Das neue Abenteuer 005
Peter Kast: Die Nacht im Grenzwald Erzählung
Verlag Neues Leben, Berlin 1952
V 1.0 by Dumme ...
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Das neue Abenteuer 005
Peter Kast: Die Nacht im Grenzwald Erzählung
Verlag Neues Leben, Berlin 1952
V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Verlag Neues Leben GmbH, Berlin W 8 Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 303 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik • Gen.-Nr. 305 63 52 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Wenzel Krummacher trat an das kleine Küchenfenster, sah einige Sekunden in den bleigrauen Morgen und kam sinnend an den Kaffeetisch zurück. Richard Brüggemann, der ihm gegenüber saß, blickte erwartungsvoll auf. "Na, Wenzel", fragte er gespannt, "wie ist's, machst du diesmal wieder mit?" Statt zuzustimmen, entgegnete Wenzel: "Muß es unbedingt heute nacht sein, Richard? Geht's nicht morgen nacht?" Brüggemann schüttelte den Kopf. "Leider nein, Wenzel. Ich habe bereits nach drüben Bescheid durchgegeben, daß Toni uns heute nacht wieder mal am Weißenstein erwarten soll." "Zu dumm!" Wenzel Krummacher fuhr sich sorgenvoll durchs Haar. "Grad heute nacht wollen wir einige Dutzend Bata-Schuhe über die Grenze paschen. Wir haben extra das Regenwetter abgewartet ..." Mit offenkundigem Bedauern blickte er noch einmal durch das Fenster, als wäre es ihm um die niedrig hängenden Wolken leid, und sagte noch einmal: "Wir haben extra das Regenwetter abgewartet ..." Richard Brüggemann machte ein enttäuschtes Gesicht. Gut zureden mochte er Wenzel nicht. Er hätte auch gar nicht gewußt wie. Sollte er ihn womöglich mit großen Worten an die internationale Solidarität erinnern? Das war, wie Brüggemann aus Erfahrung wußte, bei dem jungen arbeitslosen Knopfarbeiter im tschechoslowakischen Grenzdörfchen Bleiwaldau unnötig. Wenzel half den deutschen Emigranten, die von "draußen" ihren Kampf gegen Hitler fortsetzten, schon seit Jahr und Tag. Und war diese Hilfe nicht von einer Art, daß manch einem die Knie schwach wurden hörte er davon erzählen? Richard Brüg-
gemann fluchte verärgert vor sich hin. "So ein Pech! In dieser Stunde bekommt Toni drüben in Wiechendorf vielleicht grad Bescheid, uns heute nacht am Weißenstein zu erwarten ..." Und sich wegen seiner Voreiligkeit bei Wenzel entschuldigend, fügte er hinzu: "Es wäre das erstemal in zwei Jahren, daß wir allein gehen ..." Wenzel ließ ihn nicht ausreden. "Euch im Stich lassen?" sagte er eifernd. "Ich denke nicht daran, Richard! Es ist nur ... nur wegen meiner Frau. Wenn sie dahinterkommt, daß ich heute nacht statt unserm Kram wieder Flugblätter gepascht habe, kriegt sie noch hinterher vor Angst 'n Schlaganfall. Seitdem die SSGrenzer unsere drei Freunde von Hugos Kolonne erwischt haben, sieht sie mich auch schon drüben in einem KZ." "Na, Bata-Schuhe schmuggeln ist auch nicht ungefährlich." "Daran hat sich mein Röschen gewöhnen müssen", knurrte Wenzel böse. "Im Dorf pascht jetzt alles, seitdem der Konzern unsere Knopffabrik in Bleiwaldau stillgelegt hat. Irgendwie muß man ja schließlich leben. Und dann ...", er stockte verlegen und fuhr fort, "ist Schuhpaschen nicht ganz so gefährlich. Schnappen dich die deutschen Grenzer mit diesem Kram, setzt es ein paar Monate Gefängnis. Erwischen sie dich aber mit antifaschistischen Flugblättern ..." Er rieb sich das Kinn und schloß unvermittelt: "Na, Richard, was brauche ich dir da lange zu erzählen, was passiert." Brüggemann winkte ab. Ihm brauchte man wirklich nichts zu erzählen. Zwei Jahre fast leitete er hier an der tschechoslowakischdeutschen Grenze den illegalen Kampf. Vorher hatte er dieselbe Arbeit nur "von anderen Enden angepackt" - in Hitlerdeutschland, im Grenzstädt-
chen Heinrichsthal geleistet -, bis er Hals über Kopf, um der Verhaftung zu entgehen, emigrieren mußte. Sein Sohn Fritz lebte noch drüben, wuchs bei seiner Tante auf, während die Mutter im Zusammenhang mit der Flucht ihres Mannes in ein KZ gekommen und dort vor Kummer und Entbehrung gestorben war. "Was ich fragen wollte", unterbrach Wenzel den Gedankengang Brüggemanns. "Was habt ihr denn diesmal so eilig hinüberzuschaffen?" Diese scheinbar beiläufig gestellte Frage nötigte Brüggemann ein hoffnungsvolles Lächeln ab. Wenn Wenzel so fragte, war er halb und halb entschlossen, mitzutun. Dann bedurfte es nur noch eines kleinen Anstoßes, ihn ganz umzustimmen. Rasch griff er in seine Tasche, holte ein Reclamheftchen heraus und reichte es dem anderen wortlos hin. Wenzel las halblaut den Titel auf dem Umschlag: ,,Deutsch für Deutsche. Neue Anleitung zur Grammatik der deutschen Sprache." Verständnisinnig lachte er Brüggemann ins Gesicht. "Fein gemacht!" sagte er und fragte: "Was ist denn das für ein neues Deutsch für Deutsche?" Brüggemann lächelte. "Zuerst einige Seiten wirkliche Grammatik, dann folgt der Bericht vom Reichstagsbrandprozeß in Leipzig, wie Dimitroff den fetten Göring fertigmachte. Du kannst das Heftchen behalten, Wenzel. Für deine Bibliothek." Auf dem Flur hörte man Schritte. Wenzel steckte hastig das Heft ein. "Mein Röschen! Ich hab mir's überlegt, Richard. Ich mache mit heute nacht. Unsre Bata-Schuhe können wir morgen auch noch rüberpaschen. Das hier ...", er klopfte sich auf die Brusttasche, in der das Heftchen steckte, "... das hier ist jetzt wichtiger."
Richard Brüggemann nickte und versicherte: "Wußte ich doch, Wenzel, daß du uns nicht im Stich lassen würdest."
In der Zensurstelle der Heinrichsthaler Post war unter anderen postalischen Sendungen aus der Tschechoslowakei auch ein Brief aus Bleiwaldau zur ,,Politischen Kontrolle" angehalten worden. Der Empfänger hieß Bernhard Klose und wohnte Heinrichsthal, Kleiststraße 34. Kommissar Ohlenhoff dem man täglich den zu überprüfenden Briefeingang für Heinrichsthal vorlegte, hatte anfänglich nichts Zweifelhaftes an der kurzen Mitteilung des Briefes finden können. Ein Bruder, den das Schicksal einige Kilometer über die deutsche Grenze verschlagen hatte, schrieb dem anderen Bruder diesseits der Grenze irgendeinen für die Sicherheit des Dritten Reichs "völlig belanglosen Familienquatsch". Kommissar Ohlenhoff wollte den Brief schon als harmlos zur Weiterbeförderung freigeben, als ihm der Name des Empfängers auffiel. Hatte er den Namen "Bernhard Klose" im Zusammenhang mit einer mehrere Jahre zurückliegenden politischen Angelegenheit nicht schon einmal gehört? Um sein Gedächtnis aufzufrischen, ließ er im Polizeiarchiv nachsehen, ob eine Akte ,,B. Klose" geführt werde, und wenn ja, solle man sie ihm unverzüglich vorlegen. Es stellte sich heraus, daß Ohlenhoffs Polizeihirn noch richtig funktionierte. Eine Akte über Klose existierte tatsächlich. Sie wurde dem Kommissar gebracht, und es ergab sich, daß Bernhard Klose, obwohl er stets ein parteiloser Arbeiter gewesen war, lange vor Dreiunddreißig in einer Saalschlacht einen stadtbekannten Nazi durchs Fenster geworfen hatte, so daß dieser mit einem Schädelbruch ins Krankenhaus übergeführt werden mußte. Die polizeili-
che Untersuchung dieses Falles verlief zwar damals im Sande. Bernhard Klose konnte nicht einwandfrei nachgewiesen werden, daß er es war, der dem Nazi zu einer Luftfahrt durchs Fenster verhelfen hatte. Aber in der Akte blieb ein Vermerk, wonach Klose, "obgleich parteilos, zu den Radikalen zu zählen sei". Kommissar Ohlenhoff überlegte nun nicht länger und gab Anordnung, am andern Morgen in aller Frühe bei Klose eine überraschende Haussuchung durchzuführen. Aber damit nicht genug, beauftragte er seinen Verbindungsmann zur sudetendeutschen Henleinbewegung, also Hitlers Fünfter Kolonne in der Tschechoslowakei, ihm bis zum Abend zu berichten, ob Kloses Bruder in Bleiwaldau tatsächlich, wie er im Brief schrieb, im "kleinen Grenzverkehr" herüberkäme. Wäre dies der Fall, sollte man den Besucher von drüben bei der Grenzkontrolle festnehmen. Das Verhör des Ausländers behielt sich Ohlenhoff persönlich vor, um unnötige diplomatische Verwicklungen zu verhindern, die das Dritte Reich laut höchster Anordnung wenigstens noch gegenwärtig zu vermeiden trachtete. Den nun verdächtig gewordenen Brief übergab er dem Gestapomann, der am andern Morgen die Haussuchung bei Kloses leiten sollte, zur Abschrift und verfügte, daß das Original selbst von der Post befördert werden sollte. "Vorläufig tippe ich auf eine Pascheraffäre", versicherte er gegenüber seinem Beamten und fügte nachdenklich hinzu: "Aber es kann auch weitaus Wichtigeres dahinterstecken. Denken Sie bloß mal einen Augenblick an die verdammten Kolonnen, die von drüben seit Jahr und Tag wie olle ehrliche Briefträger kommunistische Flugblätter ins Reich schmuggeln!"
Laut pfiff Fritz Brüggemann sein Lieblingslied in den unfreundlichen Morgen. Er pfiff es mit der ganzen Kraft seiner vierzehnjährigen Lunge. Und es war ein rechtes Glück für ihn, daß er nur laut und nicht auch richtig pfiff. Denn die Melodie erinnerte manchmal entfernt an ein im Dritten Reich verbotenes Lied der jetzt illegalen Arbeiterbewegung. Fritz war sonst durchaus nicht leichtsinnig. Als Sohn des alten Sozialisten Richard Brüggemann, der, wie man sich in Heinrichsthal zuflüsterte, nunmehr als Emigrant im Sudetenland den antifaschistischen Kampf gegen Hitler weiterführte, hatte er frühzeitig gelernt, mit seinen wasserklaren Jungenaugen vorsichtig umherzublicken. Doch heute morgen konnte er trotz nieselnden Dauerregens und ungeachtet seines stetigen Kummers um den jenseits der Grenze weilenden Vater nicht still sein. Zu groß war die Freude, mit seinem Schul- und ehemaligen Pionierkameraden Albert Klose bis zum Zehnuhr-Schulanfang in dessen elterlicher Wohnung allein bleiben zu können. Da Vater und Mutter Klose auf Arbeit waren und Ludwig Kresse, der Logismann, nach schwerer Nachtschicht gewiß "wie eine Ratze" schlief, konnten sie sicherlich wieder einmal ein Stündchen in ihrem gemeinsamen Briefmarkenalbum schwelgen. Im Futter seiner Mütze verborgen, steckten zwei heimlich besorgte sowjetische Briefmarken. Wenn er daran dachte, was Albert Klose gleich bei ihrem Anblick für Augen machen würde, fiel sein Pfeifen noch schriller aus. So erreichte er das Haus Kleiststraße 34. Eilig stieg er die Treppen zur dritten Etage hinauf. Sein Freund Albert war indessen keineswegs allein in
der elterlichen Wohnung. Bereits seit sechs Uhr in der Frühe saßen dort zwei von der Gestapo, die Vater und Mutter Klose erst gar nicht zur Arbeit fortgehen ließen und die auch dem kurz vor sieben von der Nachtschicht gekommenen Logismann Ludwig Kresse einen bösen Empfang bereitet hatten. Stunde um Stunde dauerte bereits Vater Kloses und Kresses Verhör, während Albert und seine Mutter im Schlafzimmer verstört auf jeden Ton von nebenan horchten. Anfangs ging es in der Küche sehr lärmend zu. Albert, der fast jedes Wort verstehen konnte, empfand trotz seiner Angst nicht wenig Stolz. Ließ sich doch sein Vater von den beiden schnauzenden Gestapomännern nichts gefallen. Aber dann wurde es nebenan stiller. Lange Zeit sprach nur noch einer der Beamten, worauf Ludwig Kresse einmal laut aufstöhnte. Albert jedoch, die Augen voller Tränen, die Fäuste in ohnmächtigem Zorn geballt, öffnete behutsam die Tür und horchte mit angehaltenem Atem in den schmalen, halbdunklen Korridor. Obwohl die Küchentür geschlossen war, konnte er jetzt Wort für Wort deutlich verstehen. "Da hilft Ihnen kein Gott mehr", hörte er nunmehr den Gestapomann sagen, der die Korridortür abgeschlossen und den Schlüssel an sich genommen hatte. "Hier hilft nur noch ein volles Geständnis. Nanu mal raus mit der Sprache, Klose, und Sie, Kresse. Wir sind sowieso im Bilde. Verraten können Sie uns kaum noch etwas. Allerhöchstens einige Nebensächlichkeiten bestätigen. Also es stimmt, he? Es ist die Brüggemann-Bande, die von drüben Hetzflugblätter über die Grenze hereinschafft, wie? Wann und wo kommt sie das nächste Mal über die Grenze? Wer ist
hier im Heinrichsthaler Abschnitt ihr Komplice? Los, los, reden Sie, und nicht so lange besonnen! Zeigen Sie mal 'n bißchen guten Willen. Wir könnten sonst leicht die Geduld verlieren." Als Albert, sein Ohr an die Tür gepreßt, den Familiennamen seines Freundes Fritz hörte, begann ihm das Herz bis in den Hals zu schlagen. Er entsann sich sogleich, was Fritz ihm einmal unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit vom illegalen Kampf seines geflüchteten Vaters angedeutet hatte. Es war beileibe nichts Bestimmtes gewesen - kaum eine vage Andeutung. Es genügte Albert jetzt vollauf um zu erraten, was der Gestapomann in der Küche wissen wollte. Trotz seiner Angst empfand er Stolz und Freude darüber, daß sein Vater mit Fritzens Vater in heimlicher Verbindung stand. Fest und entschlossen klang die Stimme des Vaters an Alberts Ohr: "Wenn Sie schon alles wissen, Herr Kommissar, was wollen Sie dann noch von uns? Ich für meine Person kenne Brüggemann, wie ihn jeder Hiesige in Heinrichsthal von vor Dreiunddreißig als Stadtverordneten kannte. Natürlich weiß ich auch, daß er vor anderthalb Jahren über die Grenze ging. Aber sonst ... Und wenn Sie mich totschlagen, Herr Kommissar! Ich habe keine Verbindung mehr mit ihm." "So, so", ließ sich nun die Stimme des zweiten Gestapomannes vernehmen. "Sie haben natürlich keine Ahnung davon, daß der flüchtige Hochverräter Brüggemann drüben im Sudetenland einige Schmugglerbanden anführt, die seit Jahr und Tag regelmäßig und pünktlich wie die preußische Post hochverräterische Flugblätter über die Grenze schmuggeln?" "Nein. Herr Kommissar", versicherte Alberts Vater
nochmals. "Und wenn Sie mich totschlagen, ich habe wirklich keine Ahnung von dem, was Sie vorhin sagten." "Schön, schön, Klose", begann der erste Gestapomann wieder. "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Wer sich zum Stadthausbunker drängelt, den soll man nicht aufhalten. Aber es dürfte dir doch nicht egal sein, ob du mehr oder weniger schmerzlos ein roter Märtyrer wirst, he?" Vater Klose schwieg, worauf die zweite Stimme wieder begann: "Also, Klose, nun seien Sie mal vernünftig. Sie haben doch 'ne Frau und einen Jungen, stehen außerdem in Arbeit und wohnen wie ein Graf in dieser properen Dreizimmerwohnung. Sehen Sie, das alles setzen Sie mit Ihrem Dickkopf glatt aufs Spiel. So etwas macht man doch nicht als real denkender Mensch! Also, Klose ..." Die Stimme bekam geradezu einen Ton ehrlicher Freundschaftswärme. "Nun mal frisch, fromm, fröhlich, frei von der Leber runter und ausgepackt. Was war das für ein Briefchen, das Sie gestern morgen von drüben erhalten haben?" "Von meinem Bruder. Herr Kommissar", gab Vater Klose rasch und bestimmt zur Antwort. Jetzt übernahm der erste Gestapomann mit seiner heiseren Stimme wieder das Verhör: "Uns ist natürlich bekannt, Klose, daß du einen Bruder jenseits der Grenze wohnen hast. Aber wir wissen auch, was du Dreckskerl noch nicht zu wissen scheinst! Dein Esel von Bruder liegt seit drei Tagen im Reichenberger Krankenhaus und kann daher unmöglich schreiben ..." Die folgenden Worte klangen, als würden sie abgelesen: "Lieber Bruder, da wir lange keinen Skat miteinander gedroschen haben, komme ich, wie gewöhnlieh, heute abend im kleinen Grenzverkehr auf
einen Sprung hinüber. Besorg den dritten Mann zum Skat. Euer Emil." "Ja, Klose, Kresse, da staunt ihr Bauklötzer, was wir alles wissen, was?" Aus den Worten des Gestapomannes war auf einmal die geheuchelte Freundlichkeit verschwunden: "Jetzt aber raus mit der Sprache! Nach unserer Schriftprobe stammt der Brief vom geflüchteten Hochverräter Brüggemann höchstpersönlich. Also von dem Landesverräter, mit dem ihr Kerle seit Jahr und Tag keine Verbindung mehr haben wollt!" Der andere brüllte heiser: "Ihr habt noch zwei Minuten Bedenkzeit. Sind sie herum, setzen wir das Verhör im Stadthausbunker fort. Was euch dort unten blüht, wißt ihr! Also, wo kommt heute nacht die Brüggemann-Bande über die Grenze? Wer ist der dritte Mann zum Skat? Antwortet, ihr roten Hunde!" Einen Augenblick herrschte nebenan quälende Stille. Dann hörte Albert die weinerliche Stimme Ludwig Kresses: "Hat ja alles keinen Zweck mehr, Klose. Ich bin doch kein Selbstmörder. Ich sag's!" "Schweig, du ..." Albert war, als hätte man seines Vaters Mund zugehalten. Eine Annahme, die durch des Gestapomannes wütende Drohung, ihn über den Haufen zu schießen, wenn er nicht endlich ruhig bliebe, sich bestätigte. Darauf folgte Kresses feiger Verrat. "Jawohl, Herr Kommissar, die Brüggemann-Kolonne kommt heute nacht über die Grenze. Aber allein Toni Gleiser aus Wiechendorf weiß, wo ..." Albert begann an allen Gliedern zu zittern. Seine Mutter, die hinter ihm in den Korridor getreten war, barg ihr Ge-
sicht in den Händen, während ihr Körper in verhaltenem Schluchzen bebte. Nur zu gut wußte sie jetzt, daß alles verloren war. Innerlich gebrochen, schlichen beide in ihr Zimmer zurück. Des Jungen gehetzter Blick irrte von der zusammengesunkenen Gestalt seiner Mutter hoch zur Wanduhr. Es war kurz vor neun. Mit heißem Erschrecken fiel ihm ein. daß Fritz, sein stets pünktlicher Freund Fritz, Punkt neun Uhr hier sein wollte! Und er ist der Sohn jenes Brüggemann, der soeben verraten wurde. Fieberhaft überlegte Albert, wie er Fritz warnen, wie der Freund darüber hinaus seinen Vater und die anderen Freunde der Kolonne retten könnte. Endlich - er war bereits ganz verzweifelt - kam ihm ein verwegener Gedanke. Rasch holte er aus dem Versteck das Briefmarkenalbum, riß ohne Bedauern eine Seite heraus und bekritzelte sie in fliegender Hast mit einigen Zeilen. Auf den Zehenspitzen schlich Albert zur Korridortür, drückte mit dem Bleistift behutsam die äußere Messingklappe vom Briefeinwurf hoch und horchte in den Flur. Soeben schlug die Wanduhr neun. Als deren letzter Schlag verklungen war, vernahm er das schrille Pfeifen seines Freundes Fritz. Tief aufatmend steckte er die Albumseite durch den Schlitz. Unhörbar wie eine große Schneeflocke fiel das Blatt draußen im Korridor auf die Fußmatte nieder. Wie ein Schatten glitt Albert zurück in das Zimmer seiner Mutter. Ob es Fritz gelingen würde, Kresses Verrat wiedergutzumachen? Albert wünschte es aus heißem Herzen. Das Blatt fiel keinen Augenblick zu früh oder zu spät
Fritz Brüggemann war soeben auf dem letzten Treppenabsatz der dritten Etage angekommen, als er aus der Tür zu Kloses Wohnung etwas Helles fallen sah. Ein breites Schmunzeln ging über sein offenes Jungengesicht. Aha, dachte er, Albert hat mich pfeifen gehört, jetzt möchte er rasch mit mir ein Ding drehen. Immer noch lächelnd, hob er das Blatt auf, las es mit ahnungsloser Miene, stutzte und überflog zum zweitenmal Alberts Botschaft: "Lieber Fritz, nicht klingeln! Gestapo verhört Vater und Kresse. Vater ist ein Held wie Deiner. Aber K. hat alles verraten. Lauf um Dein Leben nach Wiechendorf zu Toni Gleiser. Weg von der Tür, sofort! Rette Deinen Vater! Albert." Immer noch ungläubigen Gesichts, wendete Fritz das Blatt um. Da stand noch etwas hastig hingekritzelt: "Kein Spaß! Wirklich kein Witz von mir! Warne die Freunde. Lauf, Fritz!!!" Fritz Brüggemann wurde mit einem Schlag todernst. Sein Gesicht war das eines erwachsenen Menschen geworden. Dennoch saß darin noch etwas vom Argwohn eines Jungen, der fürchtet, von einem andern "reingelegt" zu werden. Eine Sekunde starrte er ratlos auf die Zeilen. Sollte er die Warnung ernst nehmen? Ja. sagte ihm eine innere Stimme, du mußt so handeln, als ob sie fürchterliche Wahrheit wäre. Albert ist kein Kindskopf. Außerdem aber ... Und diese Überlegung gab den Ausschlag, zerreißt Fritz auf keinen Fall bloß aus Spaß das gemeinsame Briefmarkenalbum! Mit einem Satz war Fritz am Treppengeländer. Sausend ließ er sich hinuntergleiten.
Von Heinrichsthal bis Wiechendorf, wo sich eine Papierfabrik befand, brauchten die Arbeiter morgens fast eine Dreiviertelstunde, nach Feierabend zurück eine Viertelstunde mehr. Fritz Brüggemann berechnete, während er wie gehetzt die langgestreckte Kleiststraße entlanglief, daß er für diesen Weg gut eine Stunde benötigen würde, denn der bisherige Nieselregen wuchs sich langsam zu einem regelrechten herbstlichen Dauerlandregen aus. Eine Stunde! Was konnte in dieser Zeit nicht schon alles mit Toni Gleiser geschehen sein, bevor er ihn warnen konnte! Fritz wurden die Knie schwach, dachte er an einen telephonisch durchgegebenen Befehl zur Verhaftung Tonis. Ob er wollte oder nicht, er mußte einen Augenblick haltmachen. Und als er wieder weiterrennen wollte, schnappte sein rechtes Kniegelenk so merkwürdig empfindungslos. Zum Stadtpark hin wurden die Häuser kleiner und hörten endlich ganz auf. Hinter der Gartenwirtschaft von Schrammel mündete die Ausfallstraße aus der Stadt in die Wiechendorfer Chaussee. Keuchend bog Fritz links ein und hastete weiter, zuerst durch welliges Brachland, dann an umzäunten Wiesen und abgeernteten Feldern vorbei. Fast zwanzig Minuten lief er, des Regens nicht achtend und was die Beine hergaben, durch den aufgeweichten Schmutz der Landstraße. Oft glaubte er am Ende seiner Kräfte zu sein. Aber sein Blick nach oben zur Telephonleitung, wodurch bestimmt bald der Befehl durchgegeben würde, Toni Gleiser zu verhaften, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen, ließ ihn das Letzte hergeben. Den Kopf trotzig erhoben, schleuderte er die wachsleinene Schultasche, deren Gewicht ihn immer mehr beim Laufen behinderte, in den Straßengraben und lief, so schnell er konnte,
weiter. Und doch wurde sein Lauf auf Leben und Tod unmerklich, aber stetig langsamer. Das Herz klopfte ihm in der Brust, als wollte es zerspringen. Sein Atem ging immer schwerer. Voll Zorn über seine Schwäche mußte er bald mitten auf dem Weg stehenbleiben. Da fiel ihm die Instruktion des Nazi-Turnlehrers Wagner ein, wie man große Strecken im Dauerlauf sportgerecht überwindet: Fäuste geballt, Ellbogen lose in den Hüften, Kreuz hohl, durch die Nase atmen und mit beiden Füßen, das Körpergewicht auf die Fußspitzen verlagert, gleichmäßig vorwärts federn. In der Turnstunde, die immer mehr zur vormilitärischen Erziehung für die Faschisten geworden war, hatte Fritz seine Witze gemacht und vom "zackigen Kommiß" gesprochen. Aber sein Freund Albert Klose, der auf dem Schulhof im Übungslauf neben ihm her trabte, war ernst geblieben und hatte nur gesagt: "Durchhalten, Fritz! Sportkniffe zu beherrschen, kann niemals schaden. Wer weiß, wann man sie mal gebrauchen kann." Und nun trabte Fritz sportgerecht weiter. Plötzlich hörte er hinter sich das Surren eines näher kommenden Autos. Erschreckt zur Seite springend, schoß ihm heiß der Gedanke durch den Kopf, ob etwa schon der Heinrichsthaler Polizeiflitzer hinter ihm wäre. Aber es war zu seiner großen Erleichterung nur der schwere MercedesBenz-Wagen des Direktors der Wiechendorfer Papierfabrik. Hinter dem protzigen Wagen kam in kurzem Abstand ein LKW. Der Fahrer hupte nicht, als er Fritz erreichte. Wie selbstverständlich hielt er an und ließ, ohne große Worte zu verlieren, den erschöpften und regennassen Jungen
aufsteigen.
Kommissar Ohlenhoff machte in stolzem Bewußtsein seiner erfolgreichen Amtshandlung auf dem Kreispolizeiamt in der Kleiststraße 34 Dr. Bennigsen Meldung, der, da Heinrichsthal Grenzstadt war, gleichzeitig den Grenzschutz im Bezirk verantwortlich leitete. Dr. Bennigsen saß hinter seinem Schreibtisch. Gleich nach den ersten Sätzen des berichterstattenden Gestapokommissars jagte er seine Bulldogge "Holofernes", die ihn bisher auf ihre Weise unterhalten hatte, in die Ecke und gestattete Ohlenhoff, sich zu setzen. "Großartig. Das ist ein Fang!" lobte er den Kommissar. "Ich werfe für unsre Kerle so viel Bier aus, wie sie saufen können, wenn die Brüggemann-Bande heute nacht zur Strecke gebracht wird." Kommissar Ohlenhoff, den es drängte, seinen Anfangserfolg gekrönt zu sehen, blieb sachlich. Er schlug vor, sogleich den Flitzer nach Wiechendorf zu beordern, um den Toni Gleiser zu verhaften. Andererseits wäre jedoch zu überlegen, ob es nicht taktisch richtiger wäre, ihn vorerst einmal beobachten zu lassen, um dann mit und durch Gleiser die ganze Brüggemann-Kolonne festzunehmen. Allerdings nähme man damit im Hinblick auf die Unübersichtlichkeit des Grenzwaldes bei Nacht ein gewisses Risiko auf sich. Darum plädiere er, um ganz sicher zu gehen, für die sofortige Festnahme Gleisers. Dr. Bennigsen nickte. Doch blieb in seinem von Schmissen zerhackten Gesicht ein Rest von Unsicherheit zurück. "Wenn Sie mir garantieren, Ohlenhoff, daß wir den Burschen unten im Stadtbunker zum Sprechen bringen?" Diese Garantie gab ihm der Kommissar durch eine
stumme, ruckartige Verbeugung. "In Ordnung, Ohlenhoff! Sie übernehmen persönlich die Verhaftung."
Toni Gleiser saß am Fenster und bastelte seit Stunden an seinem "Volksempfänger" herum. Am liebsten hätte er ihn in die Ecke geknallt. Mit zackigen Militärmärschen und geschwollenen Führerreden war er in dem einen Jahr, das er im KZ verbringen mußte, für sein ganzes ferneres Leben eingedeckt worden. Weil aber der Apparat einmal im Hause stand - der älteste, auswärts verheiratete Bruder glaubte, ihm und der bettlägerigen Mutter im einsamen Wiechendorf damit eine Freude gemacht zu haben -, sollte er auch die richtige Verwendung finden. Mit sich und seiner Bastlerkunst unzufrieden, weil es ihm nicht gelingen wollte, den Empfänger auf die große Moskauer Welle einzustellen, legte er für heute das Werkzeug aus der Hand und sah mißmutig durch das zur ebenen Erde gelegene Fenster. Als der schwere Mercedes des Direktors von der Papierfabrik am Haus vorüberbrauste, knurrte Toni: "Protz, verdammter!" Ausgerechnet dieser Pfeifer, dieser Herr Direktor, mußte ihm heute morgen die Laune noch mehr verderben. Denn Pfeifer war es gewesen, der nach Tonis "bedingter Entlassung" aus dem KZ dafür gesorgt hatte, daß man ihn nicht wieder in der Papierfabrik einstellte. Immer noch verärgert, drehte sich Toni eine Zigarette, als auf der Landstraße ein zweiter Wagen sichtbar wurde, der kurz vor seinem Haus bremste und stoppte. Hastig kletterte ein Junge aus dem Führersitz, der eilig hinkend der Haustür zustrebte, während der LKW weiterfuhr. Neugierig geworden, trat Toni dem Besucher im Flur
entgegen. "Bist du Toni Gleiser?" Der Junge fiel geradezu mit dieser Frage ins Haus. Toni nickte erstaunt. "Dann muß ich dich sofort in einer ganz wichtigen Sache sprechen." Etwas leiser setzte er hinzu: "Ich bin Fritz Brüggemann." Erschreckt zuckte Toni zusammen. Wortlos schob er den vor Nässe triefenden Jungen vor sich her in die Küche. "Was ist passiert? Schickt dich Vater? Hast du Nachricht von drüben?" Fritz schüttelte energisch den Kopf. "Bei Kloses in Heinrichsthal ist die Gestapo. Ludwig Kresse, der Lump, ist Verräter geworden. Hat alles ausgesagt." Nur mit Mühe gelang es ihm, die aufgeweichte Albumseite aus der Hosentasche zu ziehen. "Das Blatt hat Albert Klose durch den Briefschlitz nach draußen geworfen. Für mich. Mehr weiß ich auch nicht." "Reicht mir", sagte Toni, als er Alberts Warnung gelesen hatte. "Das riecht sauer! Jetzt heißt's Grips und Beine zusammennehmen. Klose und Kresse werden bestimmt von drüben Bescheid gehabt haben, daß die Kolonne heute oder morgen nacht über die Grenze kommt." Finster grübelnd setzte er hinzu: "Da hätte ich heute lange auf Kloses Nachricht warten können." Fünf Minuten später traten zwei vermummte Gestalten durch die Hoftür des Hauses ins freie Feld. Fritz, mit seiner nassen Jacke unterm Arm, steckte in einer Joppe vom Toni, die ihm natürlich viel zu groß war. Außerdem hatten sich beide Kartoffelsäcke als Kapuzen über die Köpfe gestülpt, um gegen den Regen wenigstens einigermaßen geschützt zu sein.
Von seiner alten Mutter, die wie stets im Hinterzimmer zu Bett lag, hatte Toni keinen Abschied genommen. Heimlich, damit sie nicht merken sollte, daß ihr Sohn auf "große Reise" ging, war er an die Schlafzimmerkommode gegangen, um seine Dokumente und etwas Geld einzustecken. Bereits im Hausflur, lief er noch einmal zurück, um sein großes bayrisches Messer zu holen, ohne das er nie in den Wald ging. Als der Große und der Kleine den Rand des Tannenwaldes erreicht hatten und Toni noch einmal nach dem altersgrauen Häuschen seiner Mutter zurückblickte, sah er auf der Landstraße nach Wiechendorf den bekannten Heinrichsthaler Polizeiflitzer in toller Fahrt näher kommen. Anerkennend klopfte er Fritzens Schulter: "Drei Minuten später, mein Junge, und deine Warnung wäre zu spät gekommen."
SA-Mann Ruttke, Ordonnanz im Heinrichsthaler Polizeiamt, trat hackenzusammenschlagend in das Zimmer Dr. Bennigsens. "Der neue ,Stürmer', Herr Doktor!" Doch dieser traf keinerlei Anstalten, das Blatt entgegenzunehmen. Belustigt sah er vom Schreibtisch aus den überstramm vor ihm stehenden SA-Mann an und geruhte schließlich zu befehlen: "Bitte meinen Holofernes, daß er dir den ,Stürmer' zur Weiterleitung an mich abnimmt." Zu Bennigsens Spaß trat Ruttke ängstlich zu der träge in der Ecke liegenden Bulldogge, die böse hochsprang. Zaghaft steckte er die gefaltete antisemitische Schmutzzeitung in den geöffneten Rachen der Bestie. Dabei sagte er wie zu einem Menschen: "Den ,Stürmer' zur Weiterleitung an den Herrn Doktor."
In diesem Augenblick klingelte das Telephon. "Doktor Bennigsen." Jäh verschwand aus dem zerhackten Gesicht das rohe Lachen. "Wa-wa-was? Das Nest in Wiechendorf ist leer? Wie, Ohlenhoff, nur ein altes Weib im Haus? Verflucht! Festnehmen natürlich! Sofort verhaften, die Hexe! ... Wie? Transportunfähig? Dann laßt sie verrecken ... Hören Sie, Ohlenhoff, jetzt nicht lange gefakkelt. Ein Mann bleibt im Haus, mit den andern riegeln Sie sofort Grenzabschnitt Wiechendorf ab. Ich schicke Verstärkung. Jawohl, den ganzen Kammweg besetzen! Und daß mir kein Floh über die Grenze hüpft! Wer auf Anruf nicht stehenbleibt, erschießen, verstanden? Jawohl, Ohlenhoff, sofort mit Salven eindecken ..."
Ottje Timm, der Jüngste aus der "BrüggemannKolonne", war den ganzen regnerischen Nachmittag über damit beschäftigt gewesen, mehrere Tausend Reclamhefte "Deutsch für Deutsche", in denen, wie wir wissen, in Wirklichkeit der Bericht über den Reichstagsbrandprozeß stand, in seinem Rucksack näher an die Grenze heranzuschaffen. Diese Arbeit, obwohl längst nicht so lebensgefährlich wie jenseits der Grenze im "Dritten Reich", erforderte dennoch äußerste Vorsicht. Die tschechoslowakischen Gendarmen und Grenzer drückten zu jener Zeit wohl mal ein Auge zu, wenn sie glaubten, einen sudetendeutschen Arbeitslosen zu erblicken, der irgendeine Kleinigkeit hinüberpaschte. Da sie aber andererseits von ihrer Regierung in Prag Anweisung hatten, dafür zu sorgen, daß kein "Grenzzwischenfall" entstände, womit die größenwahnsinnigen Machthaber in Berlin gegen die "verjudete Tschechei" hetzen konnten, achteten sie scharf auf alle
Kolonnen, die Antinaziflugblätter über die Grenze paschten. Ottje Timm mußte daher im Verlauf des Nachmittags mehr als einmal "Häschen im Rübenfeld" spielen, das heißt angesichts der tschechoslowakischen Grenzer in Deckung gehen und geduldig im nassen Gras liegenbleiben, bis sich die Gefahr wieder vollkommen verzogen hatte. Dreimal mußte er mit dem schweren Rucksack von Bleiwaldau den Weg durch das vom Zollhaus gut übersehbare Tal bis zum Rand des Grenzwaldes nehmen. Als er endlich die "Reclamhefte" glücklich im Depot der Tannenschonung am Fuße des Bleiberges geborgen hatte, suchte er sich unter niedrigem Gebüsch ein sicheres und einigermaßen trockenes Plätzchen und erwartete hier mit norddeutscher Gemütsruhe den Anbruch der Dunkelheit. Die kurze Pfeife wurde sonst bei dem ehemaligen Hamburger Hafenarbeiter nie kalt. Zwar steckte sie nun auch wieder zwischen seinen Zähnen, aber in dem vor Nässe förmlich dampfenden Wald wagte er nicht, sie anzuzünden. Der Tabakduft wäre gefährlich weit zu riechen gewesen. Er verkniff sich daher den Genuß seines geliebten Krautes, kaute auf dem kalten Knösel herum und wunderte sich nicht wenig, daß er diese Entsagung fertigbrachte. Die Dunkelheit war kaum hereingebrochen, schreckte ihn ein näher kommendes Geräusch wie von gestreiften und zurückschnellenden Zweigen aus seinen Träumen von der verlorengegangenen, aber nie aufgegebenen Heimat. Die Hand ans Ohr legend, horchte er angespannt auf das mit den Freunden verabredete Signal. Er lauschte vergeblich. Das Geräusch kam näher, und bevor Timm beiseite springen konnte, stolperte fast ein
Mann über ihn, der einen schweren Sack trug. Im Nu hatte Ottje Timm den Mann zu Boden geworfen. Beide Hände um dessen Hals, kniete er auf ihm und fragte den vor Schreck mehr tot als lebendig unter ihm Liegenden, was in drei Teufels Namen er hier zu suchen habe. Ächzend stieß der Mann unter ihm hervor, man solle ihn doch um alles in der Welt laufen lassen! Er wäre ein arbeitsloser Knopfarbeiter mit Frau und drei Kindern, der zehn Paar Arbeitsschuhe nach drüben paschen wolle. Ottje Timm ließ ihn daraufhin zwar sogleich frei, doch warf er den Sack mit den Schuhen hinter sich und bedeutete dem Mann, er müsse im Interesse der Sicherung eines gewissen Unternehmens wohl oder übel hierbleiben. "Es tut mir leid, Kumpel, aber es geht nicht anders! Du mußt mir Gesellschaft leisten, bis meine Freunde kommen." Die jammernden Einwände des Schuhschmugglers ließ Timm unbeachtet. "Wer weiß, ob du nicht heute nacht von den SS-Grenzern geschnappt wirst? Wer garantiert mir dafür, daß du uns dann nicht vor Angst, oder um dir die Freiheit wieder zu ergaunern, ans Messer lieferst?" Und als der Mann fortfuhr, sich und seine Familie wortreich zu bejammern und zu beklagen, fragte Ottje ihn eindringlich, ob er nicht wisse, daß Hitler Krieg bedeute, daß die Type mit dem Nasenbürstchen schon oft gedroht habe, die Tschechoslowakei zu überfallen und "von der Landkarte auszuradieren"? Da endlich gab der Mann Ruhe, fügte sich in sein Schicksal. Langsam vergingen die Stunden. Im nahen Bleiwaldau schlug endlich die Kirchturmuhr zehn. Verabredungsgemäß müßten sich die Freunde jetzt bald melden. Timm horchte angestrengt in die Dunkelheit. Knackte da nicht
eben ein Zweig? Er begann leise zu zählen: "Eins, zwei, drei, vier und fünf!" Da knackte es zum zweiten Male. Das verabredete Signal! Ottje Timm brach gleichfalls zweimal einen Ast durch und lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille des Waldes. Nun dauerte es nicht mehr lange, und er vernahm das bekannte, kaum hörbare Geräusch von Sträuchern oder Zweigen, die gestreift wurden und wieder zurückschnellten. Es waren Richard Brüggemann und Wenzel Krummacher aus Bleiwaldau. Die beiden Angekommenen staunten nicht wenig, bei Ottje Timm einen zweiten Mann vorzufinden. Der Hamburger erklärte ihnen die näheren Umstände und fragte abschließend, ob er recht getan habe, den Schuhpascher zurückzuhalten. "Goldrichtig", bestätigte ihm Richard Brüggemann leise. "Bei uns geht's um Leben und Tod. Wir haben im Interesse unserer Sache nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, auf Nummer Sicher zu gehen." Wenzel Krummacher flüsterte mit dem Schuhpascher. Jetzt wandte er sich an die Freunde und sagte: "Harmloser Fall, Richard, Ottje! Ich kenne den Kumpel. Wir haben zusammen in der Knopffabrik gearbeitet." "Schön und gut", gab Brüggemann immer noch bedenklich gestimmt zurück, "aber was machen wir mit ihm?" Wenzel Krummacher hatte einen Plan. Er begann wieder auf seinen Landsmann einzuflüstern. Danach erklärte sich der Schuhpascher damit einverstanden, sein Unternehmen auf morgen nacht zu vertagen. Richard Brüggemann sollte ihm dafür ein paar Tschechenkronen geben, damit seine Familie morgen zu essen hätte.
"Glaubt es mir, Kumpels", beteuerte der Mann, "wenn's bei mir zu Hause nicht so schlimm stände, kriegten mich keine zehn Pferde mit dem Schuhzeug über die Grenze." Dieses Geständnis, mehr aber noch der verzweifelte Ton, mit dem es herausgebracht wurde, ließ Richard Brüggemann zustimmen, den arbeitslosen Knopfarbeiter laufen zu lassen. Er gab ihm zwanzig Kronen, schärfte ihm nochmals im Interesse des gemeinsamen Kampfes gegen Hitler Schweigen zu jedermann ein und reichte ihm zum Abschied die Hand. Der Mann mit dem Sack verschwand. "Uff", stöhnte Ottje Timm erleichtert. "Die Einfahrt ins ,Dritte Reich' scheint endlich klar zu sein." Richard Brüggemann, der in Richtung des Verschwundenen horchte, beschlich ein unsicheres Gefühl. Mehr zu sich als zu den Freunden raunte er: "Ich weiß nicht recht ... Der Pascher war mir doch zu wehleidig. Der verspricht leicht etwas. Ob er wirklich gleich nach Hause trabt?" Von links flüsterte jetzt Wenzel Krummacher, der sudetendeutsche Freund: "Du, Ottje, beinahe waren wir unten am Bach unsern tschechoslowakischen Grenzern in die Hände gelaufen. Sie markieren bei diesem feuchtfröhlichen Pascherwetter Diensteifer." Leise gab Timm zurück: "Immer noch besser, euren Grenzern vor den Bug zu scheren, als den braunen oder schwarzen Hunden vor die Flinten zu kommen." Alle drei verharrten darauf lange Zeit in schweigender Unbeweglichkeit. Ottje Timm war der erste, der wieder zu reden anfing. "Wat seggt de Klock?" flüsterte er Brüggemann ins Ohr. Dieser warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Phosphor des Zifferblatts leuchtete in der tintenschwarzen Dunkelheit der Tannenschonung: "Gleich elf, Ottje. Bis
ein Uhr wartet drüben unser Toni an bekannter Stelle, das heißt, wenn er rechtzeitig Bescheid erhalten hat, daß wir heute nacht kommen." "Na, dann laßt uns aufbrechen", erwiderte Wenzel Krummacher. Mit den Reclamheften in den Rucksäcken ging es weiter. Wenzel, der hier von Kind auf zu Hause war, setzte sich an die Spitze, und langsam, mit der Übung alter erfahrener Schmuggler jedes Geräusch vermeidend, stieg die Kolonne den steilen Bleiberg hinauf in Richtung des Kammweges. Und keiner ahnte, welchen Gefahren sie entgegengingen.
Kommissar Ohlenhoff fühlte sich verraten und verkauft. Da war nun endlich jemand von den Hochverrätern "weich" geworden, und der Hauptfang wollte dennoch nicht glücken. Große Hoffnung, daß sich dieser verfluchte Toni Gleiser aus Wiechendorf noch diesseits der Grenze befände, hegte er nicht mehr. Woher der Kerl bloß von seiner bevorstehenden Verhaftung Wind bekommen hatte? Den ganzen Nachmittag und Abend zermarterte sich Ohlenhoff darüber oben auf dem Kammweg den Kopf. Er konstruierte allerlei Möglichkeiten, wie man Gleiser gewarnt haben mochte, um sie alle wieder als unwahrscheinlich zu verwerfen. An Albert, den Sohn des verhafteten Klose, der auch beim "Verhör" im Stadthausbunker geschwiegen hatte, dachte Ohlenhoff allerdings nicht. So gab er sich schließlich mit der Annahme eines "blöden Zufalls" zufrieden, obgleich ihm dies als gewiegtem Kriminalisten "alter Schule" zuwider war. Gegen zehn Uhr brachten ihm seine SS-Leute einen Mann, der wie ein Kind wimmerte. Beim Schein eines Handlichtwerfers wurde er untersucht. Man fand bei ihm
über siebentausend Reichsmark, einige hundert Dollar, einen kleinen Lederbeutel voll Industriediamanten und dazu einen Ausweis der Nazipartei, dessen Personalangaben mit den anderen Dokumenten übereinstimmten. Sie hatten also statt des gesuchten "Hochverräters" Toni Gleiser einen Faschisten erwischt, der Devisen und Diamanten schmuggelte. Ohlenhoff gab wutentbrannt dem wimmernden Kerl einen Tritt und befahl seinen SS-Leuten, ihn in Handfesseln nach Heinrichsthal zu führen. Kaum waren die beiden Grenzer mit ihrem Gefangenen in der Dunkelheit verschwunden, wurde Ohlenhoff auf seinem Inspektionsgang durch einen Lichtschein angelockt, der aus einer Mulde am Abfall nahe des Kammweges kam. Da seinen Leuten ausdrücklich eingeschärft worden war, mit ihren Lichtwerfern vorsichtig umzugehen und er andererseits nur zu gut wußte, daß Schmuggler und Flugblattpascher im Grenzwald nie Licht aufblinken ließen, erfaßte ihn maßlose Wut. Mit der gezogenen Pistole in der Hand schlich er auf den Lichtschein zu und drang unhörbar durch das am Muldenrand stehende Buschwerk. Verblüfft starrte er in die Tiefe. Dort saßen, wie im schützenden Kessel geborgen, drei seiner Leute um einen Haufen nagelneuer Schuhe, die im hin und wieder aufleuchtenden Schein der Taschenlampe glänzten. Die gierig und eilig zupackenden Hände verrieten, daß jeder der drei Männer die passenden Schuhe für sich aussuchte. Ein vierter SS-Grenzer - es war derjenige, der von Zeit zu Zeit die Taschenlampe anknipste - bewachte einen Zivilisten mit einem leeren Sack in der Hand. Kommissar Ohlenhoff war im Bilde. Seine Leute hatten
einen Pascher erwischt, der im Sack Bata-Schuhe herüberbringen wollte, und "beschlagnahmten" von der Beute gerade einige Paar auf eigene Faust. Das war, wie er genau wußte, nichts Ungewöhnliches. Ja, um den Spüreifer der Leute im nächtlichen Grenzwald anzuspornen, hatte er bei früheren Großsuchaktionen angesichts solcher Eigenmächtigkeiten sogar beide Augen zugedrückt. Aber heute nacht ging es um Wichtigeres, heute nacht sollte die Brüggemann-Bande zur Strecke gebracht werden! Da mußte auch der letzte Spürhund auf seinem Posten stehen. Schäumend vor Wut, die um so stärker war, weil sie sich nicht laut Luft machen durfte, stürzte er unter die vor Schreck erstarrenden SS-Leute. Zwei von ihnen stieß er mit den Köpfen aneinander, den dritten zischte er wie eine gereizte Giftschlange an, und vom vierten, der den Zivilisten am Rockkragen festhielt, verlangte er mit heiserem Knurren Meldung. Er bekam genau das zu hören, was er bereits ahnte. Die Patrouille hatte den Schuhpascher festgenommen, als dieser mit dem Sack auf dem Rücken den Kammweg überqueren wollte. Der Verhaftete gab an, ein arbeitsloser Knopfarbeiter aus Bleiwald mit Frau und drei Kindern zu sein, der aus Not versucht habe, die Schuhe zu schmuggeln. Außer zwanzig Tschechenkronen hätte man nichts Schriftliches oder gar Politisches bei ihm gefunden. Mühsam beherrscht leuchtete Ohlenhoff dem lautlos vor sich hinweinenden Schmuggler ins Gesicht, der geblendet die Augen schloß. "Du bist aus Bleiwaldau?" herrschte er ihn an. "Ja", kam es kläglich von dessen Lippen. "Kennst du die deutschen Emigranten, die dort leben? " "Nein", war die noch weinerlichere Antwort. "Ich ... ich
kümmere mich nicht um Fremde. Und schon gar nicht um Politische." Der Mann hob barmend die Hände und flehte den Kommissar an, ihn laufen zu lassen. Doch dieser bellte heiser zurück, er dürfe nur reden, wenn er gefragt wäre. "Ist dir heute abend im Grenzwald etwas Verdächtiges aufgefallen?" forschte Ohlenhoff eindringlich weiter. "Denk aber scharf nach, bevor du antwortest. Von deiner Auskunft hängt's ab, ob du heute nacht oder erst in einem Vierteljahr zurück zu deiner Frau und den Gören kommst." Der Gefragte schwieg, als befolge er die Mahnung des Kommissars, "scharf nachzudenken". In Wirklichkeit kämpfte er innerlich den schwersten Kampf seines Lebens. Würde er ihn mit Anstand bestehen? Kommissar Ohlenhoff wurde ungeduldig. "Reden Sie, Kerl!" drängte er. "Wie ist's, haben Sie auf dem Weg von Bleiwaldau hier herauf irgendwelche Leute bemerkt? Hörten Sie im Walde verdächtige Geräusche?" Der Gefragte hob die Hand, offenbar um die Augen vor dem blendenden Schein des Lichtwerfers zu schützen. "Hände runter", zischte Ohlenhoff. "Ich will Ihr Gesicht sehen. Los, reden Sie endlich, Mann!" "Nein", kam es da wie mit letzter Seelenkraft über die bebenden Lippen des Mannes. "Mir ist niemand begegnet, Herr Kommissar. Doch - daß ich nicht lüge", verbesserte er sich rasch, "von weitem sah ich unten am Zollhaus einen unserer Gendarmen vom Bleiberg herunterkommen." "Äh", winkte Ohlenhoff enttäuscht ab und befahl zwei von den stramm und stumm im Dunkel stehenden SSGrenzern, "den Kerl mitsamt seinen Drecktretern abzufüh-
ren". Gefolgt von den beiden andern Grenzern, kletterte der Kommissar aus der Mulde. Fluchend setzte er seinen Inspektionsgang fort. Zwischen dem dritten und vierten Posten, die ihm alle wie zum Hohn ihr militärisch kurzes: "Posten Meier" oder "Posten Schulze. Nichts Neues!" ins Gesicht raunten, erschreckte ihn plötzlich ein Geräusch, glühten ihn zwei große Augen von unten her an. Es war die Bulldogge Holofernes. Ihr Herr folgte der Bestie auf dem Fuße, im sicheren Schutz von vier SS-Grenzern. "Grenzabschnitt Wiechendorf nichts Neues", meldete Ohlenhoff nicht eben schneidig. Dr. Bennigsen höhnte: "Natürlich, nichts Neues! Auf Grenzabschnitt Heinrichsthal dasselbe. Verflucht, daß man nicht überall selbst eingreifen kann!" Kommissar Ohlenhoff versuchte hastig, seinen Vorgesetzten mit der Nachricht von dem erwischten Schieber und Schuhpascher zu besänftigen. Doch da fiel er bei Dr. Bennigsen jetzt erst recht ab. "Devisenschieber und Pascher fange ich Ihnen, soviel Sie brauchen, Herr!" schnauzte er. "Ich lege Ihnen sogar noch Nacht für Nacht, wenn es sein muß, ein Dutzend Sacharin-Schmuggler dazu! Emigranten und Flüchtlinge sollen Sie mir liefern, verstanden? Die verdammte Brüggemann-Bande will ich haben, Herr! Den verschwundenen Gleiser sollen Sie mir fangen, Ohlenhoff! Nun hat man Ihnen alle verfügbaren Kräfte unterstellt, und was bekommt man zu hören? Im Grenzabschnitt Wiechendorf nichts Neues!" Kommissar Ohlenhoff schwieg. Er hatte, das peinigte ihn schon die ganze Zeit, die dunkle Ahnung, daß in der
ganzen Aktion irgendein Fehler steckte. Dieses Bewußtsein machte ihn gegenüber dem Schimpfenden unsicher. Miteinander grollend, revidierten sie die längs der Grenze ausgestellten Posten. Holofernes, feinfühlig wie Tiere sind, grollte mit und schnupperte hin und wieder an Ohlenhoffs Hosenbeinen, wobei sie böse knurrte. Wäre die Bulldogge von ihrem Herrn nicht so verschwenderisch mit schierem Fleisch überfüttert worden, hätte ihr Jagdinstinkt Toni Gleiser und Fritz Brüggemann bestimmt aufgespürt. Um nicht von Waldarbeitern gesehen zu werden, hatten die beiden Flüchtlinge am Nachmittag einen großen beschwerlichen Umweg über den Kreuzweg längs des gewundenen Quirolbaches machen müssen, und als sie endlich nach zweistündigem Marsch in den verlassenen Steinbrüchen am Fuß des Bleiberges auf deutscher Seite angelangt waren, bemerkten sie oben auf dem Kammweg verdächtige Gestalten. Der Weg über die Grenze war versperrt. Sie legten sich in das Erdloch eines vom Sturm ausgerissenen Baumes, überdeckten es mit Laub und Zweigen, durch die sie hindurchblicken konnten. So gegen Sicht gedeckt, erwarteten sie die Dunkelheit. Die Angst des Jungen, sein Vater könnte mit seiner Kolonne über die Grenze kommen und ahnungslos den SSGrenzern in die Fänge geraten, wurde mit jeder hier im Loch untätig verbrachten Stunde größer. Gegen Abend glühte ihm der Kopf, zitterte er an allen Gliedern. Besorgt sah Toni von der Seite in die verdächtig glänzenden Jungenaugen. Hatte Fritz Fieber? Sollte er etwa schlappmachen? Im stillen bereitete er sich schon darauf vor, Fritz den steilen Bleiberg hinauf tragen zu müssen.
Das würde ein schweres Stück Arbeit werden! Prüfend äugte Toni durch die Zweige nach oben zum Kammweg. "Halt durch, Fritz!" versuchte er dem Jungen Mut zuzusprechen. "Ich brauche dich noch!" Fritz Brüggemann nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Ja, er wollte durchhalten. Er mußte, koste es was es wolle, seinen Vater und die Freunde retten! Das bißchen Nässe, das beginnende Fieber sollten ihn nicht unterkriegen! In Gedanken suchte er seinen tapferen Freund und ehemaligen Pionierkameraden Albert Klose. Vielleicht, nein, ganz sicher, dachte Albert in dieser Sekunde an ihn. Ob die Gestapo auch Albert eingesperrt hatte? An diesem Regentag wurde es früh dunkel. Die Stille in dem Steinbruch war unheimlich. Bald sah Fritz hinter jedem Steinhügel SS-Grenzer hervorkriechen. Mit bebenden Lippen flüsterte er vor sich hin: "Ich darf nicht schlappmachen. Ich will doch Vater und die Freunde retten!" Einmal sprach er diesen Schwur sogar selbstvergessen halblaut aus, worauf Toni ihm verschworen zunickte. Eine ferne Turmuhr - Toni vermutete, daß es die der Kirche im tschechoslowakischen Bleiwaldau war - hatte soeben acht geschlagen, als ein Lichtwerfer am Eingang des Steinbruchs aufleuchtete und sogleich wieder verschwand. Das geschah mehrere Male hintereinander, wobei der Lichtkegel jedesmal über das Erdloch der Verfolgten hinwegwischte. Toni Gleiser, zwar Herr seiner eigenen Nerven, aber ungewiß, ob Fritz sich und ihn nicht durch eine unbeherrschte Regung verraten würde, warf sich über den Jungenkörper und hielt ihm mit beiden Händen den Mund zu.
Die Mütze tief über die Stirn gezogen, hob er vorsichtig Zoll um Zoll das Gesicht, um durch die ihn bedeckenden Zweige zu spähen. Der Lichtkegel tastete zwar jetzt mehr und mehr die steile Felswand zum Kammweg hinauf ab, doch war die Suchpatrouille bis auf zwanzig, dreißig Meter an das Erdloch herangekommen. In der Stille des Steinbruchs konnte Toni sogar einen halblaut ausgestoßenen Fluch vernehmen. Noch deutlicher drang eine andere Stimme an sein Ohr. "Mensch, Hermann", sagte jemand ärgerlich, "du bist 'n Knallkopp! An dieser Steinwand kommt doch kein Fassadenkletterer rauf zum Kammweg. Los, weiter!" Der SS-Mann "Hermann" ließ in seinem Sucheifer unbeirrt weiter den Lichtwerfer spielen. Kein Quadratmeter des Steinbruchs blieb unbeleuchtet. Und selbst als sich die Patrouille wieder zurückzog, huschte der Kegel noch einige Male über die Gesuchten hinweg, drang das Licht durch die über sie gebreiteten Sträucher. Mit einem tiefen, befreienden Seufzer erhob sich Toni auf die Knie. Er nahm den wie willenlosen Körper des Jungen in seine Arme. "Braves Kerlchen", kam es weich von seinen Lippen. Sanft strich er ihm über den regennassen Kopf. Ereignislos vergingen zwei weitere Stunden. Als die ferne Turmuhr leise zehn schlug, arbeiteten sie sich vorsichtig aus dem Loch. Fest an die Felswand gedrückt, schlichen sie hintereinander an jene Stelle, von der aus Toni bereits einmal die tückische Wand bezwungen hatte. Damals brachte er einen Illegalen, dem im "Dritten Reich" das Todesurteil drohte, über die besetzte Grenze in die Tschechoslowakei. Das war ein lustiger Berliner gewe-
sen. ,,Wat denn, wat denn?" hatte dieser gestöhnt und verzweifelt die steile Felswand hochgesehen. "Da ruff? Bin ick 'n Kletteraffe, Toni? Det trauste mia zu?" Aber sie waren dennoch wie die Affen hochgeturnt und glücklich nach oben und über den an dieser Stelle unbesetzten Kammweg gekommen. Daran dachte Toni. Er hoffte, daß auch heute nacht dieser Teil des Kammweges von SS-Grenzern unbesetzt geblieben wäre. Der halsbrecherische Aufstieg im Dunkeln begann. Toni hatte seinen Koppelriemen um des Jungen Leib geschnallt und zog ihn daran mit sich hoch. War eine besonders gefährliche Stelle überwunden, lobte er ihn: "Bravo, Fritz! Hältst dich tapfer, nur weiter so! Bald haben wir's geschafft! Gleich sind wir oben." Den kleinsten Steinvorsprung, jeden Strauch und jede frei liegende Baumwurzel ausnutzend, kamen sie zwar langsam, aber doch stetig höher und höher. Dabei vermied es Toni wunderbar geschickt, daß sich unter ihren Füßen Geröll lösen und in die Tiefe donnern konnte. Keuchend, in Schweiß gebadet, erreichten die beiden so verschiedenen Bergsteiger schließlich die Höhe. Bis zum Kammweg, der eigentlichen Grenze, waren es letzt kaum noch hundert Schritte. Toni rechnete auf das bestimmteste damit, daß auch heute hier keine SS-Grenzer postiert waren; denn die Steinbrüche galten selbst unter den Schmugglern diesseits und jenseits der Grenze als unbesteigbar. Trotzdem konnte man, wenn es das Unglück wollte, auch an dieser Stelle einer Streife in die Arme laufen. Sie krochen daher auf allen vieren der gefährlichen Grenze zu. Als sie bis auf dreißig Schritt dem Kammweg nahe gekommen waren, fühlte sich Fritz plötzlich von Toni mit
grober Faust auf die Erde gedrückt. ,,Still", raunte er hastig. "Grenzer!" Auf dem Wege vor ihnen näherte sich ein Schatten. Mit brennenden Augen versuchte Toni die Dunkelheit zu durchdringen. Ihm schien es, als ob der wandernde Schatten der Umriß zweier Männer sei. Aber da löste sich am Boden etwas Dunkles. Ein kleiner Schatten machte sich sozusagen vom großen selbständig. Sollten die SS-Grenzer - Toni überlief es eiskalt - einen Bluthund mit sich führen? Er holte sein großes bayrisches Messer aus der Tasche, klinkte es auf und nahm es in die Rechte. Mit der linken Hand packte er Fritz fest am Leibriemen. Aber der große und der kleine Schatten wanderten vorüber, wurden undeutlich und verschwanden nach einer Weile gänzlich. Tief atmete Toni auf. Auch Fritz wagte wieder Luft zu holen. Zollweise krochen sie weiter. Am Rande des Kammweges suchte Toni die dunkelste Stelle zum Übergang. Er horchte noch einmal nach rechts und links. Alles blieb still. Nur der Wind bewegte zuweilen die herbstlichen Blätter der Bäume, von denen schwere Regentropfen hörbar auf das Gesträuch niederfielen. Entschlossen drückte der große Flüchtling den kleinen zur Erde, dann krochen sie auf allen vieren, das Gesicht dicht am Boden, durch den aufgeweichten Schlamm des Weges hinüber. Das "Dritte Reich" lag hinter ihnen. "Geschafft", sagte Toni einfach. Ihm standen keine anderen Worte für seine überquellende Freude zur Verfügung. Fritz Brüggemann konnte nur noch dazu nicken. Fieber, Angst und Anstrengung hatten ihn völlig erschöpft. Toni indessen wußte nur zu gut: noch drohte ihnen die
Gefahr, von aufblitzenden Lichtwerfern jäh geblendet, hilflos taumelnd den braunen oder schwarzen Grenzwächtern in die Hände zu laufen. Daher erhoben sie sich erst nach etwa fünfzig Metern jenseits des Kammweges. In einer Bodensenke gönnte Toni Gleiser dem Jungen einige Minuten Rast Auch er selbst brauchte eine kurze Ruhepause. Die Anstrengungen des gefahrvollen Aufstiegs mit dem schwankenden Jungen am Riemen hatten mehr Kraft und Nerven gekostet, als der mit vielen Gefahren Vertraute vor sich selbst zugeben wollte. Zudem trug er die Verantwortung für den Jungen seines Freundes Richard Brüggemann; und beide waren verdammt anständige und tapfere Kerle, das mußte man Vater und Sohn schon lassen! Toni spürte die Blicke des Jungen im Dunkeln auf sich gerichtet. Er fühlte das Vertrauen, das der Junge zu ihm von Anfang an empfand. Er mußte ihm jetzt Mut machen für die letzte, die schwerste Prüfung. "Nun, Fritz", begann er leise, "müssen wir uns trennen." Die jähe Unruhe des Jungen spürend, sprach er betont sachlich weiter: ,,Dein Vater kann mit seiner Kolonne auf zwei verschiedenen Wegen den Bleiberg heraufkommen. Den gefährlicheren nehme ich, klar! Den andern aber, den Weg durch die Tannenschonung, mußt du nehmen. Ja, Fritz, da hilft nun mal nichts!" Der Jungenkörper dicht bei ihm zitterte leise, als er eine kleine Pause machte. Hölzern und regelrecht grausam kam sich der Toni vor, der einen Halbwüchsigen mitten in der Nacht allein in den Wald schicken mußte! Dann tat er das einzige, was möglich war: er sprach wie zu einem Erwachsenen, wie zu einem gleichaltrigen Kameraden: "Unterwegs horchst du wie ein Wachhund. Fritz! Hier
hast du ein Stück Holz. Das brichst du jede paar Schritt durch, damit es knackt, zählst langsam bis vier und fünf, darauf brichst du den Ast noch einmal durch. Das ist unser Signal, begriffen? Auf diese Art machst du dich immer wieder bemerkbar. Rührt sich nichts, das heißt, hörst du kein Knacken als Antwort, läufst du bis hinunter zum Bach. Direkt am Ufer nach links zu steht eine Bank. Dort wartest du auf mich." Als Fritz nicht gleich antwortete, fragte Toni besorgt: "Hast du Angst, allein im dunklen Wald weiterzulaufen?" Fritz Brüggemann fühlte den dürren Ast in seiner Hand und schluckte krampfhaft. Der Gedanke, von nun an allein durch die tintenschwarze Finsternis des Waldes irren zu müsser, bedrückte ihn entsetzlich. Die Angst um den Vater, die Sorge um die Freunde und auch die selbstverständliche Art, mit der Toni ihn vor seine schwere Aufgabe stellte, überwanden jedoch seinen Kleinmut. "Nein", versicherte er stockend und ein bißchen hilflos. "Ich hab' bestimmt keine Angst, Toni!" Dabei schwankte seine Stimme, als würden die nächsten Worte im Schluchzen ersticken. Toni hörte Fritz sogar mehrmals schlucken "Du, Toni, ich will nicht lügen! Ich hab' doch Angst." Nun war es Fritz, der Toni beruhigen wollte. Er suchte dessen Hand, drückte sie und sagte mit leiser, fester Stimme: "Aber laß man, ich schaff es schon! Ich will doch meinen Vater und unsere Freunde retten. Hab keine Sorge um mich, Toni!" "Braver Kerl!" Toni preßte impulsiv den Jungen an sich. "Wenn ich dich jetzt nicht hätte!" Neue Kräfte rissen den Jungen hoch. Im Augenblick traute er sich alles zu. "Na, dann los, Fritz! Viel Glück!" Mit einem Schritt ver-
schwand der Große seitwärts in der Dunkelheit. Fritz, nunmehr auf sich gestellt, horchte Toni Gleiser noch einige Sekunden nach, dann setzte er sich gleichfalls in Bewegung. Fast wie ein Blinder sich vorwärtstastend, schritt er zwischen Bäumen den Abhang hinunter. Nach jedem zehnten Schritt blieb er stehen, brach Tonis Ast, wie verabredet, zweimal hintereinander durch und horchte angehaltenen Atems mit der Hand am Ohr in den schrecklich finsteren, unheimlich rauschenden Wald. Lange Zeit bekam er keine Antwort. Seine Herzensangst, die Kolonne zu verfehlen, wurde nach jedem Signal, das ohne Antwort blieb, würgender. Einmal war er nahe daran, einfach laut nach seinem Vater zu rufen. Er bezwang sich, stieg tapfer weiter und weiter bergab, gab wieder und wieder das Signal, horchte jedesmal mit neuerwachter Hoffnung, bis ihn plötzlich ein einmaliges Knackgeräusch in etwa fünfzehn Schritt Entfernung jäh auf die Stelle bannte.
Kolonne Brüggemann, inzwischen bis auf zweihundert Meter an den Kammweg herangekommen, machte "Fiefstein", wie Ottje Timm die Erholungspause in seinem Dialekt nannte. Wenzel Krummacher wollte sich gerade sein vom Regen und Schweiß nasses Gesicht trocknen, als vor ihm das Geräusch eines brechenden Astes laut wurde. Erschreckt beschatteten die drei mit der freien Hand ihre Augen. Aber anstatt den gefürchteten Lichtwerfer aufblitzen zu sehen, wiederholte sich im verabredeten Zeitabstand das Knacken. Richard Brüggemann zählte und flüsterte unsicher: "Fünf ..." Als Antwort zerbrach er nun seinerseits mit weit ver-
nehmbarem Geräusch einen trockenen Zweig. Wenzel Krummacher, vorsichtig wie immer, ließ sich danach sofort nieder. Richard Brüggemann und Ottje Timm folgte seinem Beispiel. Fast zehn Minuten lang lagen die drei mit Anspannung aller Sinne regungslos auf dem feuchten Waldboden. Doch vor ihnen rührte sich nichts mehr. Richard Brüggemann überlegte fieberhaft: War das Geräusch vorhin das Signal oder das zufällige Brechen eines fallenden Zweiges gewesen? Hatte es ein Waldtier, ein Schmuggler aus Deutschland oder gar ein brauner oder schwarzer Grenzer aus Versehen verursacht? Konnte es nicht aber auch das Signal von Toni Gleiser gewesen sein? Aber sollte Toni entgegen allen Parteiinstruktionen es wagen, über die Grenze zu kommen? War womöglich Gefahr im Verzug? War am Ende Verrat im Spiel? Brüggemann kam zu dem Entschluß, wenn es vorhin tatsächlich Toni Gleiser gewesen war, der den Zweig gebrochen hatte, dann müßten sie sich jetzt noch einmal melden. Leise teilte er sein Vorhaben den Freunden mit, dann brach er entschlossen das dürre Holzstück in seiner Hand zweimal durch. Sekunden nervenzerrender Spannung vergingen. Allein das Rauschen des finsteren Waldes blieb hörbar. Da, endlich wurde vor ihnen das Antwortsignal laut: einmal, zweimal! Hintereinander schlichen sie vorwärts. Noch zehn Schritte, und Vater Brüggemann hielt, stumm vor Schrekken, Staunen und Freude, seinen Sohn in den Armen. Fritz berichtete. Unter krampfhaftem, an Vaters Brust ersticktem Weinen wollte er alles auf einmal erzählen. Ludwig Kresses Verrat, Albert Kloses Warnung, Vater
Kloses tapfere Haltung, den verzweifelten Wettlauf auf der Wiechendorfer Landstraße mit dem Polizeiflitzer, das fürchterliche Erlebnis mit dem über ihre Köpfe huschenden Lichtkegel und die Kletterpartie auf Tod und Leben im Steinbruch, das Überkriechen des Kammweges, die Trennung von Toni Gleiser und endlich die entsetzlichen zehn Minuten der Ungewißheit vorhin nach dem einmaligen Knackgeräusch. Fritz schluckte, versuchte weiterzureden und brach in Schluchzen aus. Die Aufregung des ganzen wilden Tages war zuviel für ihn gewesen. Vater Brüggemann kannte seinen Jungen. Er brachte als einziger sogleich Sinn in den wirr hervorgestammelten Bericht, während Ottje Timm und Wenzel Krummacher vorerst nur dunkel ahnten, daß sich jenseits der Grenze Schwerwiegendes ereignet hatte. Sie blieben nicht lange im unklaren. "Wir müssen zurück", gab Brüggemann leise, aber entschlossener Tones bekannt. "Du, Ottje, bringst die Reclamhefte wieder in unser Depot in der Tannenschonung zurück und du, Wenzel, trommelst morgen früh die Kolonne aus Reichenberg im Sommerthal zusammen. Unsre Flugblätter gehen dann morgen oder spätestens übermorgen nacht über die Reservelinie hinüber ..." Weiter kam er nicht. Ein heiseres Bellen, das zu langanhaltendem Jaulen anschwoll und in Wimmern erstarb, ließ alle erstarren. Doch dauerte ihre Lähmung nur Sekunden. Das wild einsetzende Schnellfeuer, die in der Ferne durch Bäume und Strauch er blitzenden Lichter rief ihre Entschlußkraft zurück. "Hinunter zur Bank", rief Richard Brüggemann und raste den Abhang hinunter.
Fritz fühlte sich an der Hand des Vaters fortgerissen, stolperte, fiel, wurde wieder auf die Beine gestellt; er hörte ferne Stimmen, immer wieder Schüsse und verlor das Bewußtsein.
Fast gleichzeitig mit der Brüggemann-Kolonne traf unten an der Bank am Ufer des Baches Toni Gleiser ein. Er keuchte heiser und fiel Ottje Timm wie tot in die Arme. Mit der linken Hand preßte er seinen angeschossenen rechten Arm fest an den Körper. Während sich Richard Brüggemann um seinen Fritz, Ottje Timm um Toni bemühte, horchte Wenzel Krummacher in Richtung des tschechoslowakischen Zollhauses, dessen Licht durch die Bäume schimmerte. Er vernahm Hundegebell und wußte sofort, was das bedeutete. "Weiter, Freunde, rasch weiter", drängte er. "Unsere Grenzer schwärmen aus." Hastig berichtete er seinen Plan. Da die Brüggemanns, Vater und Sohn, und Ottje Timm als deutsche Emigranten auf keinen Fall als Urheber eines Grenzzwischenfalls gefaßt werden durften, war er bereit, sich für die Freunde zu opfern. Er wollte den Grenzern wie unbeabsichtigt in die Arme laufen und ihnen erzählen, daß die SS-Leute allein auf ihn geschossen hätten. "Als tschechoslowakischem Staatsangehörigen", schloß er, "kann mir für den ,unerlaubten Grenzübertritt' nicht allzuviel passieren. Also macht's gut!" Ohne einen Einspruch abzuwarten, rannte er in Richtung des Zollhauses davon. Ottje Timm war der erste, der sich von seiner Verblüffung über Wenzels großherzige Absicht erholte. "Denn man tau", nuschelte er in seinem Platt, seine Gefühle unter dem rauhen Ton verbergend. Fast mütterlich sorgsam nahm er den verwundeten Toni um die Hüfte und führte
ihn am Bachufer entlang zu ihrem Quartier in Bleiwaldau. Richard Brüggemann mit Fritz auf dem Rücken folgte.
Noch lange hörten sie unterwegs vereinzelte Schüsse vom Kammweg hinunter ins Tal peitschen. Der Mond, bisher hinter fliehenden Wolken verborgen, brach durch und beleuchtete fahl die Wiesen und Acker. In seinem Schein blitzte einmal Tonis Messer auf, das er nicht aus der Hand gelassen hatte. Ottje Timm bemerkte es, sah, daß es bis zum Heft blutig war. In scheuer Bewunderung fragte er: "Hast du jemanden erwischt?" Toni stöhnte vor Schmerz auf und stieß durch die zusammengebissenen Zähne: "Nur 'ne Bulldogge." Fritz auf dem Rücken des Vaters kam langsam wieder zu sich. Noch schwach, aber zu stolz, um sich tragen zu lassen, bat er den Vater, ihn abzusetzen. "Ich bin doch viel zu schwer für dich, Vater. Jetzt geht's mir wieder gut. Ich weiß auch nicht, wie das kam, daß ich auf einmal schlapp wurde ..." Brüggemann, der seinen Jungen behutsam auf den Boden niedergelassen hatte, mußte sich erst einmal räuspern, ehe er antworten konnte. "Laß man, Fritz, das hätte auch einen Großen umwerfen können. Junge, was du hinter dir hast ...!" Stolz und Glücksgefühl klangen in seiner Stimme. Als sie einige Schritte stumm nebeneinander gegangen waren, sprach Fritz das aus, was ihn erfüllte: "Du, Vater", schwärmte er mit heißem Herzen, "Albert Klose und sein Vater, das sind Helden ..." Und nicht einen Augenblick kam es dem Vierzehnjährigen in den Sinn, daß auch er einer war.