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Über das Buch Wieder ist es die Treibhauswelt der Tropen, die Williams beschwort, um Mensch und Atmosphäre alptraumartig aufeinander zu beziehen. Maxine läßt das von ihrem Mann ererbte Hotel verwahrlosen und flüchtet in ihrer Einsamkeit zu den eingeborenen Hausknechten. Doch sie lieht Lawrence Shannon. Dieser, einst Priester, doch wegen aufrührerischer Reden und e i n e r Beziehung zu einem jungen Mädchen vom Dienst suspendiert, fuhrt als Reiseleiter eine Gruppe von Touristinnen in Maxines Hotel. Hannah Jelkes, mit ihrem todkranken Großvater dort ebenfalls zu Gast, gelingt es in einer Nacht langer Gespräche, Shannons Selbstzerstörungsprozeß aufzuhalten. Sie läßt ihn zu sich selbst finden und weist i h m seinen Platz an der Seite Maxines an. Dafür befreit Shannon den Leguan, der für den Kochtopf vorgesehen war, »damit eines von Gottes Geschöpfen frei und sicher heimkehren kann.« Die Verfilmung von John Huston aus dem Jahr 1963 mit Richard Burton, Ava Gardner und Deborah Kerr in den Hauptrollen wurde ein Welterfolg. Nina Adler hat das Stück für diese Ausgabe neu übersetzt. Der Autor Tennessee Williams gilt heute als einer der bedeutendsten Dramatiker des Jahrhunderts. Geboren 1911 in Columbus, Mississippi, schaffte er nach einer psychisch belasteten Jugend und nach Jahren des Kampfes um Anerkennung 1945 mit dem Drama ›Die Glasmenagerie‹ den Durchbruch zum Welterfolg. Er starb am 25. Februar 1983 in einem New Yorker Hotel. Von Tennessee Williams erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag: ›Memoiren‹ (Bd. 2185); ›Die Glasmenagerie‹ (Bd. 7109); ›Die tätowierte Rose‹ (Bd. 10542); ›Die Katze auf dem heißen Blechdach‹ (Bd. 7110); ›Endstation Sehnsucht‹ (Bd. 7120); ›Moise und die Welt der Vernunft‹. Roman (Bd. 5079); ›Acht Damen, besessen und sterblich‹. Geschichten (Bd. 9196).
Tennessee Williams
Die Nacht des Leguan Stück in 3 Akten
Deutsch von Nina Adler
Fischer Taschenbuch Verlag
Theater Funk Fernsehen Eine Reihe des Fischer Taschenbuch Verlags
Neuausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Januar 1994 Erstveröffentlicht in der Fischer Bücherei, Frankfurt am Main. Oktober 1963 in der Übersetzung von Franz Hollering Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›The Night of the Iguana‹ © 1963, by Two Rivers Enterprises, Inc. (Revised) 1961, by Two Rivers Enterprises, Inc. Für die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Nina Adler: © 1994 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-11985-5
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Das Stück spielt im Sommer 1940 in einem ziemlich schäbigen, sehr unkonventionell geführten Hotel, dem Costa Verde, das, wie sein Name andeutet, auf einem dschungelbewachsenen Hügel liegt, von dem aus man bis zum ›Caleta‹, dem ›Morgenstrand‹ von Puerto Barrio (Mexiko) sieht. Aber damals, vor zwanzig - (fünfzig) - Jahren hatte Puerto Barrio ganz entschieden nichts mit dem von heute gemein. Die mexikanische Westküste war noch nicht zum Las Vegas oder Miami Beach Mexikos geworden. Die Dörfer waren zumeist noch primitive Indianerdörfer, und der StauwasserMorgenstrand sowie der Regenwald darüber gehörten zu den wildesten und schönsten bewohnten Gegenden der Welt. Das Bühnenbild ist die breite Veranda des Hotels. Diese überdachte Veranda mit Geländer läuft um alle vier Seiten der leicht ramponierten Rahmenstruktur im Tropenstil. Auf der Bühne sind aber nur die Vorderfront und eine Seite sichtbar. Unterhalb der Veranda, die etwas über Bühnenhöhe gebaut ist, stehen Büsche mit leuchtenden trompetenförmigen Blüten und ein paar Kakteen, während an den Seiten das Laub des hereinwuchernden Dschungels zu sehen ist. Eine hohe Kokospalme ragt schräg auf einer Seite nach oben, der Stamm ist eingekerbt, so daß man ihn besteigen kann, um Kokosnüsse für Kokos-Rum-Drinks abzuschlagen. In der Rückwand der Veranda sind die Türen einer Reihe kabinenartiger Zimmer, über denen Moskitonetzvorhänge angebracht sind. In den Nachtszenen sind diese Kabinen von innen beleuchtet und erscheinen wie kleine, innere Bühnen, denen die Vorhänge bei der schwachen Innenbeleuchtung einen Nebeleffekt verleihen. Ein Weg, der durch den Regenwald hinunter auf die Autostraße und zum Strand führt und dessen Mündung hinter Sträuchern versteckt liegt, geht von einer Verandaseite ab. Es führen aber noch andere Wege zum Strand. Eine Hänge-
matte aus Segeltuch hängt zwischen zwei Verandapfosten, und ein paar Schaukelstühle sowie einige Rattansessel stehen auf der Veranda.
Personen
MAXINE FAULK REVEREND T . LAWRENCE SHANNON HANNAH JELKES JONATHAN COFFIN (NONNO) HANK JUDITH FELLOWES CHARLOTTE GOODALL HERR FAHRENKOPF FRAU FAHRENKOPF HILDA WOLFGANG PEDRO PANCHO JAKE LATTA
1. Akt
Beim Aufgehen des Vorhangs hört man die Stimmen einer Touristinnengruppe, die unterhalb des Hotels Costa Verde auf der Straße am Fuße des Hügels aus ihrem Bus gestiegen ist. Mrs. Maxine Faulk, die Hotelbesitzerin, kommt um die Ecke der Veranda. Sie ist eine stämmige, dunkelhäutige, freundliche Mittvierzigerin voller Vitalität. Sie trägt Jeans und eine halb offenstehende Hemdbluse. Pedro, ein etwa zwanzigjähriger, schlanker, attraktiver Mexikaner, folgt ihr. Er ist ihr Angestellter und gelegentlich auch ihr Liebhaber. Er stopft sein Hemd in die Hose und schwitzt, als hätte er in der Sonne Schwerarbeit verrichtet. Mrs. Faulk späht den Hügel hinab und freut sich, Shannon den Weg vom Bus heraufkommen zu sehen. MAXINE ruft Shannon! SHANNON off, von unten Hei! MAXINE Hah! Ihr Lachen ist immer ein einziger, lauter Bell-
ton, wobei sie den Mund aufreißt wie ein Seehund, der erwartet, daß ihm ein Fisch hineingeworfen wird. Meine Spione haben mir schon verraten, daß du wieder im Lande bist! Zu Pedro Anda, hombre, anda! Maxines Entzücken steigert sich mit jedem Schritt, mit dem Shannon sich den Hügel heraufquält. Er erscheint erst eine ganze Weile, nachdem sie mit ihren Zurufen begonnen haben, oben auf dem Hügelpfad. Hah! Meine Spione haben berichtet, daß du vorige Woche mit einer Fuhre Weiber durch Saltillo gekommen bist - eine ganze Busladung voll Weiber - nur Weiber, ha! Mit wie vielen hast du's denn bis jetzt getrieben? SHANNON off, keuchend Lieber Himmel, hör auf... so rumzubrüllen! MAXINE Kein Wunder, daß du den Arsch nicht mehr hoch kriegst.
SHANNON
Sag dem Jungen, er soll mir mit der Tasche hel-
fen! MAXINE Pedro! Anda - la maléta. Ruft Pancho, no seas
flojo! Va y trae el equipaje del señor. Pancho, ein weiterer junger Mexikaner, kommt die Veranda entlang und trottet den Dschungelpfad hinunter. Pedro ist auf die Kokospalme geklettert und schlägt mit seiner Machete Kokosnüsse für Kokos-Rum-Drinks ab. SHANNON noch immer im Off, von unten Hee, Fred!!! MAXINE FÜR einen Moment ernst Fred kann dich nicht hören, Shannon. Sie geht zur Palme, hebt eine Kokosnuß auf und schüttelt sie, um zu horchen, ob sie Milch enthält. SHANNON Wo ist Fred? Fischen? Maxine schlägt die Kokosnuß mit einer Machete auf, während Pancho mit Shannons abgenützter, mit Aufklebern aus aller Welt bedeckter Reisetasche zurücktrottet. Dann erscheint keuchend und schwitzend und mit wildem Blick Shannon, ein schwarzhaariger, etwa fünfunddreißigjähriger Ire in einem zerknitterten, weißen Leinenanzug. Der Zustand seiner Nerven ist nur allzu offensichtlich - ein junger Mensch, der schon etliche Nervenzusammenbrüche hinter sich und einen oder mehrere vor sich hat. MAXINE Na also! Laß dich anschauen. SHANNON Glotz nicht, zieh dich lieber richtig an! MAXINE Du siehst vielleicht fertig aus! SHANNON Und du siehst aus, als hätte dich gerade einer fertiggemacht. Zieh dich an! MAXINE Ich bin angezogen, zum Teufel! Ich zieh mich im September nie richtig an. Weißt du nicht mehr, daß ich mich im September nie richtig anziehe? SHANNON Dann - dann knöpf wenigstens deine Bluse zu. MAXINE Wann hast du wieder angefangen? SHANNON Womit? MAXINE Mit dem Suff... SHANNON Suff! Mir ist vom Fieber schwindlig, zum Teufel. Neununddreißig drei heute morgen in Cuernavaca. MAXINE Was hast du denn?
SHANNON Fieber... Nur Fieber... Wo ist Fred? MAXINE Tot. SHANNON Hast du tot gesagt ? MAXINE Ja, hab ich gesagt. Fred ist tot. SHANNON Wieso...? MAXINE Vor knapp zwei Wochen hat er sich mit einem An-
gelhaken an der Hand verletzt, das hat sich entzündet, die Entzündung ist ihm ins Blut gegangen, und innerhalb von achtundvierzig Stunden war er tot. Zu Poncho Vete! SHANNON Lieber Himmel... MAXINE Ich kann's auch noch nicht fassen... SHANNON Fassungslos wirkst du aber nicht gerade. MAXINE Fred war ein alter Mann, Honey. Zehn Jahre älter als ich. Wir haben schon lange nichts mehr miteinander gehabt. SHANNON Was hat das damit zu tun? MAXINE Leg dich hin und trink einen Kokos-Rum. SHANNON Nein, nein. Gib mir lieber ein kaltes Bier. Wenn ich jetzt schon mit Kokos-Rum anfange, hör ich nicht mehr auf. Fred ist also tot. Ich hatte mich darauf gefreut, hier in der Hängematte zu liegen und mich mit ihm zu unterhalten. MAXINE Tja - das geht nun nicht mehr mit Fred, Shannon. Ein Zuckerkranker stirbt wie nichts an einer Blutvergiftung, wenn kein ordentliches Krankenhaus in der Nähe ist. Unten hupt der Bus. Warum kommt deine Busladung Weiber nicht rauf? Die hupen da unten. SHANNON Laß sie doch hupen - hupen... Schwankt ein wenig Ich habe Fieber. Geht zum Pfad, teilt die blühenden Büsche und ruft den Hügel hinunter Hank! Hank! Laß sie aussteigen und bring sie hier rauf! Sag ihnen, die Preise sind okay. Sag ihnen... Die Stimme versagt ihm, er taumelt zur Veranda zurück und setzt sich auf die niedrigen Stufen. Eindeutig die gräßlichste Gruppe, die mir in den zehn Jahren als Reiseleiter untergekommen ist. Hilf mir
um Gottes willen bei denen, ich kann nicht mehr. Ich muß mich hier erst ein Weilchen erholen. Sie gibt ihm ein kaltes Bier. Danke. Sieh nach, ob sie aussteigen. Sie geht zum Gebüsch und teilt das Laub, um hinunterzusehen. Steigen sie aus oder bleiben sie im Bus hocken, diese knickerigen Hurentöchter... diese Lehrerinnen aus einem baptistischen Mädchencollege in Blowing Rock, Texas? Elf. Elf Stück davon. MAXINE Eine ganze Fußballmannschaft alte Jungfern. SHANNON Und ich bin der Ball. Sind sie ausgestiegen? MAXINE Eine kommt gerade aus dem Bus - und geht in die Büsche. SHANNON Na schön. Den Wagenschlüssel habe ich - hier in der Tasche - sie kommen ohne mich nicht weiter höchstens zu Fuß. MAXINE Die hupen immer noch. SHANNON Phantastisch! Ich darf diese Gruppe nicht verlieren. Bin nur auf Bewährung bei ›Blake Tours‹. Vorige Woche hatte ich auch schon so eine miese Gruppe, die dafür sorgen wollte, daß ich rausfliege. Deshalb bin ich jetzt nur noch auf Bewährung bei ›Blake Tours‹. Wenn ich diese Gruppe verliere, fliege ich mit Sicherheit... Ach, lieber Gott, noch immer alle im Bus? Steht mühsam auf und schwankt zum Pfad, teilt die Büsche, um hinunterzusehen, ruft Hank! Hol sie aus dem Bus! Bring sie rauf! Sorg dafür! HANK off, von unten Sie wollen in die Stadt zurüüü-ück! SHANNON ruft Sie können nicht in die Stadt zurüüü-ück ... Zu Maxine Aaach - diesen Sommer vor fünf Jahren hab ich noch Weltreisen für ›Cook‹ begleitet! Exklusive Gruppen pensionierter Wallstreet-Bankiers. Wir waren mit firmeneigenen Schiffen und Fahrzeugen von Pierce Arrows und Hispano Suizas unterwegs... Steigen sie aus? MAXINE Du gehst noch kaputt, was?
SHANNON Nein. Bin ich schon. Bin ich schon! Steht auf und
ruft wieder den Hügel hinab Hank, komm rauf! Komm einen Moment rauf! Ich will mit dir die Lage besprechen!. .. Unglaublich. Phantastisch! Sinkt auf die Stufen zurück und stützt den Kopf in die Hände MAXINE Die steigen nicht aus... Shannon, du wirst in deinem Zustand nicht mit denen fertig. Laß sie abhauen und bleib hier, Shannon... SHANNON Ich hab dir doch gesagt, wie's um mich steht. Wenn ich diesen Job verliere - was dann? ›Blake Tours‹ ist schon das Allerletzte - darunter gibt's nichts mehr, Maxine... Steigen sie aus dem Bus? Steigen sie endlich aus? MAXINE Ein Mann kommt rauf. SHANNON Ah, Hank. Du mußt mir helfen. MAXINE Ich geb ihm einen Kokos-Rum. HANK erscheint grinsend auf der Veranda Die sind nicht raufzukriegen, Shannon. Besser, du kommst zum Bus zurück. SHANNON Phantastisch. - Nein, ich geh nicht zum Bus zurück ... Und ich hab den Wagenschlüssel in der Tasche, und da bleibt er auch für die nächsten drei Tage. HANK Das nützt nichts. Wenn du den Schlüssel nicht rausrückst, gehen die glatt zu Fuß in die Stadt, SHANNON Die würden sich doch auf der Straße einen Sonnenstich holen, daß sie umfallen wie die Fliegen... Phantastisch. Einfach phantastisch. Schwer atmend und schwitzend legt er eine Hand auf Hanks Schulter. Ich brauche deine Unterstützung, Hank. Kann ich damit rechnen? Wenn man mit einer so schwierigen Gruppe unterwegs ist, dann müssen der Reiseleiter - ich - und der Fahrer - du - zusammenhalten, um allen Situationen gewachsen zu sein. Dir ist ja wohl klar, daß es sich in diesem Fall um eine Kraftprobe zwischen zwei Männern und einer ganzen Busladung blöder alter Ziegen handelt, oder? HANK Na ja... Kichert Hinten im Bus sitzt ein junges Mäd-
chen und heult die ganze Zeit. Sonst gab's den ganzen Aufstand nicht. Keine Ahnung, oh du - oder ob du nicht, zum Teufel - aber die denken alle, daß du - weil das Mädchen nicht mit dem Heulen aufhört. SHANNON Hank? Du, mir ist scheißegal, was die denken. Aber eine von T. Lawrence Shannon begleitete Reisegruppe untersteht in jeder Hinsicht seinem Kommando er bestimmt, wohin gegangen wird und wann wohin gegangen wird! In allen Einzelheiten. Sonst trete ich zurück. Geh also runter und hol sie aus dem Bus raus, ehe sie ersticken. Hol sie, wenn nötig, mit Gewalt da raus UND treib sie hier herauf. Verstanden? Keine Widerworte. Mrs. Faulk, Baby, geben Sie ihm eine Speisekarte. Geben Sie ihm die Speisekarte mit, damit er sie den Damen zeigt. Sie hat nämlich einen chinesischen Koch - du wirst deinen Augen nicht trauen, wenn du die Speisekarte liest. Der Koch stammt aus Shanghai. Hat die Küche eines exklusiven Klubs geführt. Ich habe ihn ihr mitgebracht. Er ist ein Enthusiast, ein leidenschaftlicher Anhänger der hmm - europäischen Cuisine... Er kann sogar Boeuf Stroganoff und Hummer. Mrs. Faulk, Baby, geben Sie ihm doch eine Ihrer - hm - phantastischen Speisekarten. Maxine kichert, als spiele sie ihm einen Streich, indem sie ihm ein Blatt Papier übergibt. Danke. Also, du gehst jetzt runter und zeigst denen diese phantastische Speisekarte. Und beschreib ihnen den Ausblick von hier oben, und... Hank nimmt kopfschüttelnd lachend die Speisekarte. Nimm dir ein kaltes Carta Blanca und... HANK Besser, du kommst mit runter. SHANNON Ich kann mich mindestens achtundvierzig Stunden nicht von dieser Veranda fortbewegen... Hank gellt über die Veranda ab. Was, in drei Teufels Namen, ist denn das? Lebende Bilder nach Hieronymus Bosch? Das deutsche Ehepaar Fahrenkopf, das im Hotel wohnt. erscheint mit Tochter und Schwiegersohn wie aus einem
seltsamen Traum auf der Veranda. Sie marschieren um sie herum und dann den Dschungelpfad hinab. Alle vier sind nur gerade mit dem Minimum bekleidet, das der Anstand fordert, und erinnern an die rosa-goldenen, vor Gesundheit strotzenden Barockputten von Rubens. Hilda, die Braut, hat ein großes aufgeblasenes Gummipferd, das ekstatisch grinst und mit den großen Augen zwinkert, zwischen den Schenkeln, als ob sie darauf ritte. Sie ruft: »Hoppe, hoppe, Reiter!«, während sie auf ihm davonwatschelt. Ihr Wagner-Tenor-artiger Bräutigam, Wolfgang, und ihr Vater, Herr Fahrenkopf, ein Panzerfabrikant aus Frankfurt, folgen ihr mit Fahrenkopfs tragbarem Kurzwellenradio, aus dem mit gutturaler, knatternder deutscher Stimme ein Bericht über die Schlacht um England tönt. Frau Fahrenkopf, in üppigem gesundem Fett prangend, bildet mit einem vollbeladenen Picknickkorb die Nachhut. Sie beginnen, das Englandlied zu singen, und marschieren damit ab. Oh! Nazis! Wieso gibt es von denen in letzter Zeit so viele hier in der Gegend? MAXINE Mexiko ist die Haustür nach Südamerika und die Hintertür in die Staaten - darum. SHANNON Ach - und weil Fred jetzt tot ist, sitzt du als Portier vor beiden Türen, was? Maxine geht zur Hängematte und setzt sich auf ihn drauf. Runter von meinen Knochen, eh du sie mir brichst! Wenn du schon etwas brechen mußt, dann brich ein Stück Eis ab, für meine Stirn. Sie nimmt einen Eiswürfel aus ihrem Glas und betupft seine Stirn damit. Ahhh-Gott... MAXINE glucksend Ha! Du hast dir also ein junges Küken ausgesucht, und jetzt gackern die alten Hennen, was Shannon? SHANNON Die Kleine hat's herausgefordert - ehrlich - aber sie ist siebzehn. Nein, sie wird erst nächsten Monat siebzehn. Es ist also ernst, sehr ernst sogar. Und die Kleine ist
nicht nur einfach frühreif - sie ist auch noch ein musikalisches Wunderkind. MAXINE Was hat das denn damit zu tun? SHANNON Das kann ich dir sagen: Sie reist unter den Fittichen - unter der militärischen Eskorte dieser - dieses Mannweibs von einer Gesanglehrerin, die im Bus für kleine, gemeinsame Liederstunden sorgt. Lieber Gott! Ich frage mich nur, warum sie jetzt nicht singen. Wahrscheinlich sind sie schon erstickt, sonst hätten sie längst etwas Stimmungsförderndes wie ›She Is A Jolly Good Fellow‹ oder ›Zehn kleine Negerlein‹ angestimmt. Ach Gott... Maxine lacht die Tonleiter rauf und runter. Und jeden Abend nach dem Essen und nach den Beschwerden über das Essen und nachdem die Rechenlehrerin die Rechnungen geprüft und die Damen, die die Küchen prüfen, das Essen wieder ausgekotzt haben -jeden Abend gibt unsere kleine Nachtigall ein Konzert. Sie öffnet das Schnäbelchen, und heraus fliegen Carrie Jacobs Bond oder Ethelbert Nevin. Ich meine - nach einem Tag, an dem eine unbeschreibliche Katastrophe die andere jagte - etwa drei Reifenpannen und ein tropfender Kühler mitten in der Tierra Caliente... Richtet sich bei den Erinnerungen langsam in der Hängematte auf oder nach einer Nachtfahrt die Sierras hinauf - Wolkenbrüche, Haarnadelkurven durch Schluchten und an unauslotbaren Abgründen vorbei - und unter dem Sitz des Fahrers eine Thermosflasche, von der die Baptisten-CollegeDamen glauben, daß sie Eiswasser enthält, während ich weiß, daß reiner Tequila drin ist - ich meine, wenn so ein Tag endlich zu Ende ist, dann gibt unser kleines musikalisches Wunderkind, Miss Charlotte Goodall, gleich nach dem Essen, ehe man noch fliehen kann, ihre herz- und ohrenzerreißende Version von ›Welch schöner Tag geht nun zur Neige.. .‹ zum besten - ohne die geringste Ironie. MAXINE Hah! SHANNON Jawohl, ha! Gestern abend - nein, vorgestern
abend, brannten in Chilpancingo unsere Bremsbeläge durch. In dieser Stadt gibt es ein Hotel, und in dem Hotel gibt es ein Klavier, das seit der Erschießung Maximilians nicht mehr gestimmt worden ist - aber unser texanisches Singvögelchen öffnet den Mund, und was flattert heraus? ›Ich liebe dich innig‹! Und es flattert geradewegs zu mir mit Händen und Gesten und - allem - zu mir - bis ihr Anstandswauwau, diese dieselgetriebene Gesanglehrerin, den Klavierdeckel zuschlägt und sie aus dem Speisesaal zerrt. Aber während sie hinausgezerrt wird, öffnet das Vögelchen ihr Schnäbelchen und heraus fliegt: »Larry, Larry, ich liebe dich wirklich«... Als ich in dieser Nacht in mein Zimmer kam, hatte ich eine Mitbewohnerin. MAXINE Das Wunderkind war bei dir eingezogen? SHANNON Nein. Das Gespenst war bei mir eingezogen. In dem heißen Einzelzimmer saß mein schwitzendes, stinkendes Gespenst auf dem bügelbrettbreiten, bügelbrettharten Bett und grinste mich an. MAXINE Das Gespenst! Kichert Du hast also wieder dein Gespenst dabei. SHANNON Stimmt. Der einzige Reisende, der mit mir aus dem Bus stieg, Baby. MAXINE Ist es jetzt hier? SHANNON In der Nähe jedenfalls. MAXINE Auf der Veranda? SHANNON Oder auf der anderen Seite. Irgendwo hockt es bestimmt, aber wie die Sioux-Indianer in den Western greift es nie vor Sonnenuntergang an. Es ist ein Nachsonnenuntergangs-Schatten... Vom Bus ertönt ein langer, protestierender Hupton. Shannon windet sich aus der Hängematte. MAXINE
Ich hab 'nen kleinen Schatten. Der läßt mich nie allein. Der geht, wohin ich gehen mag, Mit mir raus und rein.
Er sieht mir sehr sehr ähnlich, Vom Kopf bis zu der Zeh Und liegt schon immer vor mir drin, Wenn in mein Bett ich geh. SHANNON Ja, genau. Es ist immer schon vor mir im Bett. MAXINE Wenn du allein schläfst, oder...? SHANNON Ich habe schon drei Nächte nicht mehr geschlafen. MAXINE Heute nacht wirst du schlafen, Honey. Die Bushupe ertönt wieder. Shannon wirft einen verstohlenen Blick den Hügel hinab. SHANNON Wie lange kann es dauern, bis ein in der Sonne geparkter Bus bei vierzig Grad im Schatten das Lehrerkollegium eines Baptisten-Colleges für höhere Töchter ausgeschwitzt hat? MAXINE Jetzt wanken sie raus. SHANNON Yeah! Die Runde geht, wie's scheint, an mich. Was machen sie? Kannst du sie sehen? MAXINE Sie stehen um deinen Freund Hank rum. SHANNON Und reißen ihn in kleine Stücke? MAXINE Nein, eine hat ihm gerade eine geklebt. Er verzieht sich jetzt in den Bus, und sie - sie kommt rauf. SHANNON Ach du lieber Himmel, das ist das Mannweib von einer Gesanglehrerin. MISS FELLOWES mit durchdringender Stimme von unten Shannon! Shannon! SHANNON zu Maxine Steh mir um Gottes willen bei! MAXINE Du weißt doch, daß ich zu dir halte. Honey. Aber warum kannst du die Finger nicht von den Küken lassen und dich für normale erwachsene Frauen interessieren? MISS FELLOWES off, näher Shannon! SHANNON ruft hinunter Kommen Sie herauf. Miss Fellowes, es ist alles arrangiert. Z« Maxine O Gott, sie stürmt den Hügel rauf wie ein gereizter Elefantenbulle! Miss Fellowes bricht durch das Gebüsch am Dschungelpfad. Miss Fellowes, das dürfen Sie nicht! Nicht in der Mittags-
hitze in einem tropischen Land. Sie dürfen niemals einen Hügel hinaufstürmen, als ob Sie ein Kavallerieregiment zu einer Attacke auf eine uneinnehmbare... MISS FELLOWES keuchend und wütend Ich brauche weder Ratschläge noch Anweisungen. Ich brauche nur die Wagenschlüssel. SHANNON Mrs. Faulk - Miss Judith Fellowes. MISS FELLOWES Stecken Sie mit dem Kerl unter einer Decke? MAXINE Was wollen Sie damit sagen...? MISS FELLOWES Kriegt er eine Provision von Ihnen? MAXINE Von mir kriegt niemand Provision. Ich schicke mehr Leute weg, als ich... MISS FELLOWES unterbricht Jedenfalls ist das hier nicht das Ambos Mundos. Im Prospekt steht, daß wir in Puerto Barrio im Ambos Mundos im Stadtzentrum absteigen. SHANNON An der Plaza, Erzählen Sie ihr von der Plaza, Mrs. Faulk. MAXINE Was ist mit der Plaza? SHANNON Sie ist heiß, laut, verstunken und wimmelt von Fliegen, Herrenlose Köter krepieren in den,.. MISS FELLOWES Und inwiefern ist es hier besser? SHANNON Allein der Ausblick von dieser Veranda! Er ist mindestens so schön, ja, in meinen Augen sogar schöner als die vom Victoria Peak in Hongkong oder die Aussicht von den Dachterrassen des Sultanspalastes in,,, MISS FELLOWES unterbricht Ich brauche nur die Aussicht auf ein sauberes Bett, auf ein Badezimmer mit funktionierender Wasserleitung, auf genießbare, bekömmliche Mahlzeiten, die nicht vor Dreck starren und... SHANNON Miss Fellowes! MISS FELLOWES Nehmen Sie die Hand von meinem Arm! SHANNON Sehen Sie sich diese Speisekarte an, Miss Fellowes. Der Koch ist ein Chinese, den i c h aus Shanghai importiert habe! I c h habe ihn vorvoriges Jahr, 1938, hierhergeschickt. Er war der Chefkoch des Royal Colonial Clubs in...
MISS FELLOWES unterbricht Gibt's hier Telefon? MAXINE Natürlich. Im Büro. MISS FELLOWES Ich möchte ein R-Gespräch führen. Wo ist
das Büro? MAXINE zu Poncho Llevala al teléfono!
Miss Fellowes marschiert mit Pancho, der ihr den Weg zeigt, um die Ecke der Veranda zum Büro. Shannon läßt sich, verzweifelt aufseufzend, gegen die Verandawand fallen. Ha! SHANNON Warum mußtest du auch, , , MAXINE Ja? SHANNON .. .hier erscheinen, so wie du aussiehst. Du findest das vielleicht lustig, aber für mich ist es . . . MAXINE Ich seh nun mal so aus. Was hast du dagegen? SHANNON Ich hab dir gesagt, du sollst die Bluse zuknöpfen. Bist du so stolz auf deine Titten, daß du deine Bluse nicht mehr zuknöpfen kannst? Geh ins Büro und hör zu, ob sie bei ›Blake Tours‹ anruft, um mich rausschmeißen zu lassen. MAXINE Das läßt sie besser bleiben - außer sie zahlt für das Gespräch. Sie geht um die Ecke der Veranda. Miss Hannah Jelkes erscheint unterhalb der Verandatreppe und bleibt abrupt stehen, als sie sieht, wie Shannon sich umdreht und aufschluchzend mit den Fäusten auf die Wand einschlägt. HANNAH Entschuldigen Sie... Shannon sieht verwirrt zu ihr hinunter. Sie sieht bemerkenswert aus: Ätherisch, fast geisterhaft, erinnert sie an eine lebendig gewordene mittelalterliche Heiligenfigur aus einem gotischen Dom. Sie könnte dreißig, aber auch vierzig sein, wirkt durchaus weiblich und dennoch androgyn. Sie trägt ein gemustertes Baumwollkleid und eine Schultertasche. Ist das hier das Hotel Costa Verde? SHANNON plötzlich durch ihr Auftauchen beruhigt Ja. Ja, das ist es.
HANNAH Sind Sie... Sie sind nicht der Hoteldirektor, oder? SHANNON Nein, die Besitzerin kommt gleich zurück. HANNAH Danke. Wissen Sie zufällig, ob zwei Zimmer frei
sind? Eins für mich und eines für meinen Großvater, der unten im Taxi wartet? Ich wollte ihn nicht hier heraufbringen, ehe ich nicht sicher bin, ob es überhaupt Zimmer gibt. SHANNON Nun, jetzt, außerhalb der Saison sind immer Zimmer frei. HANNAH Gut! Wunderbar! Dann hole ich ihn. SHANNON Kann ich Ihnen helfen? HANNAH Nein danke. Wir schaffen das schon. Sie nickt ihm freundlich zu und geht über den Weg durch den Regenwald wieder nach unten. Eine Kokosnuß fällt zu Boden. In der Ferne schreit ein Papagei. Shannon läßt sich in die Hängematte fallen und streckt sich aus. Dann kommt Maxine zurück. SHANNON Was ist? Hat sie telefoniert? MAXINE Sie hat einen Richter in Texas - Blowing Rock, Texas, angerufen. Per R-Gespräch. SHANNON Sie versucht, mich rausschmeißen zu lassen, und sie versucht auch noch, mir eine Klage wegen Unzucht mit Minderjährigen anzuhängen. MAXINE Was heißt das? SHANNON So nennt man es, wenn ein Mann von einem Mädchen unter zwanzig verführt worden ist. Maxine kichert. Das ist gar nicht komisch, Maxine, Baby. MAXINE Was willst du auch immer nur junge Mädchen oder bildest dir ein, daß du nur die willst? SHANNON Ich will keine - gar keine - egal, wie jung oder alt sie ist. MAXINE Warum nimmst du sie dann, Shannon? Er schluckt, antwortet aber nicht. Hm, Shannon? SHANNON Weil der Mensch menschlichen Kontakt braucht, Maxine, Baby.
MAXINE Welche Schuhgröße hast du? SHANNON Was ist denn das für eine Frage? MAXINE Die Schuhe sind hin, und soweit ich mich erin-
nere, reist du immer nur mit einem einzigen Paar. Zu Freds Nachlaß gehört ein anständiges Paar Schuhe, und deine Füße sehen aus, als hättet ihr dieselbe Größe. SHANNON Fred war mir lieb und wert, Baby, aber ich möchte nicht in seine Schuhe gesteckt werden. Sie hat ihm die einst handgearbeiteten, jetzt total ausgetretenen Schnürschuhe ausgezogen. MAXINE Deine Socken sind auch hin. Freds Socken passen d i r bestimmt auch. Öffnet seinen Kragen Oje - du hast dein goldenes Kreuz um. Schlechtes Zeichen. Denkst wieder mal daran, zur Kirche zurückzukehren. SHANNON Das ist meine letzte Tour, Maxine. Ich habe heute morgen meinem alten Bischof geschrieben. Eine komplette Beichte und eine komplette Kapitulation. Sie zieht einen Brief aus seiner feuchten Hemdtasche. MAXINE Wenn das der Brief ist, Honey - den hast du so durchgeschwitzt, daß der alte Gauner i h n nicht mal dann lesen könnte, wenn du ihn diesmal abschickst. Sie geht um die Veranda nach hinten ab, während Hank, sich das Gesicht abwischend, über den Dschungelpfad auftritt. Der Anblick Shannons, der entspannt in der Hängematte liegt, erbittert Hank heftig. HANK Würdest du gefälligst deinen Arsch aus der Hängematte heben? SHANNON Nein, würde ich nicht. HANK Shannon, mach, daß du aus der Hängematte kommst! Tritt gegen Shannons Hüfte in der Hängematte SHANNON Wenn du nicht mit schwierigen Situationen fertig werden kannst, dann bist du im falschen Gewerbe, Mann! Ich habe d i r genaue Anweisungen gegeben, simple Anweisungen. Ich habe gesagt, bring sie aus dem Bus raus u n d ... Maxine kommt mit einem Wasserkessel, einem Handtuch und den zu einer Rasur nötigen Utensilien zurück.
HANK Raus aus der Hängematte, Shannon! Tritt Ihn heftiger SHANNON warnend Das reicht, Hank! Kleine Vertraulich-
keiten lasse ich durchgehen, aber Grobheiten nicht. Maxine beginnt, sein Gesicht einzuseifen. Was soll das? Was machst du da? MAXINE Hast du noch nie eine Friseuse zum Rasieren und Haareschneiden gehabt? HANK Die Kleine hat einen hysterischen Anfall. MAXINE Halt still. Shannon. SHANNON Hysterie ist ein ganz natürliches Phänomen, Hank. Sie ist der gemeinsame Nenner aller Weiblichkeit. Die stärkste weibliche Waffe - und der Prüfstein für einen Mann ist seine Fähigkeit, damit zurechtzukommen. Ich will nicht glauben, daß du nicht dazu in der Lage bist. Müßte ich glauben, daß du nicht dazu in der Lage bist, wäre ich nicht imstande... MAXINE Halt still! SHANNON Ich halt ja still. Zu Hank Nein, ich wäre nicht imstande, dich weiterhin mitzunehmen. Geh also wieder runter und... HANK Ich soll also wieder runtergehen und denen sagen, daß du dich hier oben - ausgestreckt in einer Hängematte -rasieren läßt? MAXINE Sagen Sie ihnen, daß Reverend Larry wieder zur Kirche zurückgeht und sie getrost in ihr Mädchencollege in Texas zurückfahren können. HANK Ich brauch noch ein Bier. MAXINE Holen Sie sich's, Herzchen, es steht in meinem Büro auf Eis. Gleich da um die Ecke. Deutet in die Richtung SHANNON während Hank geht Gräßlich, wie man lügen und betrügen muß, wenn man eigentlich nur noch Hilfe schreien möchte. Maxine, du s c h n e i d e s t m i c h ! MAXINE Du hast dich bewegt. SHANNON Stutz nur den Bart ein bißchen. MAXINE Okay. Heute nacht gehen wir schwimmen, Honey, ob's stürmt oder nicht.
SHANNON O Gott... MAXINE Die mexikanischen
Jungeos sind tolle Nachtschwimmer... Ha! Als ich sie fand, tauchten sie vom sechzig Meter hohen Quebrada in die Bucht. Aber das Quebrada Hotel hat sie gefeuert, weil sie zu oft bei den weiblichen Gästen aufgetaucht sind. Sonst hätte ich sie nie anheuern können. SHANNON Maxine, du bist überlebensgroß und doppelt so monströs, Baby. MAXINE Niemand ist auch nur annähernd überlebensgroß, Shannon - außer Fred vielleicht. Ruft Fred? Ein schwaches Echo antwortet von den angrenzenden Hügeln. Nur noch der kleine Sir Echo antwortet jetzt für ihn, aber... Klopft Alaun auf sein Gesicht Der gute alte Fred ist mir immer ein Geheimnis geblieben. Er war so geduldig und großzügig, daß es schon fast beleidigend für mich war. Ich meine, es müssen doch zwischen Mann und Frau auch mal die Fetzen fliegen, du weißt schon... Ich meine, ich hab die Jungens vom Quebrada Hotel, die beiden Taucher, sechs Monate vor Freds Tod angeheuert - hat er sich darum geschert? Hat er auch nur einen Ton von sich gegeben, als ich anfing, nachts mit ihnen schwimmen zu gehen? Nein! Er fing nur an, nachts angeln zu gehen, und wenn ich am nächsten Tag aufstand, bereitete er schon seine nächste Angeltour vor. Dabei hat er die Fische nur gefangen und gleich wieder ins Meer geschmissen. Hank kommt zurück und setzt sich, sein Bier trinkend, auf die Stufen. SHANNON Das Geheimnis vom guten alten Fred war sehr einfach. Er war ein nachdenklicher und anständiger Mann, das war sein ganzes Geheimnis... Du, laß deine beiden Nachtschwimmer das Gepäck meiner Damen vom Bus holen, ehe die Gesanglehrerin mit ihrem Telefonat fertig ist und sie daran hindert. MAXINE ruft Pedro! Pancho! Muchachos! Trae las maletas al anejo! Pronto!
Die beiden machen sich auf den Weg nach unten. Maxine setzt sich zu Shannon auf die Hängematte. Dich bring ich in Freds altem Zimmer neben meinem unter. SHANNON sieht sie erschreckt und argwöhnisch an Du willst mich in seine Socken, seine Schuhe und in sein Zimmer neben deinem stecken? Läßt sich ungläubig lachend zurücksinken O nein, Baby. Ich habe mich nur so lange aufrecht gehalten, um mich in die Hängematte auf dieser Veranda über dem Regenwald und dem Strand fallen lassen zu können. Nur so schaffe ich diese letzte Tour in einer Verfassung, die mir erlaubt, zu meiner... eigentlichen... Berufung... zurückzukehren. MAXINE Ha! Du hast also noch ein paar lichte Momente. Dir ist klar, daß Kirchgänger kaum in die Kirche gehen, um sich atheistische Predigten anzuhören. SHANNON Ich habe noch nie in einer Kirche eine atheistische Predigt gehalten, verdammt! Und außerdem... Miss Fellowes ist aus dem Büro und um die Ecke der Veranda gekommen, um sich auf Shannon und Maxine zu stürzen. Maxine springt auf. MISS FELLOWES Mein R-Gespräch mit Texas ist beendet. Maxine zuckt die Achseln und geht an ihr vorbei um die Verandaecke. Miss Fellowes überquert die Veranda rasch. SHANNON richtet sich in der Hängematte auf Entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe. Miss Fellowes, aber i c h . . . Miss Fellowes? Bitte nehmen Sie doch einen Augenblick Platz, ich möchte Ihnen etwas beichten. MISS FELLOWES Das dürfte allerdings interessant werden. Was denn? SHANNON Nur, daß es... also, in jedes Menschen Leben gibt es einen Moment, in dem alles über i h m zusammenbricht. An so einem Punkt bin ich jetzt. MISS FELLOWES Und wie entschädigt uns das? SHANNON Ich kann nicht verstehen, was Sie mit entschädigen meinen, Miss Fellowes. Stützt sich ab und sieht sie mit einem Blick sanftester Verwirrung an, der sonst selbst
Steine erweicht Ich meine - ich gestehe Ihnen, daß ich völlig am Ende bin - und Sie antworten: »Wie entschädigt u n s das?« Bitte, Miss Fellowes - lassen Sie mich nicht glauben müssen, daß irgendein erwachsenes menschliches Wesen seine persönliche Entschädigung höher stellt als die schreckliche nackte Tatsache, daß ein Mann am Ende ist und trotzdem versuchen muß, sich aufrecht zu halten, weiterzumachen, als sei es ihm nie besser gegangen, als sei er auf dem Höhepunkt seiner Existenz. Nein, das dürfen Sie nicht, das würde... MISS FELLOWES Was würde es? SHANNON Alles, alles zerstören - zum Einsturz bringen, was in mir noch übrig ist von meinem Glauben an... einfache ... menschliche . . . G ü t e ! MAXINE kehrt mit einem Paar Socken zurück Ha! MISS FELLOWES Wie können Sie in dieser Hängematte lügen ... liegen... und mir etwas über... MAXINE Ha! MISS FELLOWES ... einfache menschliche Güte vorfaseln? Wo doch schon die einfachste menschliche Anständigkeit Ihre Vorstellungskraft weit überschreitet. Bleiben Sie ruhig da liegen. Shannon - bleiben Sie liegen und lügen Sie weiter - wir fahren! SHANNON steigt aus der Hängematte Ich glaube, ich bin der Reiseleiter, Miss Fellowes, nicht Sie. MISS FELLOWES Sie? Nachdem Sie gerade zugegeben haben, daß Sie nicht nur unfähig sind, sondern... MAXINE Ha! SHANNON Mrs. Faulk, würden Sie bitte... MISS FELLOWES unterbricht mit kaltem, gerechtem Zorn Shannon! Wir Frauen vorn baptistischen Mädchencollege haben das ganze Jahr im Schweiße unseres Angesichts für diese Mexiko-Reise geschuftet - und dann stellt sich die ganze Tour als ein einziger Betrug heraus! SHANNON zu sich Phantastisch! MISS FELLOWES B e t r u g, jawohl! Weder haben Sie sich an den Zeitplan gehalten, noch an d i e Reiseroute, die im
Prospekt von ›Blake Tours‹ steht. Folglich hat uns entweder › B l a k e Tours‹ betrogen - oder Sie betrügen ›Blake Tours‹. Und ich gedenke, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das - ganz gleich, was es kostet - herauszufinden. .. SHANNON Aber, Miss Fellowes! Es muß Ihnen doch ebenso klar sein wie mir, daß Ihre hysterischen Beleidigungen die e i n wohlerzogener Gentleman aus bester Familie nicht hinnehmen kann - keineswegs durch das herausgefordert oder motiviert sein können, was Sie... an Trivialitäten . . . als Motive. . . v o r s c h ü t z e n ! Sollten wir nicht ehrlich über die wirklichen Gründe reden, die... MISS FELLOWES Was für Gründe? Charlotte Goodall erscheint auf dem Hügel. SHANNON Die eigentliche Ursache Ihres Zornes, Miss Fellowes, Ihre. .. MISS FELLOWES Charlotte! Bleib unten im Bus! CHARLOTTE Judy, die sind... MISS FELLOWES Wirst du wohl gehorchen! Runter! Charlotte zieht sich wie ein gutdressierter Hund zurück. Miss Fellowes nimmt Shannon wieder aufs Korn, der ihr beruhigend die Hand auf den Arm legt. N e h m e n Sie I h r e H a n d v o n m e i n e m A r m ! MAXINE Hah! SHANNON Phantastisch! Bitte, Miss Fellowes! Schluß jetzt mit der Schreierei, ja? Ich muß Sie ernstlich bitten, den Damen zu erlauben heraufzukommen, um selbst das Hotel zu beurteilen und es mit denen zu vergleichen, die Sie bei der Fahrt durch die Stadt gesehen haben. Mancherorts gibt es etwas wie Charme und Schönheit, während andernorts alles nur langweilige, häßliche Nachahmung texanischer Motels ist und... Miss Fellowes läuft zum Pfad, um nachzusehen, ob Charlotte gehorsam war. Shannon folgt ihr, noch immer in versöhnlicher Absicht. MAXINE Hah! Sie gibt ihm einen kleinen, liebevollen Klaps, als er an ihr
vorbeigeht. Er schiebt ihre Hand fort und folgt Miss Fellowes. MISS FELLOWES Ich habe einen Blick in die Zimmer geworfen. Dagegen wohnt man im Christlichen Hospiz für Junge Mädchen wie im Ritz! SHANNON Miss Fellowes, ich bin ein Angestellter von ›Blake Tours‹, und es steht mir infolgedessen nicht zu, Ihnen offen zu sagen, welche Fehler sie im Prospekt gemacht haben. Die kennen Mexiko eben nicht. Ich kenne es. Ich kenne es so gut wie alle anderen Kontinente dieser Erde. MISS FELLOWES Kontinente! Wollen Sie Mexiko als Kontinent bezeichnen? Dann haben sie keine Ahnung von Geographie... SHANNON Ich habe in Sewance in Theologie promoviert. Aber in den letzten zehn Jahren ist Geographie mein Spezialgebiet geworden, Miss Fellowes, Baby. Nennen Sie mir irgendein Touristikunternehmen, für das ich nicht schon gearbeitet hätte - es gibt keins! Ich bin nur im Augenblick bei ›Blake Tours‹, weil ich... MISS FELLOWES Was? Ihre Finger nicht von unschuldigen, minderjährigen Mädchen lassen konnten, bei Ihren... SHANNON Miss Fellowes... Berührt wieder ihren Arm MISS FELLOWES Nehmen Sie Ihre Hand von meinem Arm!!! SHANNON Ich merke doch schon seit Tagen, daß Sie unglücklich und wütend sind, aber... MISS FELLOWES Ach! Bilden Sie sich etwa ein, daß nur ich unglücklich bin?! In diesem stickigen Bus über Nebenstraßen fernab der Autobahnen transportiert, durchgeschüttelt und herumgestoßen zu werden, nur damit Sie Ihre Provisionen einheimsen können, meinen Sie, daß das... SHANNON Ich kann nur eines sagen: Sie sind es, die diesen Aufstand angezettelt hat! MISS FELLOWES Außerdem haben alle Reiseteilnehmerinnen die Ruhr!
SHANNON Das ist doch nicht meine Schuld. MISS FELLOWES Selbstverständlich ist das Ihre Schuld. SHANNON Miss Fellowes! Ich habe noch vor der Grenze
nach Mexiko, in New Laredo, Texas, alle Damen am Busbahnhof zusammengetrommelt und jeder einzelnen ein Informationsblatt mit allem, was sie essen und trinken dürfen, und allem, was sie nicht essen und trinken dürfen, ausgehändigt. MISS FELLOWES Es liegt nicht daran, was wir gegessen, sondern wo wir gegessen haben, daß wir die Ruhr bekamen. SHANNON schüttelt den Kopf wie ein Metronom Das ist keine Ruhr... MISS FELLOWES Es ist die Folge von Mahlzeiten in Lokalitäten, die unsere Gesundheitsbehörden sofort schließen würden... SHANNON Also, Moment mal... MISS FELLOWES ... weil sie alle Hygienevorschriften mißachten. SHANNON Es ist keine Ruhr. Es hat nichts mit Amöben zu tun, es ist einfach nur... MAXINE Montezumas Rache! So heißt das bei uns. SHANNON Ich habe sogar Tabletten verteilt. Ich habe ganze Röhrchen mit Enteroviaform verteilt, weil ich wußte, daß einige der Damen lieber Montezumas Rache in Kauf nehmen würden, als an den Tankstellen fünf Centavos für Mineralwasser auszugeben. MISS FELLOWES Die Tabletten haben Sie mit fünfzig Prozent Profit pro Röhrchen verkauft. MAXINE Ha-ha! Sie öffnet mit der Machete eine Kokosnuß, um Kokos-Rum zu machen. SHANNON Also nein! Spaß hin - Spaß her - so eine Beschuldigung ist... MISS FELLOWES Ich habe den Preis mit dem der Apotheken v e r g l i c h e n , weil ich gleich den Verdacht hatte, daß Sie... SHANNON Miss Fellowes, ich bin ein Gentleman, und als Gentleman darf ich nicht derart beleidigt werden. Ich
meine, ich kann mir eine solche Beleidigung nicht mal von einem Mitglied einer von mir geleiteten Reisegesellschaft gefallen lassen. Außerdem sollten Sie nicht vergessen - sollten Sie wenigstens versuchen, sich daran zu erinnern, daß Sie mit einem geweihten Priester sprechen. MISS FELLOWES Einem von der Kirche ausgestoßenen Priester, der immer noch versucht, sich als solcher auszugeben! MAXINE Wie war's mit einem Kokos-Rum? Unsere Gäste bekommen bei uns immer einen Kokos-Rum gratis. Da ihr Angebot offensichtlich überhört wurde, zuckt sie die Achseln und trinkt ihn selbst. SHANNON Miss Fellowes? In jeder Gruppe gibt es jemanden, de. unzufrieden ist. Dem nicht genügt, was ich tue, um die Reise zu einem - einzigartigen Erlebnis zu machen - sie anders als die üblichen Touren zu gestalten - ihr den unverwechselbaren Shannon-Touch zu geben. MISS FELLOWES Den Touch cines Betrügers, den Touch eines ausgestoßenen Priesters! SHANNON Miss Fellowes - nein - nein - nein - tun Sie - das nicht, nein!! Er ist an der Grenze zur Hysterie, stößt unzusammenhängende Laute aus, gestikuliert mit geballten Feinsten, taumelt dann ziellos über die Veranda und lehnt sich, um Luft ringend, gegen einen Pfosten. Tun Sie das nicht! Sie! Verletzen! M e n s c h l i c h e ! W ü r d e ! STIMME off, von unten Judy!? Die nehmen unser Gepäck mit! MISS FELLOWES ruft hinunter I h r da u n t e n ! Laßt diese Bengels nicht an euer Gepäck! Laßt sie das Gepäck nicht in diese Bruchbude bringen! STIMME off Judy! Wir können sie nicht hindern! MAXINE Die verstehen kein Englisch. MISS FELLOWES rasend vor Wut Dann sagen Sie ihnen gefälligst, daß sie das Gepäck wieder in den Bus laden sollen! Ruft wieder nach unten Haltet das Gepäck fest! Laßt es euch nicht wegnehmen! Wir fahren zurück. Nach Acapulco! Hört ihr?!
STIMME off Judy, alle wollen erst schwimmen gehen! MISS FELLOWES Ich komme! Geht eilig davon, schreit im Off
die jungen Mexikaner an Ihr da! Muchachos! Tragt das Gepäck wieder runter! Die Stimmen sind noch zu hören, entfernen sich aber. Shannon überquert die Veranda - ein gebrochener Mann. MAXINE schüttelt den Kopf Gib ihnen den Wagenschlüssel, Shannon. Laß sie abfahren. SHANNON Und was mach ich? MAXINE Hierbleiben. SHANNON In Freds Zimmer - ja, in Freds altem Zimmer... MAXINE Soll dir nie Schlimmeres passieren... SHANNON Nein? Warum nicht! Soll mir doch... soll mir doch ruhig Schlimmeres passieren. MAXINE Komm, komm, Honey. SHANNON Wenn's Schlimmeres gibt, soll's Schlimmeres sein... Er packt das Geländer neben der Verandatreppe und starrt verloren ins Leere. Seine Brust arbeitet schwer, als hätte er ein Rennen gelaufen, er ist in Schweiß gebadet. MAXINE Gib mir den Wagenschlüssel, ich bring ihn runter, während du badest, dich hinlegst und einen Kokos-Rum trinkst, Honey. Shannon schüttelt nur leicht den Kopf. Man hört schrilles Vogelkreischen aus dem Regenwald und sich nähernde Stimmen vom Pfad. HANNAH off Du hast deine Sonnenbrille verloren, Normo. NONNO off Nein. Abgenommen. Keine Sonne. Hannah erscheint, ihren Großvater, Nonno, im Rollstuhl schiebend, oben auf dem Pfad. Nonno ist ein sehr alter Mann mit einer für seine Jahre sehr kräftigen Stimme. Er scheint immer Wesentliches zu brüllen. Er ist Dichter und Showman. Es gibt eine positive Art Stolz - die er besitzt und wie ein Banner aufrecht hält. Er ist makellos gekleidet. Sein Leinenanzug ist so weiß wie sein dichtes Poetenhaar. Er trägt eine schwarze Schnur als Krawatte und einen schwarzen Stock mit Goldgriff. Wo geht's zum Meer?
HANNAH Gleich da den Hügel runter, Nonno.
Er dreht sich im Rollstuhl um und schützt die Augen mit der Hand. Man kann es von hier aus nicht sehen. Der alte Mann ist taub, und sie brüllt, damit er sie hört. NONNO Ich fühle und rieche es aber. In einem Windhauch flüstert der Regenwald. Es ist die Wiege allen Lebens. Auch er brüllt. Im Meer hat das Leben seinen Anfang genommen. MAXINE Gehören die zu deiner Gruppe? SHANNON Nein. MAXINE Die sehen aus, als hätten sie einen Knall. SHANNON Halt den Mund. Shannon sieht Hannah und Nonno ruhig und plötzlich völlig entspannt an, fast wie jemand, der in Trance verfällt. Der alte Mann sucht noch immer mit blinden Augen den Pfad ab, während Hannah, stolz und wie um Beifall bittend, zur Veranda sieht. HANNAH Guten Tag. MAXINE Hallo. HANNAH Haben Sie je versucht, einen Gentleman im Rollstuhl bergauf durch den Regenwald zu schieben? MAXINE Ich würde es nicht mal bergab versuchen. HANNAH Aber jetzt, wo wir's geschafft haben, muß ich sagen, die Anstrengung hat sich gelohnt. Was für eine Aussicht für ein Malerauge! Sieht sich schwer atmend um, sucht in ihrer Schultertasche nach einem Taschentuch, um sich ihr gerötetes, verschwitztes Gesicht abzuwischen Man hat mir in der Stadt gesagt, hier oben sei es für Maler ideal. Das war wirklich keine Übertreibung! SHANNON Sie haben einen Kratzer auf der Stirn. HANNAH Ach, das hab ich also gespürt. SHANNON Tun Sie lieber Jod drauf. HANNAH Ja, ich kümmere mich später darum - danke. MAXINE Kann ich etwas für Sie tun? HANNAH Ich würde gerne den Hoteldirektor sprechen. MAXINE Das bin ich.
HANNAH Ach, Sie sind das selbst - wie gut! Mein Name ist
Hannah Jelkes, Mrs.... Faulk, Maxine Faulk. Und was kann ich für Sie tun? Ihr Ton verrät, daß sie nicht den geringsten Wunsch verspürt, etwas für die beiden zu tun. HANNAH rasch zu ihrem Großvater Nonno, die Hoteldirektorin ist eine Dame aus den Staaten! Nonno nimmt zeremoniös, mit der instinktiven Galanterie seiner Art, einen Zweig wilder Orchideen von seinem Schoß. NONNO brüllend Übergib der Dame diese - botanische Kuriosität, die du am Wege pflücktest! HANNAH Ich glaube, es ist eine wilde Orchidee, nicht wahr? SHANNON Laelia tibicina. HANNAH Ah! NONNO Sage ihr aber, daß sie sie, bis es dunkel wird, im Eisschrank aufheben möchte. Sage ihr das. In der Sonne ziehen sie die Bienen an. Kratzt mit schmerzlichem Kichern einen Stich an seinem Kinn MAXINE Suchen Sie Zimmer? HANNAH Ja. Aber leider haben wir nicht reserviert. MAXINE Nun, Honey, das Costa Verde ist im September so gut wie geschlossen - außer für ganz wenige besondere Gäste, deshalb... SHANNON Um Gottes willen. Maxine, es sind besondere Gäste. MAXINE Ich denke, sie gehören nicht zu deiner Reisegruppe? HANNAH Bitte, könnten Sie uns nicht als besondere Gäste betrachten? MAXINE Vorsicht! Nonno hat sich aus seinem Rollstuhl befreit. Shannon läuft zu ihm, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. Hannah will ihm auch zu Hilfe kommen, sieht, daß Shannon ihn aufgefangen hat, und wendet sich wieder Maxine zu. HANNAH Nach fünfundzwanzigjährigem Umherreisen ist es das erste Mal, daß wir irgendwo ankommen, ohne vorher Zimmer bestellt zu haben. MAXINE
MAXINE Der alte Mann gehört in ein Krankenhaus, Honey. HANNAH Aber nein, nein - er hat sich heute morgen in
Taxco nur den Knöchel ein bißchen vertreten. Alles, was er braucht, ist, eine Nacht gut zu schlafen, dann ist er morgen wieder auf den Beinen. Seine Regenerationsfähigkeit ist für jemanden, der siebenundneunzig Jahre j u n g ist, schier unglaublich. SHANNON Ganz langsam. Grandpa. Halten Sie sich fest. Hilft Nonno die Stufen hinauf zur Veranda Zwei Stufen. Eine! Zwei! So, das ist geschafft. Nonno kichert atemlos, während Shannon ihm in einen Schaukelstuhl aus Rohrgeflecht hilft. HANNAH rasch Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie uns aufnehmen wollen. Es ist wie eine -Fügung. MAXINE Tja - ich kann ja den alten Mann nicht gleich wieder den Hügel runterschicken. Aber, wie gesagt, das Costa Verde ist im September praktisch geschlossen. Ich nehme diesen Monat nur Leute zu speziellen Vereinbarungen als besonderes Entgegenkommen auf. NONNO unterbricht abrupt und laut Hannah, sag der Dame, daß ich diesen Kinderwagen nur vorübergehend brauche. Ich werde sehr bald zu krabbeln anfangen, dann zu stehen, und schließlich werde ich im Nu hier umherspringen wie eine - a l t e - Bergziege, hahaha... HANNAH Ja, das habe ich schon gesagt, Großvater. NONNO Ich habe nicht gern Räder unter mir, HANNAH Ja, mein Großvater glaubt, daß der Verfall der westlichen Welt mit der Erfindung des Rades begann. Sie lacht herzlich, aber Maxine geht nicht darauf ein. NONNO Und sag der Managerin... der, äh, D a m e . . . ich weiß, daß manche Hotels keine Hunde oder Katzen oder Affen aufnehmen, und manche sind auch nicht sehr erpicht auf siebenundneunzigjährige Babys, d i e in ihrem Kinderwagen, statt einer Rassel Blumen ... Er kichert ein wenig beängstigend, leicht irre. Wahrscheinlich möchte Hannah ihm am liebsten die Hand über den
Mund legen, aber sie muß stehenbleiben und lächeln, lächeln, lächeln. ... und statt einem Schnuller eine Kognakflasche transportieren, aber sag ihr, daß diese - äh - Konzession an die dritte Jugend eines Mannes nur vorübergehend ist, und... HANNAH Ich habe Mrs. Faulk schon erklärt, daß du nur wegen deines verstauchten Fußes einen Rollstuhl brauchst, Nonno! SHANNON zu sich Phantastisch! NONNO Ich werde ihn nach meiner Siesta die Hügel hinunterrollen lassen, ich gedenke, i h m einen Tritt zu geben, der ihn direkt ins Meer befördert. Sag ihr. . . HANNAH Ja? Was, Nonno? Hat aufgehört zu lächeln. Ton und Blick verraten jetzt offene Verzweiflung. Was soll ich ihr noch sagen, Nonno? NONNO Sag ihr, daß ich ihr, wenn sie mir meine schändliche Langlebigkeit und diese... vorübergehende Schwäche ... vergibt, die letzte signierte Ausgabe meines ersten Lyrikbandes übereifern - übereignen werde... sie erschien ... wann ist sie erschienen, Hannah? HANNAH resigniert An dem Tag, an dem Präsident Ulysses S. Grant in sein Amt eingeführt wurde, Nonno. 1869. NONNO ›Die Fanfare des Morgenrots‹! Wo ist das Buch - du hast es doch, gib es ihr auf der Stelle. HANNAH Später, Nonno, ein bißchen später. Wendet sich an Maxine und Shannon Mein Großvater ist der Dichter Jonathan Coffin. Er ist siebenundneunzig Jahre jung und wird am 5. Oktober, nächsten Monat also, achtundneunzig Jahre jung. MAXINE Tja, alte Leute sind schon beachtlich. Das Telefon klingelt - entschuldigen Sie mich - ich bin gleich wieder da. Geht um die Verandaecke ab NONNO Habe ich zuviel geschwatzt? HANNAH leise zu Shannon Ich fürchte, ja. Ich glaube nicht, daß sie uns aufnimmt. SHANNON Sie nimmt Sie auf, keine Bange.
HANNAH In der Stadt wollte uns keiner. Wenn wir hier nicht
unterkommen, muß ich i h n durch den Regenwald zurückschieben - und was dann? Wohin? Es bliebe uns nur die Straße, die nur in eine Richtung führt - ins Meer - und ich bezweifle sehr, daß es sich für uns teilt ... SHANNON Das wird nicht nötig sein. Ich habe ein wenig Einfluß auf die Patrona. HANNAH Oh. bitte, nützen Sie ihn! In ihren Augen stand ein großes, dickes Nein. Shannon schenkt ein Glas Wasser aus einem Krug auf der Veranda ein und gibt es dem alten Mann. NONNO Was ist das? Ein Willkommenstrunk? SHANNON Eiswasser. Grandpa. HANNAH Oh, das ist sehr freundlich. Vielen Dank. Ich gebe ihm dann gleich seine Salztabletten, so kann er sie leichter schlucken. Nimmt das Röhrchen aus ihrer Tasche Möchten Sie auch welche? Sie schwitzen offensichtlich. Man muß darauf in der heißen Jahreszeit achten, hier, unter dem Wendekreis des Krebses, nicht auszutrocknen. SHANNON schenkt ein zweites Glas Wasser ein Sitzen Sie nicht auch finanziell ein bißchen auf dem Trockenen? HANNAH Stimmt. Wir sitzen total auf dem Trockenen. Und ich glaube, die Patrona ahnt das. Eine logische Schlußfolgerung, nachdem ich i h n eigenhändig hier raufgeschoben habe. Und die Patrona sieht mir ganz so aus, als sei sie eine logisch denkende Person. Bestimmt hat sie durchschaut, daß wir uns nicht leisten konnten, den Taxifahrer zu bitten, uns hier rauf zu helfen. MAXINE ruft von hinten Pancho! HANNAH Wenn es eine Frau schon einmal zum Boß von irgend etwas gebracht hat, dann ist es für eine andere Frau viel schwerer, ihre sachliche Tüchtigkeit zu überwinden, als bei einem Mann. Wenn Sie also wirklich Einfluß haben - bitte, bitte nützen Sie ihn aus. Versuchen Sie, sie davon zu überzeugen, daß mein Großvater morgen wieder auf den Beinen ist - womöglich sogar schon heut
abend - und mit ein bißchen Glück löst sich auf irgendeine Art unser Geldproblem genauso schnell. Oh, da kommt sie wieder. Helfen Sie uns, bitte! Unwillkürlich hat Hannah Shannons Handgelenk umklammert, während Maxine, immer noch nach Pancho rufend, auf die Veranda zurückkehrt. Der mexikanische Junge taucht auf, er lutscht eine saftige Mango - der Saft läuft ihm über Kinn und Hals. MAXINE Pancho, lauf den Strand runter und sag Herrn Fahrenkopf, die deutsche Botschaft ist am Telefon... Pancho starrt sie ausdruckslos an, bis sie ihm den Auftrag auf spanisch wiederholt. Dile a Herr Fahrenkopf que la embajada alemana lo llama al teléfono. Corre, corre! Pancho macht sich träge und an der Mango lutschend auf den Weg. Ich sagte, lauf! Corre, corre! Er verfällt in einen lässigen Trott und verschwindet durch das Gebüsch. HANNAH Wie graziös diese Menschen sind. MAXINE Ja, wie Katzen und auch genauso unzuverlässig. HANNAH Sollen wir uns jetzt - eh - anmelden? MAXINE Anmelden können Sie sich später, jetzt brauche ich erst mal sechs Dollar von Ihnen, wenn Sie Ihren Namen auf der Gästeliste fürs Abendessen sehen wollen. HANNAH Sechs? Dollar? MAXINE Ja. Drei pro Nase. Während der Saison arbeiten wir nach dem landesüblichen Satz, aber außerhalb der Saison, wie jetzt, richten wir uns nach modifizierten amerikanischen Regeln. HANNAH Aha. Und was für - eh - Regeln sind das? Sie wirft Shannon einen hilfesuchenden Blick zu, während sie versucht, Zeit zu schinden, aber der ist, seit unten der Bus wieder gehupt hat, ganz in sich gekehrt. MAXINE Zwei Mahlzeiten inbegriffen - statt drei. HANNAH geht näher zu Shannon, hebt die Stimme Frühstück und Mittagessen?
MAXINE Kontinentales Frühstück und kalter Lunch. SHANNON zu sich Sehr kalt - kalt wie Eis - wenn man's sel-
ber bricht... HANNAH nachdenklich Keine warme Mahlzeit also? MAXINE Nein. Keine warme Mahlzeit. HANNAH Aha, ich verstehe. Aber - wir arbeiten nämlich
auch nach gewissen modifizierten Regeln, die ich Ihnen gerne erklären möchte. MAXINE Was meinen Sie mit arbeiten - und was für Regeln? HANNAH Ja, eben. Hier ist unsere Karte. Sie könnten sogar schon von uns gehört haben. Gibt Maxine ihre Karte In der Presse ist eine Menge über uns berichtet worden. Mein Großvater ist der älteste unter den lebenden Dichtern, der noch seinen Beruf ausübt und auch noch Rezitationsabende gibt. Ich - male. Aquarelle. Und außerdem bin ich Schnellzeichnerin. Wir kommen mit dem aus, was wir mit Großvaters Rezitationen und dem Verkauf meiner Aquarelle und schnellen Kohle- und Pastellskizzen einnehmen. SHANNON zu sich Ich habe Fieber. HANNAH Ich durchstreife für gewöhnlich bei Lunch und Dinner die Speisesäle der Hotels. In meinem Künstlerkittel - er ist malerisch mit Farbe bekleckert - mit großem Byronkragen und fließender Seidenkrawatte - brauche ich mich den Leuten nicht aufzudrängen. Ich stelle nur meine Arbeiten aus und lächle freundlich, und wenn sie mich darum bitten, setze ich mich zu ihnen und porträtiere sie rasch in Kohle oder Pastell. Und wenn nicht? Dann lächle ich ebenso freundlich und gehe weiter. SHANNON Und was macht Grandpa? HANNAH Wir gehen langsam miteinander an den Tischen vorbei. Ich stelle ihn als den ältesten lebenden Dichter, der noch seinen Beruf ausübt, vor, und wenn man i h n darum bittet, rezitiert er eines seiner Gedichte. Leider sind all seine Gedichte schon vor vielen Jahren entstanden. Aber denken Sie, er hat mit einem neuen begonnen! Nach zwanzig Jahren hat er zum ersten Mal wieder angefangen, an einem neuen Gedicht zu arbeiten!
SHANNON Aber fertig ist es noch nicht? HANNAH Nicht, weil es ihm an Inspirationen fehlt! Es ha-
pert nur - natürlich - ein wenig an seiner Konzentrationsfähigkeit. MAXINE Im Moment konzentriert er sich jedenfalls nicht. SHANNON Er hält ein Nickerchen. Grandpa? Ab in die Heia, hm? MAXINE Moment! Ich rufe ein Taxi, mit dem diese Leute in die Stadt zurückfahren können. HANNAH Bitte tun Sie das nicht! Wir haben es in jedem Hotel der Stadt probiert. Sie nehmen uns nicht. Ich fürchte, wir sind ganz auf Ihre - Ihre Barmherzigkeit angewiesen. .. Mit unendlicher Sanftheit hat Shannon den alten Mann geweckt und geleitet ihn nun in eines der Zimmer hinten auf der Veranda. Vom Strand hört man das entfernte Kreischen der Badenden. Das Nachmittagslicht verblaßt jetzt sehr schnell, nachdem die Sonne hinter dem Hügel einer Insel im Meer verschwunden ist. MAXINE Sieht so aus, als hätten Sie's für eine Nacht geschafft. Aber nur für e i n e Nacht. HANNAH Danke! MAXINE Nummer Vier für den alten Mann. Für Sie Nummer Drei. Wo ist Ihr Gepäck? Kein Gepäck? HANNAH Doch. Ich habe es unten an der Straße hinter ein paar Palmettos versteckt. SHANNON ruft Pancho zu Bring ihr Gepäck! Tu, flojo... las maletas ... baja las palmas. Vamos! Die mexikanischen Jungen laufen den Weg hinunter. Maxine, Baby, würdest du mir einen vordatierten Scheck einlösen? MAXINE Ja ja - mañana, vielleicht. SHANNON Danke - Großzügigkeit war immer schon eine deiner stärksten Eigenschaften. Maxine stößt ihr bellendes Lachen aus und marschiert um die Verandaecke. HANNAH nüchtern, als stelle sie fest, daß es bald regnen
könne Ich habe große Angst, daß mein Großvater auf den Höhenpässen durch die Sierras einen leichten Schlaganfall erlitten hat. Ein Windstoß fegt wie ein langer Seufzer über den Hang. Von unten hört man die Stimmen der Badenden. SHANNON Sehr alte Menschen haben öfter solche kleinen Durchblutungsstörungen des Gehirns. Das sind keine echten Schlaganfälle - nur kleine Gehirnstörungen. Sie verschwinden meist so rasch, daß die alten Leute sie nicht mal merken. Sie wechseln diese wenigen ruhigen Sätze, ohne sich gegenseitig anzusehen. Die mexikanischen Jungen brechen durch die Büsche am Ende des Weges und bringen einige uralt aussehende Gepäckstücke, deren Unmengen von Hotel- und Reiseaufklebern auf riesige Entfernungen bei ihrem Umherziehen deuten. Die Jungen deponieren das Gepäck in der Nähe der Stufen. Wie oft haben Sie die Welt umrundet? HANNAH Fast so oft, wie die Welt die Sonne umrundet hat und ich fühle mich, als hätte ich den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt. SHANNON nimmt das Gepäck Welche Nummer hat Ihre Zelle? HANNAH lächelt leicht Ich glaube, sie sagte Nummer Drei. SHANNON Wahrscheinlich hat sie Ihnen die mit dem undichten Dach gegeben. Er trägt die Reisetaschen in ihr Zimmer. Maxine ist für das Publikum nur dann zu sehen, wenn sie aus ihrem Büro auf den Seitenflügel der Veranda tritt. Aber das wird sich erst herausstellen, wenn's regnet, und dann ist's zu spät, dann können Sie nur noch herausschwimmen. Hannah lächelt müde. Sie kann ihre Erschöpfung nicht mehr verbergen. Shannon kommt mit dem Gepäck wieder heraus. Ja, sie hat Ihnen die mit dem undichten Dach verpaßt besser Sie nehmen meine und...
HANNAH O nein, nein, Mr. Shannon - ich finde schon ein
trockenes Fleckchen, wenn's wirklich regnet. MAXINE vom Seitenflügel der Veranda Shannon!
Zwischen Hannah und Shannon spielt sich eine kleine Pantomime ab. Er will ihr Gepäck in Zimmer Nummer Fünf tragen, sie hält seinen Arm fest, deutet nach hinten und gibt ihm zu verstehen, daß sie Maxine nicht verärgern darf. Lauter Shannon! Er gibt nach und bringt das Gepäck in Nummer Drei zurück. HANNAH Vielen, vielen Dank, Mr. Shannon. Sie verschwindet hinter dem Moskitonetz. Maxine kommt nach vorn, während Shannon zu seinem Zimmer gehen will. MAXINE Hannah nachäffend »Vielen, vielen Dank, Mr. Shannon.« SHANNON Sei nicht gemein. Manche Leute meinen es aufrichtig, wenn sie sich bedanken. Geht an ihr vorbei und die Stufen am Ende der Veranda hinunter Ich geh jetzt schwimmen. MAXINE Um die Zeit hat das Wasser Körpertemperatur. SHANNON Wunderbar. Bei meinem Fieber wird es mir kühl vorkommen. Geht zu dem Weg, der zum Strand führt MAXINE Warte auf mich, ich will... Sie will sagen, daß sie mitkommt, aber er ignoriert sie und verschwindet im Gebüsch. Maxine zuckt ärgerlich die Achseln und kehrt auf die Veranda zurück, wendet sich nach vorn, packt das Geländer und starrt ins glühende Abendrot, als wäre es ein persönlicher Feind. Dann weht vom Meer eine kühlende Brise über den Hügel, und Nonnos Stimme dringt aus seinem Zimmer. NONNO
So ruhig der Orangenbaum, Sieht Himmel bleichen wie im Traum. Kein Aufschrei, kein Gebet der Qual, Nur stilles Dulden überall...
Und von weitem hört man aus einer Strand-Cantina eine Marimba-Band, sie spielt einen populären Song jenes Sommers 1940, ›Palabras de Mujer‹ - das bedeutet »Frauenworte». Langsam verlöschen die Scheinwerfer, langsam senkt sich der Vorhang.
2. Akt
Etwas später. Fast Sonnenuntergang. Die Szene ist in ein tiefgoldenes, fast kupferfarbenes Licht getaucht; die schweren tropischen Büsche glänzen vor Nässe nach einem Regenguß. Maxine kommt um die Verandaecke. Als Konzession an abendliche Formalitäten hat sie die Jeans durch eine saubere, weiße Baumwollhose ersetzt und die blaue Arbeitshemdbluse durch eine rosafarbene. Sie beginnt, Spieltische für das Abendessen, das auf der Veranda serviert wird, aufzuklappen. Während sie spricht, richtet sie weitere Tische her, deckt sie usw. MAXINE Miss Jelkes? HANNAH hebt das Moskitonetz an ihrer Tür Ja, Mrs. Faulk? MAXINE Kann ich Sie sprechen, während ich die Tische fürs
Abendessen herrichte? Natürlich, gerne. Ich wollte Sie auch sprechen. Kommt - jetzt im Malerkittel - heraus MAXINE Ja? HANNAH Ich wollte Sie fragen, ob es wohl eine Badewanne für meinen Großvater gibt. Mir reicht die Dusche - sie ist mir sogar lieber als eine Wanne - aber für meinen Großvater ist Duschen zu gefährlich, er könnte ausrutschen und sich, auch wenn er behauptet, daß er aus Gummi ist, die Knochen brechen, und das ist in seinem Alter kein Kinderspiel, deshalb... MAXINE Und ich wollte Ihnen sagen, daß ich wegen Ihnen und Ihrem Großvater in der Casa de Huéspedes angerufen habe und Sie dort unterbringen kann. HANNAH Oh, aber wir wollen gar nicht umziehen! MAXINE Das Costa Verde ist nicht das Richtige für Sie. Sehen Sie, unsere Gäste sind nicht gerade besonders fein und - ehrlich gesagt, bewirten wir lieber jüngere Leute. HANNAH hat angefangen, einen Klapptisch aufzustellen Ah HANNAH
ja. . . eh ... n u n , eh. Casa de Huéspedes - das bedeutet, eh. so was wie Hospiz, nicht? MAXINE Pension. Mit Verköstigung. Sie kriegen da sogar Mahlzeiten auf Kredit. HANNAH Und wo liegt das? MAXINE Mitten im Zentrum. Wo Sie auch rasch einen Arzt holen können, wenn Ihnen der alte Mann mal krank wird. Daran muß man schließlich denken. HANNAH Ja. Nickt ernst, mehr zu sich als zu Maxine Daran h a b e ich schon gedacht, aber... MAXINE Was machen Sie da? HANNAH Ich möchte helfen. MAXINE Lassen Sie das. Ich nehme von meinen Gästen keine Hilfe an. HANNAH zögert, fährt dann fort, den Tisch herzurichten Bitte, ich möchte etwas tun. Messer und Gabel auf die eine Seite und Löffel... ? Ihre Stimme erstirbt. MAXINE Stellen Sie aber die Teller auf die Servietten, sonst fliegen sie weg. HANNAH Ja, es wird windig. Fährt fort, den Tisch zu decken MAXINE Die Ausläufer des Hurricans treffen schon auf die Küste. HANNAH fast zu sich Im Orient haben wir etliche Taifune erlebt. Manchmal kann einem so ein äußerer Aufruhr als Ablenkung vom inneren Aufruhr ganz willkommen sein, nicht wahr? Stellt die letzten Teller auf die Papierservietten Bis wann dürfen wir bleiben, Mrs. Faulk? MAXINE Die Jungens bringen Sie morgen in meinem Kombi runter - Kundendienst - im Service inbegriffen. HANNAH Das ist sehr freundlich. Maxine wendet sich zum Gehen. Mrs. Faulk? MAXINE wendet sich ihr nur zögernd wieder zu Ja ? HANNAH Verstehen Sie etwas von Jade? MAXINE Von Jade? HANNAH Ja. MAXINE Warum?
Weil ich eine kleine, aber hochinteressante Jadesammlung habe. Ich wollte wissen, ob Sie etwas davon verstehen, weil es bei Jade auf die Qualität der Arbeit, auf die Feinheit der Schneidekunst ankommt. Nimmt die Brosche ab, die sie am Kittel trägt Sehen Sie hier zum Beispiel - ein wahres Wunderwerk. So winzig sie ist, es sind doch zwei Legendenfiguren klar zu erkennen - Prinz Ahk und Prinzessin Angh - und da, über ihnen - ein fliegender Reiher. Der Künstler, der das geschnitzt hat, bekam für seine unvergleichlich delikate Arbeit bestimmt nicht mehr als - vielleicht - eine Monatsration Reis für seine Familie. Der Händler, bei dem er angestellt war, hat sie aber für schätzungsweise mindestens dreihundert Pfund Sterling verkauft - und zwar einer englischen Dame, die sie dann wohl leid wurde und mir schenkte - vielleicht, weil ich sie nicht so gemalt hatte, wie sie damals aussah sondern so, wie sie - das war deutlich zu spüren - in ihrer Jugend einmal ausgesehen haben mußte. Können Sie die Figuren erkennen? MAXINE Ja, Honey, nur daß ich keine Pfandleihe führe, sondern ein Hotel. HANNAH Ja, ich weiß. Aber könnten Sie die Brosche nicht einfach als Sicherheit nehmen? Für ein paar Tage bei Ihnen? MAXINE Sie sind total pleite, was? HANNAH Ja - das sind wir. MAXINE Sie sagen das, als wären Sie auch noch stolz darauf. HANNAH Ich bin nicht stolz darauf - ich schäme mich aber auch nicht. Es ist nur einfach geschehen, was geschehen ist - und was uns bisher auf all unseren Reisen noch nie geschah... MAXINE widerwillig Ich nehme an, daß das wahr ist. Aber es ist genauso wahr wie das, was ich Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft von meinem Mann erzählt habe. Er ist gerade erst gestorben und hat mir ein solch finanzielles Tief hinterlassen, daß ich mich - wenn mir das Leben nicht mehr bedeuten würde als Geld - gleich mit ihm ins Meer hätte schmeißen lassen können. HANNAH
HANNAH Ins Meer? MAXINE friedlich gleichmütig Ja. Ich habe seinen letzten
Wunsch haarklein erfüllt. Mein Mann, Fred Faulk, war der größte Sportangler an der Westküste Mexikos. Er hat unschlagbare Rekorde aufgestellt, ob's um Haie. Tarpons, Königsfische oder Barrakudas ging. Und vorige Woche hat er auf seinem Totenbett verlangt, daß man ihn ins Meer wirft! Gleich da draußen in die Bay. Einfach so in seiner Fischerkluft. Er wollte nicht mal in einen Sack eingenäht werden... Und jetzt füttert der alte Fischer Freddie die Fische - die Rache der Fische am alten Freddie. Ich bitte Sie. . . Wie finden Sie das? HANNAH sieht Maxine scharf an Ich nehme an, er bereut es nicht. MAXINE Aber ich. Mich packt das kalte Grausen. Sie wird durch die Deutschen abgelenkt, die sich, das ›Horst-Wessel-Lied‹ singend, auf dem Weg vom Strand herauf befinden. Shannon erscheint oben am Weg, die nasse Badehose klebt ihm am Körper. Maxines ganze Aufmerksamkeit ist plötzlich auf ihn gerichtet. Sie erstarrt funkensprühend wie ein defektes Kabel. Für einen Augenblick ist ein Spot auf ihre angespannte, wilde Gestalt gerichtet. Hannah bildet einen visuellen Kontrapunkt. Sie kneift die Augen zu und öffnet sie nach einem Moment zu einem Blick stoischer Verzweiflung auf die Zuflucht, um die sie vergebens gekämpft hat. Dann nähert Shannon sich der Veranda und beherrscht die Szene. SHANNON Da kommen sie herauf- deine Eroberer der ganzen Welt, Maxine. Baby - und singen das ›Horst-WesselLied‹. Kichert wütend in sich hinein, nähert sich den Stufen zur Veranda MAXINE Spül dir erst den Sand ab. Shannon, eh du auf die Veranda kommst. Die Deutschen treten, marschierend und weitersingend, wie ein lebendiges Rubensbild auf. Alle fast nackt, von der Sonne gerötet und gebräunt. Die Frauen haben sich mit Girlanden aus blaßgrünem, feuchtglänzendem Tang ge-
schmückt, und der Münchner-Opern-Tenor bläst auf einer großen Muschel. Sein Schwiegervater, der Panzerfabrikant, hört immer noch eine Kurzwellenübertragung über die Schlacht um England im Radio, die jetzt auf dem Höhepunkt ist. HILDA hüpft auf ihrem Gummipferd Hoppe, hoppe, Reiter. .. HERR FAHRENKOPF ekstatisch London brennt! Das Zentrum Londons steht in Flammen! Wolfgang landet, ein Rad schlagend, auf der Veranda, geht ein paar Schritte auf den Händen weiter und schlägt zum Abschluß triumphierend einen Purzelbaum. Maxine lacht entzückt über die Deutschen. Bier her, Bier her, Bier her! FRAU FAHRENKOPF Nein - heute abend Champagner! Die euphorischen Albernheiten gehen weiter, während sie um die Verandabiegung tollen und verschwinden. Shannon ist inzwischen auf der Veranda. Maxines Gelächter erstirbt ein wenig traurig und nicht ohne Neid. SHANNON Willst du das hier in ein mexikanisches Berchtesgaden verwandeln, Maxine, Baby? MAXINE Ich hab dir doch gesagt, daß du den Sand erst abspülen sollst. Die »Bier«-Rufe der Deutschen veranlassen sie, um die Ecke der Veranda zu gehen. HANNAH Mr. Shannon, kennen Sie zufällig eine Casa de Huéspedes? Ich meine, wissen Sie irgend etwas darüber? Shannon sieht sie verständnislos an. Wir eh, denken daran... morgen dorthin umzuziehen. Können Sie sie - eh - empfehlen ? SHANNON Ich kann sie etwa so empfehlen wie das Schwarze Loch in Kalkutta oder die sibirischen Salzminen. HANNAH nickt nachdenklich Das habe ich befürchtet, Mr. Shannon, halten Sie es für möglich, daß sich in Ihrer Reisegruppe jemand für meine Aquarelle oder meine Schnellporträts interessieren könnte? SHANNON Das bezweifle ich. Sie sind bestimmt nicht ver-
kitscht genug, um meinen Damen zu gefallen. Oje - oje, oje! Alle guten Geister... Das schrille, näherkommende Rufen seines Namens hat den Stoßseufzer ausgelöst. Charlotte eilt vom hinteren Anbau des Hotels wie eine jugendliche Medea auf die Veranda zu. Shannon verzieht sich schleunigst in sein Zimmer und schlägt so rasch die Tür hinter sich zu, daß sich eine Ecke des Moskitonetzes in ihr verfängt und kokett hervorscheint. CHARLOTTE läuft auf die Veranda L a r r y! HANNAH Suchen Sie jemand, mein Kind? CHARLOTTE Ja. Unseren Reiseleiter. Larry Shannon. HANNAH Ach, Mr. Shannon. Ich glaube, er ist unten am Strand. CHARLOTTE Ich habe ihn doch gerade vom Strand heraufkommen sehen. Sie ist nervös und zittert, ihre Augen suchen die Veranda ab. HANNAH Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen? CHARLOTTE Nein. Ich bleibe hier, bis er aus seinem Versteck herauskommt. HANNAH Dann nehmen Sie doch Platz, meine Liebe. Ich bin K ü n s t l e r i n - Malerin. Ich habe gerade in meinen Aquarellen und Zeichnungen in dieser Mappe geblättert - und sehen Sie nur, was ich entdeckt habe. Hält eine Zeichnung hoch SHANNON in seinem Zimmer Oh, Gott! CHARLOTTE schießt auf das Zimmer zu Larry. laß mich rein! Sie hämmert gegen seine Tür, während Herr Fahrenkopf mit seinem Radio um die Verandaecke kommt. Seine Augen sind vor Begeisterung über die deutschen Nachrichten weit aufgerissen. HANNAH Guten Abend! Herr Fahrenkopf nickt ruckartig, grinst zähnefletschend und bittet mit erhobener Hand um Ruhe. Hannah nickt liebenswürdig und nähert sich ihm mit ihrer Mappe. Er behält sein Grinsen bei, während sie ihm ein Bild nach dem anderen zeigt. Sie weiß nicht recht, ob sein Grinsen ihren
Zeichnungen oder der Nachrichtensendung gilt. Er starrt die Bilder, von Zeit zu Zeit ruckartig nickend, an. Das Ganze erinnert an eine Pantomime über eine Dia-Show. CHARLOTTE ruft plötzlich wieder Larry, mach die Tür auf und laß mich rein! Ich weiß, daß du da drin bist, Larry! HERR FAHRENKOPF Ruhe bitte, wenigstens für einen Moment! Das ist die Aufnahme einer Rede unseres Führers! Er hat sie heute... Sieht auf seine Armbanduhr vor nur acht Stunden im Reichstag gehalten, und das Deutsche Nachrichtenbüro in Mexiko City strahlt sie jetzt aus. Bitte, Ruhe, also bitte! Eine menschliche Stimme, die wie das Gebell eines verrückten Hundes klingt, übertönt für einen Augenblick die atmosphärischen Störungen im Radio. Charlotte hämmert weiter auf Shannons Tür ein. Hannah schlägt pantomimisch vor, daß sie zur Rückseite der Veranda gehen sollten, aber Herr Fahrenkopf gibt die Hoffnung auf, die Übertragung hören zu können. Er will gehen, dabei fängt sich das Licht in seiner Brille, und er sieht für einen Moment aus, als habe er Glühbirnen in der Stirn. Dann senkt er den Kopf zu einer kleinen, jovialen Verbeugung und geht von der Veranda herunter, um ein paar formalisierte Lockerungsübungen nach dem Vorbild japanischer Sumo-Ringer zu machen. HANNAH Dürfte ich Ihnen meine Arbeiten vielleicht auf der anderen Veranda zeigen? Sie hat Anstalten gemacht, ihm zu folgen, aber die Zeichnungen fallen ihr aus der Mappe, und sie hält inne, um sie mit dem traurigen, versunkenen Ausdruck eines einsamen Kindes, das Blumen pflückt, wieder einzusammeln. Shannons Kopf erscheint langsam und verstohlen hinter dem Fenster seines Zimmers. Er zieht ihn rasch zurück, als Charlotte in diese Richtung rennt, wobei sie auf Hannahs verstreute Zeichnungen tritt. Hannah stößt einen leisen Protestschrei aus, der von Charlottes erneutem Gekreisch übertönt wird. CHARLOTTE Larry, Larry, Judy sucht mich, laß mich rein, ehe sie mich hier findet!
SHANNON Du kannst hier nicht rein! Hör a u f mit dein Ge-
schrei, und ich komme raus. CHARLOTTE Gut, dann komm. SHANNON Sowie du die Tür nicht mehr blockierst.
Sie geht zur Seite, und er betritt die Veranda wie ein Schafott. Er lehnt sich gegen die Wand und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Woher weiß Miss Fellowes, was in jener Nacht geschah? Hast du's ihr erzählt? CHARLOTTE Gar nichts hab ich ihr erzählt. Sie denkt es sich nur. SHANNON Sich etwas zu denken heißt nicht, es zu wissen. Wenn sie es sich nur denkt - es aber nicht weiß,.. Ich meine, wenn du nicht lügst und ihr wirklich nichts gesagt hast... ? Hannah hat ihre Arbeiten eingesammelt und zieht sich leise zur anderen Seite der Veranda zurück. CHARLOTTE Wie redest du denn mit mir? SHANNON Mach um Himmels willen bitte mein Leben nicht noch komplizierter - es ist schon kompliziert genug! CHARLOTTE Wieso bist du auf einmal so verändert? SHANNON Ich habe Fieber. Es gibt... Komplikationen... CHARLOTTE Du benimmst dich, als ob du mich haßt. SHANNON Du sorgst dafür, daß ich bei ›Blake Tours‹ rausfliege. Charlotte. CHARLOTTE Ich doch nicht. Judy. • SHANNON Und warum mußtest du ›Ich liebe dich innig‹ für mich singen? CHARLOTTE Weil es wahr ist. Ich liebe dich wirklich innig. SHANNON Baby, weißt du denn nicht, daß einem jungen Mädchen in deiner - deiner - i n s t a b i l e n Verfassung nichts Schlimmeres passieren kann, als sich gefühlsmäßig an einen Mann in - in meiner instabilen Verfassung - zu binden, hm? CHARLOTTE Nein, nein, nein, ich... SHANNON unterbricht Zwei instabile Faktoren genügen, um die ganze Welt in Flammen zu setzen, sie in die Luft zu
jagen - endgültig - und das gilt für zwei Menschen ebenso, wie es für... CHARLOTTE Ich weiß nur eines, Larry, daß du mich nach dem, was in Mexiko City passiert ist, heiraten mußt! SHANNON Ein Mann wie ich - in meiner Lage - kann nicht heiraten. Das wäre weder anständig noch legal. Er kann froh sein, wenn er seinen Job behält. Versucht dauernd, ihre Hände daran zu hindern, ihn zu berühren und zu umarmen Ich bin nahe daran, verrückt zu werden, merkst du das nicht, Baby? CHARLOTTE Ich kann nicht glauben, daß du mich nicht mehr liebst. SHANNON Kein Mensch kann glauben, daß er von dem nicht geliebt wird, den er zu lieben glaubt, Baby. Ich jedoch, ich liebe n i e m a n d ! So bin ich eben, und es ist nicht meine oder deine Schuld. Als ich dich an jenem Abend im Hotel zu deinem Zimmer brachte, habe ich dir vor deiner Tür »Schlaf schön« gesagt und dir einen Gute-Nacht-Kuß auf die Wange gegeben - aber kaum war ich in meinem Zimmer, da kamst du reingestürzt, und ich bekam dich nicht mehr raus - nicht mal mit Gewalt - mein Gott, erinnerst du dich denn nicht mehr? MISS FELLOWES off, hinter dem Hotel Charlotte! CHARLOTTE Oh, doch, ich erinnere mich genau. Du hast mich, nachdem du mich geliebt hast, geschlagen, Larry. Du hast mich geohrfeigt und mir den Arm verdreht, weil ich niederknien und mit dir beten sollte - um Verzeihung beten. SHANNON Das mach ich immer, das mach ich immer, wenn ich, wenn... Baby, ich bin mit meinen Nerven total runter - und mein Vorrat an Gefühlen ist aufgebraucht - ich bin am Ende. CHARLOTTE Laß mich dir helfen, Larry! MISS FELLOWES off, näherkommend Charlotte! Charlotte! Charlie! CHARLOTTE Hilf mir und laß mich dir helfen. SHANNON Soll ein Nichtschwimmer einen anderen Nichtschwimmer vorm Ertrinken retten?
CHARLOTTE Versteck mich da drin, Judy kommt! SHANNON Laß mich los! Hau ab!
Er stößt sie gewaltsam zurück, läuft in sein Zimmer, schlägt die Tür zu und verriegelt sie, obwohl das Netz noch immer heraushängt. Während Miss Fellowes auf die Veranda stürmt, läuft Charlotte ins nächstgelegene Zimmer, und Hannah kommt aus ihrer Ecke, aus der sie alles beobachtet hat, nach vorne zu Miss Fellowes. 9 MISS FELLOWES Shannon, Shannon! Wo sind Sie HANNAH Ich glaube, Mr. Shannon ist hinunter an den Strand gegangen. MISS FELLOWES War Charlotte Goodall bei ihm? Ein blondes, junges Mädchen aus unserer Reisegruppe - war sie bei ihm? HANNAH Es war niemand bei ihm, er war allein. MISS FELLOWES Ich habe eine Tür zuschlagen gehört. HANNAH Das war meine. MISS FELLOWES deutet auf Shannons Tür Ist das Ihre? HANNAH Ja. Ich bin hinausgerannt, um den Sonnenuntergang noch zu sehen. In diesem Augenblick hört Miss Fellowes Charlottes Schluchzen hinter Hannahs Tür. Sie reißt sie auf. MISS FELLOWES Charlotte! Komm da raus, Charlie! Hai sie am Handgelenk gepackt Was kann man auf dein Wort geben? Nichts! Du hast versprochen, dich von ihm fernzuhalten! Charlotte befreit sich, bitterlich schluchzend, aus Miss Fellowes Griff. Miss Fellowes packt sie wieder und beginnt, sie fortzuzerren. Ich habe deinen Vater angerufen und i h m von diesem Kerl erzählt. Er wird einen Haftbefehl gegen i h n erwirken, falls er sich nach alledem noch einmal in die Staaten wagt! CHARLOTTE Das ist mir egal. MISS FELLOWES Mir aber nicht. Ich habe die Verantwortung für dich. CHARLOTTE Ich geh nie mehr nach Texas zurück.
MISS FELLOWES Oh, doch! Und ob du gehst!
Sie nimmt Charlotte energisch am Arm und zerrt sie hinter das Hotel. Hannah tritt aus ihrem Zimmer, in das sie sich verzogen hatte. SHANNON in seinem Zimmer Oh, Gott... HANNAH Die Luft ist jetzt rein, Mr. Shannon. Weder erscheint Shannon, noch antwortet er. Sie stellt ihre Mappe ab, um Nonnos weißen Leinenanzug, den sie gebügelt und auf der Veranda aufgehängt hatte, abzunehmen. Sie geht an Nonnos Tür und ruft hinein. Nonno? Es ist fast Zeit fürs Dinner. Und in wenigen Minuten wird's einen wunderschönen, stürmischen Sonnenuntergang geben. NONNO von innen Ich komme! HANNAH Weihnachten auch, Nonno. NONNO off Und der vierte Juli! HANNAH Den haben wir hinter uns. Als nächstes kommt Halloween und dann Thanksgiving. Ich hoffe, du kommst früher. Hebt das Moskitonetz vor seiner Tür Hier, dein Anzug. Ich habe ihn gebügelt. Geht ins Zimmer NONNO Es ist stockdunkel hier drinnen, Hannah. HANNAH Ich mach das Licht an. Shannon kommt aus seinem Zimmer wie der Überlebende eines Flugzeugabsturzes. Er hat das schwarze Leibchen aus schwerer Seide, das zu seiner Priesterkleidung gehört, lose über seine schweratmende, schwitzende Brust gebunden. Er hängt ein schweres, goldenes Kreuz mit einem Amethyst in der Mitte darüber und versucht, den gestärkten, runden Kragen zu schließen. Hannah kommt aus Nonnos Zimmer zurück und zupft ihre Krawatte aus fließender Seide, die zu ihrer Künstler-Aufmachung gehört, zurecht. Beide stehen für einen Moment frontal zum Publikum und bringen ihre Kostüme in Ordnung wie zwei Schauspieler, die sich kurz vor der Pleite ihres Wandertheaters feierlich auf eine Vorstellung vorbereiten, die die letzte sein könnte. Hannah sieht Shannon an. Haben Sie die Absicht, heute abend eine Art Andacht zu halten, Mr. Shannon?
SHANNON Gottverdammt, helfen Sie mir doch bitte mit dem
Ding. Deutet auf den Kragen HANNAH stellt sich hinter ihn Wenn Sie keine Andacht hal-
ten wollen, warum ziehen Sie dann diese unbequemen Sachen an? SHANNON Weil man mich beschuldigt, ein ausgestoßener Priester zu sein, der das vertuschen will - darum. Ich will den Damen vorführen, daß ich noch immer in Amt unwürdig - in Amt und Würden! bin - Priester der... HANNAH Genügt den Damen denn das hübsche Goldkreuz nicht, um sie zu überzeugen? SHANNON Nein. Sie wissen, daß ich es mir aus einer Pfandleihe in Mexiko City zurückgeholt habe, und denken, daß es vielleicht überhaupt aus so einer Quelle stammt. HANNAH Halten Sie einen Moment still. Versucht, den Kragen zu schließen Das Knopfloch ist viel zu ausgefranst für das winzige Kragenknöpfchen. So, hoffentlich hält's. Ihre Befürchtung bestätigt sich sofort, der Knopf springt heraus. SHANNON Wo ist er? HANNAH Da, gleich unter... Sie hebt den Knopf auf, Shannon reißt sich den Kragen ab, knäult ihn zusammen und wirft ihn die Veranda hinunter. Dann fällt er keuchend und sich krümmend in die Hängematte. Hannah nimmt ruhig ihren Skizzenblock und beginnt, zunächst unbemerkt, ihn zu zeichnen. Zeichnend Wie lange üben Sie Ihren Beruf als, eh, Priester schon nicht mehr aus, Mr. Shannon? SHANNON Hat das was mit dem Reispreis in China zu t u n ? HANNAH sanft Nein. SHANNON Oder mit dem Kaffeepreis in Brasilien? HANNAH Ich ziehe meine Frage zurück. Mit der Bitte um Entschuldigung. SHANNON Um Ihre Frage höflich zu beantworten: Ich habe meinen Beruf als Priester nach meiner Weihe nur ein einziges Jahr ausgeübt. HANNAH zeichnet rasch, geht ein wenig näher, um sein Ge-
sieht besser zu sehen Nun, das nenne ich einen ausgedehnten Studienurlaub. SHANNON Ja, es ist ein... ausgedehnter Studienurlaub. Man hört Nonnos Stimme aus seinem Zimmer, er wiederholt mehrmals eine Verszeile. Führt Ihr Großvater da drinnen Selbstgespräche? HANNAH Nein, er dichtet laut. Er muß sich seine Worte einprägen, denn er sieht zu schlecht, um sie aufschreiben oder ablesen zu können. SHANNON Klingt, als wäre er an einer Zeile steckengeblieben. HANNAH Ja, ich fürchte, sein Gedächtnis läßt nach. Das ist seine größte Angst - Gedächtnisverlust. Sie sagt das fast kalt, als käme es nicht darauf an. SHANNON Zeichnen Sie mich? HANNAH Ich versuche es. Sie sind ziemlich schwierig. Als der mexikanische Maler Siqueiros an einem Porträt des amerikanischen Dichters Hart Crane gearbeitet hat, mußte er ihn bitten, die Augen zu schließen, weil so viel Trauer darin war, daß er sie nicht malen konnte. SHANNON Tut mir leid, aber ich werde meine Augen nicht für Sie schließen. Ich bin dabei, es mit Autosuggestion zu versuchen - indem ich das Licht sehe, das sich im Laub des Orangenbaumes fängt. HANNAH Macht nichts. Ich kann Ihre Augen offen zeichnen. SHANNON Ich hatte ein Jahr lang eine Pfarrei - dann wurde ich nicht ausgestoßen, sondern aus meiner Kirche - ausgesperrt. HANNAH Ach? ... Und warum hat man Sie ausgesperrt? SHANNON Wegen Unzucht und Ketzerei... in ein und derselben Woche. HANNAH zeichnet rasch Was führte Sie denn zu dem... ersteren Vergehen? SHANNON Ja, die Unzucht kam zuerst, ging der Ketzerei um ein paar Tage voraus. Eine sehr junge Sonntagsschullehrerin bat mich um ein privates Gespräch in meinem Ar-
beitszimmer. Hübsches kleines Ding - ohne irgendeine Aussicht - das Einzelkind eines altjüngferlichen Elternpaars - fast identische alte Jungfern, die sich nur durch ihre Kleidung dem einen oder anderen Geschlecht zuordnen ließen. Sie konnten einige Leute einige Zeit täuschen - mich aber nicht... keinen Augenblick... Geht auf der Veranda mit sich steigender Erregung und dem allumfassenden Spott, den sein Schuldgefühl hervorruft, auf und ab Nun, sie hat sich m i r offenbart - hemmungslos. HANNAH Ihnen ihre Liebe offenbart? SHANNON Machen Sie sich nicht über mich lustig, Baby! HANNAH Nichts liegt mir ferner. SHANNON Es war nichts weiter als die natürliche - oder unnatürliche - Anziehungskraft zwischen zwei - Verrückten. Ich war damals der gottverdammteste Musterknabe, den Sie sich vorstellen können. Ich sagte: »Wir wollen niederknien und miteinander beten«, und das taten wir auch - wir knieten nieder - aber plötzlich knieten wir nicht mehr, sondern lagen auf dem Teppich meines Arbeitszimmers. .. Und als wir aufstanden? Da hab ich sie geschlagen. Ja. Ich habe ihr ins Gesicht geschlagen und sie eine verdammte, kleine Nutte genannt. Da l i e f sie nach Hause. Am nächsten Tag habe ich erfahren, daß sie sich mit dem Rasiermesser ihres Vaters geschnitten hatte. Ja, der eine Teil des altjüngferlichen Elternpaares rasierte sich. HANNAH Hat sie sich schwer verletzt? SHANNON Ach was. Nur gerade die Haut genügend geritzt, um ein bißchen zu bluten - aber der Skandal war da. HANNAH Ja. ich kann mir denken, daß das einige... Kommentare provoziert hat. SHANNON Hat es, hat es, ja. Unterbricht einen Moment sein wütendes Auf- und Abgehen, als entsetze ihn die Erinnerung immer noch Als ich dann am Sonntag drauf auf d i e Kanzel stieg und unter mir all diese mißbilligenden, anklagenden Spießergesichter zu mir aufblicken sah, hätte ich sie am liebsten durchgeschüttelt - und das habe ich
dann auch getan. Ich hatte eine zerknirschte, um Verzeihung flehende Predigt vorbereitet - die hab ich weggeschmissen, ins Chorgestühl gepfeffert. Sehet her, habe ich gesagt - gebrüllt - ich habe es satt, Messen zur Huldigung eines senilen Verbrechers zu lesen - jawohl - das habe ich gesagt - gebrüllt! All eure westlichen Religionen, ihr ganzer mythologischer Hintergrund basiert auf einer Vorstellung von Gott als s e n i l e m V e r b r e c h e r , und ich kann und will - bei Gott - nicht damit fortfahren, Messen zum Lobe dieses - dieses... HANNAH ruhig Senilen Verbrechers... ? SHANNON Jawohl. Dieses verdrossenen, wütenden, alten Mannes zu lesen. Ich meine, so wird er doch dargestellt, wie ein übellauniger, kindischer, uralter, kranker, ewig beleidigter Mann. Wie einer von den Alten in Pflegeheimen, der versucht, ein Puzzle zusammenzusetzen und es nicht zusammenkriegt und sich so darüber ärgert, daß er den Tisch umtritt. Ja, ich sage Ihnen, genau das tun sie all unsere Religionen - sie klagen Gott an, ein grausamer, seniler Verbrecher zu sein, der der Welt alle Schuld an den Konstruktionsfehlern seiner eigenen Schöpfung aufhalst und sie brutal dafür bestraft - und dann - haha, ja dann brach an jenem Sonntag ein Gewitter aus... HANNAH Sie meinen, außerhalb der Kirche? SHANNON Ja, es war viel wilder als ich! Und sie rutschten aus ihren Kirchenbänken, stolperten zu ihren blankpolierten Flohkisten - ha-ha - und ich brüllte ihnen nach, zum Teufel, ja, ich bin ihnen sogar durch die halbe Kirche nachgerannt, als sie... Hält inne, um Luft zu holen HANNAH Zu ihren Autos stolperten? SHANNON »Geht!« hab ich ihnen nachgebrüllt, »geht nach Hause und verriegelt alle Fenster und Türen vor der Wahrheit über Gott!« HANNAH Lieber Himmel. Und genau das haben sie auch getan - die armen Leutchen! SHANNON Miss Jelkes, Baby. Pleasant Valley in Virginia ist der exklusivste Vorort einer Großstadt, und diese ›armen
Leutchen waren keineswegs arm - was das Materielle betrifft. HANNAH lächelt ein wenig Und was war das - eh - Resultat? SHANNON Das Resultat? Nun, ich wurde nicht aus der Kirche ausgestoßen, die Kirche von Pleasant Valley, Virginia, wurde nur vor mir verschlossen. Und ich landete in einem hübschen, kleinen Privatsanatorium, um meinen totalen Nervenzusammenbruch, wie sie es zu nennen beliebten - auszukurieren. Ja, und dann - dann stieg ich in meinen gegenwärtigen Berufsstand ein. Ich führe Reisen durch Gottes weite Welt - als Priester Gottes mit Kreuz und rundem weißen Kragen ausgewiesen. Und sammle die Beweise. HANNAH Was für Beweise, Mr. Shannon? SHANNON mit einem Hauch von Schüchternheit Die m e i n e Vorstellung von Gott belegen - nicht als seniler Verbrecher, sondern als... HANNAH Ja? Das Urteil ist so unvollständig wie Ihr Satz. SHANNON Heute abend gibt es Sturm - ein gewaltiges Gewitter. Dann werden Sie zu sehen kriegen, wie sich der Reverend T. Lawrence Shannon Gott den Allmächtigen, der seiner Schöpfung, dieser Welt, einen Besuch abstattet, vorstellt. Ich möchte zur Kirche zurückkehren und die Lehre von Gott als Blitz und Donner predigen... und von vivisezierten streunenden Hunden auch... und... und... und... Deutet plötzlich in die Richtung des Meeres Das ist er! Da ist er jetzt! Er deutet auf die flammende, majestätische Apokalypse goldenen Lichts, das am Himmel erstrahlt, während die Sonne im Meer versinkt. Seine gleichgültige, undurchdringbare M a j e s t ä t . . . Und hier steh ich - auf dieser verwahrlosten Veranda eines billigen Hotels in der Nachsaison - in einem Land, das von goldgierigen Eroberern, die neben der Fahne der Inquisition das Kreuz Christi mit sich führten, physisch gefangen und zerstört - und geistig korrumpiert worden ist. J a . . . Und... Pause
HANNAH Mr. Shannon. . . ? SHANNON J a . . .? HANNAH lächelt ein wenig Ich habe deutlich das Gefühl, daß
Sie mit den Beweisen, die Sie gesammelt haben, zur Kirche zurückkehren werden. Aber wenn es soweit ist - und es ist ein grauer Sonntagmorgen - dann halten Sie unter den spießigen, selbstgefälligen Gemeindemitgliedern Ausschau nach ein paar alten, sehr alten Gesichtern. Die werden Sie, wenn Sie mit Ihrer Predigt beginnen, mit Augen ansehen, in denen ein gellender Aufschrei steht - das Verlangen nach etwas, zu dem sie noch aufblicken, an das sie noch glauben können. Und dann werden Sie, denke ich, nicht brüllen, was Sie, wie Sie sagten, in Pleasant Valley, Virginia, gebrüllt haben. Ich glaube, dann werden Sie Ihre aggressive, grimmige Predigt wegschmeißen, ins Chorgestühl pfeffern und über etwas sprechen... nein, vielleicht nicht darüber sprechen... nichts sagen... n u r ... SHANNON Was? HANNAH Sie nur zu stillen Wassern führen, weil Sie dann wissen werden, wie dringend sie die stillen Wasser brauchen. Mr. Shannon. Ein Augenblick des Schweigens zwischen ihnen SHANNON Zeigen Sie mal. Er nimmt ihren Skizzenblock und ist sichtlich beeindruckt von dem, was er sieht. Wieder Schweigen, das Hannahs Verlegenheit noch ausdehnt HANNAH Wo, sagten Sie, hat die Patrona Ihre Damen untergebracht? SHANNON Die mexikanischen Papagallos haben das Gepäck der ganzen Reisegruppe in den Anbau verfrachtet. HANNAH Wo ist der Anbau ? SHANNON Gleich da hinter dem Hügel. Aber die Damen sind alle - bis auf meine Backfisch-Medea und ihre Megäre - in einem Boot mit gläsernem Boden aufs Meer gefahren, um die Wunder der Unterwasserwelt zu bestaunen.
Wenn sie in den Anbau zurückkommen, dürfen sie meine Aquarelle bestaunen und meine wunderbar niedrigen Preise. SHANNON Guter Gott, wie geschäftstüchtig Sie sein können! Phantastisch! HANNAH Genau wie Sie, Mr. Shannon. Nimmt sanft ihren Block aus seinen Händen Ach, und, Mr. Shannon - sollte mein Großvater, Nonno, aus seiner Zelle Nummer Vier herauskommen, ehe ich zurück bin, würden Sie sich dann seiner annehmen? Ich bleibe höchstens ein paar Sekunden weg. Nimmt ihre Mappe und geht flott davon SHANNON Phantastisch, einfach phantastisch! Der Wind streicht über den Regenwald, und die Veranda wird in ein flackerndes, goldenes Licht getaucht, als ergössen sich lautlos Goldmünzen über sie. Dann rufende Stimmen. Die mexikanischen Jungen erscheinen mit einem sich wie wild gebärdenden Tier - ein gefangener Leguan, den sie in ein Hemd gebunden haben. Sie kauern sich neben eine der Kakteen, die unterhalb der Veranda wachsen, und binden den Leguan mit einer Schnur an einen Pfosten. Maxine, angelockt von dem Geschrei, erscheint über ihnen auf der Veranda. PEDRO Tenemo fiesta!* PANCHO Comeremos bien. PEDRO Damla, dámela! Yo la ataré. PANCHO Yo la cojí- yo la ataré! PEDRO Lo que vas a h a c e r es dejarla escapar. MAXINE Ammarla fuerte! Olé, olé! No la dejas escapar. Dejala moverse! Zu Shannon Sie haben einen Leguan gefangen. SHANNON Das habe ich bemerkt, Maxine. Sie heilt ihm ihren Drink absichtlich fast unter die Nase. HANNAH
* Das wird ein Fest!/ Wir werden gut essen./ Gib ihn mir, ich binde ihn an./ Ich habe ihn gefangen - ich binde ihn an!/ Du läßt ihn nur entkommen./ Bindet ihn ganz fest an! Olé, olé! Laßt ihn nicht entkommen. Gebt ihm genügend Spielraum!
Die Deutschen haben das Geschrei ebenfalls gehört und drängen sich auf die Veranda. FRAU FAHRENKOPF läuft zu Maxine Was haben die da? Was ist das? Eine Schlange? Haben die eine Schlange gefangen? MAXINE Nein. Eine Echse. FRAU FAHRENKOPF mit übertriebenem Abscheu Ihhh - eine Echse! Verfällt in eine groteske Angstpose, als bedrohe sie Jack the Ripper SHANNON zu Maxine Du ißt gerne Leguanfleisch, nicht wahr? FRAU FAHRENKOPF Essen? Eine große Eidechse - essen? MAXINE Ja - schmeckt gut - wie weißes Hühnerfleisch. Frau Fahrenkopf eilt zu ihrer Familie zurück, sie reden aufgeregt über den Leguan. SHANNON Wenn du mexikanische Hühner meinst, ist das keine Empfehlung. Mexikanische Hühner picken jeden Dreck, und danach schmecken sie auch. MAXINE Nee - ich meine Texas-Hühnchen. SHANNON träumerisch Texas-Hühnchen... Er streift ruhelos über die Veranda. Maxines Aufmerksamkeit ist zwischen der großen, schlanken Gestalt, die unfähig scheint, sich ruhig zu halten, und den zappeligen Körpern der mexikanischen Jungen, die bäuchlings halb unter der Veranda liegen, hin und her gerissen, so als vergliche sie im Geiste, wer die stärkeren Reize auf ihr schlichtes, sinnliches Naturell ausübt. Ist es ein Männchen oder Weibchen? MAXINE Ha, wer interessiert sich schon für das Geschlecht eines Leguans Shannon geht dicht an ihr vorbei. ... außer, ein... zweiter Leguan? SHANNON Kennst du denn den Limerick über Leguane nicht? Er nimmt ihr den Drink ab, und es sieht aus, als wolle er ihn trinken, dann schnüffelt er aber nur mit einem Ausdruck des Widerwillens daran. Sie kichert.
Da war der Jung-Gaucho Heinz. Der sagt von der Liebe: Eins Weiß ich genau, 's ist nett mit 'ner Frau, Auch Schafe können entzücken. Doch sind's Leguane, die wirklich beglücken. Auf ›beglücken‹ kippt Shannon Maxines Drink über das Geländer aus, wobei er auf Pedros hochgestreckten, zappeligen Po gezielt hat. Pedro springt, wütend protestierend, auf. PFDRO Me cago... hijo de la. . . SHANNON Qué? Qué? MAXINE Véte! Shannon lacht boshaft. Der Leguan entkommt, und die beiden Jungen laufen ihm schreiend nach. Einer von ihnen wirft sich auf ihn und fängt ihn am Rande des Dschungels wieder ein. PANCHO La iguana se escapé.* MAXINE Cojela, cojela! La cojíste? Si no la cojes, te morderá el culo. La cojíste? PEDRO La cojí. Die Jungen hüpfen mit dem Leguan wieder unter die Veranda. MAXINE geht zu Shannon zurück Ich dachte, du gibst auf und trinkst das Glas aus, Reverend. SHANNON Mir wird schon von dem Geruch schlecht. MAXINE Wenn du den Schnaps erst intus hast, riechst du ihn nicht mehr. Sie berührt seine heiße Stirn. Er wischt ihre Hand weg, wie ein lästiges Insekt. Hah! Sie geht zum Getränkewagen, und er sieht ihr mit sadistischem Grinsen nach. SHANNON Wer immer dir erzählt hat, daß dir enge Hosen stehen, war kein ehrlicher Freund.
* Der Leguan ist entkommen./ Fang ihn. fang ihn! Hast du ihn? Wenn nicht, beiß ich dich in den Hintern. Habt ihr ihn?/ Er hat ihn.
Er wendet sich ab. Im selben Moment hört man ein Krachen in Nonnos Zimmer und einen heiseren Aufschrei. MAXINE Ich hab's gewußt, ich hab's gewußt! Der alte Mann ist hingefallen! Shannon läuft, von Maxine gefolgt, in das Zimmer. Während des kleinen Zwischenspiels mit dem entkommenen Leguan ist das Licht langsam und stetig zurückgegangen. Tatsächlich ist hier - wenngleich ohne Blackout oder Vorhang - eine Unterteilung der Szene. Während Shannon und Maxine in Nonnos Zimmer gehen, erscheint Herr Fahrenkopf auf der Veranda, die nun im Zwielicht liegt. Er schaltet eine übergroße Hängelampe ein, eine perlmutterfarbene Vollmondkugel, die die Szene in ein fast surreales Licht taucht. Die große Perlmutterkugel ist voller Nachtinsekten, große, durchsichtige Nachtfalter, die sich ihr geopfert haben, geben dem Licht, das durch ihre Flügel fällt, einen opalisierenden Schimmer, einen Hauch des Phantastischen. Shannon führt den alten Dichter aus seinem Zimmer auf die Veranda. Der alte Mann ist makellos gekleidet wie vorher. Seine Löwenmähne glänzt silbern im Licht. NONNO Die Knochen sind alle heil. Ich bin ein Gummimensch. SHANNON Der geborene Wanderer stürzt oft auf seiner Wanderschaft ab. NONNO Hannah? Sein Sehvermögen ist, wie seine anderen Sinne, so reduziert, daß er glaubt, Hannah führe ihn. Ich bin ganz sicher, daß ich es hier vollende. SHANNON laut aber sanft Das Gefühl habe ich auch, Grandpa. Maxine folgt ihnen aus dem Zimmer. NONNO So überzeugt war ich noch nie im Leben von etwas. SHANNON freundlich und gequält So überzeugt war ich auch noch nie im Leben. Herr Fahrenkopf hat mit einem Ausdruck der Verzückung der unrealistisch leisen Übertragung aus seinem Radio, das er an sein Ohr preßt, zugehört. Jetzt stellt er es ab.
HERR FAHRENKOPF begeistert, in Rednerpose Das Feuer in
London hat sich vom Zentrum der Stadt bis zur Kanalküste ausgebreitet! Göring, Feldmarschall Göring nennt es ›Die neue Phase der Eroberung!‹ Riesige B r a n d bomben! Nacht f ü r N a c h t ! Nonno bekommt nur den begeisterten Unterton dieser Verlautbarung mit und legt ihn als Wunsch nach einer seiner Rezitationen aus. Er klopft mit seinem Stock auf den Boden, wirft den Kopf mit der Silbermähne nach hinten und beginnt, mit hohem Pathos zu deklamieren. NONNO
Jugend muß wild sein und kühn, ungehemmt, Im Kerzenlicht tanzen, solange es brennt. Jugend muß dumm sein und... Er bleibt stecken. Ein Ausdruck von Verwirrung und Angst tritt in sein Gesicht. Die Deutschen sind amüsiert. Wolfgang geht zu ihm und schreit ihm ins Gesicht. WOLFGANG Sir? Wie alt sind Sie, Sir? Wie alt? Hannah ist gerade zurückgekommen, läuft auf die Veranda zu ihrem Großvater und antwortet für ihn. HANNAH Er ist siebenundneunzig Jahre j u n g . HERR FAHRENKOPF Wie alt? HANNAH Sieben - und - neunzig - fast ein Jahrhundert jung! Herr Fahrenkopf wiederholt seiner strahlenden Frau und Hilda die Information. NONNO
Jugend muß dumm sein und fröhlich und blind, Nicht dahin schauen, wo Schatten sind. Von den Steinen... Bleibt wieder stecken HANNAH souffliert, hält ihn dabei am Arm fest Von den Steinen nichts wissen, die den Weg beschweren, NONNO &HANNAH zusammen Die Tag' nicht bereuen, die so glitzernd leeren. Sie soll nur lachen - und war's auch vom Wein. Denn Jugend muß wild und hemmungslos sein.
Die Deutschen amüsieren sich laut. Wolfgang applaudiert dem alten Dichter direkt ins Gesicht. Nonno macht eine kleine, wacklige Verbeugung, bei der er sich gefährlich weit über seinen Stock beugt. Shannon nimmt ihn fest beim Arm, während sich Hannah mit ihrer Mappe, die sie öffnet, an Wolf gang wendet. HANNAH Habe ich recht mit meiner Vermutung, daß Sie sich auf der Hochzeitsreise befinden? Was für eine hübsche, junge Braut! Ich mache Pastellporträts... Darf ich wohl... Würden Sie mir wohl erlauben... Ach, bitte... bitte... Herr Fahrenkopf stimmt ein Nazi-Marschlied an und führt seine Gesellschaft zum Champagnerkübel auf dem Tisch links. Shannon hat Nonno an den anderen Tisch geführt. NONNO angeregt Hannah! Wie ist die Ausbeute? HANNAH verlegen Großvater, bitte setz dich und hör auf zu schreien! NONNO Wie? Haben sie dich mit Münzen oder mit Scheinen geschmiert? HANNAH fast verzweifelt Nonno! Schluß jetzt mit dem Geschrei! Setz dich an den Tisch. Es wird gegessen! SHANNON Fütterungszeit, Grandpa. NONNO verwirrt, aber ebenso laut Wieviel haben sie denn rausgerückt? HANNAH Nonno! Bitte! NONNO Haben sie, hast du ihnen... ein Aquarell... verkauft? HANNAH Kein Verkauf, Großvater! MAXINE Hah! Hannahs normale Fassung bricht zusammen oder ist doch nahe dran. HANNAH zu Shannon Er setzt sich nicht und hört auch mit dem Gezeter nicht auf! NONNO funkelnd und strahlend, erinnert er auf groteske Art an eine alte Kokotte Na? Sind wir auf eine Goldader gestoßen, Hannah? SHANNON mit sanfter Autorität Setzen S i e sich, Miss Jelkes.
Sie gehorcht. Er nimmt die Hand des alten Mannes und legt eine zerknitterte mexikanische Banknote hinein. Sir? Sir! Sehr laut Fünf Dollar! Ich stecke sie Ihnen in die Tasche! Tut es HANNAH Wir können keine. .. keine Almosen annehmen, Mr. Shannon. SHANNON Ich hab ihm fünf Pesos gegeben, zum Teufel! NONNO Toll, für ein einziges Gedicht! SHANNON Sir? Die pekuniäre Anerkennung eines Gedichtes steht immer in krassestem Mißverhältnis zu seinem Wert! Er ist so grimmig sanft mit dem alten Mann, daß es fast wie Spott wirken könnte - aber so sind wir, wenn das Mitleid mit Alten, Uralten - Sterbenden - unsere eigenen (grausam strapazierten) Nerven und Gefühle so sehr bedroht, daß diese Anforderung von außen unsere emotionalen Kräfte übersteigt. Das gilt natürlich für Hannah ebenso wie für Shannon. Sie haben beide zu diesem Zeitpunkt ihrer Begegnung ihre Reserven aufgebraucht. NONNO Hä? Ja... Er ist erschöpft, brüllt aber noch immer. Wir werden hier absahnen! SHANNON Und wie Sie hier absahnen werden! Maxine stößt ihr bellendes Lachen aus. Shannon wirft ein hartes Brötchen nach ihr. Sie schlendert liebenswürdig an den Tisch der Deutschen. NONNO hält sich, im Glauben, es sei Hannah, schwankend und japsend an Shannons Arm fest Ist der, der... Speisesaal. . . voll? Sieht sich mit blinden Augen argwöhnisch um SHANNON Jawohl, er ist zum Bersten voll! Und eine Menge Leute warten noch vor der Tür. Seine Stimme dringt nicht bis zu dem alten Mann vor. NONNO Hannah, wenn es eine Cocktailbar gibt, sollten wir die zuerst - abklappern. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist, hei, hei, heiß ist... Das ist wie ein Delirium - nur eine so starke Frau wie Hannah kann dabei äußerlich ungerührt bleiben.
HANNAH Er hält Sie für mich, Mr. Shannon. Bitte helfen Sie
ihm, sich zu setzen, und bleiben Sie eine Minute bei ihm, ich... Sie entfernt sich vom Tisch und atmet, als hätte man sie gerade halbertrunken aus dem Meer gezogen. Shannon hilft dem alten Mann, sich zu setzen. Fast augenblicklich schwindet dessen fiebrige Vitalität, und er gleitet in eine Art Halbschlaf. SHANNON geht zu Hannah Warum atmen Sie so? HANNAH Manche Leute brauchen einen Drink, andere eine Tablette. . . ich brauche ein paar tiefe Atemzüge. SHANNON Sie nehmen das viel zu schwer, für einen Mann in Grandpas Alter ist das alles ganz normal. HANNAH Ja, ja, ich weiß. Er hat mehr als eine dieser kleinen Gehirnstörungen gehabt, wie Sie das nennen. Und alle erst in den letzten paar Monaten. Bis vor kurzem war er einfach erstaunlich. Ich mußte bisweilen seinen Paß vorzeigen, weil sonst keiner geglaubt hat, daß er der älteste, seinem Beruf nachgehende Dichter der Welt ist. Es ging uns gut. Wir konnten nicht nur unsere Spesen decken, sondern hatten immer noch etwas darüber hinaus. Aber: Als ich merkte, daß er schwächer wurde, habe ich so versucht, ihn zu überreden, nach Nantucket zurückzufahren -aber nein - er bestimmt unsere Reiseziele, und er sagte: »Nein, Mexiko!« .. .Und jetzt sitzen wir hier auf diesem windigen Hügel fest wie ein Paar Vogelscheuchen... Der Bus von Mexiko City ist zusammengebrochen, als wir viereinhalbtausend Meter hoch waren. Ich glaube, da hatte er die letzte dieser kleinen Gehirnstörungen. Es ist gar nicht so schlimm, daß er fast taub und blind ist. . . Das Erlöschen seines Geistes setzt mir so zu - denn bis vor kurzem, bis ganz vor kurzem war sein Verstand noch so erstaunlich klar... Aber gestern - in Taxco - ich hatte fast alles, was wir noch hatten, für den Rollstuhl ausgegeben, und trotzdem bestand er darauf, weiterzureisen bis ans Meer... »Die Wiege des Lebens« nennt er es . . . Sie sieht, daß Nonno plötzlich wie leblos auf seinem Stuhl
in sich zusammengesunken ist. Sie holt Luft und geht gelassen zu ihm. SHANNON zu den mexikanischen Jungen Servicio! Aqui! Sein scharfer Befehl wirkt, sie servieren den Fisch. HANNAH Was für ein freundlicher Mensch Sie sind, Mr. Shannon. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich wecke ihn jetzt. Normo! Sie klatscht dicht an seinem Ohr in die Hände. Der alte Mann richtet sich, verwirrt kichernd, auf. Nonno, Leinenservietten! Zieht eine Serviette aus der Tasche ihres Kittels Ich habe immer eine bei mir, für den Fall, daß es nur Papierservietten gibt, wissen Sie... NONNO Ein wunderbares Hotel... Hoffentlich kann man à la carte bestellen. Hannah, ich möchte nur was ganz Leichtes, damit ich nicht zu schläfrig werde. Ich möchte nach dem Essen noch arbeiten. Ich möchte es hier beenden. HANNAH Nonno? Wir haben einen Freund gefunden, Nonno. Das ist Reverend Shannon. NONNO kämpft gegen seine Verwirrung Reverend? HANNAH brüllend Mr. Shannon ist ein Priester der Episcopalkirche, Nonno. NONNO Ein Gottesmann? HANNAH Ein Gottesmann auf Urlaub. NONNO Dann sag ihm. Hannah, daß ich zu alt für die Taufe bin und zu jung für das Grab. Aber für eine Heirat mit einer fetten, faulen, vierzigjährigen lustigen Witwe - steh ich zur Verfügung. Er ist von seinen kleinen Witzchen ganz entzückt, und man kann sich unschwer vorstellen, wie er solcherlei Scherzchen um die Jahrhundertwende in Sommerhotels von Liegestuhl zu Liegestuhl oder mit den Professorengattinnen kleiner Colleges in New England ausgetauscht hat. Jetzt aber haben dieser Wunsch zu gefallen, dieses Spielerische, diese ehrbaren Späßchen, etwas, aufrührende Weise, Groteskes. Shannon geht darauf ein, weil der alte Mann eine Saite in ihm anschlägt, die nichts mit seinen eigentlichen
Problemen zu tun hat. Dieser Teil der Szene, die in ›Scherzo‹-Stimmung gespielt wird, ist von einem stürmischen ›Obligato‹ begleitet: Man hört, wie der Wind vom Meer allmählich stärker wird und durch den Regenwald über den Hügel streicht, dazu blitzt es am Himmel unregelmäßig auf. Nur, daß Damen nie vierzig werden, wenn man ihnen glauben darf, ho, hooo! Bitte ihn... den Segen zu sprechen. Bei mexikanischem Essen kann ein Segen segensreich sein. SHANNON Sprechen Sie den Segen, Sir. Ihm ist ein Schnürsenkel gerissen. Ich kümmere mich sofort wieder um Sie. NONNO Sag ihm, daß ich ihm den Gefallen nur unter einer Bedingung tue. SHANNON Was für eine Bedingung, Mr. Coffin? NONNO Daß Sie meiner Tochter Gesellschaft leisten, wenn ich mich nach dem Essen zurückziehe. Ich gehe mit den Hühnern ins Bett und stehe mit den Hähnen auf, ho, hoo! Sie sind also ein Gottesmann. Zölibat oder nur Junggeselle? SHANNON Junggeselle, Sir. Eine normale, kultivierte Frau würde mich bestimmt nicht nehmen, Mr. Coffin. NONNO Was hat er gesagt. Hannah? HANNAH verlegen Sprich den Segen, Nonno. NONNO hat es nicht gehört Ich nenne sie immer meine Tochter, obwohl sie die Tochter meiner Tochter ist. Wir haben die Verantwortung füreinander übernommen, als ihre Eltern beim allerersten Autounfall auf der Insel Nantucket umgekommen sind. HANNAH Du sollst den Segen sprechen, Nonno! NONNO Sie ist keine von den modernen, kessen Weibern, sie ist weder modern, noch ist sie keß - sie wurde dazu erzogen, einmal eine wunderbare Frau und Mutter zu werden. Jedoch - ich bin ein egoistischer alter Mann und habe sie ganz für mich behalten. HANNAH laut in sein Ohr Nonno, Nonno, der Segen! NONNO erhebt sich mühsam Ja, so, der Segen. Gesegnet sei
das Mahl zu unserem Nutzen, gesegnet seien wir, um dir zu dienen. Amen. Wankt zu seinem Stuhl zurück SHANNON Amen. Nonno verliert sich wieder in seinen Gedanken, er läßt den Kopf hängen und murmelt vor sich hin. Wie gut sind seine Gedichte? HANNAH Vor dem Ersten Weltkrieg war er ein ziemlich bekannter, mittelmäßiger Dichter. Und auch noch ein Weilchen danach. SHANNON Zweitklassig also? HANNAH Ja, ein zweitklassiger Dichter mit einem erstklassigen Verstand. Ich bin stolz darauf, seine Enkelin zu sein... Zieht eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und steckt sie gleich wieder weg, ohne eine Zigarette genommen zu haben NONNO sehr verwirrt Hannah, es ist zu heiß... ich möchte heute morgen keinen heißen Brei. . . Es ist zu heiß... Schüttelt mehrmals kläglich kichernd den Kopf HANNAH mit kurzem, ängstlichem Blick zu Shannon, als mache sie ein peinliches Geständnis Sehen Sie, er ist nicht ganz bei sich. Er glaubt, daß er beim Frühstück sitzt. SHANNON Phantastisch - p h a n t a s t i s c h . HANNAH Das scheint Ihr Lieblingswort zu sein, Mr. Shannon-phantastisch. SHANNON blickt melancholisch in die Ferne Ja. wissen Sie unser Leben spielt sich auf zwei verschiedenen Ebenen ab. Miss Jelkes - der realistischen und der phantastischen - aber welche ist d i e wirkliche, die Wirklichkeit, die ... HANNAH Alle beide, würde ich sagen, Mr. Shannon. SHANNON fast wie zu sich Wenn man auf der phantastischen Ebene lebt - und auf der realistischen Ebene funktionieren muß - dann ist das ziemlich gespenstisch, ja, es ist das Gespenst... Ich dachte, ich könnte den Spuk hier abschütteln - aber die Verhältnisse haben sich verändert. Deutlich zu Hannah Ich wußte nicht, daß die Patrona verwitwet ist. . . Eine Gottesanbeterin... Kichert fast wie Nonno. Maxine hat einen Servierwagen
aus Messing und Glas, der mit einem Eiskübel, Kokosnüssen und einer Getränkeauswahl beladen ist, um die Verandaecke geschoben. Sie summt fröhlich vor sich hin und schiebt den Wagen dicht an den Tisch. MAXINE Cocktails gefällig? HANNAH Nein danke, Mrs. Faulk, für uns bitte nicht. SHANNON Kein Mensch trinkt Cocktails zwischen Fisch und Entree, Maxine. MAXINE Grandpa könnte aber einen gebrauchen, um wach zu werden. Alte Leute heben gern mal einen zur Stärkung. Brüllt dem alten Mann ins Ohr Wie war's mit 'nem Cocktail, Grandpa? Reckt ihre Hüften Shannon entgegen SHANNON Dein Arsch - Verzeihung, Miss Jelkes - deine Hüften sind zu fett für die Veranda, Maxine. MAXINE Hah! Den Mexikanern gefallen sie aber - so wie die mich im Bus in die Stadt immer knuffen und kneifen. Und die Deutschen erst! Jedesmal, wenn ich dem Herrn Fahrenkopf auch nur in die Nähe komme, tätschelt und pufft er mich. SHANNON Mach doch gleich einen Puff für ihn auf. MAXINE Hah! Ich mixe unserem Grandpa einen Manhattan mit zwei Kirschen, damit er das Dinner heil übersteht. SHANNON Geh zu deinen Nazis zurück, den Manhattan kann ich ihm mixen. Geht zum Servierwagen MAXINE Und wie ist's mit Ihnen, Honey? Soda mit Limonensaft vielleicht? HANNAH Nein, vielen Dank. Nichts. SHANNON Fall nervösen Menschen nicht auch noch auf den Wecker, Maxine. MAXINE Laß mich lieber den Manhattan für den Grandpa mixen - du bringst doch nur alles durcheinander. Mit wütendem Schnauben rammt er ihr den Servierwagen gegen den Bauch. Ein paar Flaschen fallen um. Sie schiebt ihn sofort gegen ihn zurück. HANNAH Mrs. Faulk, Mr. Shannon, das ist doch kindisch, bitte hören Sie auf. Von dem Tumult angezogen, kommen die Deutschen
dazu und lachen entzückt. Shannon und Maxine packen den Wagen jeweils am anderen Ende und schieben ihn wie einen Rammbock zwischen sich hin und her, wobei sie wütend grinsen, als seien sie Gladiatoren in einem tödlichen Duell. Die Deutschen kreischen lachend und feuern sie an. Mr. Shannon, hören Sie auf! Zu den Deutschen Bitte! Bitte nicht. Shannon hat Maxine den Wagen entwunden und ihn auf die Deutschen zugestoßen, die entzückt aufschreien. Der Wagen kracht gegen die Verandamauer. Shannon springt die Stufen hinunter und läuft ins Gebüsch. Die Vögel im Regenwald kreischen. Die Deutschen gehen an ihren Tisch zurück, und es kehrt plötzlich Stille ein. MAXINE So ein verrückter, schwarzhaariger, irischer, protestantischer Sohn einer... Protestantin! HANNAH Er kämpft gegen seinen - Durst, Mrs. Faulk. MAXINE Mischen Sie sich bloß nicht ein. Sie mischen sich überhaupt zu gerne in alles ein. HANNAH Aber Mr. Shannon ist sehr - gefährdet... MAXINE Ich weiß, wie man mit ihm umgehen muß, Honey. Sie haben i h n gerade erst kennengelernt. So, da haben wir Grandpas Manhattan mit zwei Kirschen. HANNAH Bitte, nennen Sie ihn nicht Grandpa. MAXINE Shannon nennt ihn doch auch so. HANNAH nimmt den Drink Bei i h m hört es sich aber nicht so herablassend an wie bei Ihnen. Mein Großvater ist ein Gentleman, im altmodischen Sinn des Wortes. Er ist ein Herr. MAXINE Und Sie? Was sind Sie? HANNAH Seine Enkelin. MAXINE Und das ist alles? HANNAH Ich finde, es genügt. MAXINE Jajá. Besonders wenn Sie sich, mit dem sterbenden alten Mann im Schlepptau, eine Unterkunft schnorren, wo Sie nicht mal genug Geld haben, um auch nur eine Nacht im voraus zu zahlen. Sie ziehen ihn so mit sich rum wie mexikanische Bettlerinnen ihre kranken Kinder, um die Touristen zu rühren.
HANNAH Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht zahlen kann. MAXINE Ja, und ich habe Ihnen gesagt, daß ich kürzlich ver-
witwet bin und daß ich so tief in einem Finanzloch stecke, daß man mich am besten gleich mit meinem Mann ins Meer gekippt hätte. Shannon kommt aus dem Regenwald zurück, bleibt aber, von Hannah und Maxine unbemerkt, stehen. HANNAH mit erzwungener Ruhe Ich werde gleich bei Morgengrauen in die Stadt gehen und meine Staffelei auf die Plaza stellen, um meine Aquarelle zu verhökern und Touristen zu zeichnen. Ich bin nicht schwach, meine augenblickliche Misere ist nicht typisch für mich. MAXINE Ich bin auch nicht gerade schwächlich. HANNAH Nein. Wahrhaftig nicht. Ihre Kraft ist geradezu ehrfurchtgebietend. MAXINE Damit haben Sie verdammt recht. Und wie gedenken Sie, nach Acapulco zu kommen, wenn Sie kein Geld fürs Taxi oder auch nur für den Bus haben? HANNAH Auf Schusters Rappen, Mrs. Faulk. Wir Inselbewohner sind gut zu Fuß. Und wenn Sie Zweifel haben, wenn Sie wirklich denken, daß ich nur hergekommen bin, um zu schnorren, dann werde ich meinen Großvater wieder in seinen Rollstuhl setzen, ihn den Hügel hinab und den ganzen Weg zurück in die Stadt schieben. MAXINE Zehn Meilen? Und wo sich ein Unwetter zusammenbraut? HANNAH Ja, das werde ich. Bei diesem Wortwechsel ist Hannah die Überlegene. Sie stehen beide neben dem Tisch. Nonnos Kopf fällt im Schlaf nach vorn. MAXINE Das kann ich nicht zulassen. HANNAH Aber Sie haben es doch ganz klar gemacht, daß Sie uns nicht mal für eine einzige Nacht hierbehalten wollen. MAXINE Der Sturm würde den alten Herrn aus seinem Rollstuhl wehen wie dürres Laub. HANNAH Das wäre ihm bestimmt lieber, als irgendwo zu bleiben, wo er unwillkommen ist - und mir auch, für ihn und für mich, Mrs. Faulk. Sie dreht sich nach den mexika-
nischen Jungen um. Wo ist sein Rollstuhl? Wo ist der Rollstuhl meines Großvaters? Der Wortwechsel hat den alten Mann geweckt. Er kämpft sich verwirrt auf die Beine, schlägt mit dem Stock auf den Boden und beginnt, ein Gedicht zu deklamieren. NONNO
Die Liebe ist e i n altes, erinnertes Lied, Das ein betrunkener Geiger spielt. Er stolpert durch krumme Alleen, Läßt seine Weise verwehen. Wenn erst sein Herz vor Musik verrückt, Spielt er... HANNAH Nicht, Nonno, nicht jetzt! Er denkt, es hätte ihn jemand um ein Gedicht gebeten. Sie hilft ihm auf seinen Stuhl zurück. Sie und Maxine haben Shannon noch nicht entdeckt. MAXINE Beruhigen Sie sich. Honey. HANNAH Ich bin ganz ruhig, Mrs. Faulk. MAXINE Ich aber nicht. Das ist das Blöde. HANNAH Ich verstehe Sie sehr gut, Mrs. Faulk. Sie haben kürzlich erst Ihren Mann verloren. Wahrscheinlich vermissen Sie ihn mehr, als Ihnen bewußt ist. MAXINE Nein, das ist es nicht. Das Blöde ist Shannon. HANNAH Sie meinen seine Nervosität und sein... ? MAXINE Nein, ich meine einfach nur Shannon. Ich möchte, daß Sie ihn in Ruhe lassen, Honey. Sie sind nichts für Shannon, und Shannon ist nichts für Sie. HANNAH Mrs. Faulk, ich bin eine alte Jungfer aus New England, die auf die Vierzig zugeht. MAXINE Ich hab die Schwingungen zwischen Ihnen gemerkt. Ich bin wie eine Antenne, wenn's darum geht, die Schwingungen zwischen Leuten aufzufangen - und zwischen Ihnen und Shannon hat sich vom ersten Moment, seit Sie hier aufgetaucht sind, was abgespielt. Und glauben Sie mir, nur das ist schuld an dem... dem Mißverständnis zwischen uns. Wenn Sie also nicht mit Shannon rummachen, können Sie und Ihr Grandpa hier so lange bleiben, wie Sie wollen, Honey.
HANNAH
Ach, Mrs. Faulk, sehe ich vielleicht aus wie ein
Vamp? MAXINE Die gibt's in allen Schattierungen - und alle sind
mir schon untergekommen. Shannon kommt zum Tisch. SHANNON Ich hab dir gesagt, Maxine, fall nervösen Menschen nicht auch noch auf den Wecker - aber du hörst ja nie zu. MAXINE Was du brauchst, ist ein Drink. SHANNON Laß mich das gefälligst selbst entscheiden. HANNAH Wollen Sie sich nicht wieder setzen, Mr. Shannon, und etwas essen? Bitte. Es täte Ihnen bestimmt gut. SHANNON Ich habe im Moment keinen Hunger. HANNAH Dann setzen Sie sich doch einfach so zu uns. Shannon setzt sich zu Hannah. MAXINE warnend zu Hannah Okay, okay... NONNO im Halbschlaf Wunderbar... wunderbar ist es hier. Maxine entfernt sich und schiebt den Getränkewagen zu den Deutschen. SHANNON Hätten Sie wirklich Ernst gemacht? HANNAH Haben Sie noch nie Poker gespielt, Mr. Shannon? SHANNON Heißt das, Sie haben geblufft? HANNAH Sagen wir, ich habe auf einen straight flush gesetzt. Der Wind erhebt sich und fegt wie ein Seufzer vom Meer her. Da k o m m t ein Sturm auf. Hoffentlich sind Ihre Damen nicht noch immer mit dem - dem Aussichtsboot unterwegs, um die - eh - Wunder der Unterwasserwelt zu bestaunen. SHANNON Das hoffen Sie nur, weil Sie die Damen nicht kennen. Aber wie auch immer - sie sind von ihrem Ausflug zurück und tanzen jetzt miteinander zur Musik aus der Jukebox unten in der Cantina - und brüten über neuen Plänen, wie sie ›Blake Tours‹ dazu kriegen, mich rauszuschmeißen. HANNAH Was würden Sie tun, wenn Ihnen...
SHANNON .. .gekündigt würde? Zur Kirche zurückkehren
oder nach China schwimmen. Hannah zieht eine zerknäulte Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche, entdeckt, daß nur noch zwei übrig sind, entschließt sich, sie für später aufzuheben, und steckt sie wieder zurück. Kann ich eine Zigarette haben, Miss Jelkes? Sie bietet ihm die Schachtel an, er nimmt sie, knäult sie zusammen und wirft sie übers Verandageländer. Rauchen Sie die nie, die werden aus dem Tabak der Zigarettenkippen gemacht, die Bettler in den Gassen und Gossen von Mexiko City auflesen. Zieht eine Blechschachtel mit Zigaretten hervor Hier - nehmen Sie Benson & Hedges, in luftdichten Blechschachteln importiert - der einzige Luxus, den ich mir leiste. HANNAH Nun - danke, gern - nachdem Sie meine weggeworfen haben. SHANNON Ich muß Ihnen etwas über Sie sagen: Sie sind eine Dame, eine wirklich große Dame. HANNAH Womit hab ich mir denn das Kompliment verdient? SHANNON Das ist kein Kompliment, sondern nur die Zusammenfassung dessen, was ich an Ihnen beobachtet habe - und das in einem Zustand, in dem es mir schwerfällt, irgend etwas außerhalb meiner selbst zu beobachten. Sie haben diese mexikanischen Zigaretten aus der Tasche gezogen und festgestellt, daß Sie nur noch zwei übrig haben, und weil Sie sich keine neuen kaufen können, nicht mal diese billige Sorte, wollten Sie sie für später aufheben, richtig? HANNAH Gnadenlos durchschaut, Mr. Shannon. SHANNON Aber als ich Sie um eine Zigarette bat, haben Sie mir, ohne zu zögern, eine angeboten. HANNAH Machen Sie nicht aus einer Kleinigkeit eine Riesengeschichte? SHANNON Ganz im Gegenteil, Baby. Ich mache aus einer sehr großen Geschichte einen viel zu kleinen I-Punkt.
Er steckt eine Zigarette in den Mund, hat aber im Gegensatz zu Hannah kein Feuer. Sie gibt ihm Feuer. Wo haben Sie gelernt, mitten im Wind ein Streichholz anzuzünden? HANNAH Ach, ich kann eine Menge kleiner nützlicher Dinge - ich wünschte nur, ich hätte auch ein paar große gelernt. SHANNON Zum Beispiel? HANNAH Wie man Ihnen helfen könnte, Mr. Shannon... SHANNON Jetzt weiß ich, warum ich hergekommen bin! HANNAH Um jemanden kennenzulernen, der im Wind Streichhölzer anzünden kann? SHANNON senkt den Blick auf den Tisch, stockend Um jemand kennenzulernen, der mir h e l f e n möchte, Miss Jelkes... Er dreht sich verlegen rasch zur Seite, als wolle er verhindern, daß sie die Tränen in seinen Augen sieht. Sie betrachtet ihn so ruhig und sanft wie sonst nur ihren Großvater. HANNAH Ist es schon so lange her, daß Ihnen jemand helfen wollte, oder waren Sie nur... SHANNON War ich - was? HANNAH So verstrickt in Ihren inneren Kampf, daß Sie gar nicht merkten, wenn Leute Ihnen, so gut sie können, helfen wollten? Ich weiß, daß Menschen sich häufig gegenseitig quälen wie die Teufel; aber wissen Sie, manchmal sehen und erkennen sie einander auch, und dann wollen sie sich, wenn sie anständig sind, gegenseitig so gut helfen, wie sie nur können. Würden Sie jetzt bitte m i r helfen? Würden Sie sich um Nonno kümmern, während ich auf der Veranda am Anbau meine Aquarelle vor dem Unwetter in Sicherheit bringe? Er nickt rasch und stützt den Kopf in die Hände. Murmelnd Danke! Sie springt auf und läuft die Veranda entlang. Auf halbem Wege wendet sie sich, während der Sturm über den Hügel fegt und ein Donnerschlag den Regen bringt, zum Tisch
um. Shannon ist aufgestanden und um den Tisch herum zu Nonno gegangen. Sie geht ab. SHANNON Grandpa? Nonno? Wir sollten aufstehen, Grandpa, ehe uns der Regen erwischt. NONNO Wie? Was? Shannon hilft dem alten Mann vom Stuhl und geleitet ihn zum hinteren Teil der Veranda, während die mexikanischen Jungen rasch den Tisch abräumen, ihn zusammenklappen und an die Wand stellen. Shannon und Nonno wenden sich dem Sturm entgegen, wie sich tapfere Männer einem Erschießungskommando stellen. Maxine kommandiert die Jungen aufgeregt herum. MAXINE Pronto, pronto, muchachos! Pronto! Llevaros todas las cosas! Pronto, pronto! Recoje los platos! Apurate cor el mantel!* PEDRO Nos estamos dando prisa! PANCHO Que el chubasco lave los platos! Die Deutschen betrachten das Unwetter als Wagnerschen Höhepunkt. Während die Jungen kommen, um ihren Tisch abzuräumen, stehen sie auf und beginnen, triumphierend zu singen. Das Gewitter mit seinen Zuckungen aus weißem Licht ist wie ein Riesenvogel, der den Hügel des Costa Verde angreift. Hannah kommt mit den an die Brust gepreßten Aquarellen zurück. SHANNON Haben Sie sie? HANNAH Gerade noch rechtzeitig. Da ist Ihr Gott, Mr. Shannon. SHANNON Ja, ich sehe ihn. Ich höre ihn. Ich erkenne ihn. Und wenn er nicht weiß, daß ich ihn kenne, dann soll er mich mit seinen Blitzen erschlagen. Er geht zur äußersten Ecke der Veranda, wo sich plötzlich ein feiner Silbervorhang aus Regen vom nassen Dach ergießt und die Figuren dahinter verwischt. Jetzt schimmert * Schnell, schnell. Jungens! Nehmt alles mit! Nehmt die Teller. Beeilt euch mit dem Tischtuch! / Wir beeilen uns ja! / Soll doch der Regen die Teller abwaschen.
alles in zartem Silber. Shannon streckt unter dem Regenschauer die Hände aus, als wolle er sie kühlen. Dann formt er sie zu einer Schale, um das Wasser aufzufangen, und badet seine Stirn darin. Der Regen wird stärker. Der Wind trägt den Klang der Marimba-Band den Hügel herauf. Shannon nimmt die Hände von seiner glühenden Stirn und streckt sie durch den Silbervorhang des Regens, als wolle er draußen und außerhalb seiner selbst etwas ergreifen. Dann sieht man nichts anderes mehr als diese ausgestreckten Hände. Ein klarer, weißer Blitz zeigt Hannah und Nonno hinter Shannon an der Wand stehen. Die Lampe geht aus, das Gewitter hat den Strom ausfallen lassen. Ein heller Spot bleibt auf Shannons ausgestreckte Hände gerichtet, bis der Vorhang langsam gefallen ist. * Pause
*Bei der Inszenierung sollen die malerischen Elemente so zurückhaltend sein, daß sie die wichtigeren menschlichen Beziehungen nicht dominieren. Sie dürfen nie zu einem ›Schleier aus Effekten werden. Die entfernte, vom Wind getragene Musik der Marimba-Band in der Cantina ist zu hören, bis der Zuschauerraum für die Pause hell wird.
3. Akt
Die Veranda. Später. Aus den Zimmern Drei, Vier und Fünf schimmert ein wenig Licht nach außen. Man sieht Hannah in Nummer Drei und Nonno in Nummer Vier. Shannon, der sein Hemd ausgezogen hat, sitzt an einem Tisch auf der Veranda und schreibt an seinen Bischof. Die anderen Tische sind zusammengeklappt und an die Wand gelehnt. Maxine befestigt wieder die Hängematte, die fürs Dinner abgenommen worden war. Der Strom funktioniert noch nicht wieder, das Licht in den Zimmern stammt von Petroleumlampen. Der Himmel hat sich ganz aufgeklärt, der Mond ist fast voll und taucht die Szene in ein beinah blendendes Licht, das durch die Nässe des vorangegangenen Regens noch intensiviert wird. Alles ist naß - auf der Veranda stehen hie und da silbrige Pfützen. An einer Seite qualmt ein Räuchertopf, um die Mücken zu vertreiben, die nach einem tropischen Regenschauer besonders bösartig werden, wenn der Wind sich gelegt hat. Shannon arbeitet fieberhaft an seinem Brief und schlägt bisweilen nach den Moskitos, die sich auf seinem schweißglänzenden Oberkörper niederlassen. Er atmet noch immer wie ein erschöpfter Rennläufer, murmelt beim Schreiben vor sich hin und zieht zwischendurch immer mal wieder laut den Atem ein, wobei er den Kopf zurückwirft, um einen wilden Blick auf den Nachthimmel zu werfen. Hannah sitzt auf einem Stuhl mit steiler Lehne hinter dem Moskitonetz ihres Zimmers. Sie hält sich sehr gerade, hat ein schmales Buch in der Hand, richtet ihren Blick aber unverwandt daran vorbei auf Shannon wie ein Schutzengel. Ihr Haar ist jetzt offen. Nonno schaukelt in seinem Zimmer auf der Kante seines schmalen Bettes hin und her, während er die Zeilen seines ersten, neuen Gedichtes nach über zwanzig Jahren, von dem er weiß, daß es auch sein letztes sein wird, immer und immer wieder memoriert. Hin und wieder hört man die entfernte Musik aus der Strand-Cantina.
MAXINE Arbeiten Sie Ihre Predigt für nächsten Sonntag
aus, Reverend? SHANNON Ich schreibe einen sehr wichtigen Brief, Maxine.
Will damit sagen: Stör mich nicht MAXINE Wem denn, Shannon? SHANNON Dem Dekan der theologischen Fakultät in Sewa-
nee. MAXINE zu sich, nachsichtig Sewanee. SHANNON Ja, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du Pedro
oder Pancho noch heute abend damit in die Stadt fahren lassen könntest, damit er morgen früh gleich abgeht. MAXINE Die Bengels sind schon mit dem Wagen unterwegs - zum kalten Bier und zu den heißen Nutten in der Cantina. SHANNON »Fred ist tot.« Er hat Glück... MAXINE Du, damit kein Mißverständnis wegen Fred aufkommt, Honey - ich vermiß ihn - aber wir hatten nicht nur aufgehört, miteinander zu schlafen, wir haben auch nicht mehr miteinander geredet. Es gab höchstens mal ein Grunzen hier und da. Wir haben uns nicht gezankt oder so - aber wenn wir uns im Laufe eines Tages zweioder dreimal angegrunzt haben, dann war das schon eine lange Unterhaltung. SHANNON Fred wußte, wenn mir alles gespenstisch vorkam - das brauchte ich ihm nie zu sagen. Er sah mich nur an und sagte: »Tja, Shannon, es ist alles wie verhext.« MAXINE Tja, Fred und ich - wir waren beim Grunzen gelandet. SHANNON Vielleicht dachte er, du hättest dich in ein Schwein verwandelt. Maxine, Baby? MAXINE Hah! Du weißt verdammt gut, daß Fred mich genauso respektiert hat wie ich ihn. Wir konnten nur - na ja, du weißt schon... der Altersunterschied. SHANNON Du hast ja Pedro und Pancho. M A X I N E Angestellte! Die respektieren mich nicht. Wenn man Angestellten erst mal erlaubt hat, privat mit einem zu verkehren, dann respektieren sie einen nicht mehr,
SHANNON. Und es ist - es ist einfach ... demütigend, wenn
man nicht... respektiert wird. SHANNON Fahr doch öfter mal mit dem Bus in die Stadt und
laß dich von den Mexikanern knuffen und kneifen - oder bring Herrn Fahrenkopf dazu, dich zu respektieren, Baby. MAXINE Ha! Sehr witzig! Ich habe in letzter Zeit oft daran gedacht, hier alles zu verkaufen, zurück in die Staaten zu gehen und irgendwo in Texas, am Rande einer Großstadt wie Houston oder Dallas, an einer Autobahn ein Motel aufzuziehen. Ich würde Managern - die e i n bequemes Plätzchen brauchen, um ihren schicken kleinen Sekretärinnen, die weder Steno noch tippen können, ein paar Nachhilfestunden zu geben - Zimmer vermieten. KokosRum auf Kosten des Hauses - Badezimmer mit Bidets ja, ich werde das Bidet in Amerika einführen. SHANNON Muß bei dir immer alles auf dieses Niveau absinken. Maxine? MAXINE Ja und nein. Honey. Ich weiß auch, daß es einen Unterschied gibt zwischen lieben - und nur mit jemand schlafen - sogar ich weiß das. Er beginnt aufzustehen. Wir sind alle beide an einem Punkt angelangt, wo es Zeit wird, das Richtige für uns zu finden - selbst wenn es nicht auf dem allerhöchsten Niveau liegt. SHANNON Ich will nicht verkommen. MAXINE Das wirst du auch nicht. Das laß ich gar nicht zu! Ich kenne deine Geschichte, Shannon. Ich erinnere mich gut, wie du dich einmal hier auf der Veranda mit Fred darüber unterhalten hast. Du hast ihm erklärt, wie es mit deinen Problemen angefangen hat. Du hast i h m erzählt, wie Mama - deine Mama - dich immer ins Bett schickte, ehe du überhaupt müde warst - und wie du da die Sünde der kleinen Jungens entdeckt hast und deinen Spaß an dir hattest. Aber einmal hat sie dich dabei erwischt und deinen Allerwertesten mit der Rückseite ihrer Haarbürste vertrimmt, weil sie dich bestrafen mußte, sagte sie, denn
du hättest Gott und Mama wütend gemacht, und jetzt müßte sie dich züchtigen, damit Gott dich nicht noch härter züchtigt. SHANNON Es war Fred, dem ich das erzählt habe. MAXINE Und ich habe zugehört. Du hast gesagt, daß du den lieben Gott und Mama lieb hättest und damit aufhören würdest, aber es war deine heimliche Freude gewesen, und jetzt hegtest du einen heimlichen Groll gegen Mama und den lieben Gott, weil sie dich gezwungen hatten, die Finger von dir zu lassen. Und dann hast du es Gott heimgezahlt, indem du atheistische Predigten gehalten hast, und deiner Mutter hast du's heimgezahlt, indem du die Finger nicht von kleinen Mädchen lassen kannst. SHANNON Ich habe niemals eine atheistische Predigt gehalten, und das würde und könnte ich auch nie, wenn ich zur Kirche zurückkehre. MAXINE Du wirst nie zur Kirche zurückkehren. Hast du deinem heiligen Dekan auch von der Anklage wegen Vergewaltigung geschrieben? SHANNON schiebt seinen Stuhl so vehement zurück, daß er umfällt Laß mich in Ruhe! Seit ich hier angekommen bin, hast du mich noch keinen Augenblick in Ruhe gelassen! Würdest du mich bitte in Ruhe lassen! Laß ab von mir, Weib! MAXINE lächelt gelassen über seine Wut Ach, Honey... SHANNON Was soll das heißen, ach Honey? Was willst du von mir, Maxine? MAXINE Nur mal das tun. Geht ihm mit den Fingern durch die Haare SHANNON schiebt ihre Hand weg Oh, Gott!! Ihm fehlen die Worte. Er schüttelt mit einem kleinen, hilflosen Lachen den Kopf und geht die Verandastufen hinunter. MAXINE Weißt du, was der Chinese in der Küche sagt? »Nicht schwitzen.« ... »Nicht schwitzen.« Er sagt, das ist seine ganze Philosophie. Die ganze chinesische Philosophie in drei Worten. »Mei yoo guanchi.« »Nicht schwitzen« auf chinesisch... Bei deinem Ruf und einer Verge-
waltigungsklage in Texas im Nacken - wie willst du da zur Kirche zurückkehren? Außer vielleicht zu den heiligen Schlangenbeschwörern mit ein paar lebenslustigen Schlangen und einem Heuhaufen auf dem Kirchenboden. .. SHANNON Ich fahre mit unserem Bus in die Stadt, damit der Brief heute noch im Kasten ist. Geht auf den Weg zu, hört von unten Geräusche, teilt die Büsche und späht den Hügel hinunter MAXINE geht die Verandastufen hinunter Paß auf dein Gespenst auf, es ist da draußen irgendwo. SHANNON Meine Damen haben irgend etwas vor. Sie stehen alle da unten auf der Straße um den Bus rum. MAXINE Die laufen dir weg, Shannon. Sie stellt sich neben ihn, er zieht sich zurück, und sie sieht nach unten. In Zimmer Nummer Drei erhebt Hannah sich, nimmt ihr Kabukigewand von einem Haken und zieht es an, wie ein Schauspieler sein Kostüm. Da ist ein kleiner fetter Mann bei ihnen, der sieht aus wie Jake Latta. Ja - es ist Jake - das ist Latta. Wahrscheinlich hat ›Blake Tours‹ ihn geschickt, daß er deine Gruppe übernimmt, Shannon. Shannon blickt über den Dschungel und zündet sich mit flatternden Händen eine Zigarette an. Laß i h n doch! Nicht schwitzen! Er kommt rauf. Soll ich das für dich erledigen? SHANNON Das mache ich schon selbst. Halte du dich da bitte raus. Er spricht mit verzweifelter Fassung. Hannah steht während der folgenden Szene regungslos dicht hinter dem Vorhang ihres Zimmers, wie eine gemalte Figur. Jake Latta kommt, keuchend und freundlich strahlend, die Verandastufen herauf. LATTA 'n Abend, Larry. SHANNON Hallo, Jake. Steckt den Brief in einen Umschlag Mrs. Faulk, Baby, per Luftpost bitte. MAXINE Besser, du schreibst erst die Adresse drauf.
SHANNON Oh!
Er lacht, nimmt den Brief und sucht mit unkontrollierbar zitternden Händen seine Taschen nach einem Notizbuch ab. Latía zwinkert Maxine zu, sie lächelt milde. LATTA Wie geht's unserem Jungen denn so, Maxine? MAXINE Es würde ihm besser gehen, wenn ich ihn überreden könnte, was zu trinken. LATTA Du kannst ihn nicht dazu bringen, was zu trinken? MAXINE Nee - nicht mal 'n Kokos-Rum. Geht zu ihrem Büro LATTA Laß uns 'n Kokos-Rum trinken, Larry. SHANNON Trink nur, Jake. Ich muß mich um meine Damen kümmern. Und ich habe entdeckt, daß es in diesem Gewerbe Situationen gibt, in denen man sich besser seinen kühlen, klaren Kopf bewahrt. Findest du nicht? Ist dir das noch nicht aufgegangen? Was machst du überhaupt hier? Bist du auch mit einer Gruppe unterwegs? LATTA Ich bin hier, um deine Gruppe zu übernehmen, Larry. SHANNON Interessant! Und wer hat dich dazu bevollmächtigt? LATTA ›Blake Tours‹ hat mir nach Cuernavaca telegrafiert, daß ich deine Gruppe hier abholen und mit meiner zusammenbringen soll, weil du ein bißchen mit den Nerven runter bist... SHANNON Zeig mir doch mal das Telegramm, ja? LATTA Der Fahrer sagt, du hast den Wagenschlüssel. SHANNON Stimmt. Ich habe den Wagenschlüssel und eine Reisegruppe, und weder der Bus noch die Gruppe werden sich von hier fortbewegen, ehe ich es sage. LATTA Larry, du bist krank. Junge. Mach keinen Ärger. SHANNON Aus welchem Gefängnis haben sie dich denn rausgeholt, du fette Null? LATTA Gib mir den Wagenschlüssel, Larry. SHANNON Wo haben sie dich ausgegraben? Du hast doch keine Gruppe in Cuernavaca. Du hast schon seit '37 keine Gruppe mehr begleitet.
LATTA Gib mir einfach den Schlüssel, Larry. SHANNON Von wegen ... Weißt du, was du mich kannst... ? LATTA Welches Zimmer hat der Reverend? SHANNON Der Wagenschlüssel ist hier, in meiner Tasche.
Klopft auf seine Hosentasche Da drin, in der Hosentasche. Und wenn du ihn haben willst, mußt du ihn dir schon selber holen, du Fettsack, du! LATTA Was für eine Ausdrucksweise für einen Reverend, Mrs. Faulk... SHANNON hält den Schlüssel hoch Siehst du?! Steckt ihn wieder ein Jetzt mach, daß du wieder dahin kommst, wo du rausgekrochen bist. Die Damen meiner Gruppe bleiben noch drei Tage hier, weil einige nicht in der Verfassung sind weiterzureisen - und ich - ich auch nicht. LATTA Sie steigen gerade in den Bus. SHANNON Und wie wollt ihr ihn starten? LATTA Larry, zwing mich nicht, den Fahrer zu holen, damit der dich festhält, bis ich dir den Schlüssel abgenommen habe. Du willst das Telegramm sehen? Da. Zieht es hervor Lies es. SHANNON Das hast du dir selbst geschickt. LATTA Aus Houston? SHANNON Dann hast du es dir aus Houston schicken lassen. Was ist das für ein Beweis? ›Blake Tours‹ waren nichts nichts ! - bis sie mich bekamen. Meinst du, die ließen mich einfach gehen? - Haha! Dich hat's erwischt, Latta. Deine ganzen Huren und der Tequila sind dir aufs Hirn geschlagen, Latta. LATTA ruft den Hügel hinunter Hank! Hank! SHANNON Weißt du nicht, was ich ›Blake Tours‹ bedeute? Hast du die Prospekte nicht gelesen, in denen sie erwähnen - in denen sie sich damit brüsten! - daß speziell ausgewählte Gruppen von Reverend T. Lawrence Shannon, Doktor der Theologie, bedeutender Weltreisender, Dozent, Sohn eines Pfarrers, Enkel eines Bischofs und direkter Nachfahre zweier Kolonial-Gouverneure, persönlich begleitet werden?
Miss Fellowes erscheint an den Verandastufen. Miss Fellowes hat den Prospekt gelesen -ja, sie hat ihn sogar auswendig gelernt. Sie weiß, was über mich drinsteht. MISS FELLOWES zu Latta Haben Sie den Wagenschlüssel? LATTA Der Fahrer muß ihn ihm abnehmen, Miss. Zündet sich mit zittrigen, schmutzigen Händen eine Zigarette an SHANNON Ha-ha-ha-ha-ha! Sein Gelächter wirft ihn gegen die Verandawand. LATTA Er ist... Zeigt einen Vogel SHANNON Also, diese Damen - hatten... einige von ihnen jedenfalls, die meisten, wenn nicht überhaupt alle... zum ersten Mal in ihrem Leben, mit einem Gentleman - nach Herkunft und Bildung - echtem Gentleman - zu tun -, dem sie sonst unter keinen Umständen je begegnet wären. .. Ganz von der Gelegenheit abgesehen, ihn zu beleidigen und anzuklagen und zum... MISS FELLOWES Shannon! Alle sitzen im Bus und warten nur darauf abzufahren, rücken Sie also den Schlüssel raus! Auf der Stelle! Hank, der Fahrer, erscheint, vor sich hin pfeifend, auf dem Weg, er bleibt zunächst unbemerkt. SHANNON Hätte ich nur den Gruppen gegenüber, die ich begleite, kein so ausgeprägtes Verantwortungsgefühl ich würde Ihre Gruppe, die ich sowieso nicht leiden kann, nur zu gerne diesem Schwachkopf hier überlassen, diesem - Jake Latta - Nachfahre der Kanalratten-Lattas! Jawohl, ich würde - ich würde den Schlüssel hier in meiner Tasche diesem Latta sofort aushändigen, wenn ich verantwortungslos genug wäre - aber nein - nein, das bin ich den Gruppen, die ich begleite, gegenüber - nie - egal, wie sie mich behandeln. Ich fühle mich verantwortlich, bis ich sie dort wieder abgeliefert habe, wo ich sie aufnahm. Hank kommt auf die Veranda. Hei, Hank. Freund oder Feind? HANK Ich brauch jetzt den Schlüssel, damit wir abfahren können.
SHANNON Feind also! Aha! Du enttäuschst mich, Hank. Ich
habe dich immer für einen Freund gehalten. Hank packt Shannons Arme, und Latta zieht ihm den Schlüssel aus der Tasche. Hannah bedeckt ihre Augen mit der Hand. Hank geht über den Weg ab. Okay, okay, jetzt habt ihr den Schlüssel. Mit Gewalt. Ich fühle mich jetzt aller Verantwortung ledig. Nehmt den Bus mitsamt den Damen und haut ab. He, Jake, wußtest du, daß es in Texas Lesbierinnen gibt? Die alten Lesben umschwirren kleine Mädchen wie die Wespen den Honig! Er nickt heftig in Miss Fellowes' Richtung, diese springt vor und ohrfeigt ihn. Danke, Miss Fellowes. Latta, einen Moment noch. Ich will hier nicht hängenbleiben. Ich hatte außerplanmäßige Unkosten auf dieser Reise. Im Moment hab ich nicht mal das Fahrgeld, um nach Mexiko City zu kommen, geschweige denn nach Houston. Falls deine Behauptung auch nur annähernd stimmt, daß ›Blake Tours‹ dir meine Gruppe anvertraut hat, dann müssen sie dir... Zieht fast keuchend die Luft ein dann haben sie dir mit Sicherheit... etwas... eine Art... Abfindung für mich gegeben. Ganz sicher. Oder wenigstens genug für die Rückfahrt in die Staaten. LATTA Ich habe kein Geld für dich. SHANNON Ich zweifle nur ungern an deinem Wort, aber... LATTA Wir nehmen dich nach Mexiko City mit. Du kannst neben dem Fahrer sitzen. SHANNON D u würdest das tun, Latta, ich aber fände es demütigend. Gib mir meine Abfindung. LATTA ›Blake Tours‹ muß den Damen die Hälfte vom Pauschalpreis erstatten - das ist deine Abfindung. Außerdem hat mir Miss Fellowes erzählt, daß du bei dem jungen von dir verführten - Mädchen ganz schön abkassiert hast. SHANNON Miss Fellowes! Haben Sie tatsächlich behauptet, daß ich... MISS FELLOWES Als Charlotte in besagter Nacht zurückkam, hatte sie zwei Travellerschecks eingelöst.
SHANNON
Nachdem ich mein ganzes Bargeld ausgegeben
hatte. MISS FELLOWES Und wofür? Für die Huren in den drecki-
gen Absteigen, durch die Sie das Kind geschleift haben? Miss Charlotte hat zwei Zehn-Dollar-Schecks eingelöst, weil ich alles Bargeld ausgegeben hatte. Und ich hatte es nie weder nötig - noch das Verlangen - mich mit Huren abzugeben. MISS FELLOWES Sie haben sie in die finstersten Höhlen... SHANNON Ich habe ihr nur gezeigt, was sie sehen wollte. Fragen Sie sie doch! Ich habe ihr San Juan de Letran gezeigt und Tenampa und einiges andere, was nicht im Prospekt von ›Blake Tours‹ steht. Ich habe ihr mehr gezeigt als die schwimmenden Gärten von Xochimilco, Maximilians Schloß und die kleine Heimwehkapelle der verrückten Kaiserin Carlotta. Mehr gezeigt als die Basilika der Heiligen Jungfrau von Guadalupe, das Juarez-Denkmal, die Relikte der Azteken, das Schwert von Cortez oder den Kopfputz des Montezuma. Ich habe ihr gezeigt, was sie sehen w o l l t e . Wo ist sie? Wo ist Miss... ach, unten bei den anderen. Beugt sich über das Geländer und ruft hinunter Charlotte! Charlotte! MISS FELLOWES packt ihn am Arm und zieht ihn zurück Wagen Sie nicht...! SHANNON Was nicht wagen? MISS FELLOWES Sie zu rufen, mit ihr zu sprechen, ihr nahezukommen, Sie, Sie... Abschaum! Maxine erscheint mit der feierlichen Plötzlichkeit eines Kuckucks, der aus einer Uhr hervorspringt, um die Stunde zu schlagen, an der Verandaecke. Sie steht, unangemessen grinsend und ohne mit den großen, wie auf ihr rundes, strahlendes Gesicht aufgemalt wirkenden Augen zu blinzeln, einfach nur da. Hannah hält einen goldlackierten Fächer aufgeschlagen, aber bewegungslos in der einen Hand, während die andere das Netz vor ihrer Tür berührt, als müsse sie ihren Impuls zügeln, Shannon zur Hilfe zu eilen. Ihre Haltung hat etwas von den Posen der Kabuki-Tänzer. SHANNON
SHANNON wieder höflich Schon gut, schon gut. Ich wollte sie
nur bitten, mir zu bestätigen, daß ich sie an jenem Abend auf ihren Wunsch ausgeführt habe - nicht, weil ich es... vorschlug. Ich habe ihr meine Dienste erst angetragen, nachdem sie ihren Wunsch geäußert hatte, mehr als das aus dem Prospekt sehen zu wollen - etwas, das normalen Touristen verborgen bleibt, wie etwa... MISS FELLOWES Ihr Hotelzimmer? Hinterher? Das auch? Sie kam mit Flohstichen zurück! SHANNON Also bitte, übertreiben Sie nicht. Kein Mensch hat je von Shannon Flöhe gefangen. MISS FELLOWES Ihre Kleider mußten desinfiziert werden! SHANNON Ihr Ärger ist verständlich, aber wenn Sie behaupten, Charlotte habe sich bei mir Flöhe geholt, gehen Sie zu weit. Ich leugne nicht... MISS FELLOWES Warten Sie, bis die meinen Bericht haben! SHANNON Ich leugne nicht, daß man sich bei der Besichtigung der anderen Seite einer Großstadt abseits der Boulevards, außerhalb der Nachtklubs, sogar weit weg von den Wandbildern Diego Riveras - Flohstiche holen kann, aber... MISS FELLOWES Ach - halten Sie Ihre Predigten doch auf einer Kanzel, Sie ausgestoßener Priester! SHANNON ominös Das haben Sie einmal zu oft gesagt! Packt ihren Arm Und diesmal vor Zeugen. Miss Jelkes? Miss Jelkes! HANNAH öffnet das Netz Ja, Mr. Shannon. Was gibt's? SHANNON Haben Sie gehört, was diese ... MISS FELLOWES Shannon! Lassen Sie sofort meinen Arm los! SHANNON Miss Jelkes, sagen Sie mir nur, ob Sie gehört haben, was diese... Die Stimme versagt ihm mit einem unterdrückten Schluchzlaut. Er läuft zur Wand und hämmert mit den Fäusten dagegen. MISS FELLOWES Ich habe den ganzen Nachmittag und über zwanzig Dollar für Ferngespräche geopfert, nur um diesem Hochstapler auf die Schliche zu kommen.
HANNAH Er ist kein Hochstapler. So etwas dürfen Sie nicht
sagen. MISS FELLOWES Man hat Sie aus Ihrer Kirche ausgesperrt!
Wegen Atheismus und Verführung Minderjähriger! SHANNON wendet sich um Vor Gott und Zeugen: Sie lügen,
lügen! LATTA Miss Fellowes, ich muß Ihnen sagen, daß ›Blake
Tours‹ über den moralischen Hintergrund dieses - Menschen - getäuscht wurde und dafür sorgen wird, daß er auf die schwarze Liste sämtlicher Reiseagenturen der Staaten gesetzt wird. SHANNON Und wie steht's mit Afrika, Asien, Australien? Die ganze Welt, Latta, Gottes weite Welt umfaßte meine Reisen. Ich habe mich nie an die Pläne in den Prospekten geklammert, sondern denen, die sehen wollten - die Augen hatten zu sehen! - überall auch die Abgründe gezeigt; und hatten sie Herzen, die sich rühren ließen, Gefühle, um mitzufühlen - dann gab ich ihnen die unschätzbare Möglichkeit, gerührt zu sein und Mitgefühl zu empfinden. Und niemand wird das je vergessen, niemand - von ihnen - jemals. Die Leidenschaft seiner Rede erzwingt einen Augenblick der Stille. LATTA Geh, leg dich in deine Hängematte, zu was anderem taugst du nicht mehr. Shannon. Geht zum Weg, ruft hinunter Okay, es geht los. Pack das Gepäck aufs DachHank, wir fahren. Er macht sich mit Miss Fellowes auf den Weg nach unten. NONNO in seinem Zimmer So ruhig der Orangenbaum, Sieht Himmel bleichen wie im Traum... Shannon holt mit einem plötzlichen, wütenden Ton Luft, läuft auf dem Weg zur Straße davon. Hannah macht eine Geste, die ihn aufhalten soll. Maxine kommt nach vorne. Dann schallt ein heftiger Aufruhr, wütendes Kreischen und grelles Gelächter nach oben.
MAXINE läuft auf den Weg Shannon! Shannon! Komm zu-
rück! Komm her! Pedro, Pancho, traerme a Shannon. Que está haciendo allí? Oh, Gott! Haltet ihn um Himmels willen zurück, er soll aufhören! Shannon kommt schwer atmend und erschöpft zurück. Maxine folgt ihm. Geh in dein Zimmer, Shannon, und bleib drin, bis die Gruppe weg ist. SHANNON Keine Befehle, Maxine! MAXINE Du tust, was ich dir sage, oder ich muß dich fortbringen lassen - und du weißt, wohin. SHANNON Stoß mich nicht und zerr nicht an mir, Maxine! MAXINE Meinetwegen, aber tu, was ich dir sage. SHANNON Shannon gehorcht nur Shannon. MAXINE Du wirst ganz anders reden, wenn man dich wieder dahin steckt, wo du '36 gelandet bist. Erinnerst du dich an 1936? SHANNON Okay, Maxine. Aber... laß mich allein zu Atem kommen - bitte. Ich verschwinde nicht - aber - ich möchte in der Hängematte liegen. MAXINE Geh in Freds Zimmer, wo ich dich im Auge haben kann. SHANNON Später, Maxine. Nicht jetzt gleich. MAXINE Warum kommst du immer hier rauf, wenn du am Zusammenbrechen bist? SHANNON Wegen der Hängematte, Maxine. Wegen der Hängematte am Rande des Regenwalds. MAXINE Du gehst jetzt in dein Zimmer, Shannon, und da bleibst du, bis ich wieder da bin. Ach du lieber Gott - das Geld! Die haben die verdammte Rechnung nicht bezahlt. Ich muß wieder runter und kassieren, ehe die sich aus dem Staub machen... Pancho, vijilalo endendes? Läuft den Hügel hinab, ruft He!! Moment mal, ihr da unten! SHANNON Was hab ich eigentlich getan? Schüttelt verwundert den Kopf Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe. Hannah öffnet das Netz vor ihrem Zimmer, kommt aber nicht heraus. Sie ist sanft angeleuchtet, so daß sie wieder
wie eine mittelalterliche Heiligenfigur aussieht. In ihrem offenen, blaßgoldenen Haar fängt sich das Licht. Sie hat noch die silberne Bürste, mit der sie es gebürstet hat, in der Hand. Allmächtiger Gott, ich. .. Was habe ich nur getan? Ich weiß nicht, was ich getan hab. Zu den mexikanischen Jungen, die über den Weg zurückkommen Que hice? Que hice? Die Jungen krümmen sich atemlos vor Lachen, während ihm Pancho antwortet, daß er auf die Koffer der Damen gepinkelt hat. PANCHO Tú measte en las maletas de las señoras! Shannon versucht, mit den Jungen zu lachen, doch es erstirbt ihm auf den Lippen. Von unten hört man Maxines erhobene Stimme im Streit mit Latía. Miss Fellowes Stimme fällt ein, und dann ist ein allgemeines Durcheinander, das durch das Aufheulen des Busmotors übertönt wird. SHANNON Da entschwinden meine Damen, ha ha! Da entschwinden meine... Er wendet sich um und begegnet Hannahs ernstem, mitfühlendem Blick. Er versucht, wieder zu lachen. Sie schüttelt mit leicht abwehrender Geste den Kopf und läßt das Netz zufallen, so daß ihre sanft beleuchtete Figur nur noch wie durch einen Nebel zu sehen ist. Damen - die letzten meiner - ha, ha! - Damen. Er beugt sich weit über das Verandageländer, dann richtet er sich wütend auf und versucht mit einem tierischen Aufschrei, das Goldkreuz an seinem Hals abzureißen. Pancho beobachtet teilnahmslos, wie die Kette in Shannons Hals einschneidet. Hannah eilt herbei. HANNAH Hören Sie auf, Mr. Shannon! Sie schneiden sich doch! Das ist überflüssig, lassen Sie das. Zu Pancho Agárrale las manos! Pancho macht einen halbherzigen Versuch, Shannons Hände zu packen, aber der tritt um sich und fährt mit seiner wütenden Selbstquälerei fort.
Shannon, lassen Sie mich das machen, lassen Sie es mich abnehmen. Darf ich es I h n e n abnehmen? Er senkt die Arme, sie kämpft mit dem Kettenverschluß, aber ihre Hunde sind zu zittrig, um ihn aufzubekommen. SHANNON Nein, nein, das geht so nicht - ich muß es mir abreißen. HANNAH Nein, nein, warten Sie doch - so, ich hab die Kette auf. Nimmt sie SHANNON Danke. Behalten Sie das Kreuz. Wiedersehen! Will z u m Weg zum Strand HANNAH Wo gehen Sie hin? Was haben Sie vor? SHANNON Schwimmen gehen. Ich geh schwimmen - nach China. HANNAH Nein, nein, nicht heute nacht. Morgen, Shannon. .. morgen. Aber er teilt die Büsche mit den Trompetenblüten und geht hindurch. Hannah läuft ihm nach. Ruft Mrs. Faulk! Mrs. Faulk! MAXINE off. Ruft Muchachos, cojerlo! Atarlo! Está loco. Traerlo acqui. Schnappt ihn. er dreht durch. Bringt i h n zurück und bindet i h n fest! Binnen kurzem wird Shannon von Maxine und den Jungen durch die Büsche auf die Veranda gezerrt. Sie binden ihn in der Hängematte fest. Sein Dagegenankämpfen ist wahrscheinlich nicht echt, sondern reine Effekthascherei. Doch Hannah steht händeringend neben den Verandastufen, während Shannon, nach Luft japsend, angebunden wird. HANNAH Das Seil ist zu eng, es schneidet ihm die Luft ab. MAXINE Keine Spur. Alles Theater. Er hat das gern. Ich kenne diesen schwarzen irischen Bastard besser als er sich selbst. Halten Sie sich lieber da raus. Honey. Er kriegt seine Zusammenbrüche so regelmäßig, daß man einen Kalender danach einrichten könnte. Alle achtzehn Monate, und zweimal davon h i e r oben, und ich durfte die Arztrechnung zahlen. Ich ruf den Arzt in der Stadt jetzt an, daß er kommen soll und ihm eine Beruhigungsspritze
verpaßt. Und wenn's ihm morgen nicht besser geht, dann landet er wieder in der Casa de Locos, wie voriges Mal, als er so einen Tanz veranstaltet hat. Maxine geht mit den Jungen ab. Ein Moment Stille SHANNON Miss Jelkes ? HANNAH Ja? SHANNON Wo sind Sie? HANNAH Hier. Dicht hinter Ihnen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? SHANNON Setzen Sie sich so, daß ich Sie sehen kann. Und sprechen Sie weiter. Ich muß diese Panik loswerden. Es entsteht eine Pause. Sie stellt einen Stuhl neben die Hängematte. Die Deutschen kehren vom Strand zurück. Sie sind von dem Schauspiel, das Shannon ihnen geboten hat, noch ganz entzückt. Sie marschieren in ihrer spärlichen Badekleidung auf die Veranda und umringen den gefangenen Shannon wie ein seltenes Tier im Zoo. Ihre schweren, stattlichen Körper glänzen vor öliger Nässe, und sie kichern über Schlüpfrigkeiten, die sie sich zutuscheln. HANNAH Bitte! Würden Sie die Freundlichkeit haben, ihn in Ruhe zu lassen. Sie tun, als hätten sie nichts gehört. FRAU FAHRENKOPF beugt sich über ihn Haben Sie wirklich auf die Koffer all der Damen aus Texas Pipi gemacht? Hm? Hm? Sind Sie zum Bus runtergelaufen und haben vor all den Damen aus Texas die Koffer vollgepinkelt? Hannahs indignierter Protest geht im Rabelaisschen Gelächter der Deutschen unter. HERR FAHRENKOPF Das ist zu schön, zu schön! Eine heldenhafte Geste! So haben Sie den Damen doch aufs allerfeinste demonstriert, was ein amerikanischer G e n t l e m a n ist! Was? Flüstert den anderen eine zotige Bemerkung zu, woraufhin die beiden Frauen vor Lachen kreischen, und Hilda hintenüber Wolf gang in die Arme fällt, der sie mit den Händen über ihren halbnackten Brüsten auffängt.
HANNAH ruft Mrs. Faulk! Mrs. Faulk!
Sie läuft zur Verandaecke, an der Maxine erscheint. Bitte sorgen Sie doch dafür, daß diese Leute ihn in Ruhe lassen. Sie quälen ihn wie ein Tier in der Falle. Aber die Deutschen marschieren bereits lachend und hüpfend um die Verandabiegung. Maxine folgt ihnen. SHANNON plötzlich großer Ausbruch Rückzug zum Infantilismus, haha, Regression zum Infantilismus... infantiler Protest, ha, ha, ha, infantile Äußerungen der Wut auf Mama, der Wut auf den lieben Gott, und der Wut auf das gottverdammte Kinderbett - und der Wut auf alles und jedes... Wut - Wut - Wut... Rückzug in den Infantilismus ... Es sind nur noch Hannah und Shannon auf der Bühne. Binden Sie mich los. HANNAH Noch nicht. SHANNON Ich halte es nicht aus, festgebunden zu sein. HANNAH Sie werden es noch ein bißchen aushalten müssen. SHANNON Ich kriege Beklemmungen. HANNAH Ich Weiß. SHANNON Das kann tödlich sein. HANNAH Nicht, wenn man es so sehr genießt wie Sie. Sie geht in ihr Zimmer. Man sieht, wie sie einen kleinen Teekessel und eine Teebüchse aus ihrem Koffer auf dem schmalen Bett nimmt, dann einen kleinen Spirituskocher. Sie trägt alles heraus. SHANNON Was wollten Sie mit Ihrer beleidigenden Bemerkung sage n? HANNAH Welcher Bemerkung? SHANNON Daß ich es genieße. HANNAH Ach... das. SHANNON Ja. Das. HANNAH Das sollte keine Beleidigung sein - es war nur eine Feststellung. Ich urteile nicht über Menschen - ich zeichne sie. Mehr nicht - nur zeichnen. Aber um sie zeichnen zu können, muß ich die Menschen auch beobachten, nicht wahr?
SHANNON Und Sie wollen beobachtet haben, daß ich es ge-
nieße, verschnürt und festgebunden in dieser Hängematte zu liegen, wie eine Sau, die zum Metzger geschafft werden soll, Miss Jelkes? HANNAH Wer würde nicht gern für seine Sünden - und die Sünden der Welt - leiden und büßen, wenn es sich in einer Hängematte machen ließe - mit ein paar Stricken statt der Nägel und auf einem Hügel, der so viel hübscher ist als Golgatha, die Schädelstätte, Mr. Shannon? Wie Sie sich da stöhnend in Ihrer Hängematte wälzen - das hat durchaus etwas Wollüstiges. Keine Nägel, kein Blut, kein Tod. Ist das nicht eine vergleichsweise bequeme, fast genüßliche Form von Kreuzigung, die man so für die Schuld der Welt erleidet, Mr. Shannon? Sie entzündet den Kocher mit einem Streichholz.. Eine blaue Stichflamme lodert auf und wirft einen flackernden, leise unheimlichen Schein auf ihren Teil der Veranda. Der Schein wird von den zarten, ausgebleichten Farben ihres Kabuki-Gewandes, dem Geschenk eines Schauspielers, der ihr in Japan Modell gesessen hat, sanft reflektiert. SHANNON Warum sind Sie plötzlich gegen mich, wo ich Sie am nötigsten brauche? HANNAH Ich bin überhaupt nicht gegen Sie, Mr. Shannon, ich versuche nur, Ihnen ein Porträt von sich zu entwerfen - mit Worten statt mit Kohle oder Pastell. SHANNON Auf einmal verfügen Sie über ein paar altjüngferliche New England-Standpunkte, von denen ich Sie ganz frei glaubte. Ich hatte Sie für eine e m a n z i p i e r t e Puritanerin gehalten, Miss Jelkes. HANNAH Wer ist schon - vollkommen... SHANNON Ich hielt Sie für geschlechtslos - aber plötzlich haben Sie sich in ein Weibchen verwandelt. Wissen Sie, woher ich das weiß? Weil es Ihnen gefällt - nicht mir, mir nicht! - mich so festgebunden zu sehen. Alle Frauen wollen, bewußt oder unbewußt, Männer in Fesseln legen. Sie arbeiten ihr Leben lang daraufhin, einen Mann in eine ausweglose Lage zu manövrieren - und wenn sie das mit
einem - oder möglichst vielen Männern geschafft haben, dann sind sie endlich befriedigt - dann ist ihr Leben erfüllt. Hannah entfernt sich von Kocher und Teekessel und geht ans Geländer, wo sie eine der Verandastützen ergreift und ein paarmal tief Luft holt. Es gefällt Ihnen nicht, was ich da an Ihnen beobachtet habe, was? Ist der Schuh zu eng, um bequem zu sein, wenn er I h n e n angezogen wird, Miss Jelkes? Ja, holen Sie noch ein paarmal tief Luft - kriegen Sie Panik? HANNAH erholt sich und geht zum Kocher zurück Ich würde Sie gerne sofort losbinden, aber lassen Sie mich damit warten, bis Sie wieder ganz zur Ruhe gekommen sind. Sie schwelgen noch viel zu sehr in Ihrer Rolle in dem... dem Passionsspiel. Ich kann nichts dafür, daß ich diesen Hang zur Selbstbefriedigung an Ihnen beobachtet habe. SHANNON Welche Selbstbefriedigung, verdammt? HANNAH Na, Ihre Damengruppe vom Mädchencollege in Texas. Mir haben die auch nicht besser gefallen als Ihnen, aber immerhin haben sie ein ganzes Jahr für diese Mexiko-Reise gespart und dafür, in langweiligen Hotels zu übernachten und zu essen, woran sie gewöhnt sind. Sie wollten sich - weit weg von zu Hause - wie zu Hause fühlen ... aber Sie . . . Sie wollten es genießen, Mr. Shannon. Sie haben die Reise so geleitet, als fände sie nur zu Ihrem Vergnügen statt. SHANNON Was soll das für ein Vergnügen sein, zum Teufel wenn einem die ganze Zeit zur Hölle gemacht wird? HANNAH Die durch die kleinen Tröstungen eines musikalischen Wunderkindes unter den Fittichen ihrer Gesanglehrerin erträglicher wurde, nicht wahr? SHANNON Sehr komisch, haha, wirklich komisch! Alte Jungfern aus Nantucket haben offenbar ihren eigenen, schrägen Humor. HANNAH Den haben sie. Den brauchen sie auch. SHANNON zunehmend ruhiger durch den Einfluß ihrer kühlen Stimme Ich kann gar nicht sehen, was Sie dahinten
machen. Miss Jelkes, Baby. Aber ich möchte beinah wetten, daß Sie Tee kochen. HANNAH Stimmt genau. SHANNON Finden Sie, daß es die richtige Zeit für eine TeeParty ist? HANNAH Es ist kein gewöhnlicher Tee - es ist Tee aus Mohnsamen. SHANNON Sind Sie mohnabhängig? HANNAH Es ist ein mildes, beruhigendes Getränk, das einem hilft, unerträgliche Nächte zu ertragen. Ich mache den Tee für meinen Großvater und mich und auch für Sie, Mr. Shannon, denn es wird für uns alle drei keine leichte Nacht werden. Hören Sie nicht, wie er in seiner Zelle die Zeilen seines neuen Gedichtes immer wieder und wieder vor sich hin sagt? Es ist, als ob ein Blinder eine Treppe hinaufsteigt, die ins Nichts führt - einfach im All verschwindet, und ich kann nicht aussprechen, was ich glaube... Sie atmet schwer. SHANNON Tun Sie heut nacht ein wenig Schierling in seinen Mohnsamentee, damit er morgen, zum Umzug in die Casa de Huéspedes, gar nicht mehr aufwacht. Vollziehen Sie den Gnadenakt. Tun Sie Schierling in seinen Becher, und ich werde ihn segnen und in Gottes Blut wandeln. Ja, wenn Sie mich aus dieser Hängematte befreien, serviere ich ihm den Kelch sogar selbst, zum Teufel - als Komplize dieses Gnadenaktes. Ich werde sagen: »Nimm und trinke dies, das Blut unseres -« HANNAH Hören Sie auf! Hören Sie auf mit diesen kindischen Grausamkeiten! Ich ertrage es nicht, daß sich ein Mensch, den ich achte, aufführt wie ein grausamer kleiner Junge, Mr. Shannon. SHANNON Sie finden etwas an mir, das Sie achten, Miss... Dünner-aufrechter-Buddha? HANNAH Ja, ich achte einen Menschen, der um seinen Anstand geheult und gekämpft hat und sich... SHANNON A n s t a n d ? HANNAH Um seinen Anstand und sein bißchen Güte - ich
achte ihn viel mehr als die Glücklichen, denen man ihre Portion einfach bei der Geburt zugeteilt und sie ihnen später nie mehr durch ... unerträgliche... Qualen... entrissen hat. Ich. . . SHANNON Sie a c h t e n mich? HANNAH Ja. SHANNON Sie haben doch gerade erst gesagt, daß ich eine... wollüstige Kreuzigung ohne Nägel genieße. Die ... was? ... schmerzlose Sühne für die... HANNAH unterbricht Ja, aber ich glaube... SHANNON Binden Sie mich los! HANNAH Bald. Sehr bald. Haben Sie Geduld. SHANNON Sofort. HANNAH Nicht sofort, Mr. Shannon. Erst, wenn ich einigermaßen sicher sein kann, daß Sie nicht mehr nach China schwimmen wollen. Denn, wissen Sie, ich glaube, daß Sie bei ihrem Wunsch... bis nach China zu schwimmen, auch an eine schmerzlose Sühne denken und dabei ganz die Haie und Barrakudas vergessen, die Sie schnappen würden, ehe Sie noch das Barrier-Riff hinter sich hätten. Aber ich fürchte, daß genau das geschähe. So simpel ist das - falls es simpel ist. SHANNON Was ist simpel? HANNAH Gar nichts, Mr. Shannon. Außer für Simpel. SHANNON Sind Sie dafür, daß man Menschen anbindet? HANNAH Nur wenn sie vorhaben, nach China zu schwimmen. SHANNON Na gut. Miss Dünner-aufrechter-weiblicherBuddha, dann zünden Sie mir eine Benson & Hedges an und stecken Sie sie mir in den Mund - und nehmen Sie sie wieder raus, wenn Sie hören, daß ich daran ersticke - sofern Sie das dann nicht für eine wollüstige Selbstkreuzigung halten. HANNAH sieht sich um Gerne - aber wo habe ich sie gelassen? SHANNON Ich habe noch welche in der Tasche. HANNAH In welcher?
Keine Ahnung. Sie werden mich schon durchsuchen müssen. HANNAH klopft auf seine Jackentasche Da sind sie nicht. SHANNON Dann sehen Sie in den Hosentaschen nach. Sie zögert, die Hand in seine Hosentasche zu stecken, wie sie überhaupt eine gewisse Abneigung vor jedem physischen Kontakt hat. Nach einem Moment überwindet sie sich aber, steckt ihre Hand in seine Hosentasche und zieht die Zigarettenschachtel hervor. Jetzt zünden Sie sie an und stecken sie mir in den Mund. Sie tut es. Fast sofort hustet er, die Zigarette fällt ihm aus dem Mund. HANNAH Sie haben sie fallenlassen - wo ist sie? SHANNON windet und krümmt sich Unter mir - unter mir sie brennt. Binden Sie mich um Himmels willen los - sie brennt durch die Hose! HANNAH Rutschen Sie ein bißchen, damit ich... SHANNON Ich kann nicht - der Strick ist zu eng. Binden Sie mich los! Binden Sie mich looooos! HANNAH Da ist sie, ich habe sie. Aber Shannons Gebrüll hat Maxine aus ihrem Büro getrieben. Sie läuft auf die Veranda und setzt sich auf Shannons Beine. MAXINE Jetzt hör mal zu, du verrückter, schwarzer, irischer Pfaffe, du! Du protestantischer, schwarzer, irischer Spinner, ich habe Lopez angerufen, Doktor Lopez. Der Mann in dem dreckigen weißen Kittel, der voriges Mal raufgekommen ist, als du deinen Anfall hattest. Er hat dich in die Casa de Locos verfrachtet. Erinnerst du dich? Daß sie dich in eine Zelle geworfen haben, mit nichts drin außer einem Kübel und Stroh und einer Wasserleitung? Daß du die Wasserleitung raufgeklettert bist? Und dich kopfüber runtergestürzt hast, was dir eine Gehirnerschütterung eingetragen hat? Ja, ich habe ihm gesagt, daß du wieder da bist, um hier überzuschnappen, und daß man dich, wenn du dich nicht über Nacht beruhigst, morgen früh abholen soll. SHANNON
SHANNON schnatternd wie eine verängstigte Gans Weg, weg,
weg, weg, weg! HANNAH Oh, Mrs. Faulk, Mr. Shannon kann sich nicht be-
ruhigen, ehe man ihn in seiner Hängematte nicht in Frieden läßt. MAXINE Und warum lassen Sie ihn dann nicht in Frieden? HANNAH Ich setze mich nicht auf ihn drauf, und er... er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. MAXINE Und dieser Jemand sind Sie? HANNAH Ich habe vor langer Zeit Erfahrungen mit einem Menschen in Mr. Shannons Zustand gemacht, daher weiß ich, wie wichtig es ist, ihn eine Weile in Ruhe zu lassen, Mrs. Faulk. MAXINE Der war doch nicht ruhig - gebrüllt hat er. HANNAH Er wird bald zur Ruhe kommen, Mrs. Faulk. Ich mache ihm gerade einen Schlaftee. MAXINE Ja, das sehe ich. Machen Sie das aus. Hier kocht keiner außer dem Chinesen in der Küche. HANNAH Das ist doch nur ein kleiner Spirituskocher, Mrs. Faulk - mehr nicht. MAXINE Ich sehe, was es ist. Weg damit! Bläst die Flamme aus SHANNON Maxine, Baby? Spricht jetzt ruhig Hör auf, die Dame zu schikanieren. Du kannst sie nicht kleinkriegen. Ein Luder ist einer Dame nie gewachsen, Baby, außer vielleicht in einem Himmelbett, und selbst das nicht immer. Man hört die Deutschen im Off. WOLFGANG ruft Einen Kasten Carta Blanca! FRAU FAHRENKOPF Wir haben genug getrunken - lieber nicht. HERR FAHRENKOPF Es ist niemals genug! HILDA Du bist zu dick, Mutter - nicht wir. SHANNON Du vernachlässigst deine Pflichten als Biergarten-Bedienung. Seine Stimme ist trügerisch sanft. Sie wollen einen Kasten Bier mit an den Strand nehmen, gib ihnen also einen... und heut nacht, wenn der Mond un-
tergegangen ist und du mich aus der Hängematte läßt, will ich versuchen, mir dich als... als eine Nymphe im Backfischalter vorzustellen... MAXINE Na, grandios - in dem Zustand, in dem du bist. SHANNON In deinem Alter kann man sich keinen Sex-Snobismus leisten, Baby. MAXINE Hah! Aber das wenig schmeichelhafte Angebot hat ihrer nüchternen, bescheidenen Seele gutgetan, und sie geht zu den Deutschen. SHANNON Dann lassen Sie mich jetzt Ihren Mohnsamentee probieren, Miss Jelkes. HANNAH Leider ist der Zucker alle, aber ich hatte etwas Ingwer, gezuckerten Ingwer. Schenkt eine Tasse ein und nippt Ach, er müßte noch aufkochen, aber versuchen Sie, schon ein bißchen zu trinken. Zündet den Kocher wieder an Die zweite Tasse wird besser schmecken. Sie kauert sich neben die Hängematte und hält ihm die Tasse an die Lippen. Er hebt den Kopf, trinkt und spuckt. SHANNON Alle guten Geister! Bei dem Tee braucht man das Hexengebräu aus Macbeth zum Nachspülen... HANNAH Ja, ich weiß, er ist noch zu bitter. Die Deutschen erscheinen an der Seite und marschieren zu einem Bierfest und Mondscheinbad an den Strand hinunter. Trotz der relativen Dunkelheit leuchten ihre Farben, das fast phosphorisierende Rosa und Gold ihrer Haut. Sie haben einen Kasten Carta Blanca Bier und das phantastisch bemalte Gummipferd bei sich. Sie lächeln euphorisch, während sie wie ein Traumbild davonziehen und ein Marschlied anstimmen. SHANNON Unmenschen aus der Hölle mit - mit - Engelsstimmen. HANNAH Ja. Man nennt das die Logik des Widersprüchlichen, Mr. Shannon. SHANNON zerrt sich plötzlich nach vorn und löst damit die gelockerten Fesseln ganz Raus! Frei! Ohne Hilfe! HANNAH Ja! Ich habe keinen Moment bezweifelt, daß Sie sich alleine befreien können, Mr. Shannon.
SHANNON Trotzdem - danke für die Hilfe. HANNAH Wo gehen Sie hin? SHANNON Nicht weit. Geht zum Getränkewagen Nur hier-
her. Jetzt brauche ich einen Kokos-Rum. HANNAH Oh... SHANNON Kokosnuß? Jawohl. Machete? Ja. Rum? Reich-
lich. Eis? Der Eiskübel ist leer. Auch gut. Die Nacht der warmen Getränke. Möchten Sie jetzt auch Ihren Drink auf Kosten des Hauses, Miss Jelkes? HANNAH Nein danke, Mr. Shannon. SHANNON Sie haben nichts dagegen, daß ich mir einen nehme? HANNAH Ganz und gar nicht, Mr. Shannon. SHANNON Sie mißbilligen diese Schwäche - diese Selbstbefriedigung nicht? HANNAH Ihr Problem ist nicht der Alkohol, Mr. Shannon. SHANNON Sondern, Miss Jelkes? HANNAH Das älteste Problem der Welt - das Bedürfnis, an etwas oder jemand glauben zu können - irgend etwas irgend jemand - wen oder was auch immer. SHANNON Ihre Stimme klingt hoffnungslos. HANNAH Nein. Ich bin nicht hoffnungslos. Tatsächlich habe ich etwas gefunden, an das ich glauben kann. SHANNON Etwas wie ... Gott? HANNAH Nein. SHANNON Was dann? HANNAH Ich glaube an aufgebrochene Barrieren zwischen Menschen, so daß sie einander erreichen können - und sei's auch nur für eine einzige Nacht. SHANNON Eine einzige Nacht, hm? HANNAH Eine Nacht - in der sie einander wahrnehmen auf einer Veranda vor ihren... Einzelzellen, Mr. Shannon. SHANNON Sie meinen das nicht - physisch, nicht wahr? HANNAH Nein. SHANNON Ja, das dachte ich mir. Was dann? HANNAH Ein bißchen Verständnis füreinander... der
Wunsch, sich gegenseitig über Nächte wie diese hinwegzuhelfen. SHANNON Wer war dieser Jemand, von dem Sie der Witwe erzählten, daß Sie ihm vor langer Zeit über einen Zusammenbruch wie meinen hinweggeholfen haben? HANNAH Ach... das. Ich. SHANNON Sie? HANNAH Ja. Ich kann Ihnen helfen, weil ich auch mitgemacht habe, was Sie jetzt durchmachen. Ich hatte auch ein Gespenst - nur hatte ich ihm einen anderen Namen gegeben. Ich nannte es der blaue Teufel, und... ach... wir haben ganz schön miteinander gekämpft - es war wie ein Krieg. SHANNON Den Sie offensichtlich gewonnen haben. HANNAH Ich konnte mir nicht leisten zu verlieren. SHANNON Und wie haben Sie Ihren blauen Teufel besiegt? HANNAH Ich zeigte ihm, daß ich durchhalten konnte, und zwang ihn, das zu respektieren. SHANNON Wie? HANNAH Indem ich, eh... durchhielt. Das ist etwas, das Gespenster und blaue Teufel respektieren. Sie respektieren alle Tricks, die angstvolle Menschen anwenden, um ihre Ängste zu überwinden. SHANNON Mohnsamentee? HANNAH Mohnsamentee oder Kokos-Rum oder ein paar tiefe Atemzüge - was immer wir tun, um ihnen zu entschlüpfen und weiterzukommen. SHANNON Wohin? HANNAH Irgendwohin - vielleicht hierher - nach langen mühsamen Reisen hierher, auf diese Veranda über dem Regenwald und dem Strand? Ich meine nicht einfach Weltreisen an der Oberfläche der Erde entlang. Ich meine... Reisen in die Tiefe... Reisen, die verhexte, von Teufeln besessene Menschen durch die... die finsteren Seiten ihres Wesens unternehmen müssen... SHANNON ironisch Erzählen Sie mir nicht, daß es in Ihrem Wesen finstere Seiten gibt.
Einem Mann mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen muß ich bestimmt nicht sagen, daß jeder seine Schattenseiten hat. Sie sieht zu ihm auf und merkt, daß er abgelenkt ist. Er starrt gespannt auf etwas jenseits der Veranda. Er ist auf eine Art abwesend, wie sie bei Irresein vorkommt: nicht vage, sondern von verbissener Konzentration. Sie dreht sich, um zu sehen, was er anstarrt, dann schließt sie einen Moment die Augen, atmet tief durch und spricht mit ruhiger Stimme weiter, wie ein Hypnotiseur, so, als käme es weniger auf die Worte an als auf den Tonfall und Rhythmus ihrer Stimme, da er nicht zuhört. Im ganzen Solarsystem hat alles eine Schattenseite außer der Sonne selbst - die Sonne ist die einzige Ausnahme. Sie hören nicht zu, nicht wahr? SHANNON als antworte er ihr Das Gespenst ist im Regenwald. Schmeißt plötzlich mit aller Gewalt seine Kokosnußschale von der Veranda, womit er unter den Dschungelvögeln einen Tumult auslöst Guter Schuß - ich hab es direkt in die Fresse getroffen, und seine Zähne sind rausgeflogen wie Popcorn aus der Pfanne. HANNAH Ist es weggegangen - zum Zahnarzt? SHANNON Es hat sich für eine Weile ein Stückchen zurückgezogen, aber wenn ich morgen nach meinem Frühstück klingle, bringt es mir das mit einem Grinsen rein, daß die Milch im Kaffee gerinnt - und stinken wird es, wie ein... ein besoffener Gringo in einem mexikanischen Knast, der die ganze Nacht in seiner Kotze geschlafen hat. HANNAH Sollte ich noch da sein, wenn Sie aufwachen, bringe ich Ihnen Ihren Kaffee... wenn Sie mich rufen. SHANNON wendet ihr seine Aufmerksamkeit wieder zu Nein, Sie werden nicht mehr da sein - helfe mir der Himmel! HANNAH Vielleicht - vielleicht nicht. Womöglich fällt mir bis morgen etwas ein, womit ich die Witwe versöhnen kann. SHANNON Die Witwe ist unversöhnlich, Baby. HANNAH Ich glaube, mir wird irgend etwas einfallen – weil HANNAH
mir nichts anderes übrigbleibt. Ich kann Nonno nicht in die Casa de Huéspedes bringen lassen, Mr. Shannon. Ebenso wenig, wie ich sie nach China schwimmen lassen könnte. Sie wissen das. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Und wenn ich es mit einer List versuchen muß. Ich kann sehr listig sein, Mr. Shannon. SHANNON Wie sind Sie über Ihren Zusammenbruch weggekommen? HANNAH Ich bin nicht zusammengebrochen, das konnte ich mir nicht leisten. Ich war allerdings nahe dran. Ich war einmal jung, Mr. Shannon - aber ich gehörte zu den Menschen, die trotz ihrer Jugend nie wirklich jung sind - und das war einigermaßen verwirrend. Aber ich hatte Glück. Meine Arbeit - meine selbstverordnete Beschäftigungstherapie - das Malen und die Schnellzeichnerei - hat mich zu Distanz gezwungen - aus mir heraus statt in mich hinein - und so begann ich allmählich am anderen Ende des Tunnels, durch den ich mich hindurchkämpfte, ein schwaches, ganz schwaches graues Licht zu sehen - das Licht einer Welt draußen - und ich kroch immer weiter darauf zu. Ich mußte. SHANNON Blieb das Licht grau? HANNAH Nein, nein, es wurde weiß. SHANNON Nur weiß? Nie golden? HANNAH Nein, es blieb weiß. Aber ein weißes Licht am Ende eines Tunnels, von dem man gedacht hatte, er sei endlos und nur Gott oder der Tod könnten einen aus ihm befreien - ist gut sichtbar. Besonders wenn man... da ich... durchaus nicht von Gott überzeugt war. SHANNON Sie sind es noch immer nicht? HANNAH Immerhin - überzeugter als damals. Sehen Sie, in meinem Beruf muß ich mir die Gesichter sehr genau ansehen, um das Wesentliche herauszufinden, ehe sie unruhig werden und den Ober um die Rechnung bitten, weil sie fortwollen. Natürlich sehe ich manchmal, wenn auch nicht allzu oft, nur rohe Teigklöße mit Augen aus Aspik, die sich nur für menschliche Gesichter ausgeben. Dann
muß Nonno einspringen und rezitieren, weil ich solche Gesichter nicht zeichnen kann. Aber sie sind unüblich, und ich halte sie nicht einmal für real. Meistens sehe ich etwas und kann es einfangen - so, wie heute nachmittag in Ihrem Gesicht, als ich Sie mit Ihren geöffneten Augen zeichnete. Hören Sie noch zu? Er kauen sich neben ihren Stuhl und sieht gespannt zu ihr auf. In Shanghai gibt es ein Haus, das wird Sterbehaus genannt, Shannon. Es ist für bettelarm sterbende Alte. Ihre ebenso bettelarmen Kinder und Enkel bringen sie dorthin, damit sie ihr Sterben auf Pritschen, auf Strohmatten erledigen können. Als ich das erste Mal dort war, hat es mich so entsetzt, daß ich fortlief. Später bin ich aber wieder hingegangen, und da sah ich, daß die Kinder und Enkel und auch die paar Pfleger ihnen kleine Blümchen, Opiumbonbons und religiöse Symbole zum Trost neben ihre Sterbepritschen gelegt hatten. Das machte es leichter für mich, zu bleiben und ihre sterbenden Gesichter zu zeichnen. Manchmal lebten nur noch ihre Augen, Mr. Shannon - aber die Augen der bettelarmen Sterbenden mit den letzten kleinen Trostspendern neben sich - diese Augen waren, mit dem Restchen Leben, das noch in ihnen war - so klar wie die Sterne im Kreuz des Südens, Mr. Shannon. Und jetzt... jetzt will ich Ihnen etwas sagen, das sich bestimmt anhört, als ob es nur die altjüngferliche Enkelin eines mittelmäßigen, romantischen Dichters von sich geben könnte ... nichts von allem, das ich je gesehen habe, schien mir so schön. Nicht einmal der Ausblick von dieser Veranda zwischen Himmel und Strand - und in letzter Zeit... in letzter Zeit haben mich die Augen meines Großvaters so angesehen... Steht abrupt auf und geht zur Vorderseite der Veranda Sagen Sie, was ist das für ein Geräusch, das ich dauernd von da unten höre? SHANNON In der Cantina am Strand spielt eine MarimbaBand. HANNAH Das meine ich nicht, ich meine das Kratzen und Scharren unter der Veranda.
SHANNON Ach das. Die mexikanischen Jungen haben einen
Leguan gefangen und unter der Veranda an einen Pfosten gebunden. Natürlich versucht er zu entkommen. Aber er ist am Ende seines Stricks angelangt - und weiter geht es nicht mehr. Ha-ha - das war's... Haben Sie eigentlich neben Ihren Aquarellen und Zeichnungen und Ihren Reisen mit Grandpa auch noch so was wie ein Eigenleben? HANNAH Wir sind uns gegenseitig ein Zuhause, mein Großvater und ich. Wissen Sie, was ich mit Zuhause meine? Kein normales Zuhause. Ich meine, ich meine nicht das, was andere Leute mit Zuhause meinen - weil ich unter Zuhause keinen Ort verstehe - keine Wohnung... kein Haus aus Holz oder Ziegeln oder Steinen. Für mich ist Zuhause etwas, das zwei Menschen füreinander sind, wo sie... ja, die Nestwärme, die Geborgenheit finden, die sie brauchen, um leben zu können. Ergibt das einen Sinn für Sie, Mr. Shannon? SHANNON Ja, vollkommen. Allerdings... HANNAH Wieder ein unvollkommener Satz? SHANNON Lassen wir es dabei. Ich hätte vielleicht etwas gesagt, das Sie verletzt. HANNAH So dünnhäutig bin ich nicht, Mr. Shannon. SHANNON Nein, aber... nun, dann sag ich's. Geht zum Getränkewagen Wenn ein Vogel sein Nest baut, um sich darin zu wärmen, geborgen zu fühlen, leben zu können, dann baut er es nicht in einen Baum, der... am Umkippen ist. HANNAH Ich bin kein Vogel, Mr. Shannon. SHANNON Es sollte ein Gleichnis sein. Miss Jelkes. HANNAH Und ich dachte, sie wollten sich einen zweiten Kokos-Rum mixen, Mr. Shannon. SHANNON Das auch. Wenn sich ein Vogel ein Nest baut, achtet er auf die - relative Stabilität des Nistplatzes -, und er tut es auch zum Zweck der Paarung und Erhaltung seiner Art. HANNAH Ich muß wiederholen, daß ich kein Vogel bin, Mr. Shannon. Ich bin ein Mensch - und wenn sich ein Mitglied
dieser phantastischen Spezies sein Nest im Herzen eines anderen baut, dann ist die Frage nach der Stabilität nicht das Erste und nicht einmal das Letzte, an das er denkt... nicht unbedingt... immer. Nonno und ich sind in letzter Zeit dauernd an die Instabilität der Dinge erinnert worden. Wir kehren zu einem Hotel zurück, in dem wir oft gewesen sind - und es ist nicht mehr da. Abgerissen. An seiner Stelle steht einer dieser neuen aufgetakelten Glaspaläste. Oder das alte ist noch da, aber der Manager oder der Empfangschef, der uns früher immer so herzlich willkommen hieß, ist durch einen neuen ersetzt worden, der uns mißtrauisch beäugt. SHANNON Schön - aber Sie hatten einander noch. HANNAH Ja. Stimmt. SHANNON Und wenn der alte Gentleman abtritt? HANNAH Ja? SHANNON Was machen Sie dann? Aufhören? HANNAH Aufhören oder weiterziehen... wahrscheinlich weiterziehen. SHANNON Ganz alleine? Alleine im Hotel ankommen? Alleine an den Einzeltischen - den Katzentischen in der Ecke - essen? HANNAH Vielen Dank für Ihr Mitgefühl, Mr. Shannon. Aber mein Beruf zwingt mich zu raschen Kontakten mit Fremden, die sehr rasch zu Freunden werden können. SHANNON Kunden sind keine Freunde. HANNAH Wenn sie freundlich sind, werden sie zu Freunden. SHANNON Ja, aber wie wird es Ihnen vorkommen, wenn Sie nach all den Jahren, die Sie zu zweit unterwegs waren, alleine reisen und... HANNAH Das werde ich wissen, wenn es soweit ist. Und sagen Sie nicht immer alleine, als sei noch nie jemand alleine gereist. Sie zum Beispiel. SHANNON Ich? Ich war immer mit ganzen Zugladungen, Flugzeugladungen oder Busladungen voller Touristen unterwegs. HANNAH Das heißt noch nicht, daß Sie nicht trotzdem alleine waren.
SHANNON Ich versäume es nie, mit irgend jemand aus mei-
ner Gruppe eine intime Verbindung einzugehen. HANNAH Ja, mit der jüngsten der jungen Damen. Ich war
heute nachmittag Zeuge, als die letzte dieser jungen Damen vorführte, wie einsam Sie bei Ihren intimen Verbindungen waren. Die Episoden in kalten, unmenschlichen Hotelzimmern, Mr. Shannon, für die Sie die Damen fast ebenso sehr verachten wie sich. Hinterher sind sie so höflich zu Ihrer Dame, daß sie sich von Ihren sorgfältigen kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen Sie sich für das kleine Vergnügen, das sie Ihnen bereitet hat, revanchieren - bis auf die Knochen blamiert fühlen muß. Die Südstaaten-Gentleman-Rolle, die Sie ihr vorspielen, Ihre ›noblesse-oblige‹ - Behandlung... o nein, Mr. Shannon, machen Sie sich nicht vor, daß Sie mit jemandem reisen. Sie sind immer nur alleine gereist - abgesehen von Ihrem Gespenst, wie Sie's nennen. Das ist Ihr einziger Reisegefährte. Nichts und niemand sonst ist je mit Ihnen gereist. SHANNON Vielen Dank für Ihr Mitgefühl, Miss Jelkes. HANNAH Gern geschehen, Mr. Shannon. Ich glaube, ich wärme jetzt lieber den Mohnsamentee für Nonno auf. Nur wenn er heute nacht gut durchschläft, wird es möglich sein, daß er morgen weiterziehen kann. SHANNON In Ordnung. Und wenn damit unsere Unterhaltung beendet ist - gehe ich jetzt wohl runter schwimmen. HANNAH Nach China? SHANNON Nein, nicht nach China. Nur zu der kleinen Insel unten, auf der es eine verschlafene Bar gibt, die Cantina Serena heißt. HANNAH Warum? SHANNON Weil ich kein besonders angenehmer Säufer bin und Sie beinah etwas wenig Angenehmes gefragt hätte. HANNAH Fragen Sie nur. Heute abend gibt es hier keine Barrieren für Fragen. SHANNON Auch keine Barrieren für die Antworten? HANNAH Mir fallen keine für Sie oder mich ein, Mr. Shannon.
SHANNON Und wenn ich Sie beim Wort nehme? HANNAH Nur Zu. SHANNON Das ist ein Angebot. HANNAH Aber erst legen Sie sich wieder in die Hängematte
und trinken den Mohnsamentee und diesmal eine ganze Tasse. Er ist jetzt heißer, und der gezuckerte Ingwer macht es bestimmt leichter, ihn runterzubringen. SHANNON Einverstanden. Die Frage lautet: Hat es in Ihrem Leben nie so etwas wie ein Liebesleben gegeben? Hannah versteift sich einen Augenblick. Ich dachte, es gäbe keine Barrieren? HANNAH Wie war's mit einer Abmachung? Ich beantworte Ihre Frage, n a c h d e m Sie die ganze Tasse Tee ausgetrunken haben. Damit Sie endlich den Schlaf finden, den Sie auch dringend brauchen. Er ist jetzt heiß, und der gezuckerte Ingwer macht ihn viel - Probiert den Tee genießbarer. SHANNON Sie denken, daß ich ins Traumland entgleite und Sie sich vor unserer Abmachung drücken können. HANNAH Ich drücke mich nie vor einer Abmachung. Trinken Sie. Ganz aus! SHANNON mit angewiderter Grimasse, während er die Tasse leert Alle guten Geister! Schleudert die Tasse von der Veranda und läßt sich, in sich hinein lachend, in die Hängematte fallen Die orientalische Variante eines K.-o.-Tropfens, was? Setzen Sie sich so, daß ich Sie sehen kann, Miss Jelkes, Baby. Sie setzt sich auf einen Stuhl mit steiler Rückenlehne in einigen Abstand von der Hängematte. Wo ich Sie sehen kann! Ich habe keine Augen im Hinterkopf, Miss Jelkes. Sie schiebt den Stuhl zur Längsseite der Hängematte. Näher. Noch näher. Sie gehorcht. So. Und jetzt beantworten Sie meine Frage, Miss Jelkes, Baby. HANNAH Würden Sie sie bitte wiederholen?
SHANNON langsam, mit Betonung Haben Sie noch nie im
Leben und bei all Ihren Reisen irgendeine Begegnung oder Erfahrung mit dem gehabt, das Larry-der-Knallkopp-Shannon Liebesleben nennen würde? HANNAH Es gibt Schlimmeres als... Keuschheit, Mr. Shannon. SHANNON Ja, Wahnsinn oder Tod - das ist beides ein bißchen schlimmer - möglicherweise! Aber Keuschheit ist nicht etwas, in das eine schöne Frau oder ein attraktiver Mann versehentlich reinschliddert wie in einen Hinterhalt oder einen zugewachsenen Kaninchenbau, nicht wahr? Pause Ich glaube immer noch, daß Sie sich vor unserer Abmachung drücken, so daß ich... Macht Anstalten, die Hängematte zu verlassen HANNAH Mr. Shannon, es ist für mich genauso schwer, diese Nacht zu ertragen wie für Sie. Aber Sie sind es, der sich vor unserer Abmachung drückt, wenn Sie nicht in der Hängematte bleiben. Legen Sie sich wieder hin. So. Ja. Ja, ich habe zwei Begegnungen - nun - Erfahrungen mit... SHANNON Zwei ? Haben Sie zwei gesagt? HANNAH Ja. Und das war keine Übertreibung. Und sagen Sie nicht phantastisch, ehe ich Ihnen die beiden Geschichten erzählt habe. Als ich sechzehn war - Ihr Lieblingsalter, Mr. Shannon -, da gab mir mein Großvater, Nonno, jeden Samstagnachmittag dreißig Cent. Mein Taschengeld, der Lohn für meine Pflichten als Schreibkraft und im Haushalt. Fünfundzwanzig Cent war der Eintrittspreis für die Samstagnachmittagvorstellung im Kino von Nantucket, und die fünf Cent extra reichten für eine Tüte Popcorn. Ich setzte mich immer in die fast leeren letzten Reihen, um die anderen Leute im Kino nicht mit dem Knistern und Krachen zu stören, wenn ich mein Popcorn mampfte. Nun - eines Nachmittags setzte sich ein junger Mann neben mich und drückte sein... Knie gegen meins, u n d . . . ich bin zwei Sitze weiter gerutscht, aber er rutschte nach und... fing wieder an. Da bin ich aufge-
Sprüngen und habe geschrien, Mr. Shannon. Und er wurde festgenommen. Wegen Belästigung einer Minderjährigen ... SHANNON Sitzt er immer noch im Gefängnis von Nantukket? HANNAH Nein. Ich holte ihn raus. Ich sagte der Polizei, daß es ein Spionagefilm war - es w a r ein Spionagef i l m - und ich mich zu sehr aufgeregt hätte. SHANNON Phantastisch! HANNAH Ja, sehr! Die zweite Erfahrung ist nicht so lange her - erst zwei Jahre. Nonno und ich arbeiteten mit großem Erfolg im Raffles Hotel in Singapur. Wir verdienten mehr, als wir brauchten. Eines Abends lernten wir im Palmengarten des Raffles Hotels einen unscheinbaren, australischen Handlungsreisenden kennen. Sie wissen schon - mittelalt, rundlich, schütteres Haar, überfreundlich und krampfhaft um eine hochgestochene Redeweise bemüht. Er war allein und wirkte einsam. Großvater rezitierte ihm ein Gedicht, und ich machte eine schamlos geschmeichelte Zeichnung von ihm. Er zahlte mir mehr als meinen normalen Preis und gab meinem Großvater fünf malaysische Dollar, ja, und er kaufte mir auch noch ein Aquarell ab. Dann wurde es für Nonno Zeit, ins Bett zu gehen, und der Australier lud mich zu einer Segelboot einer Sampan-Fahrt - ein. Nun - er war so großzügig gewesen - ich nahm an. Ja, ich nahm seine Einladung an. Großvater ging zu Bett, und ich ging mit dem Handlungsreisenden für Damenunterwäsche aus. Es fiel mir auf, daß er immer - immer... SHANNON Immer - was? HANNAH Immer... erregter... wurde, als der Widerschein des Abendrots über dem Meer verblaßte. Lacht mit zarter Trauer Und dann, schließlich, beugte er sich vor... wir saßen uns in dem Sampan gegenüber... sah mir sehnsüchtig und leidenschaftlich in die Augen Lacht wieder und sagte: »Miss Jelkes? Würden Sie mir wohl einen Gefallen tun? Würden Sie etwas für mich tun?« »Was?«
fragte ich. »Nun«, sagte er, »würden Sie, wenn ich mich abwende, in eine andere Richtung sehe, würden Sie dann ein Kleidungsstück ausziehen und es mich halten lassen? Nur halten?« SHANNON Phantastisch! HANNAH Und dann sagte er: »Ich brauche nur ein paar Sekunden.« »Wofür?« fragte ich. Lacht wie vorher Er sagte nicht wofür, aber... SHANNON Zu seiner Befriedigung? HANNAH Ja. SHANNON Und wie haben Sie reagiert - in so einer Situation? HANNAH Ich... ich habe seine Bitte erfüllt, ja! Und er hat sein Versprechen gehalten und blieb abgewandt sitzen, bis ich fertig sagte und ihm das... gewisse Kleidungsstück zuwarf. SHANNON Was hat er damit gemacht? HANNAH Er hat sich nicht gerührt, außer um es aufzufangen. Dann habe ich woanders hingeguckt - während er seine Befriedigung fand. SHANNON Vor Handlungsreisenden im Fernen Osten wird gewarnt! Ist das die Moral von der Geschichte, Miss Jelkes, Baby? HANNAH O nein. Die Moral ist viel orientalischer. Eine Situation, die sich nicht ändern läßt, soll man akzeptieren. SHANNON Nach dem Motto: Laß das Unvermeidliche geschehen und genieß es? HANNAH Er hatte ein Aquarell gekauft. Der Zwischenfall war peinlich, aber nicht gefährlich. Ich ging mit ihm aus und kam mit ihm zurück - ohne belästigt worden zu sein. Ach, aber das Komischste geschah erst, als wir wieder im Raffles waren. Da zog er das gewisse Kleidungsstück wie ein verlegener Schuljunge, der seiner Lehrerin einen Apfel mitgebracht hat, aus der Tasche und versuchte, es mir im Aufzug zuzustecken. Ich habe es nicht angenommen. Ich flüsterte: »Ach bitte, behalten Sie sie doch, Mr. Willoughby!« Er hatte den vollen Preis für mein Aquarell bezahlt - und irgendwie hatte mich das kleine Erlebnis
bewegt - ich meine, es war so e i n s a m gewesen, draußen in dem Sampan, mit den violetten Streifen am Himmel und diesem nicht mehr jungen Australier, der Geräusche von sich gab, als stürbe er an einem Asthmaanfall! Und aus einer Schönwetterwolke lugte Venus heiter über die Meerenge von Malacca... SHANNON Und dieses Erlebnis nennen Sie... eine... HANNAH Erfahrung mit der Liebe? Ja. So nenne ich das. Er sieht sie ungläubig an, starrt ihr so intensiv ins Gesicht, daß sie verlegen wird und eine Verteidigungspose annimmt. SHANNON Diese, diese... traurige, schmutzige, kleine Episode nennen Sie eine... HANNAH unterbricht scharf Traurig war sie bestimmt - für den kleinen, seltsamen Mann - aber warum nennen Sie sie schmutzig? SHANNON Wie fühlten Sie sich, als Sie in Ihrem Zimmer waren? HANNAH Verwirrt, ich... ein bißchen verwirrt, nehme ich an. . . Ich hatte Einsamkeit gekannt - doch nicht in solchem Ausmaß, nicht so... so abgrundtief. SHANNON Soll das heißen, Sie waren nicht angewidert? HANNAH Menschliches widert mich nie an, Mr. Shannon außer wenn es bösartig ist, brutal. Ich habe Ihnen doch erzählt, wie sanft er war - wie schuldbewußt - wie schüchtern - und wie überaus t a k t v o l l. Wie auch immer, ich gebe zu, es hat sich auf einer ziemlich phantastischen Ebene abgespielt. SHANNON Sie sind... HANNAH Was? Phantastisch? Währenddessen war hin und wieder Nonnos Gemurmel aus seinem Zimmer zu hören. Plötzlich kann man ihn verstehen. NONNO
Und schließlich der geborstene Stamm Zur Erde umstürzt - und was dann? Seine Stimme geht wieder in Murmeln über. Shannon legt, hinter Hannah stehend, seine Hand auf ihren Hals.
Was soll das? Wollen Sie mich erwürgen, Mr. Shannon? SHANNON Sie mögen es nicht, wenn man Sie anfaßt, nicht wahr? HANNAH Sparen Sie sich's für die Witwe auf. Für mich ist das nichts. SHANNON Stimmt. Nimmt die Hand weg Mit Mrs. Faulk, der untröstlichen Witwe, könnte ich's - aber nicht mit Ihnen. HANNAH trocken und leicht Der Verlust für die Jungfer ist der Witwe Gewinn. SHANNON Oder der Verlust für die Witwe ist der Jungfer Gewinn. Das klingt wie ein altmodisches Gesellschaftsspiel aus Virginia oder Nantucket. Aber - etwas frage ich mich doch... HANNAH Das wäre? SHANNON Ob wir wohl miteinander... r e i s e n könnten? Ich meine, nur miteinander r e i s e n . HANNAH Könnten wir das? Ihrer Ansicht nach? SHANNON Warum nicht? Ich wüßte nicht, warum nicht. HANNAH Ich glaube, morgen früh wird Ihnen die Unmöglichkeit dieser Idee selber aufgehen, Mr. Shannon. Schlägt ihren mattgold lackierten Fächer zu und steht auf Man kann damit rechnen, daß einen der Morgen immer auf eine realistischere Ebene zurückfinden läßt... Gute Nacht, Mr. Shannon. Ich muß packen, ehe ich zu müde bin. SHANNON Lassen Sie mich hier draußen noch nicht alleine. HANNAH Ich muß jetzt packen, damit ich bei Tagesanbruch aufstehen und mein Glück auf der Plaza versuchen kann. SHANNON Sie werden auf der glühendheißen Plaza kein einziges Aquarell und keine einzige Zeichnung verkaufen, Miss Jelkes, Baby. Ich glaube nicht, daß Sie von einer besonders realistischen Ebene ausgehen. HANNAH Das würde ich aber, wenn ich es für möglich hielte, mit Ihnen zusammen zu reisen? SHANNON Ich kann einfach nicht einsehen, warum das nicht gehen soll. HANNAH
HANNAH Im Moment geht es Ihnen nicht gut genug, um -
mit wem auch immer und wohin auch immer - zu reisen, Mr. Shannon. Klingt das brutal? SHANNON Sie meinen, ich hänge hier fest? Bei der... untröstlichen Witwe gestrandet? Für ewig? HANNAH Bei irgendwas oder irgendwem stranden wir alle und wenn es statt eines Irgendwas ein Irgendwer ist haben wir Glück... vielleicht sogar ungewöhnliches Glück. Geht zu ihrem Zimmer, wendet sich noch einmal um Ach, und morgen... Berührt wie verwirrt oder erschöpft ihre Stirn SHANNON Was ist morgen? HANNAH mit Schwierigkeit Ich glaube, es wäre besser, wenn wir morgen kein sonderliches Interesse aneinander zeigten. Mrs. Faulk ist krankhaft eifersüchtig. SHANNON Ist sie das? HANNAH Ja. Sie scheint unsere Anteilnahme füreinander mißverstanden zu haben. Deshalb sollten wir, glaube ich, längere Unterhaltungen auf der Veranda vermeiden. Ich meine, es wäre vielleicht ratsam, wenn wir bei ›Guten Morgen‹ oder ›Guten Abend‹ blieben, bis sie beruhigt ist. SHANNON Wir müssen nicht einmal das sagen. HANNAH Ich werde es tun, aber Sie brauchen nicht zu antworten. SHANNON wütend Wie war's mit Klopfzeichen an die Wand, zur Verständigung? So, wie Häftlinge sich in Einzelzellen untereinander verständigen? Einmal klopfen: Ich bin da. Zweimal klopfen: Bist du da? Dreimal klopfen: Ja, bin ich. Viermal klopfen: Das ist gut, wir sind zusammen. H e r r des H i m m e l s ! . . . Da - nehmen Sie das. Zieht das Goldkreuz aus der Tasche Nehmen Sie das Kreuz und versetzen Sie's, das Gold ist zweiundzwanzigkarätig. HANNAH Was haben Sie, was wollen Sie ... ? SHANNON In der Mitte ist ein echter Amethyst - das reicht für Ihre Rückfahrt in die Staaten. HANNAH Mr. Shannon, jetzt werden Sie ganz und gar unrealistisch.
Sie auch, Miss Jelkes - wie Sie von morgen reden... HANNAH Ich habe nur gesagt, daß wir... SHANNON Sie sind morgen nicht mehr hier! Haben Sie vergessen, daß Sie morgen nicht mehr hier sein werden? HANNAH mit leichtem, erschrecktem Lachen Ja, wahrhaftig, ich hatte es vergessen! SHANNON Sie will, daß Sie gehen, also werden Sie gehen, selbst wenn Sie Ihre Aquarelle auf der Plaza wie heiße Semmeln an die Paria-Hunde verkaufen. Starrt sie an und schüttelt hoffnungslos den Kopf HANNAH Wahrscheinlich haben Sie recht, Mr. Shannon. Anscheinend bin ich zu müde, um zu denken - oder ich habe Ihr Fieber erwischt . . . Ich hatte tatsächlich einen Moment vergessen, daß wir... NONNO plötzlich laut aus seinem Zimmer Hannah! HANNAH läuft zu seiner Tür Ja, was ist, Nonno? NONNO hat sie nicht gehört, lauter Hannah!! HANNAH Ja, ich bin hier! Hier bin ich! NONNO Komm noch nicht herein, aber bleib da, wo du mich hören kannst. HANNAH Ja, ich werde dich hören, Nonno. Wendet sich zu Shannon um, holt tief Luft SHANNON Wissen Sie was? Wenn Sie das Goldkreuz, das ich nie mehr an mir sehen will, nicht annehmen, dann schmeiße ich es auf das Gespenst im Regenwald. Hebt den Arm, um es zu werfen HANNAH hält seinen Arm fest Gut, Mr. Shannon. Ich nehme es und bewahre es für Sie auf. SHANNON Verpfänden Sie es, Baby, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. HANNAH Gut. Und wenn ich das tue, werde ich Ihnen den Pfandschein schicken, damit Sie's wieder auslösen können, denn wenn Sie Ihr Fieber erst los sind, werden Sie es zurückhaben wollen. Geht wie blind über die Veranda und ist drauf und dran, ins falsche Zimmer zu gehen SHANNON mit wieder sanft gewordener Stimme Das ist nicht Ihre Zelle. Sie sind an ihr vorbeigegangen. SHANNON
HANNAH Wirklich? Entschuldigung. Ich war noch nie im
Leben so müde ... Sie wendet ihm wieder ihr Gesicht zu. Er starrt sie an. Sie sieht blind an ihm vorbei. Noch nie ! Kleine Pause Woher stammt noch mal dieses dauernde trockene Kratzgeräusch unter der Veranda? SHANNON Das hab ich Ihnen schon gesagt. HANNAH Ich habe nicht zugehört. SHANNON Ich hole meine Taschenlampe und zeige es Ihnen. Verschwindet rasch in seinem Zimmer und kommt mit der Taschenlampe zurück Es ist ein Leguan. Kommen Sie... Da, sehen Sie? Der Leguan. Am äußersten Ende seines Stricks. Wie er zappelt und versucht, weiter zu kommen, als der gottverdammte Strick reicht! Wie Sie -. Wie i c h . Wie Grandpa mit seinem letzten Gedicht. In der nun folgenden Pause hört man Gesang vom Strand. HANNAH Was ist ein - ein Leguan? SHANNON Eine Art Eidechse - eine große Riesenechse. Die mexikanischen Jungen haben ihn gefangen und festgebunden. HANNAH Und warum? SHANNON Weil man das hier so macht. Sie binden sie fest und mästen sie und essen sie auf, wenn sie fett genug sind. Sie gelten als Delikatesse, schmecken wie weißes Hühnerfleisch. Wenigstens finden das die Mexikaner. Und die Jungen, die mexikanischen Jungen, treiben ihren Spaß mit ihnen. Sie stechen ihnen mit Stöcken die Augen aus und verbrennen ihre Schwänze mit Streichhölzern. Lustig, nicht? Sehr lustig. HANNAH Bitte gehen Sie runter und schneiden Sie ihn los, Mr. Shannon! SHANNON Das kann ich nicht. HANNAH Warum nicht? SHANNON Mrs. Faulk möchte ihn essen. Und ich muß Mrs. Faulk gefallen, weil ich ganz auf ihre Gnade angewiesen bin. Sie hat mich in der Hand. HANNAH Ich versteh das nicht. Ich meine, ich verstehe nicht, wie irgendwer eine große Eidechse essen kann.
SHANNON Seien Sie nicht so kritisch. Wenn Sie hungrig ge-
nug wären, würden Sie sie auch essen. Sie würden sich wundern, was Menschen alles essen, wenn sie hungern. Und es hungern noch immer eine Menge Menschen auf der Welt. Viele sind schon Hungers gestorben, doch bleibt noch eine ganze Menge, die weiterlebt und weiterhungert, glauben Sie mir. Als ich einmal eine Damengruppe? - Ja, Damen... durch ein Land führte, das namenlos bleiben soll, aber zu unserer Welt gehört, fuhren wir mit unserem Aussichtsbus an einer tropischen Küste entlang und sahen einen großen Haufen... nun, er roch höchst unerfreulich. Eine meiner Damen sagte: »Oh, Larry, was ist das?« Ich heiße Lawrence, darum nennen mich die Damen, mit denen ich freundschaftlich stehe, manchmal Larry. Ich habe das drastische Wort für den großen Haufen nicht benützt, ich hielt es für überflüssig, es auszusprechen. Dann bemerkte sie - und ich auch zwei sehr alte Eingeborene dieses namenlosen Landes die, bis auf ein paar dreckige Lumpen, nackt waren - und um diesen Haufen... herumschlichen und krochen und bisweilen innehielten, um etwas aufzulesen und sich in den Mund zu stecken. Was? Kleine, unverdaute... Essensrückstände, Miss Jelkes. Für einen Moment Schweigen. Dann stößt sie einen Würgelaut aus und läuft die Veranda entlang, die Stufen hinunter und verschwindet für eine Weile. Shannon spricht weiter - zu sich und dem Mond. Warum hab ich ihr das bloß erzählt? Weil es wahr ist? Das ist kein Grund, es zu erzählen, nur weil es wahr ist. Ja - daß es wahr ist, wäre sogar ein guter Grund, es ihr nicht zu erzählen. Außer... ich glaube, in diesem namenlosen Land wurde es mir zum ersten Mal bewußt... der allmähliche, rapide, natürliche, unnatürliche - vorbestimmte, zufällige - Zusammenbruch, das Vor-die-Hunde-Gehen des jungen Mr. T. Lawrence Shannon, jawohl, des noch immer j u n g e n Mr. T. Lawrence Shannon, der durch diesen rapid-langsamen Prozeß... seine letzte Reise mit
Damen durch tropische Länder... warum habe ich tropisch gesagt? Ja, zum Teufel! Ich habe die Damen immer durch die Tropen geführt. Ob das - ob das irgendwas zu bedeuten hat? Möglich. Rascher Verfall gehört zum heißen Klima - zum dunstigen, feuchten, heißen Klima und ich begebe mich immer wieder da hinein, als wäre ich... unvollständiger Satz... Und immer verführe ich eine der Damen - oder zwei - drei - vier - fünf Damen aus der Gruppe - aber vorher richte ich erst die wirkliche Verheerung in ihr an, indem ich ihr die - was? - die Greuel? Ja, die Greuel - des tropischen Landes zeige, durch das unsere Besichtigungstour führt. Mein... Hirn versagt allmählich, wie wenn der - Strom ausfällt... Also - ich bleibe vermutlich hier und lebe für den Rest meines Lebens von der Patrona. Nun, sie ist alt genug, um vor mir zu sterben. Vielleicht meldet sie sich als erste ab, und ich könnte mir vorstellen, daß ich nach ein paar Jahren, in denen ich sie zu befriedigen haben werde, auf den Schock vorbereitet bin, daß sie verschwindet... Grausamkeit... Mitleid. Was ist das? ... Weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich... HANNAH von unterhalb der Veranda Führen Sie Selbstgespräche ? SHANNON Nein. Ich wußte, daß Sie mich da unten hören, aber solange ich Sie nicht sehen konnte, war es leichter für mich zu reden, wissen Sie ... NONNO
Kein Grün mehr, aus dem Früchte lodern, Ein Kampf nur noch mit dem Vermodern. HANNAH kommt auf die Veranda zurück Ich habe mir den Leguan genauer angesehen. SHANNON Ja? Und wie fanden Sie ihn? Charmant? Attraktiv? HANNAH Nein, attraktiv ist er nicht. Trotzdem glaube ich, daß man ihn losschneiden sollte. SHANNON Man weiß von Leguanen, daß sie sich den Schwanz abbeißen, wenn sie daran festgebunden sind.
HANNAH Der hier ist am Hals festgebunden. Er kann sich
nicht den Kopf abbeißen, um von dem Strick loszukommen, Mr. Shannon. Können Sie mir in die Augen sehen und mir aufrichtig versichern, daß Sie nicht wissen, ob dieses Geschöpf Schmerz und Panik empfindet? SHANNON Sie meinen, auch ein Leguan ist ein Geschöpf Gottes? HANNAH Wenn Sie's so ausdrücken wollen, ja - das ist er. Würden Sie ihn bitte abschneiden und freilassen, Mr. Shannon? Denn wenn Sie's nicht tun, tue ich's. SHANNON Können Sie m i r in die Augen sehen und m i r aufrichtig versichern, daß dieses Reptil unter der Veranda Sie nicht vor allem irritiert, weil seine Lage Sie an Ihren Großvater und dessen nachlassende Kraft, sein letztes Gedicht zu vollenden, erinnert, Miss Jelkes? HANNAH Nein, ich... SHANNON Sie müssen den Satz nicht beenden. Wir werden heute nacht ›Lieber Gott‹ spielen, wie kleine Kinder mit alten kaputten Kisten und Kartons ›Haus‹ spielen. Einverstanden? Shannon geht jetzt mit einer Machete da runter und schneidet die verdammte Echse los, auf daß sie in ihr Gestrüpp zurückkriechen kann, weil Gott es nicht tun wird - wir aber hier ›Lieber Gott‹ spielen. HANNAH Ich wußte, daß Sie es tun. Und ich danke Ihnen. Shannon geht mit der Machete die Verandastufen hinunter, hockt sich neben die Kakteen, die den Leguan verbergen, und durchtrennt den Strick mit einem kurzen, heftigen Machetenschlag. Er dreht sich um und sieht dem flüchtenden Leguan nach, während das leise Gemurmel aus Zimmer Drei lauter wird. NONNO plötzlich laut rufend Hannah! Hannah! Sie läuft zu ihm, während er sich schon in seinem Rollstuhl auf die Veranda hinausbewegt. HANNAH Großvater! Was ist? NONNO Ich! - Glaube! - Es! - Ist! F e r t i g !!! Schnell, ehe ich's wieder vergesse - Bleistift, Papier! Beeil dich! Bitte! Fertig?
HANNAH Ja. Alles bereit, Großvater. NONNO mit lauter, exaltierter Stimme
So ruhig der Orangenbaum, Sieht Himmel bleichen wie im Traum. Kein Aufschrei, kein Gebet der Qual, Nur stille Duldung überall. Doch irgendwann in dunkler Nacht Ist auch des Baumes Sein vollbracht, Das Alter hält ihn fest umfangen, Ein neuer Weg wird angefangen. Kein Grün mehr, aus dem Früchte lodern, Ein Kampf nur noch mit dem Vermodern, Und schließlich der geborst'ne Stamm Zur Erde umstürzt, und was dann? Ein Liebesbett, nicht schön gestaltet, Das sich um gold'ne Früchte faltet. Doch immer noch das Grün die Erde deckt, Obszöne Liebe unter sich versteckt. Und doch sieht noch die Frucht, der Baum, Den Himmel bleichen wie im Traum. Kein Aufschrei, kein Gebet der Qual, Nur stille Duldung überall. Ach, Mut, mußt dich an einen Wohnsitz halten, Kannst nicht in einem zweiten walten? Statt nur in jenen gold'nen Zweigen, Auch in mein ängstlich Herz dich neigen? Hast du's? HANNAH Ja! NONNO Alles? HANNAH Wort für Wort. NONNO Ist es fertig? HANNAH Ja.
NONNO Ach! Gott! Endlich fertig? HANNAH Ja, endlich fertig.
Sie weint. Der Gesang vom Strand klingt herauf. NONNO Nach so langer Zeit! HANNAH Ja, nach so langer Zeit. NONNO Und es ist gut! Ist es g u t ? HANNAH Es ist – es ist... NONNO Was? HANNAH Wunderbar, Großvater. Springt, eine Faust vor
dem Mund, auf Ach, Großvater, ich freue mich so für dich. Danke, daß du ein so schönes Gedicht geschrieben hast! Das lange Warten hat sich gelohnt. Kannst du jetzt schlafen, Großvater? NONNO Tippst du es morgen ab? HANNAH Ja. Ich tippe es ab und schicke es gleich an ›Harper‹. NONNO Wie? Ich hab das nicht gehört, Hannah. HANNAH laut Ich tippe es morgen ab und schicke es dann gleich zu ›Harper's‹! Die warten auch schon so lange darauf! Das weißt du! NONNO Ja. Jetzt möchte ich beten. HANNAH Gute Nacht. Schlaf jetzt, Großvater. Dein schönstes Gedicht ist fertig. NONNO matt, wegdämmernd Ja, Lob und Dank... Maxine kommt um die Veranda herum, Pedro folgt ihr, leise auf der Harmonika spielend. Sie will schwimmen gehen und hat ein lebhaft gestreiftes Badetuch über die Schulter geworfen. Offensichtlich hat die fortschreitende Nacht ihre Stimmung gemildert. Sie lächelt so sanft, wie jene kühlen, unpersönlichen, alles verstehenden Statuen ägyptischer oder orientalischer Gottheiten lächeln. Sie trägt einen Kokos-Rum, nähert sich der Hängematte, entdeckt, daß sie leer ist und die Stricke am Boden liegen. MAXINE leise zu Pedro Shannon ha escapado! Pedro spielt verträumt weiter. Wirft den Kopf zurück und ruft Shannon!!! Der Ruf tönt von den Bergen als Echo zurück.
PEDRO geht ein paar Schritte vor und deutet unter die Ve-
randa Miré. Allé ´hasta Shannon. Shannon tritt unter der Veranda hervor, der zerschnittene Strick und die Machete baumeln in seiner Hand. MAXINE Was machst du da unten, Shannon? SHANNON Ich habe ein Geschöpf Gottes von seinem Strick befreit. Hannah, die mit geschlossenen Augen bewegungslos hinter einem Rohrstuhl gestanden hat, geht still aus dem Mondlicht zu den Zimmern. MAXINE großmütig Warum hast du das getan, Shannon? SHANNON Damit eines von Gottes Geschöpfen frei und sicher heimkehren k a n n . . . Ein kleiner Akt der Gnade, Maxine. MAXINE lächelt etwas direkter Komm rauf, Shannon, ich will mit dir reden. SHANNON auf dem Weg zur Veranda, während Maxine das Eis in der Kokosnußschale klappern läßt Und worüber willst du mit mir reden, Witwe Faulk? MAXINE Komm mit runter, um im flüssigen Mondlicht zu schwimmen. SHANNON Woher hast du denn einen so poetischen Ausdruck ? Maxine wirft Pedro einen Blick zu und bedeutet ihm mit einem »Vamos« zu gehen. Er geht achselzuckend ab, die Melodie der Harmonika verklingt. MAXINE Shannon, ich will, daß du bei mir bleibst. SHANNON nimmt ihr den Kokos-Rum ab Brauchst du einen Saufkumpan? MAXINE Nein, ich möchte einfach nur, daß du hierbleibst, weil ich jetzt alleine bin und jemand haben muß, der mir hilft, das Hotel zu führen. Hannah zündet sich eine Zigarette an. SHANNON sieht zu ihr hin Ich möchte mich an das Gesicht erinnern. Ich werde es nie mehr sehen. MAXINE Komm, laß uns runter an den Strand gehen. SHANNON Runter schaff ich's noch. Aber nicht mehr zurück - bergauf.
MAXINE Ich bring dich schon wieder rauf.
Sie machen sich auf den Weg zum Pfad hinunter, durch den Regenwald. Ich hab noch fünf Jahre, vielleicht auch zehn, um aus diesem Hotel eine Attraktion für männliche Gäste zu machen - wenigstens für die mittelalten. Und du kannst dich um die Weiber kümmern, mit denen sie ankommen. Darin bist du gut - und das weißt du auch genau, Shannon. Er kichert vergnügt. Sie sind jetzt auf dem Weg. Maxine führt und stützt ihn gleichzeitig. Ihre Stimmen verklingen, während Hannah in Nonnos Zimmer geht und mit einem Schal herauskommt, ihre Zigarette hat sie drinnen gelassen. Sie bleibt zwischen Tür und Stuhl stehen und spricht zu sich und zum Himmel. HANNAH Oh, Gott, könnte jetzt nicht Schluß sein? Endgültig? Bitte laß uns los. Es ist jetzt so ruhig hier. Sie will Nonno den Schal umlegen, doch rutscht im selben Augenblick sein Kopf zur Seite. Mit einem leisen, tiefen Atemzug hält sie ihm die Hand vor den Mund, um zu fühlen, ob er noch atmet. Er atmet nicht mehr. Einen schreckerfüllten Augenblick lang sieht sie sich rechts und links nach jemandem um, den sie herbeirufen könnte, es ist niemand da. Dann beugt sie sich über ihn und lehnt ihren Kopf an Nonnos Scheitel. Der Vorhang beginnt sich zu senken. Ende