlantische Bündnis vorgedrungen zu sein, wird hier nicht erhoben. Es handelt sich lediglich um einen Vorschlag über die Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation. Der Autor gesteht jedoch ein, dass er seinen Vorschlag für gründlicher erarbeitet hält als manche der konkurrierenden Schriften zu diesem Thema. Überdies hat sich während des Forschungsprozesses herausgestellt, dass sich die Anzahl der generierten Lesarten erhöht und die Qualität der Sequenzanalysen zunimmt, wenn mehrere Personen daran beteiligt sind. Ob damit auch eine Annäherung an eine als fix zu erachtende latente objektive Sinnstruktur einhergeht und ob eine Interpretation jemals an ihr Ende kommen kann, hält der Autor allerdings für fraglich. Denn sofern sich die handlungsleitenden Überzeugungen der involvierten Forscher oder forschungsrelevante Wissensbestände, die für eine Interpretation in Anspruch genommen werden, im Zeitablauf wandeln, verändern sich damit mutmaßlich auch die Ergebnisse einer Deutung. Noch in den Bedingungen der gelungenen Durchführung einer Sequenzanalyse spiegelt sich somit ein Grundverständnis des Sozialen als notwendig dialogische und kooperative Praxis: Je mehr Forscher (bis zu einer kritischen Gruppengröße im niedrigen zweistelligen Bereich) an einer Untersuchung beteiligt sind, desto gehaltvoller – aber eben auch komplexer – dürfte sie ausfallen. Um Missverständnisse zu vermeiden, bleibt noch zu erwähnen, dass diese Überlegungen wohl selbst dann gelten, wenn der gleiche Text zu unterschiedlichen Zeitpunkten von nur einer Person untersucht wird. Ungeachtet der Anzahl der beteiligten Forscher ist zwar nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Ergebnisse über Zeit radikal anders ausfallen, aber doch davon, dass sie – zumindest in Nuancen – voneinander abweichen und es keine für immer fixen Bedeutungsstrukturen gibt.2 Auf der Ebene der pfadabhängigen, also nicht vorab festgelegten Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle würde sich der Autor zugute halten, recht sauber und transparent vorgegangen zu sein. Gleichwohl erfüllte die Suggestivität der Optionen nach einer Analyse nicht immer die Erwartungen. Die Konstruktionsleistung beim Herauspräparieren der Kontrastdimensionen gestaltete sich mühsamer und weniger intuitiv als gedacht. Die Hoffnung, im Anschluss an die Zusammenfassung der Ergebnisse der Sequenzanalyse eines Dokuments gleichsam wie von selbst auf eine ganze Reihe möglichst maximal kontrastierender Auswahlmöglichkeiten zu stoßen, erfüllte sich kaum. Anspruch und Wirklichkeit prallten in diesem Punkt recht schroff aufeinander. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Diskrepanzen allerdings auch der Konstruktion des Forschungsgegenstands – um nicht zu sagen: den Gepflogenheiten des atlantischen Bündnisses bzw. der politischen Praxis selbst – geschuldet. Im Zuge der Klassifizierung der 2 Je nachdem, in welches Verhältnis die strukturalistischen und pragmatistischen Prämissen der objektiven Hermeneutik zu einander gerückt werden, können für das hier umrissene Problem auch andere Lösungsvorschläge formuliert werden. Das heißt: Je stärker der strukturalistische Anteil an der Methodologie betont wird, umso prononcierter dürften die Annahmen einer Annäherung an fixe Sinnstrukturen im Zeitablauf oder einer Wiederkehr quasi-identischer Ergebnisse vertreten werden.
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11. Methodenreflexion
Protokolle der Sitzungen des Nordatlantikrats auf der Ebene der Ständigen Vertreter wäre es zwar übertrieben, von einem akuten Mangel solcher Daten zu sprechen, die im Lichte der Ausführungen in Kapitel 4 der NATO als NATO zugeordnet werden können; die frei zugänglichen Kommuniqués kennzeichnet jedoch, dass sie nicht einzelnen Themen (also Fällen im vorliegenden Verständnis) gewidmet sind, sondern in der Regel stets die Gesamtheit der von den Ratsmitgliedern diskutierten Angelegenheiten aufgreifen – und dies zumeist recht kurz. Mit anderen Worten: Während der Begriff „Fall“ an einen Längsschnitt gemahnt, der einen ganzen Zeitraum durchmisst, stellen die Kommuniqués des Rats eher einen Querschnitt zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Um der hier womöglich suggerierten Untersuchung „längsgeschnittener“ Fälle gerechter zu werden, wäre es im Rückblick also vielleicht angemessener gewesen, die entsprechenden, einem konkreten Fall gewidmeten Unterpunkte verschiedener Kommuniqués im Zeitablauf zu analysieren. Dem steht zwar die Vermutung entgegen, dass die relevanten Dokumente mithilfe der „Kopieren und Einfügen“-Funktion moderner Datenverarbeitungsprogramme entstanden und größtenteils Reproduktionen ihrer Vorgänger sein könnten, vermutlich hätten aber schon geringfügige Änderungen nennenswerte Bedeutungsverschiebungen erkennen lassen. Dass sich die Ergebnisse, die auf diese Weise erzielt worden wären, fundamental von den hier rekonstruierten Resultaten unterscheiden, ist gleichwohl nicht zu erwarten, handelt es sich mit den Veröffentlichungen des Nordatlantikrats doch um den gleichen Datentyp. Jenseits der Frage nach anderen Möglichkeiten zur Bestimmung der zu erforschenden Texte sei abermals darauf hingewiesen, dass es sich bei der Entscheidung zugunsten eines Fallauswahlkriteriums nicht zuletzt um ein Zugeständnis an die eher positivistisch geprägte Mehrheit der Vertreter der Internationalen Beziehungen handelt, deren Arbeitsweise auf der Prämisse beruht, vorab formulierte und mithilfe von Variablen operationalisierte Hypothesen zu falsifizieren. Die pfadabhängige Auswahl möglichst maximal kontrastierender Fälle zielt indes nicht nur auf eine Steigerung des „Fallibilitätspotentials“ der gesamten Untersuchung; darüber hinaus soll sie dem Vorwurf entgegenwirken, die interpretierten Fälle oder Texte könnten im Lichte des Interesses an einer Bestätigung theoretischer Präferenzen (manipulativ) bestimmt worden sein. Aufgrund der Annahme sich permanent im Prozess ihrer Reproduktion (und potentiell ihrer Transformation) befindender „Fallstrukturen“ spielt es jedoch gar keine Rolle, welche Fälle oder Texte konkret untersucht werden: In der Form konstitutiver Handlungsprobleme und Handlungsregeln lassen sich zentrale Bedingungen der Möglichkeit des Fortbestands der NATO letztlich in allen öffentlich zugänglichen Dokumenten der höchsten Entscheidungsgremien des Bündnisses aufspüren. Dass die Auswahl dieser Dokumente dennoch nicht auf dem Wege einer Zufallsstichprobe erfolgt ist, liegt vor allem daran, dass die „Randomisierung“ des sozialen Lebens für den Autor dieser Arbeit kein Ideal darstellt. *** Am Ende der Arbeit angekommen bleibt die Hoffnung, dass es auf den vorliegenden Seiten gelungen ist, einen seriösen Lösungsvorschlag für das „Rätsel“ des Fortbestands der NATO nach der Überwindung der Blockkonfrontation vorzulegen und einen Weg aufzuzeigen, wie in den Internationalen Beziehungen nicht-positivistische und nicht-empiristische, sondern gegenstandsbezogene Forschung betrieben werden könnte; ein Weg, dessen Beschreiten es ermöglicht, die sprachtheoretische Wende in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaf-
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ten ernst zu nehmen und der zudem in die Richtung einer Stärkung der Grundlagenforschung weist, die auch in der Politikwissenschaft die unerschütterliche Basis aller anwendungsorientierten Überlegungen bildet.
V. Anhang
Bibliographie
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