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Scan by Schlaflos Zu diesem Buch Michael A. Stackpole zählt spätestens seit seinem Zyklus »Düsterer Ruhm« zu den erfolgreichsten FantasyAutoren. Weltweit verfolgten die Leser die Schlachten gegen die Nordlandhexe Kytrin und die Jagd auf die legendäre Drachenkrone. Jetzt lüftet Stackpole eines der berühmtesten Geheimnisse des »Düsteren Ruhms«: Was geschieht wirklich in jenen Nächten, in denen die Bewohner Okrannels zum Träumen in ihre Heimat kommen? Doch nicht nur von dieser, sondern auch von anderen düsteren und phantastischen Welten berichtet der vorliegende Band. Ein unentbehrlicher Schatz für alle Stackpole-Fans! Michael A. Stackpole, geboren 1957 in Wausau/Wisconsin, studierte Geschichte an der Universität von Vermont. Der bekannte Fantasy- und Science-Fiction-Au-tor schrieb neben seinem Zyklus »Düsterer Ruhm« zahlreiche Romane zu Serien wie »BattleTech« und »Star Wars«. Überdies entwickelt er erfolgreich Computerspiele. Stackpole lebt und arbeitet heute in Arizona. Weiteres zum Autor: www.stormwolf.com
Michael A. Stackpole
DIE NACHT DER DÜSTEREN TRÄUME DAS LETZTE GEHEIMNIS AUS DEM REICH DER DRACHENKRONE Aus dem Amerikanischen von Reinhold H. Mai Piper München Zürich Von Michael A. Stackpole liegen bei Piper Boulevard vor: Zu den Waffen! Düsterer Ruhm 1 (9121) König der Düsterdünen. Düsterer Ruhm 2 (9122) Festung Draconis. Düsterer Ruhm 3 (9123) Blutgericht. Düsterer Ruhm 4 (9124) Drachenzorn. Düsterer Ruhm 5 (9125) Der große Kreuzzug. Düsterer Ruhm 6 (9126) Die Macht der Drachenkrone. Düsterer Ruhm 7 (9127) Die Nacht der düsteren Träume (9146) Deutsche Erstausgabe April 2006 © 2005 Michael A. Stackpole Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Perchance to Dream«, Five Star, Waterville/Maine 2005 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2006 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: Zero, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Brom Autorenfoto: Michael C. Pearo Satz: Barbara Herrmann, Freiburg Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN-13: 978-3-492-29146-0 ISBN-10: 3-492-29146-5 www.piper.de Für Dr. Jack Murray In dankbarer Erinnerung an irischen Whiskey, republikanische Lieder und jede Menge Spaß Inhalt Einleitung Die Nacht der düsteren Träume Die Krells von Tancras Moor Sei mein Zuckerschnäuzehen
Der Tipp Einfach zauberhaft Die Parker-Panik Windtiger Giri Unter Toten ... Auf den Gedanken kommt es an Asgard Unlimited Der Hirte Das letzte Geschenk Kid Binary und die 2Bit-Bande Das Greenhorn Anhörung Copyrightvermerke Einleitung Ich werde diese Einleitung recht kurz halten, weil ich zusätzlich kurze Einführungen zu jeder einzelnen Geschichte in diesem Band geschrieben habe. Mir ist bewusst, dass die Einführungen ebenso wie dieser Text hier Ausdruck einer gewissen Selbstverliebtheit sind. Ich persönlich finde es immer wieder faszinierend, wenn sich Schriftsteller über ihre Geschichten auslassen, und ich kann nur hoffen, dass es anderen ebenso geht. Sollte dies für Sie nicht zutreffen, blättern Sie schnell weiter. Als ich aufwuchs, war der Weg zur Veröffentlichung und einer Karriere als Fantasy- und/oder Science-FictionAutor bereits vorgezeichnet. Man begann mit dem Verfassen von Kurzgeschichten. Sobald man es geschafft hatte, genug davon zu veröffentlichen, fand sich jemand, der anbot, sie in einer Anthologie zu sammeln. Verkaufte sich diese Anthologie einigermaßen anständig, durfte man mit einem Auftrag für einen Roman rechnen - wahrscheinlich angesiedelt in einer der Welten aus den Kurzgeschichten. Sobald sich die Romane verkauften, war man etabliert. Das Ganze klingt recht simpel, auch wenn es einige Arbeit voraussetzte. All das änderte sich Mitte der achtziger Jahre, als es leichter wurde, einen Roman zu verkaufen als eine Kurzgeschichte. Die Leser verlangten nach längeren Texten, die Auflagenzahlen der Kurzgeschichtenmagazine sanken und der Markt für kürzere Arbeiten trock9 nete aus. Und dieses Buch, das früher die Schwelle zu einer Karriere als Romanautor dargestellt hätte, wurde nun erst nach einer Reihe von Romanen möglich. Was ich am Verfassen von Kurzgeschichten besonders liebe, ist die Tatsache, dass sie es ermöglichen, eine ganze Reihe unterschiedlichster Welten zu besuchen. Die Arbeit ist ebenso schwer wie die an einem Roman, nur kürzer. Roger Zelazny pflegte zu sagen, das Schreiben einer Kurzgeschichte sei im Grunde nichts weiter als das Schreiben des letzten Kapitels eines Romans. Er hat insofern Recht, als der Autor das ganze Drama des Romans in diesen kleinen Text packen muss, und um dies zu schaffen, muss er auch noch den Aufbau und die Charakterisierung mit einflechten. Ich war einmal auf einer Literaturtagung, auf der ein Redner erklärte, bei einer Geschichte von mehr als 25 Seiten »erwartet der Leser wirklich ein Resultat«. Ich gebe zu, ich habe mich laut darüber mokiert – soweit es mich betrifft, geht es bei jeder Arbeit um das Resultat, ohne Rücksicht auf den Umfang. Die Geschichten hier variieren in der Länge von etwa einem Dutzend Seiten zu über sechzig, und jede einzelne hat ein Resultat. Die Art des Resultats ist unterschiedlich, aber es gibt eins. Noch etwas macht an Kurzgeschichten Spaß. In diesen kürzeren Stücken lässt sich Humor einbringen und auch durchhalten, was in einem ganzen Roman nahezu unmöglich ist. Auch die dramatische Handlung ist konzentrierter. Die ganze Energie des Autors ist auf einen Punkt, zu einem Zweck konzentriert, und das macht Kurzgeschichten zum Espresso der Fiktion. 10 Ich hoffe, Ihnen gefällt, was Sie hier vorfinden. Es ist eine bunte Mischung aus allen Stadien meiner Laufbahn. Ich habe gerade diese Geschichten ausgewählt, weil mir jede einzelne am Herzen liegt. Ich hoffe, Ihnen wird es ebenso gehen. Michael A. Stackpole Scottsdale, Arizona Die Nacht der düsteren Träume wurde speziell für diese Anthologie geschrieben. In den Romanen der Saga »Düsterer Ruhm« erfahren wir, dass unter den im Exil lebenden Einwohnern Okrannels die Sitte aufgekommen ist, für eine Nacht auf den Heimatboden zurückzukehren, um dort einen möglicherweise prophetischen Traum zu haben. Diese Geschichte dreht sich um Alexias Traumjagd und alles, was sich daraus ergab. Die hier beschriebenen Geschehnisse wurden in den Romanen zwar erwähnt, bisher aber noch nie näher beschrieben. Die Nacht der düsteren Träume Eine Geschichte aus dem Reich der Drachenkrone
»Nein, Cousine, mein Entschluss steht fest. Ganz gleich, wie sehr man mich bittet - ich werde dich nicht heiraten.« Prinzessin Alexia drehte sich im Sattel um und schaute Mikhail durch einen Schleier aus Regentropfen an. »Du willst mich nicht heiraten?« Er schüttelte den Kopf. Von den durchnässten schwarzen Locken flogen Wassertropfen in alle Richtungen davon. »Nein. Nichts gegen dich, versteh mich nicht falsch. Du bist groß und wirklich hübsch, sogar schön, und du wirst sicher noch schöner werden. Und auch 12 wenn manch einer sagt, dass du dich seltsam benimmst, weil du bei den Gyrkyme aufgewachsen bist, für mich spielt das keine Rolle. So seltsam bist du gar nicht.« Alexia runzelte die Stirn und hätte ihm fast einen Fausthieb mitten auf die Brust versetzt. Selbst wenn er nicht auf einem Pferd saß, war Mikhail erheblich schwerfälliger als Perrine oder die anderen Gyrkyme, mit denen sie befreundet war. Sie wären dem Hieb ausgewichen, ohne auch nur eine Daunenfeder zu verlieren. Mikhail aber wäre aus dem Sattel gestürzt und im Schlamm gelandet. »Dann gibt es da noch diese Geschichte mit den Kriegerinnen, Cousine, die manchem gefällt, anderen aber äußerst fragwürdig erscheint. Dein Vater mag gewünscht haben, dass du eine Kriegerin wirst, und Urgroßtante Tatjana betrachtet es sogar als unsere Rettung. Sollte ich dich aber heiraten, dann nur, damit du für Okrannels Zukunft Kinder gebierst.« »Unsere Nation hat keine Zukunft, wenn ich sie nicht befreie.« Mikhails braune Augen funkelten schelmisch. »Ah, du hast genau ins Herz des großen Rätsels getroffen, das die Ältesten so umtreibt.« Gemeinsam blickten sie entlang der Straße zurück. Mikhails Vater, Großherzog Valeri, saß stolz im Sattel, dem Regen und seiner kleinen Statur zum Trotz das Haupt hoch erhoben. Wie Mikhail trug er das Haar einem Dekret des Thronzirkels gemäß lang, als Zeichen der Trauer über den Tod Prinz Kirils, seines Bruders und Alyx' Vater. Weiße Haare sprenkelten das Grau von Haupthaar und Bart und Wasser glitzerte auf seinem 13 Schnauzbart. Der Großherzog lächelte, als er ihre Blicke bemerkte. Er war stolz auf sie und seine Mission, und das schlechte Wetter konnte dieses Gefühl nicht dämpfen. Als sie sich wieder umdrehten, sah Alyx ihrem Vetter in die Augen. »Mischa, du hast mir sämtliche Gründe dafür aufgezählt, warum es dir nichts ausmachen würde, mich zu heiraten. Aber du hast immer noch nicht gesagt, warum du es nicht tun willst.« »Dafür gibt es zwei Gründe.« Er grinste sie an und strich sich über die Ansätze seines Kinn- und Schnurrbartes, als wären sie schon lang und prächtig. »Erstens herrscht unter den Exilokranern in Yslin schon mehr Inzucht als genug. Manchmal gebärdet sich der Kronzirkel geradezu wie ein Verband von Pferdezüchtern, so, wie er Stammbaum und Temperament vergleicht. Die Götter mögen verhüten, dass sich jemals einer verliebt. >Ehen schließt man aus Liebe zu Okrannel, nicht aus Eigennutz<, lautet das Sprichwort, und die ständigen Affären innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft werden als fehlgeleiteter Ausdruck des Schmerzes über den Verlust unserer Heimat abgetan. Und zweitens will Tante Tatjana, dass ich dich heirate.« Mikhails Miene verdüsterte sich. »Das allein ist schon Grund genug, es nicht zu tun. Ich gebe zu, ich habe mich beinahe gefreut, als ich davon hörte, dass du sie gebissen hast. Sie muss ekelhaft geschmeckt haben.« Alyx schnaufte angewidert. »Wie zu Essig vergorene Galle, die man mit Meerwasser versetzt hat, um in der Mixtur eine Kröte zu kochen.« Mikhail stöhnte. »Du hättest auch einfach sagen können, sie schmeckte bitter.« 14 »Das versteht sich von selbst.« Alyx gestattete sich ein dünnes Lächeln. Bevor ihre Heimatnation Okrannel in die Hände der Horden der Nordlandhexe gefallen war, hatte ihr Vater sie mit Preiknosery, einem tapferen Gyrkyme-Krieger und alten Freund nach Süden geschickt. Damals war Alyx noch ein Wickelkind gewesen. Ihr Vater war bald darauf gefallen und die Gyrkyme hatten sie zur großen Kriegerin erzogen. Bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie die Berge Gyrvirguls nicht verlassen, und die einzigen Menschen, die sie zu Gesicht bekommen hatte, waren die Lehrer gewesen, die erschienen waren, um sie in der Geschichte und den Kriegskünsten zu unterrichten. Der Kronzirkel unter der Führung Großherzogin Tatjanas kontrollierte das Leben aller okranschen Exilanten. Tatjana stand im Ruf einer Mystikerin und hatte mehr als ein Dutzend Jahre zuvor die erste Traumjagd unternommen. Sie hatte sich in das eroberte Okrannel eingeschlichen, hatte eine Nacht auf Heimaterde geschlafen und einen prophetischen Traum gehabt. Von diesem Augenblick an verlangte sie von jedem Exilanten, so wie sie selbst nach Okrannel zurückzukehren, um dort zu träumen. Viele folgten ihrem Befehl, selbst erfahrene Soldaten wie Valeri. Doch der Brauch konzentrierte sich bald auf die Kinder des Adels und anderer, die viel versprechend schienen. Mit fünfzehn Jahren wurden sie dem Kronzirkel vorgestellt und auf ihre Traumjagd geschickt. Anschließend kehrten sie nach Yslin zurück und erstatteten dem Kronzirkel Bericht. Ihr Traum wurde im Buch der Träume aufgezeichnet. Alle wussten, dass sich diese Träume be*5
Wahrheiten würden. Die verschiedensten - wichtigen wie unbedeutenden - Ereignisse wurden regelmäßig als Beweis dafür angeführt. Auch Alyx hatte man der Sitte entsprechend nach Yslin gebracht. Tatjana hatte versucht, sie zu begutachten, wie es bei Pferden üblich war, und sie gezwungen, ihren Mund zu öffnen, um sich ihre Zähne anzusehen. Daraufhin hatte Alyx, wütend über die Respektlosigkeit und grobe Behandlung, die alte Adlige gebissen. Tatjana hatte sie weggeschickt, und es hatte zwei Jahre gedauert, bis sie Alyx erlaubt hatte, auf Traumjagd zu gehen. Ich frage mich, Mikhail, ob dir bewusst ist, dass ich nur hier bin, weil du mich begleitest. Der Kronzirkel hatte tatsächlich die Angewohnheit, Ehen zu arrangieren - und Preiknosery hatte Alyx vor seiner Absicht gewarnt. Zum Glück war Valeri gegen den Plan des Zirkels, und auch wenn sie aus Mischas Worten keinen Hinweis auf eine Beeinflussung durch dessen Vater heraushörte, so war sie doch ziemlich sicher, dass er hätte eingreifen können. Mischa schien natürlich nichts von dem zu bemerken, was sich um ihn herum abspielte. Allerdings glaubte Alyx ihm nicht, dass er so dumm war. Vielmehr hatte sie den Eindruck, er stelle sich absichtlich dumm, damit man ihn unterschätze - ganz besonders Graf Serjei. Während alle anderen in der Reisegesellschaft aus Valeris Haushalt stammten, war Serjei der Repräsentant Tatjanas. Er kam mit, um dafür zu sorgen, dass das für eine erfolgreiche Traumjagd vorgeschriebene Verfahren buchstabengetreu eingehalten wurde. Er 16 benahm sich dermaßen servil, dass Alyx den Drang verspürte, ihm einen Tritt zu versetzen. Obwohl er noch jung an Jahren war, hatte er die Übung eines weitaus älteren Höflings in Schmeicheleien und Liebedienerei, was ihm im Kronzirkel zweifellos sehr zugute kam. In Okrannel war seine Familie nicht mehr als der niedere Adel in Swojin gewesen, in Yslin jedoch hatte er eine Bedeutung erreicht, die für einen Baron aus dem Süden undenkbar gewesen wäre. Über die Jahre hatte das Ritual der Traumjagd eine kleine Industrie entstehen lassen. In aller Regel brachten Schiffe die Jugendlichen von Yslin nach Ooris, einem kleinen Ort an der jeranischen Küste. Von dort suchten sich die Pilger einen Weg durch das Gebirge, das die Grenze zwischen Okrannel und Jerana bildete. Sie hätten ihre Heimat zwar auch auf direktem Wege betreten können, nur hätte sie das auf die Shusken-hochebene geführt. Die Shusken hegten zwar keinerlei Sympathien für Kytrin und ihre Aurolanihorden, aber die okranschen Adligen, die endlos Krieg gegen sie geführt hatten, hassten sie noch mehr. Im Grenzgebiet bewahrten jeranische Truppen unter General Markus Adrogans die Ordnung. Sie duldeten die Pilger, unternahmen aber keinerlei Anstrengung, die Aurolani aus dem Gebiet zu verjagen, in das sie unterwegs waren. In ihren Augen waren die okranschen Adligen nicht ganz klar im Kopf, und wenn sie ihr Lager unbedingt in einem so gefährlichen Gebiet aufschlagen wollten, dann war das ihr Problem. Valeri hatte die Reise schon mehr als einmal gemacht und ihre Route mit Bedacht ausgewählt. Sie 17 waren nicht über Ooris angereist, sondern bis in die jeranische Hauptstadt Lakaslin gesegelt. Nachdem sie dem König ihren Respekt gezollt hatten, machten sie sich auf den Weg nach Norden, und jetzt, noch eine Tagesreise von Okrannel entfernt, hatten sie das Gebirge erreicht. Das Wetter war auf dem größten Teil des Weges - auf See wie an Land - gleichermaßen miserabel gewesen. Alyx konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder ganz trocken zu werden. Valeris Kundschafter kehrten zum Hauptteil der Reisegesellschaft zurück, dann lotsten sie sie zu einem großen Höhlenkomplex, in dem Reisende offensichtlich schon seit Jahrhunderten Unterschlupf suchten. Alyx und Mischa halfen, die Pferde in der unteren Höhlenkammer unterzubringen, rieben sie ab und sorgten dafür, dass sie eine reichliche Portion Hafer bekamen. Andere sammelten Feuerholz und schlugen in den oberen Kammern das Lager auf. Es dauerte nicht lange, bis in den Kesseln das Essen kochte und der Geruch von Eintopf durch die Höhle wehte. Alyx ließ sich hinter der Decke, die als Vorhang diente und eine Felsnische von der Haupthöhle trennte, Zeit. Sie war hier, um die nassen Sachen zu wechseln, und sie war mehr als bereit dazu. Vor allem aber brauchte sie die Zeit allein. Sie war bei den Gyrkyme aufgewachsen - einer aus einer unheiligen Verbindung zwischen Elfen und monströsen Vogelfrauen entstandenen Art. Die Gyrkyme waren groß und schlank, am ganzen Leib gefiedert und mit prachtvollen Schwingen gesegnet, mit deren Hilfe sie fliegen konnten. Ihre gesamte Ziehfamilie hatte der Kriegerkaste angehört 18 und sich durch die entsprechende Raubtier-Zeichnung des Gefieders sowie eine wilde Liebe zum Leben ausgezeichnet, die kaum Kompromisse zuließ. Unter den Gyrkyme wurden Geheimnisse nicht toleriert - und auch sie war mit dieser Einstellung groß geworden. Unter den Menschen hingegen schien es vor Geheimnissen nur so zu wimmeln. Selbst die Traumjagd war mit einem Geheimnis verbunden. Was man in dieser Nacht träumte, sollte man niemanden außerhalb des Kronzirkels verraten. In ihren Augen ergab das keinerlei Sinn. Falls die Träume tatsächlich prophetisch waren, wäre es dann nicht am besten gewesen, sie zu teilen? Und falls dies anderen gestattete, die Ereignisse zu verändern, von denen man geträumt hatte - welchen Wert hatten sie dann überhaupt? Ihr erschien diese ganze Tradition lächerlich, doch Preiknosery hatte ihr klar gemacht, dass sie die Reise
dennoch auf sich nehmen musste, wenn es an der Zeit war. »Du bist die Tochter deines Vaters und Okrannels Kronprinzessin. Du bist eine Anführerin, und das bringt Verpflichtungen mit sich. Füge dich, bis du an der Macht bist. Dann kannst du Änderungen durchsetzen.« Es schauderte sie. An den Menschen war ihr so vieles fremd. Manches davon schien seltsam. Menschen machten lustige Geräusche: Sie rülpsten und furzten, grunzten und stöhnten. Anderes an ihnen war abstoßend, zum Beispiel die Alkoholmengen, die sie bereitwillig zu sich nahmen. Bei den Gyrkyme wurden Rauschmittel zwar auch zugelassen, aber nur in winzigen Mengen. Ein betrunkener Gyrkymu lief ernsthaft Gefahr, sich schwer zu verletzen, wenn er im berauschten Zustand flog. 19 Manche Menschen schienen es dagegen geradezu zu genießen, sich bewusstlos zu trinken. Auch dies war eine Eigenheit, die Alyx sinnlos erschien. Also beobachtete sie und versuchte, es zu verstehen. Wenigstens Mischa war eine reine Freude. Er nahm sich zwar eine Spur zu wichtig, aber sie hegte den Verdacht, dass er damit nur Graf Serjei ärgern wollte. Wenn sein Vater die Stirn runzelte, steckte er zurück, und Alyx betrachtete das als gutes Zeichen. Vater und Sohn liebten einander ganz offenkundig. Dies wärmte ihr das Herz und zugleich weckte es eine ungestillte Sehnsucht. Sie hatte von vielerlei Seiten versichert bekommen, ihr Vater habe sie innig geliebt. Sie glaubte es auch, denn als sie es zum ersten Mal hörte, hatte Preiknosery ihr erzählt, wie Prinz Kiril sie ihm anvertraut hatte. »>Sie ist jetzt deine Tochter<, hat dein Vater zu mir gesagt.« Der Gyrkymu hatte mehrmals mit dem Kopf genickt.\»Er ist sehr stolz auf dich.« Von Preiknosery hatte Alexia das angenommen und sich daran geklammert. Das Wissen um die Liebe ihres Vaters war ein Fels in ihrem Leben gewesen. Ihr Vater hatte gewollt, dass sie bei den Gyrkyme lebte. Er hatte gewollt, dass sie zu einer Kriegergestalt heranwuchs, so wie er eine dargestellt hatte. Ihr Vater hatte sie fortbringen lassen, als Swarskija noch in okranscher Hand gewesen war. Eines Tages würde sie zurückkehren und die Stadt wiedererobern, so wie er es sich gewünscht hatte. So viel wusste sie von ihrem Vater und seiner Liebe für sie. Preiknosery hatte ihr von ihm und ihren gemeinsamen Abenteuern erzählt, als sie beide noch 20 Junggesellen gewesen waren. Diese Geschichten hatten ihren Vater sehr lebendig werden lassen, denn Preiknosery neigte nicht zu romantischen Verklärungen. Er ließ sie den Vater sehen, wie er wirklich war, stellte ihn nicht als den epischen Heroen dar, zu dem er in der Vorstellung anderer geworden war. Sie hatte die Wahrheit hinter der Legende gesehen, und dieser Wahrheit gerecht zu werden, hatte sich als schwere Herausforderung erwiesen. Sie stand auf, nahm die Decke ab und hing stattdessen ihre nasse Kleidung auf. Alyx wrang das Wasser aus den langen, weißblonden Haaren, dann flocht sie sich einen Zopf. Fast war sie fertig, als sie an das große Feuer trat, wo ihr Onkel und Cousin bei den anderen saßen. »Oh, Prinzessin, ich fürchte, das könnt Ihr nicht tun.« Graf Serjei stand auf und bot ihr einen besseren Platz dicht am Feuer an. »Der Kronzirkel hat erklärt, dass alle Frisuren oder Haarverzierungen die Traumjagd stören. Ihr müsst verstehen: Die Haare stellen für den Geist dar, was die Wurzeln für eine Pflanze sind. Um den wahren Geist Okrannels in Euch aufzunehmen, müssen sich Eure Wurzeln frei entfalten.« Mischa schnaubte. »Das erklärt, warum kahlköpfige Männer keine Traumjagd auf sich zu nehmen brauchen.« Serjei drehte sich um und bellte: »Männer, die alt genug sind, kahl zu sein, können sich noch an unsere Heimat erinnern - oder sie sind bei ihrer Verteidigung gefallen.« »Nicht alle sind gefallen, Graf Serjei.« Alyx knotete einen kleinen Lederstreifen um das Ende ihres Zopfes. »Onkel Valeri ist noch sehr lebendig.« 21 Der ältere Mann stocherte mit einem Stock im Feuer. »Ich bin sicher, der Graf wollte nicht andeuten, dass diejenigen, die geflohen sind oder auf andere Weise überlebt haben, darum als ehrlos gelten.« »Nein, nein, natürlich nicht. Ich habe nichts dergleichen gemeint.« Serjei lächelte beinahe unschuldig. »Falls ich etwas gereizt wirke, liegt das nur daran, dass mir so viel an einer vollkommenen Traumjagd gelegen ist.« »Tante Tatjana erwartet es.« Ein spöttisches Funkeln lag in Mischas Blick. »Ich glaube, sie erwartet Großes von uns, Alexia, gewaltige Omen.« Serjei bebte, aber Valeris warme, gelassene Stimme schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, dass du den armen Grafen nur reizen willst, Mikhail. Doch er hat Recht. Man kann viel aus den Träumen auf einer Jagd lernen. Privates ebenso wie Öffentliches. Und das eine vom anderen zu trennen, ist häufig nicht leicht. Aber Träume können wahr werden - weil die Götter es so wollen, oder weil wir daran arbeiten, sie wahr zu machen.« Serjei runzelte die Stirn. »Wollt Ihr die Wahrheit der Träume in Frage stellen, mein Fürst?« Valeri stocherte weiter in den Kohlen. »Ich bin nur ein einfacher Krieger, Graf Serjei, und es gibt weisere Leute als mich, deren Aufgabe es ist, die Träume einer Traumjagd auszulegen. Aber die Tatsache, dass Träume ausgelegt werden müssen, lässt mich vermuten, es könnte dabei zu Irrtümern oder begründeten Zweifeln kommen.« Alyx setzte sich neben ihren Onkel. »Wie meinst du das?« 22
»Ganz einfach, Alexia. Nehmen wir einmal an, du hast einen Traum, in dem du dein Schwert nimmst und einen Schnatterer in zwei Hälften spaltest. Es könnte sein, dass dieser Traum eine Begegnung voraussieht, bei der du genau das tust. Man kann den Traum aber auch als Allegorie deuten, und als Zeichen, dass du die Hälfte der Schnattererheere, die Kytrin zusammengezogen hat vernichten wirst. Oder er könnte darauf hindeuten, dass du im entscheidenden Moment einer Schlacht eine Schnattererformation spalten wirst und sie so zum Untergang verurteilst. Alle drei Lesarten des Traums sind gleichermaßen gültig. Bleibt die Frage: Welche ist die richtige?« Serjei klatschte in die Hände. »Ich bin sicher, angesichts der Bedeutung der Prinzessin wird man dies als Zeichen dafür sehen, dass sie alle Schnatterer vernichten wird, die sich ihr entgegenstellen, und so unserer Heimat die Freiheit bringt.« Valeri schaute auf. »Ich würde ebenfalls hoffen, dass Eure Interpretation die richtige ist, Graf Serjei. Aber wer kann das wissen?« »Der Kronzirkel, mein Fürst, er weiß es.« Serjei nickte zuversichtlich. »Und ich werde dafür Sorge tragen, dass alles gut vorbereitet ist. Die Omen der Traumjagd Prinzessin Alexias werden eindeutig sein.« 23 Die Gespräche gerieten ins Stocken, als die Köche verkündeten, dass der Eintopf fertig sei. Die Mahlzeit aus dem wenigen frischen Proviant, den sie unterwegs hatten eintauschen können, und einer Menge Dörrfleisch gekocht, war keine Feinschmeckerkost. Doch an einem verregneten Abend, in einer Höhle an der Grenze zu Okrannel, schien sie Alyx das Beste zu sein, was sie je gegessen hatte. Auf jeden Fall war es eine ihrer exotischsten Mahlzeiten, denn Menschen verwendeten reichlich Gewürze. Die Gyrkyme, die ihr Essen frisch, wenn nicht sogar roh verzehrten, hatten dafür wenig Bedarf. Nach dem Essen holte Alyx ihr Schwert und einen kleinen Beutel aus ihrer Nische. Ihre Waffe hatte ein Heft, das lang genug war, um es mit beiden Händen zu umfassen, und eine gekrümmte Klinge von etwas mehr als eine^ Schritt Länge. Sie lief auf eine scharfe Spitze zu, mit der man zustoßen konnte. In der Hauptsache war die Waffe jedoch auf Hiebe ausgelegt. Die Klinge hatte man zusätzlich verstärkt, und das Stichblatt war lang genug, um ihre Hände gegen eine gegnerische Waffe zu schützen, die an der Klinge abwärtsglitt. Sie zog das Schwert aus der Scheide und holte ein Fläschchen Öl aus dem Beutel, zusammen mit einem Wetzstein und einem Tuch. Sie träufelte etwas Öl auf die Säbelklinge und verteilte es über das Metall. Graf Serjei lächelte sie mitleidig an. »Ihr seid so berechenbar, Prinzessin. Jeden Abend putzt Ihr Euer Schwert.« 24 »Ihr habt Eure Rituale, ich habe die meinen.« »Nun, morgen Nacht werdet Ihr auf das Eure möglicherweise verzichten müssen, denn die Regeln der Traumjagd sind sehr streng.« Alexia blickte zu ihrem Onkel hinüber. »Hast du für die Traumjagd dein Schwert zurückgelassen, Onkel?« »Ich habe meine schon vor langer Zeit absolviert. Ein solches Verbot gab es früher noch nicht.« Er lächelte. »Wir nehmen dieselbe Route wie ich damals. Ich war in Lakaslin, als Tatjana von ihrer Traumjagd zurückkehrte. Sie war völlig berauscht von Ehrfurcht und Visionen, und, na ja, ich fand das Ganze erregend.« Mikhail musterte seinen Vater neugierig. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.« »Du warst noch klein und bei deiner Mutter in Yslin.« »Aber wie konntest du so interessant finden, was die Vettel erzählt hat?« Mikhail runzelte die Stirn. »Wenn ich dabei war, hast du noch nie den Eindruck erweckt, von irgendetwas begeistert zu sein, das sie sagt.« Der ältere Mann seufzte. »Du musst die Umstände verstehen. Das Ganze ist ein gutes Dutzend Jahre her. Ich war einer von denen, die während der Invasion nach Süden geflohen waren. Ich wollte nicht gehen, aber mein Bruder befahl mir, einen Flüchtlingstreck in Sicherheit zu bringen - Tatjana eingeschlossen. Als sich Prinz Augustus den Weg durch Okrannel zurück nach Süden freikämpfte, führte ich eine Armee nordwärts bis nach Swojin. Wir schlössen uns zusammen und wurden nach Süden zurückgetrieben. Noch weit mehr von unserem Volk wurden bei diesem Feldzug 25 allerdings gerettet, aber ich hatte mir die Befreiung erhofft. Stattdessen wurden wir wieder besiegt. Fünf Jahre später befand ich mich in der Hoffnung in Lakaslin, die jeranische Krone davon überzeugen zu können, dass sie uns gestatte, von Jerana aus Vorstöße nach Okrannel zu unternehmen. Der König lehnte ab, und dies war eine weise Entscheidung. Keiner von uns ahnte, dass sich Tatjana nach Okrannel eingeschlichen hatte - nicht zum ersten Mal, und auch nicht zum letzten - und voller Visionen eines freien Okrannels zurückkehren würde. Sie hatte dieses Urbild eines freien Landes geträumt, doch es war als Mosaik erschienen. Sie entschied, dass die Träume der anderen zu Steinchen in diesem Mosaik werden würden.« Er lächelte träumerisch. »Ich bat weder sie noch den König um Erlaubnis und hastete nach Norden. Allein betrat ich Okrannel und verbrachte die Nacht auf einem Berghang. In der Ferne konnte ich Swojin und den Wrijinsee erkennen. Irgendwo dort draußen, jenseits meines Sichtfeldes, lagen die Gräber deiner älteren Brüder, Mikhail, der Zwillinge. Sie starben auf dem Rückzug, noch keine fünf Jahre alt, und als ich hinaus auf meine Heimat blickte, schnürte sich mir die Brust zusammen - wie an dem Tag ihres Todes. Mit schwerem Herzen, das trotzdem in der Hoffnung schlug, von der Tatjana gesprochen hatte, legte ich mich schlafen. Es war eine lange Nacht, aber eine Nacht voller Omen.« Mikhails Augen wurden groß. »Was hast du geträumt, Vater?« Graf Serjei hob abwehrend die Hand. »Das kann er
26 Euch nicht sagen. Es ist nicht gestattet. Niemand darf von Eurem Traum erfahren.« Alyx hob die rechte Augenbraue. »Außer dem Kronzirkel.« »Seid Ihr damit nicht einverstanden, Prinzessin?« »Was ich sagte, rechtfertigt diese Schlussfolgerung nicht, Graf Serjei.« Ihre violetten Augen wurden schmal. »Ihr habt eine falsche Aussage gemacht. Ich habe Euch lediglich verbessert.« Valeri schmunzelte. »Der Ablauf meiner Traumjagd hat wenig gemein mit dem, was Ihr tun werdet. Es gab keine festgelegten Prozeduren. Als ich zurückkehrte, fragte mich Tatjana, was geschehen sei, und ich erklärte es ihr. Niemandem sonst habe ich es erzählt, aber nicht auf Grund irgendeines Verbotes. Ich stelle meine eigenen Regeln auf, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe wenig Vertrauen in Träume.« »Doch Ihr werdet mir zustimmen, mein Fürst, dass die Träume der Traumjagd etwas überaus Besonderes sind.« »Wie Ihr es sagt, Graf Serjei, werden sie von unserem Volk sicherlich so betrachtet. Ich halte das nicht für falsch.« »Warum nicht, Onkel?« »Ganz einfach, Alexia. Unser Volk lebt im Exil. Auch wenn man in Yslin nicht viele von ihnen sieht, die Vorqaelfen sind in derselben Lage. Seit einem Jahrhundert bereits, seit die Kräfte der Nordlandhexe ihre Heimstatt überrannt haben. Du brauchst sie dir nur anzuschauen, um zu sehen, was Heimatlosigkeit einem Volk antun kann. Manche von ihnen ertragen 27 den Schmerz nicht und suchen im Rausch das Vergessen. Andere sind zu Verbrechern verkommen, weil ihrem Leben der Sinn fehlt. Manche versuchen, sich bei den Mächten einzuschmeicheln, die in der Lage sein könnten, ihre Heimstatt zu befreien. Und wieder andere, die wenigen Beherzten, führen selbst Krieg gegen ihre Feinde. Die Träume, der Kronzirkel, das Buch der Träume - all das gibt unserem Volk Hoffnung. So wie die NorderstettProphezeiung der Welt sagt, dass auch Kytrin eines Tages ihr Ende finden wird, so haben wir Okraner unsere Träume - Träume, die unser Land wiederherstellen werden. Sie einen uns, und selbst wenn nur einer von Tausend ein Körnchen Wahrheit enthielte, die Träume hätten uns damit einen gewaltigen Dienst geleistet.« Alyx nickte nachdenklich. Sie verstand, was ihr Onkel meinte, und stimmte ihm sogar zu. Nur gefiel ihr ganz und gar nicht, wie der Kronzirkel dies alles in Geheimhaltung hüllte. Das gab ihm eine große Macht. Der Kronzirkel mochte das Leben im Exil regulieren und ihm ein Ziel geben, aber er nahm dem okranschen Volk auch die Freiheit. So wie Alyx bei den Gyrkyme ihr Glück gefunden hatte, mochten auch andere außerhalb der engen Regeln der Exilgemeinschaft glücklicher werden. Graf Serjei nickte ernst. »Die Träume leisten noch weit mehr, mein Fürst, wie Ihr wohl wisst. Um ihre Bedeutung und Gültigkeit so weit wie möglich zu erhöhen, gibt es bestimmte Prozeduren. Das System wurde über die Jahre entwickelt. Ich habe bereits viele Reisen hierher geleitet - keine so wichtig wie die Eure, doch manches Mal fast so bedeutend. Die Ergebnisse waren 28 höchst erfolgreich. Ich bin sicher, dies wird auch diesmal so sein.« Mikhail verzog das Gesicht. »Prozeduren? Das wird doch nicht schmerzen, oder?« »Oh, meine Güte, nein!« Serjei lachte hell, aber das Echo klang falsch. »In meinem Gepäck habe ich besondere Gewänder, die Ihr anlegen werdet, besondere Kissen, auf denen Ihr Euch betten werdet. Und Wein.« Er sah zu Alexia hinüber. »Morgen Abend werdet Ihr Euer Schwert nicht putzen müssen, Prinzessin. Es darf nicht sein, dass Ihr dergleichen in den Traumpavillon mitnehmt.« Verärgerung zuckte über ihre Züge. »Ich hätte gedacht, es sei von Bedeutung, dass ich mich wohl fühle. Ich bin eine Kriegerin und mag nicht unbewaffnet sein.« Valeri beugte sich herüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde mich um dein Schwert kümmern, Nichte. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Außerdem haben wir eine ganze Kompanie Soldaten bei uns, die für eure Sicherheit sorgen wird.« »Der Großherzog hat völlig Recht. Die Jagden werden in der Regel von mir und vielleicht von noch zwei anderen Familienmitgliedern geleitet. Zu unserem Schutz vertrauen wir auf deren Heimlichkeit und auf die Heiligkeit unserer Mission. Ihr beide seid viel zu wichtig, um irgendein Risiko einzugehen.« Alyx' Onkel sah sich um. »Diejenigen hier, die keine Blutsverwandten sind, stehen seit Generationen in den Diensten des Hauses Swarskija. Hier haben wir nichts zu befürchten.« Alyx schwieg, während Serjei weiter faselte, was sie 29 wann tun würden. Alles stand in einem Verhältnis zum Sonnenuntergang. In gewisser Weise erschien ihr das Ganze äußerst lächerlich. Sie marschierten in feindliches Gebiet, um dort das Gegenstück eines Frühlingsidylls aufzubauen, nur damit zwei Kinder ruhig schlafen konnten. Die Absurdität des Unternehmens war offensichtlich. Zugleich aber erkannte sie, dass es im Grunde harmlos war. Und eine gewaltige Zeitverschwendung. Fast hätte sie ihre Überlegungen hier abgeschlossen und sich mit diesem Urteil begnügt, um das ganze Unternehmen als Dummheit abzutun. Doch hier ging noch etwas anderes vor, etwas, das ihr Unbehagen bereitete. Sie weigerte sich, den einfachen Ausweg zu wählen, und ein kurzer Blick auf Mikhails träumerische
Miene bot ihr den Schlüssel zu ihren Gefühlen. Alexia schauderte. Der Grund, warum sie all das hier als Firlefanz abtun wollte, war schlichtweg die Möglichkeit, sie könnte bei der Traumjagd scheitern. Ihr Onkel hatte sie darauf hingewiesen, dass die Träume dem okranschen Volk Hoffnung gaben, und für viele von ihnen war sie die Verkörperung dieser Hoffnung. Was, wenn sie einen ganz banalen Traum hatte? Was, wenn sie gar nichts träumte? Schlimmer noch, was, wenn sie von Katastrophe und Niederlage träumte? Was, wenn sie, die Hoffnung ihres Volkes, dessen Hoffnungen zerschlug? Sie beobachtete Serjei bei seinem Vortrag und sah, dass sein Mund lächelte, seine Augen aber nicht. Und sie fragte sich, wie der Kronzirkel mit einem Untergangstraum verfahren würde. Würde er ihn unter30 drücken? Der einfachste Weg für den Zirkel wäre, ihn als Vorhersage eines schlimmsten Falls zu deuten und Veränderungen in der okranschen Gesellschaft einzuleiten, um zu verhindern, dass er wahr wurde. Falls sie vorhersah, dass sie unter dem Banner des sich aufbäumenden geflügelten Rosses eine Niederlage erlitt, würden sie das Wappen Okrannels ändern oder irgendeine von Millionen anderer Einzelheiten, damit ihr Traum nicht Wahrheit werden konnte. Aber was, wenn er trotzdem wahr würde? Entweder glaubte man an prophetische Träume, oder man gab zu, dass sie nichts als nächtliche Hirngespinste waren, deren Wert allein in den Geschichten lag, die man daraus weben konnte. An die meisten ihrer Träume erinnerte sich Alyx nicht mehr, aber rund die Hälfte der anderen waren wirr und fremdartig gewesen, mit wenig Bezug zur Wirklichkeit. Wenn überhaupt. Häufig waren sie auch Ausdruck von Sorgen. Diese Art Traum hatte sie immer als Mittel benutzt, sich über ihre Gefühle klar zu werden und einen Weg zu suchen, Schwierigkeiten auszuweichen. Doch die Götter allein wussten, wie der Kronzirkel mit so etwas umgehen würde. Im Grunde rebellierte sie gegen diese Übung, weil sie dabei allein nach ihren Träumen beurteilt wurde, über die sie keinerlei Kontrolle besaß. Es war die Entsprechung eines Münzwurfs, der über Leben oder Tod entschied. Man würde sie nicht danach beurteilen, wer sie war oder was sie leisten konnte, sondern allein danach, wie leicht sich ihre Träume in das Mosaik einfügen ließen, das Tatjana Jahre zuvor erträumt hatte. 31 Sie wollte aufstehen und verkünden, dass sie nach Gyrvirgul zurückkehrte. Doch dieser Drang verschwand fast so schnell, wie er aufgekommen war. Mikhail legte großen Wert auf ihre Anwesenheit, auch wenn sie ihn kaum kannte. Obwohl er seine Traumjagd ohne Zweifel in jedem Fall als sehr wichtig betrachtet hätte, machte ihre Begleitung sie noch weit bedeutender für ihn. Wäre sie umgekehrt, hätte ihn das verletzt. Und das wollte sie nicht. Außerdem hatte ihr Onkel etwas an sich, das sie von offenem Widerstand abhielt. Alle anderen in der Gruppe erfüllten zwar ernsthaft ihre Pflicht, wurden aber erkennbar nervöser, je näher sie Okrannel kamen. Valeri strahlte dagegen eine Selbstgewissheit aus, die ihn zur Stille im Auge des Orkans machte. So wild der Aufruhr in ihrem Herzen auch tobte, wenn sie ihren Onkel ansah, erschien er ihr unbedeutend und auf seltsame Weise sogar als ein lediglich notwendiger Teil der Übung. Alexia gestattete sich ein Gähnen. »Verzeihung, aber ich bin sehr müde. Ich denke, ich ziehe mich für die Nacht zurück. Vermutlich wollen wir früh aufbrechen und schnell vorankommen?« Valeri nickte. »Bevor du schlafen gehst, möchte ich noch etwas mit dir teilen. Ihr entschuldigt uns.« »Natürlich. Schlaf gut, Cousine.« »Du auch, Mischa.« »Gute Nacht, Hoheit.« »Schlaft gut, mein Fürst.« Valeri stand auf und winkte sie in die untere Kammer. Sie wanderten an den Pferden vorbei und bis zum 32 Eingang der Höhle. Der Regen hatte aufgehört und durch Risse in der Wolkendecke konnten sie einzelne Sterne funkeln sehen. Alyx sah zu wenig, um bestimmte Sternbilder zu erkennen, aber allein die Tatsache, dass sie sichtbar waren, ließ für den letzten Reisetag auf eine bessere Witterung hoffen. Valeri nahm ihre Hände und drückte sie. »Ich weiß, dass dir vieles an diesem Unternehmen wie Unsinn erscheinen muss. Mischa war noch nicht geboren, als Okrannel fiel, und Serjei war noch ein Kind. Er besitzt kaum eine Erinnerung an seine Heimat. Für sie sind es Rituale wie dieses, die ihnen erlauben, sich als echte Okraner zu fühlen.« »Das verstehe ich.« »Du bist ein kluges Mädchen, deshalb habe ich daran keinen Zweifel. Aber möglicherweise verstehst du es doch nicht so, wie du solltest.« Ihr Onkel kicherte leise. »Tatjana würde das zwar nie bestätigen, aber ich vermute, ihr Bild der Traumjagd wurde aus dem Ritual geboren, mit dem die Elfen an ihre Heimstatt gebunden werden. Mit der Traumjagd betreten unsere Exilanten das erste Mal okranschen Boden. Sie ist ihre Erfahrung der Heimat. Diese Erfahrung verbindet sie mit Okrannel, so wie ihre Träume mit seiner Zukunft verbunden sind. Durch die Traumjagd sind sie mit unserem Land verwoben. Du brauchst das nicht, weil du diese Verpflichtung bereits fühlst. Du bist wahrhaft meines Bruders Tochter. Preiknosery hat dich getreu Kirils Wünschen aufgezogen. Andere würden es möglicherweise als Ironie des Schicksals betrachten, dass ausgerechnet du, die außerhalb
unserer Gemeinschaft 33 aufgewachsen ist, die wahre Tochter Okrannels bist. Aber ich betrachte es nicht so. Der Sinn dieses Rituals besteht für dich deshalb nicht darin, dich an Okrannel zu binden, sondern das okransche Volk an dich.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe, Onkel.« »Das wirst du noch. Es ist ganz einfach, Alexia. Indem der Kronzirkel eine Führungsrolle in unserer Gesellschaft übernommen hat, bietet er unserem Volk auch Hoffnung.« Seine Augen wurden schmal. »Man könnte sogar sagen, dass er mit seiner Deutung der Träume Hoffnung herstellt.« »Herstellt?« Der alte Mann lächelte verlegen und senkte die Stimme. »Serjei hat Recht, dass niemand seine Träume offenbaren sollte, aber du musst wissen, dass es trotzdem schon vorgekommen ist. Dementsprechend sollte es dich nicht allzu sehr überraschen, dass es recht amüsant ist, von einem Traum zu erfahren, bevor er dem Kronzirkel mitgeteilt wird - und dann zu hören, wie der Kronzirkel dem Träumer mitgeteilt hat, was er tatsächlich geträumt habe.« Sie schloss für einen Moment die Augen und dachte nach. »Dies könnte ich so auslegen, dass es unwichtig ist, was ich träume.« »Ganz und gar nicht. Was du träumst, ist sehr wichtig. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass diese Träume wahr werden.« Er hielt einen Finger in die Höhe. »Aber noch wichtiger ist, dass du, Prinzessin Alexia, träumst. Dass du träumst, verschafft den Träumen und Hoffnungen all der anderen erst Wert. Du 34 musst ihnen voranschreiten, wie der Kronzirkel. Und wenn das erfordert, Hoffnung herzustellen, so musst du eben das tun. Man könnte argumentieren, dass die Herstellung von Hoffnung das wahre Wesen der Menschenführung ist, denn Hoffnung inspiriert zur Tat.« Alexia nickte, dann sah sie Valeri in die Augen. »Ich finde, es wäre besser für unser Volk, es würde dir folgen statt dem Kronzirkel.« »Ein unbedeutendes Detail. Der Kronzirkel besitzt die Macht, die mir fehlt. Das ist kein Problem. Es gibt mir die Freiheit, dir und deiner Generation dabei zu helfen zurückzugewinnen, was wir Älteren verloren haben.« Er nahm ihren Kopf in beide Hände, zog ihn zu sich herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut, Alexia, und spare dir die Träume für morgen Nacht auf.« »Fühlst du es, Cousine? Ich schon.« Mischa stellte sich in die Steigbügel und warf die Arme zur Seite. Die Sonne strahlte ihm ins Gesicht und ließ sein breites Grinsen leuchten. »Wir sind zu Hause.« Alexia antwortete nicht, sondern ging in sich und wartete auf eine Art magisches Kribbeln, irgendein Gefühl, das ihr bestätigte, dass sie sich wieder im Land ihrer Geburt aufhielt. Der Pfad durch die Berge war auf dem Weg nach Norden immer wieder weit nach Osten oder Westen abgebogen. Sie hatten ein Flüsschen über35 quert und waren dann einen niedrigen Hang heraufgestiegen, von dem aus sie hinab auf Okrannel blickten. Dann kamen sie an kleinen Steinpfosten vorbei, die als offizielle Grenzmarkierungen dienten. Viele in der Gruppe seufzten oder juchzten. Alexia fühlte nichts. Augenblicklich legte sich Düsternis um ihr Herz. Unter sich sah sie das silberne Wasser des Wrijinsees glänzen. Etwa fünfzig Meilen entfernt machte sie Swojin aus. Dunkler Rauch verzerrte die Silhouette der Stadt. Irgendetwas an ihrem Anblick verstörte Alyx, und sie wusste, sie würde froh sein, wenn der Weg zurück in den Wald führte, der die Stadt verbarg. Stimmt etwas nicht mit mir, dass ich bei meiner Rückkehr nichts fühle? Sie bewegte unbehaglich die Schultern. Oder wirkt dieser Zauber nur bei denen, die das Land zum ersten Mal betreten? Ich wurde hier geboren und fortgetragen. Vielleicht ist es wirklich so, wie Onkel Valeri gesagt hat - ich bin bereits an Okrannel gebunden. Sie erwiderte Mischas Lachen. »Cousin, ich vermute, du spürst es für uns alle mit.« »O ja, das tue ich, Alyx.« Seine Augen wurden schmal. »Ich spüre, wie das Land danach schreit, befreit zu werden. Ich werde dir dabei helfen, weißt du. Ich werde hier sein, wenn wir sie verjagen. Wir werden keine Gnade geben oder erwarten - und keinen Rückzug gestatten.« »Nein, natürlich nicht, Mischa.« Alyx blickte nach rechts, wo Graf Serjei erschien. »Und Ihr, mein Fürst? Was fühlt Ihr, wenn Ihr Swojin seht?« }6 »Zorn, Hoheit. Ungeduld.« Ein gezwungenes Lächeln zerschmetterte den leidenschaftlichen Ausdruck auf seinen Zügen. »Auch ich werde meine Heimat befreien. Doch das liegt in der Zukunft, in einer Zukunft, in die uns Eure Träume leiten werden. Es ist nicht mehr weit.« Valeri, der vor den beiden Jugendlichen über die Grenze geritten war, drehte sein Ross auf dem schmalen Gebirgspfad herum. »Ach ja, Graf Serjei, es hat eine kleine Änderung gegeben. Ich weiß, Ihr wolltet den Hain am Spaltfels wählen, aber ich möchte nicht so tief ins Tal. Etwa eine Meile darüber liegt eine Wiese, auf der ich meine Traumjagd absolviert habe. Ich wünsche, dass mein Sohn diese Erfahrung ebenfalls dort macht.« Serjeis Miene verdüsterte sich. »Aber ich habe sehr genaue Anweisungen erhalten, mein Fürst. Euch entgegenzukommen, indem wir den Weg vom Norden her aus Lakaslin nehmen, statt durch die Berge zu reiten, war eines. Aber das ... Ich kann das nicht zulassen. Die Wünsche der Großherzogin waren sehr genau. Der Hain
am Spaltfels ist ein äußerst erfolgreicher Ort für Traumjagden.« »Dessen bin ich mir bewusst, mein Fürst.« Valeri lächelte milde. »Ich habe mich an meinen Vater gewandt, und er gestattete mir, meinen Sohn dorthin zu bringen.« »Aber das wird Euch weit von uns und der Prinzessin entfernen.« Alyx schüttelte den Kopf. »Ich werde ebenfalls zu dieser Wiese reiten. Es wäre mir eine Ehre, eine solch besondere Stätte zu teilen.« 37 Der Graf setzte zu einer Entgegnung an, dann schloss er den Mund und nickte zögernd. »Natürlich, Hoheit. Je höher auf dem Berg und näher an den Göttern, desto besser werden Eure Träume sein.« Die Wiese erwies sich als ein hervorragender Lagerplatz. Sie lag dreißig Schritt oberhalb der Baumgrenze, und von ihrem nördlichen Rand blickte man auf einen Teppich aus immergrünen Baumwipfeln. Ein Bach lieferte Trinkwasser und das Sommergras bot den Pferden reichlich Futter. Fußpfade in den Wald machten es leicht, Brennholz zu sammeln, und am frühen Nachmittag waren die Pavillonzelte errichtet und Serjei war damit beschäftigt, irgendwelche Tränke zu brauen, die sie für das Ritual benötigten. Alexia und Mischa durften keinen Finger rühren, während die anderen alles vorbereiteten. Serjei überreichte ihnen seidene Roben, so weich wie Gyrkymedaunen. Bei schlechtem Wetter hätten sie keinen erwähnenswerten Schutz gegen Regen oder Kälte geboten, aber als Schlafkleid waren sie sehr geeignet. Sobald ihr Zelt am Nordrand des Lagers aufgestellt war, bat Serjei sie, sich umzuziehen und dort zu warten. Serjei ging mit einem brennenden Kräuterbündel, von dem ein sehr aromatischer Qualm aufstieg, einmal rund um das Zelt, dann trat er ein und segnete auch das Innere mit dem Rauch. Alexia gefiel der Geruch nicht, aber sie ließ sich nichts anmerken. Mikhail lächelte die ganze Zeit und atmete tief ein. Sie hielt den Rauch nicht für ein Schlafmittel, Mikhail aber entspannte sich und begann vor sich hin zu summen. 38 Als Serjei wieder fort war, nickte er ihr zu. »Kennst du das Lied?« »Nein.« »Ein Schlaflied, das mir meine Mutter oft vorgesungen hat. Es wird mir beim Einschlafen helfen.« Seine Miene wurde ernst. »Es ist sehr wichtig, dass wir den richtigen Gemütszustand erzielen. Wir sollten an unser Land denken, an unsere Zukunft und daran, wie wir ihm am besten dienen können.« Sie hob die rechte Augenbraue. »Hat dir das der Kronzirkel gesagt?« »Nein. Die haben mir gar nichts gesagt, aber ich habe mich mit anderen unterhalten, die sehr bedeutsame Träume hatten. Sie haben mir erzählt, dass man es so machen sollte.« Alyx nickte kurz. »Das ist dir sehr wichtig, habe ich Recht?« »Natürlich ist es das.« Mischa schaute hinab auf den blau-goldenen, von Sternen übersäten Teppich. »Ich weiß, ich bin für unser Land nicht so wichtig wie du, aber ich weiß auch noch manches andere. Zum Beispiel: Ich werde Teil der Zukunft unseres Landes sein. Ich werde alles tun, was nötig ist, um Okrannel zu befreien, und mein Traum wird mir zeigen, was ich dazu tun muss.« Er senkte die Stimme, bis nur sie ihn noch hören konnte. »Mein Vater war sehr stolz auf meine älteren Brüder. Sie waren noch Kinder, als sie starben, noch nicht einmal fünf. Er spricht es nicht aus, aber ich sehe in seinen Augen, dass auch ihre Zukunft auf meinen Schultern ruht. Es macht mir nichts aus. Ich bin stolz 39 darauf. Dieser Traum wird mit seiner Bedeutung beweisen, dass ich dieser Verantwortung würdig bin.« Sie streckte die Hand aus und drückte seine Schulter. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass du es bist, Mischa.« Valeri erschien und warf eine Zeltplane zurück. »Die Sonne ist fast schon untergegangen. Es wird Zeit.« Die beiden traten ins Freie und setzen sich auf Klappstühle, den Rücken der untergehenden Sonne zugewandt. Vor ihnen loderte ein großes Feuer, über dem ein Kessel brodelte. Ein zweiter Kessel stand neben den Kohlen auf dem Boden, in seinem Innern war eine dampfende Flüssigkeit zu sehen. Serjei begrüßte sie mit einem stummen Nicken, dann schöpfte er den aromatischen Eintopf in Schüsseln. Jeder der versammelten Exilanten erhielt eine, nur Serjei selbst und die beiden Träumer nicht. Valeri stellte seine Schüssel unberührt ab und füllte Becher mit Gewürzwein, die er ebenfalls verteilte. Graf Serjei bedankte sich bei ihm. Zuletzt kam Valeri auch zu den beiden Träumern und reichte jedem einen kleinen Becher. »Hebt ihn euch auf, bis ihr zurück im Zelt seid. So ist es doch richtig, mein Fürst?« »Ja, Großherzog. Wir essen, wir trinken, wir verabschieden sie. Dann werden sie trinken, schlafen und träumen.« Valeri senkte die Stimme. »Gewöhnlich wird kein so großer Aufwand betrieben, aber jeder muss seinen Teil beitragen.« 40 Nachdem die Gesellschaft gegessen hatte, stand man auf und wanderte im Kreis um die beiden Träumer. Serjei ging voran und stimmte traditionelle okransche Weisen an. Möglicherweise hatte es sich bei den Liedern einmal um fröhliche Tänze gehandelt, jetzt aber war ihr Tempo gedrosselt, und die Texte hatte man angepasst, um das übergroße Leid des okranschen Volkes zum Ausdruck zu bringen. Was einst ein Lächeln ausgelöst und das Herz zum Klopfen gebracht hatte, zog nun die Mundwinkel herab und schnürte das Herz ein.
Alexia hatte keinen Zauber gespürt, als sie nach Okrannel kam, jetzt aber verschafften ihr die trostlosen Töne und trauernden Mienen der vorbeiziehenden Männer eine Gänsehaut. Jeder einzelne Sänger teilte über seine Stimme Schmerz und Verlust mit ihr. Obwohl sie die Worte nicht erwähnten, hörte sie Valeri seine verlorenen Söhne besingen und seinen toten Bruder. Trotz der leisen Stimmen musste die Nacht den Gesang weit hinaustragen, denn Alyx spürte, wie Geister aus den Gräbern stiegen und sich dem Kreis anschlössen. Sie fühlte die Gegenwart anderer, und die Verantwortung, die ihr Erbe war, legte sich schwer auf ihre Schultern. Mischa träumt davon, seinem Vater zu dienen und sich des Opfers seiner Familie würdig zu erweisen. Ich werde für so viel mehr Menschen träumen. Hoffnung ist das Mittel gegen ihren Schmerz - und ich muss sie ihnen bringen. Langsam verklangen die Stimmen, dann zogen all ihre Begleiter an den beiden Träumern vorüber. Sie 41 küssten sie auf beide Wangen und flüsterten: »Süße Träume, starke Träume«, bevor sie weitergingen. Sie verschwanden in der Nacht, ein Teil auf Wachtposten, die anderen in die Zelte, um zu schlafen, bis es für sie Zeit wurde, die Wache zu übernehmen. Als Letzter forderte sie Serjei auf, ihre Weinbecher zu nehmen und ihn zum Traumpavillon zu begleiten. Er blieb vor dem Zelt stehen. »Sobald Ihr eingetreten seid, wird Euer Zelt bis zum Morgengrauen geschlossen. Trinkt Euren Wein, den Wein, den Ihr mit uns allen geteilt habt, dann senkt den Kopf auf Euer Kissen. Entspannt Euch. Es wartet keine Gefahr auf Euch, nur Eure Zukunft. Ich wünsche Euch beiden die glücklichsten Träume.« Alexia folgte Mischa ins Zelt. Ihr Cousin setzte sich sofort auf seine Decke und kippte den Wein hinunter. Er schüttelte sich, dann leckte er sich die Lippen und streckte sich aus. »Ich werde die besten Träume haben.« »Ganz gewiss.« Alexia trank nur einen symbolischen Schluck Wein. Sie war davon ausgegangen, dass der Wein, den man ihnen gegeben hatte, ein Schlafmittel enthielt, da die Anspannung der Traumjagd dazu angetan war, jeden Schlaf zu vereiteln. Durch die Erziehung der Gyrkyme empfand sie jedoch eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Rauschmittel, und so stellte sie ihren Becher neben die Decke und versuchte, es sich bequem zu machen. Der Versuch schlug jedoch fehl, und Mischas leises Schnarchen störte sie dabei, sich zu entspannen. Der Boden erschien ihr bemerkenswert unbequem. Sie hob den Teppich, um nachzuschauen, woran das lag, und 42 fand in einer flachen Bodendelle ihr Lederzeug und Schwert. Sie zog die Sachen hervor und lächelte. Onkel Valeri hat gesagt, er kümmere sich darum. Er muss gewusst haben, dass ich mich ohne sie nicht entspannen kann, und angesichts des Schicksals, das mir vorherbestimmt wurde, ist er wohl auch der Meinung, dass es nur passend ist, wenn ich zum Kampf gerüstet träume. Schnell zog sie das Lederzeug an, sogar die Stiefel, und legte das Schwert neben sich. Sofort fühlte sie sich viel besser. Sie legte sich zurück und bemerkte einen leichten Kräuterduft, als ihr Kopf auf das Kissen traf. Der Geruch erinnerte sie an den Rauch eine Weile zuvor. Sie versuchte, die verschiedenen Bestandteile festzustellen, doch bevor sie sonderlich weit kam, übermannte sie der Schlaf. Zuerst glaubt sie nicht, dass sie träumt, denn was sie erlebt, ist weder episch noch prophetisch. Sie liegt im Bett, nackt, neben einem Mann, den sie nicht kennt. Aus dem Augenwinkel sieht sie langes weißes Haar und einen weißen Bart, aber die Hand, die die ihre hält, ist weder alt noch schwach. Sie will den Kopf drehen und ihn näher betrachten, denn sie fühlt ein brennendes Verlangen nach ihm. Aber es ist unmöglich. Sie kann sich nicht rühren. Diese Lähmung überrascht sie nicht, denn sie hat sie schon früher erlebt. Was sie hingegen sehr wohl überrascht, ist das Erscheinen einer leuchtenden Frau, groß und schlank, geschmeidig und stark. Ihre Augen besitzen keine Pupillen und die Enden der spitzen Ohren 43 ragen durch das lange Haar. Eine Elfe. Aber keine gewöhnliche Elfe. Eine Vorqselfe. Oder noch etwas anderes. Die Elfe zieht ein Kissen unter dem Kopf des Mannes heraus und drückt es auf sein Gesicht. Der Mann verkrampft sich, reißt sich von Alyx los. Die Elfe sagt etwas und schaut sie dabei an, aber Alyx hört nichts. Sie weiß, der Mann stirbt, und sie kann diesen Mord nicht verhindern. Dann erscheint eine Schattengestalt am Ende des Bettes. Eine gepanzerte Faust peitscht herum und trifft die Elfe am Kopf. Der Hieb schleudert sie gegen die Wand. Das Kissen rutscht vom Gesicht des Mannes und er keucht laut auf. Alyx sieht, dass die Schattengestalt stofflicher wird. Das Gesicht des Mannes nimmt Züge an, die ihr vertraut erscheinen, doch es ist kein Gesicht, an das sie sich erinnert. Sogleich erkennt sie ihn aus zahllosen Gemälden und Standbildern. Mein Vater! Er hat sie gerettet, und doch - in dem Augenblick, den sie braucht, ihn zu erkennen, ist er verschwunden. Alexia schreckte hoch. Sie setzte sich auf, ihre Brust hob und senkte sich. Platinblonde Haare klebten schweißnass auf ihrer Stirn. Sie blinzelte verwirrt, wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Dann holte Mischas Schnarchen sie in die Gegenwart zurück. Sie war in ihrem Traumpavillon, in Okrannel. Sie war aus einem Albtraum erwacht. Doch es war mehr als nur der Albtraum. Etwas anderes nagte am Rande ihres Bewusstseins. Zwischen 44 Mikhails Schnarchgeräuschen lauschte sie aufmerksam auf die üblichen Nachtgeräusche, hörte jedoch nichts.
Die Grillen schwiegen und kein Nachtvogel gab einen Laut von sich. Aber sie hörte einen Zweig brechen, das Rascheln von Gras und einen leisen Fluch im Wind. Da stimmte etwas nicht. Sie erhob sich in die Hocke und schnallte das Schwert um. Vielleicht ist diese Nacht zum Träumen gedacht, aber davon habe ich genug. Sie glitt aus dem Zelt und in die Nacht. Auch andere haben heftig geträumt, und oft mit böser Absicht. Ich will sichergehen, dass sich ihre Träume nicht bewahrheiten. IV Während sie lautlos durch die Nacht schlich, war Alexia wieder in ihrem Element. Ihre Nachtsicht war zwar nicht gut genug, um an der Fährte zu erkennen, wessen Spur sie folgte, aber dem Weg, den sich da jemand durch das lange Sommergras bahnte, hätte selbst ein Blinder folgen können. Das wütende Gemurmel des Mannes kurz bevor Alyx eine Stelle fand, an der er gestolpert und gestürzt war, gab ihr einen Hinweis darauf, wen sie verfolgte. Allzu groß war die Auswahl aber ohnehin nicht gewesen. Abgesehen von Graf Serjei dienten alle in der Reisegesellschaft seit Generationen dem Haus Swarskija. Serjei hatte keinen Wein getrunken - inzwischen war sie sicher, dass er ein Schlafmittel enthalten hatte. 45 Soweit sie wusste, lagen alle anderen Gruppenmitglieder inzwischen in tiefem Schlaf. Also stand nur sie allein zwischen Serjei und dessen Plänen, wie auch immer sie geartet sein mochten. Ihr Opfer war auf dem Weg einen der Fußpfade in den Wald hinab, dann stolperte er zwischen den Bäumen entlang. Er zeigte keinerlei Waldläuferkenntnisse oder Schleichfähigkeit. Alyx fand einen Wildwechsel, der grob entlang seines Weges verlief und ihr gestattete, lautlos voranzukommen. Nicht, dass es nötig wäre. Er macht genug Lärm, um den Anmarsch einer Armee zu übertönen. Sie hatte keinerlei Zweifel, dass sein Mantel an Dutzenden von Sträuchern Fäden hinterlassen hatte. Und seine Hose musste nass und schwarz sein, so oft war er schon über Luftwurzeln gestrauchelt. Aber er ließ sich nicht beirren und Alexia folgte ihm. Er hatte einen Vorsprung von fünfzehn Schritt, so dass sie ihn nicht sehen konnte. Aber das war auch nicht notwendig. Alexia konzentrierte sich darauf, selbst kein Geräusch zu machen. Das war etwas, das sie in Gyrvirgul hervorragend gelernt hatte. Die Gyrkyme konnten sehr leise fliegen und verfügten über ein ausgezeichnetes Gehör. Bei ihren Spielen hatte sie häufig den Part der Maus gespielt, die versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, während ihre Spielgefährten den Falkenpart übernahmen. Am Tag waren es deren scharfe Augen gewesen, die ihnen den Sieg sicherten, und nachts übernahm ihr Gehör dieselbe Aufgabe. Vor ihr brach Graf Serjeis lärmender Waldmarsch mit einem abrupten Schreckenslaut ab. Zwei Stimmen 46 ertönten ein Stück weiter links und hangabwärts. Die seine war schrill, die andere bellte fast. Sie verstand die Worte nicht. Dann erklangen neue Marschgeräusche, diesmal aber leiser. Sie setzte die Verfolgung fort und fand schnell die Stelle, an der der Mann auf Serjei gewartet hatte. Dann bemerkte sie einen seltsamen Geruch und verbesserte sich. Was auch immer hier gewartet hatte, es war kein Mensch. Und wenn es kein Mensch ist, steht es in Kytrins Diensten. Diese Erkenntnis trieb sie an. Sie hastete den Hang hinab, in der Hoffnung, dass noch keine Ablösung für den Wachtposten unterwegs war. Nach etwa einer Viertelmeile verließ sie den Pfad und schob sich durchs Unterholz. Hundert Schritt vor ihr brannten in der Mitte eines kleinen Baumhains drei Feuer. Die hohen Bäume verteilten den Rauch mit ihren Wipfeln so wirksam, dass er selbst in der Mittagssonne nicht zu sehen gewesen wäre. Als sie näher schlich, erkannte sie mehr Einzelheiten und konnte ein Gespräch zwischen Serjei und einem anderen Mann belauschen. »Da hast du uns ja eine hübsche Jagd geliefert, Serjei.« »Es ist nicht meine Schuld, Nikolas. Herzog Valeri hat unterwegs alle Pläne umgestoßen. Ich wollte die Gesellschaft in der Nähe des Shuskenhochlands in die Berge führen, damit wir ihnen die Schuld geben konnten. Valeri hat darauf bestanden, dass wir über Lakaslin reisen. Es stellt sich heraus, dass wir seine Traumjagd Schritt für Schritt nach vollzogen haben.« 47 Nikolas, deutlich größer und stämmiger als Serjei, wischte dessen Entschuldigung beiseite. »Du weißt, wie wichtig das ist. Mit der Auslieferung Prinzessin Alexias an die Nordlandhexe können wir uns die Herrschaft über Swojin erkaufen. Das Gebiet um die Stadt wird ein Freistaat werden und wir können wieder regieren.« »Ich weiß, Bruder, ich weiß. Die Exilanten werden uns zuströmen, wir können uns die Freiheit erkämpfen ... Ich meine, wir können das Glück der glorreichen Herrschaft Kytrins mit anderen teilen.« Serjeis Stimme hatte vor der Pause plötzlich gepresst geklungen, und inzwischen war Alyx nahe genug am Lager, um zu verstehen, warum er seinen Tenor geändert hatte. Ein starker Moschusgeruch lag über dem Lager derselbe Geruch, den sie auch schon auf Serjeis Weg bemerkt hatte. Er stammte von vier Schnatterern, die im Süden kauerten. Es waren bestialische Kreaturen, die von der Statur her Menschen ähnelten, aber ihre Leiber waren von einem fleckigen Fell bedeckt, sie hatten vorstehende Mäuler voller Zähne, spitze Ohren, krallenbewehrte Finger und große, schwarze Augen, die im Feuerschein stumpf leuchteten. Derjenige, der Serjei ins Lager geführt hatte, schnappte nach einem der anderen. Nikolas versetzte Serjei eine keineswegs sanfte Kopfnuss. »Idiot. Sie verstehen unsere Sprache kaum und sind
dazu noch verblödet. Sie haben nicht begriffen, wovon du redest - hätten sie es, würden sie dich schon in Stücke reißen. Das Stadtleben hat dich verweichlicht, Serjei, aber du warst immer schon ein Weichling.« 48 »Das stimmt nicht.« »Und ob es stimmt. Besäßest du Rückgrat, würdet ihr unter uns am Spaltfels lagern. Jetzt müssen wir hangaufwärts angreifen, über einen schmalen Felsweg, der leicht zu verteidigen ist. Möglicherweise scheitern wir.« »Keine Angst, Bruder, ich konnte ein Schlafmittel unter den Wein mischen. Eigentlich wird es nur in den Becher des Schläfers gegeben, aber ich habe vorausgeplant und konnte sie alle betäuben. Valeri hat den Wein selbst ausgegeben und niemand hat ihn abgelehnt. Sie liegen allesamt dort oben im tiefen Schlaf und warten darauf, dass ihr sie abschlachtet. Die Shusken können wir dafür nicht mehr verantwortlich machen, aber so wichtig ist das nicht. Kytrin wird zufrieden genug sein, dass wir die Welt von ihnen gesäubert haben.« »Gut.« Nikolas klatschte in die Hände und blickte hinüber zu den Schnatterern. »Wir gehen jetzt. Leise. Leise.« Der Pulk Schnatterer ruckte mit den Köpfen und verschwand in der Dunkelheit. Serjei sah seinen Bruder an - einen Mann, dessen Gesicht vom Leben in einer Stadt gezeichnet war, die Kytrin gehörte. »Was ist mit dem Großherzog und seinem Welpen? Wirst du sie töten oder Lösegeld fordern?« Nikolas zuckte die Achseln. »Herzog Valeri hat Augustus überzeugt, dass er Swojin nicht halten konnte, also würde ich ihn lieber tot sehen. Aber möglicherweise will Kytrin den alten Mann haben. Das sehen wir, wenn es so weit ist.« 49 Die beiläufig hingeworfene Frage erschütterte Alyx. Dass Nikolas sie benutzen wollte, um seine Stadt freizukaufen, konnte sie beinahe verstehen. Swojin war seine Leidenschaft. Doch Serjeis Worte über ihren Onkel waren ohne jede Gefühlsregung gefallen. Valeri war für ihn ohne Bedeutung. Alles, was sie während der Reise an Gutem bei ihm gefunden hatte, war mit einem Schlag null und nichtig. So wie er. Alexia zog blank. So wie er, wenn ich nichts unternehme. Sie teilte das Gebüsch am Rande der Lichtung und trat in den Feuerschein. »Eure Sorge darum, was Kytrin gefallen könnte oder nicht, ist etwas voreilig.« Serjei drehte sich herum, so dass er sich vor seinen Bruder schob, und starrte sie an. Sein Gesicht bot eine Maske des Entsetzens. »Hoheit! Das ist unmöglich.« »Trotzdem ist es wahr.« Serjeis Mund stand einen Augenblick lang offen. Dann schüttelte er sich. Blut quoll mit derselben Leichtigkeit aus seinem Mund wie zuvor die honigsüßen Phrasen. Er fiel nach vorn, einen Dolch im Rücken. Nikolas hob den Kopf. »Er wollte Euch an mich verraten. Er dachte, ich arbeite für Kytrin.« »Ich habe alles gehört. Haltet Ihr mich für so dumm, wie er es war?« »Ihr seid hier, allein. Das gibt mir Anlass, an Eurer Klugheit zu zweifeln.« Nikolas zog das Schwert. »Wenn Ihr Euch ergebt, wird Euch Kytrin sicher gut behandeln.« Alexia zuckte die Achseln. »Ihr würdet meinen Onkel und die anderen trotzdem töten.« 50 »Sie werden sterben, selbst wenn Ihr mich erschlagt.« »Ich habe keine Angst vor Euch und vier Schnattererfratzen.« »Ihr seid selbstbewusst, das ist gut so. Das braucht unser Land.« Nikolas hob die Klinge zum Salut. »Es sind nicht nur vier Schnatterer. Das waren die Kompanieführer.« Einhundertzwanzig von ihnen? Der Speichel in ihrem Mund wurde bitter, aber sie zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle. Ihr werdet es nicht überleben.« »Oh, Ihr gehört zum Haus Swarskija, daran ist kein Zweifel möglich.« Er senkte die Waffe erneut. »Ich würde es vorziehen, Euch lebend in meine Gewalt zu bringen, aber tot genügt auch.« Nikolas sprang vor und deutete einen Schwerthieb an. Alyx zog sich zurück, um ihm auszuweichen, dann parierte sie seinen Stich. Ihre Abwehr stieß sein Schwert weit zur Seite, aber er zog es unter ihrer Waffe hindurch und machte sich bereit, ihren Rückhandhieb abzufangen. Alyx trat einen Schritt zurück und ließ ihn für einen Augenblick starr vor Erwartung stehen. Er sah aus wie ein verängstigter Narr. Schamesröte stieg seinen Hals empor und er griff wieder an. Er versuchte einen hohen Schlag, aber sie blockte ihn ab. Obwohl er sichtlich staunte, hielt sie dem Druck stand. Er bedrängte sie und die Stichblätter ihrer Schwerter verhakten sich. Dann flog ihre linke Hand herum und krachte gegen seine Schläfe. Er stolperte einen Schritt zurück und Alexia rückte nach. Ihr Schwert kam in hohem Bogen herum, in 50 Position für einen senkrechten Hieb. Sie täuschte an, und seine Klinge hob sich zur Parade, genau wie sie es erwartet hatte. Alyx drehte sich auf dem hinteren Fuß und trat Nikolas mitten in die Brust. Ihr schlammiger Stiefelabdruck blieb in der Mitte seines grünen Wappenrocks zurück und verdeckte den weißen Greifen, den er als Hauswappen trug. Nikolas stolperte nach hinten und schlug mit den Fersen gegen Serjeis Leiche. Mit wedelnden Armen versuchte er, sich aufrecht zu halten, doch es gelang ihm nicht. Er schlug hart auf dem Steißbein auf und schrie vor
Schmerz, schaffte es aber, das Schwert zu behalten. Er versuchte, sich nach links abzurollen und wieder hochzukommen, Alyx aber ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Ein weiterer Hieb schleuderte sein Schwert ins Unterholz. Er starrte kurz auf seine leere Hand, dann hob er sie, um einen weiteren Schlag abzuwehren. »Gnade?« »Ihr wolltet schlafende Männer abschlachten.« Ihr Säbel pfiff herab und hätte ihm den Schädel gespalten, doch im letzten Augenblick drehte sie das Handgelenk. Die Breitseite der Klinge schlug ihn nieder. Seine Augen rollten aufwärts, dann brach er zusammen. Bevor sie eine Chance hatte, sich zu fragen, warum sie ihn nicht getötet hatte - denn das hatte sie sehr wohl vorgehabt - brodelte die Nacht vor Schnatterern. Die meisten schwenkten einschneidige Langmesser, die zwei Hände kürzer waren als ihr Schwert. Aber ein paar besaßen Keulen, und etwa ein Drittel trug in der freien Hand einen Schild. Knurren und heulendes 52 Gelächter erfüllte die Nacht. In den blöden Augen sah sie keine Spur von Gnade. Alexia wusste augenblicklich, dass sie die Nacht nicht überleben würde. Es waren zu viele. Vielleicht hätte sie sie abwehren können, wenn es ihr gelungen wäre, sich auf den Weg zurückzuziehen, aber dazu näherten sie sich zu schnell. In der Dunkelheit musste sie damit rechnen zu stolpern, die Schnatterer würden sich auf sie stürzen und ihre Waffen würden ihren Rücken in Streifen schneiden. Keine Wunden auf meinem Rücken. Ich werde nicht fliehen. Sie packte das Schwert fester und knurrte zurück. Sie fletschte die Zähne, und als der Erste von ihnen sie erreichte, schlug sie mit aller Wut und Empörung zu, die sie über Serjeis Verrat fühlte. Sie schlug das erste Langmesser nach unten, dann brachte sie den Säbel zu einem Rückhandhieb wieder nach oben. Der kostete dem Schnatterer den Kopf. Der Kopf flog mit heraushängender Zunge über ihre Schulter davon. Sie parierte eine zweite Klinge und spießte deren Besitzer auf. Als er über ihrer Waffe zusammenbrach, sprang sie zurück. Eine Schnattererfratze setzte über die beiden Kadaver, stürzte jedoch, als ihr Fuß auf dem Kopf des Ersten landete. Alexias Hieb zertrümmerte den Schädel der Bestie. Ihre Gedanken ordneten das Chaos des Gefechts. Die Feuer schränkten die Möglichkeiten ein, sie zu erreichen. Das ließ sich ausnutzen. Sie erinnerte sich an Erzählungen, in denen Helden ihre Feinde in solchen Mengen erschlugen, dass sich die Leichen zu natürlichen Barrikaden auftürmten, aber um die 53 Schnattererkadaver so hoch zu stapeln, konnte sie sie nicht schnell genug töten. Sie schaffte es zwar, den Biestern mit derselben Wildheit zu begegnen. Aber auf Dauer konnte diese Taktik nicht genügen. Es war jedoch die einzige, die ihr zur Verfügung stand. Also nutzte sie sie. Sie kreischte laut, während sie zuschlug, stieß Gyrkymeflüche aus und Kampfgebrüll, das nicht für menschliche Kehlen gedacht war. Sie bezweifelte, dass die Schnatterer auch nur ein Wort verstanden, doch die Wut in ihrer Stimme ließ Vereinzelte zögern. Ihr eigenes bestialisches Bellen und Knurren genügte nicht, und nur einen Pulsschlag lang verließ die Schnattererfratzen vor ihr der Mut. Alexias Klinge blitzte im Feuerschein. Ihre Hiebe trennten Tatzen ab und schleuderten sie in den Sand oder schlitzten Bäuche auf. Wilde Schläge spalteten Schädel. Ein Schlag drang sogar durch einen Schild und den Arm, der ihn hielt, und der Angreifer fiel laut heulend zurück. Sie griffen weiter an, gnadenlos, trotz aller Angst. Langmesser zuckten auf sie zu. Manche wehrte sie ab, andere aber drangen durch ihre Verteidigung. Ein Teil streifte sie nur und zerschnitt kaum das Leder, andere zogen Blut, aber keiner der Schnitte war tief. Die Besitzer der Messer fürchteten den tödlichen Bogen ihrer Klinge, aber die leichten Wunden nahmen zu. Zehn, sogar zwanzig Schnatterer mochte sie vom Leben zum Tode befördern, aber irgendwann würde ein Bein nachgeben, ein Ausweichmanöver fehlschlagen. Irgendwann würde eine Klinge in ihren Leib dringen. Sie würde den Schnatterer erledigen, der sie geführt hatte, 54 und vielleicht noch ein halbes Dutzend mehr, aber schließlich würden die Bestien sie überwältigen. Alexia blieb in Bewegung, tat, was sie konnte, um jeden Versuch, in ihren Rücken zu gelangen, zu vereiteln. Sie hatte Erfolg, doch dann hörte sie ein Krachen im Unterholz hinter sich. Irgendwie war es einem Pulk gelungen, die komplette Lichtung zu umgehen, und jeden Augenblick würde er ins Freie brechen, um sie zu erschlagen. Sie konnte sich nicht umdrehen, um sie abzuwehren, also wählte sie die einzige Möglichkeit, die ihr blieb. Wild knurrend stürmte sie vorwärts und hackte sich einen Weg durch die Schnatterer. »Swarskija auf ewig!« Schnatterfratzen kreischten auf, als Herzog Valeri und seine Kompanie aus dem Wald brachen. Ein Chor von Kehlen nahm seinen Schlachtruf auf. Das Winseln verletzter und sterbender Schnatterer unterstrich ihn, als sich Schwerter silbern hoben und ihre Bahn blutrot beendeten. Das Wissen, Verbündete zu haben, machte ihr Mut, aber es löste nicht das Verlangen in ihr aus, sich in die Sicherheit ihrer Mitte zurückzuziehen. Sie schlug den Säbel durch die Schulter eines Schnatterers, trat einem anderen in den Unterleib und schlug das Langmesser eines Dritten beiseite. Sie spießte diesen Schnatterer auf, dann riss sie ihm die Waffe aus der Pranke, um andere Hiebe zu parieren. Ein schneller Hieb nach rechts durchtrennte einen Hals und bespritzte sie mit heißem Blut. Ihr Langmesser bohrte sich in die Brust eines
anderen Schnatterers, und als er sterbend zusammenbrach, riss er ihr die Waffe aus der Hand. 55 Schnatterer drehten sich zur Flucht und krallten sich in die Kadaver, um davonzukommen. Männer durchtrennten ihre Fußsehnen und versetzten ihnen den Todesstoß. Manche genossen es, aber die meisten agierten mit kalter Überlegung, die mehr aus Notwendigkeit als aus Gnade geboren war. Die Männer, die Valeri mitgebracht hatte, waren ebenso stahlhart, wie sie am Abend rührselig gewesen waren. Sie stürmten an Alyx vorbei, als die Schnatterer der Mut verließ, und verschwanden in den Schatten jenseits der Feuer. Auch Valeri rannte an ihr vorbei, dann hob er die Hand, um sie aufzuhalten. »Du hast genug getan. Deine Rolle endet hier.« »Nein, Onkel, es sind noch mehr zu töten.« »Das weiß ich, aber es ist nicht deine Sache, sie zur Strecke zu bringen.« Er stellte sich ihr mit einer Stirn in den Weg, die aus einer Schnittwunde blutete. »Bleib stehen.« »Onkel.« »Alexia, ich sage es dir zum dritten und letzten Mal.« Es lag ein seltsamer Ton in seiner Stimme, und es war mehr als sein Befehl, der sie anhalten ließ. »Weshalb bist du hier? Es war Schlafmittel in dem Wein.« Valeri sah sie kurz an, dann beugte er sich nach unten und wischte am Fell eines Schnatterers das Blut von seinem Schwert. »Ich denke, du weißt es.« Sie zögerte, aber nur einen Pulsschlag lang. »Du hast es geträumt. Du hast das alles geträumt?« »Nur diesen Teil, einschließlich der Fragen, und einschließlich des Augenblicks, da du mir von dem Schlafmittel im Wein erzählst.« Er wischte sich das Blut aus 56 dem Gesicht. »Sobald Tatjana mir sagte, dass Serjei uns begleiten würde, habe ich ihn beschatten lassen. In Yslin kaufte er gewisse Vorräte und ich kaufte das Gegenmittel. Er dachte, der Wein würde uns erledigen, meine Leute haben jedoch nur vorgetäuscht, betäubt zu sein.« »Aber in deinem Traum hast du Serjei und Nikolas nicht gesehen. Ich glaube, sie waren Brüder.« »Ich habe Serjeis Gesicht nicht gesehen, und Nikolas habe ich nicht erkannt. Die Jahre waren nicht gnädig mit ihm.« Valeri winkte sie hinüber zu den beiden Brüdern. Serjeis Leiche lag jetzt über der seines Bruders und ein schmaler Stiefeldolch steckte zwischen Nikolas' Rippen. »Bruder tötet Bruder.« »Sie waren tatsächlich Brüder?« »Halbbrüder. Nikolas weigerte sich, Augustus zu begleiten, und blieb in Swojin. Die meisten hielten ihn für tot, und wir sollten ihnen den Glauben lassen, dass er schon vor Jahren starb. Überhaupt werden wir diesen ganzen Zwischenfall nicht erwähnen.« »Aber ...« »Es wissen zu viele davon, um es auf Dauer geheim zu halten?« »Ja.« »Nicht diese Leute. Sie werden nichts von dem erwähnen, was hier geschehen ist, bis ich Ihnen die Erlaubnis dazu erteile. Deshalb habe ich sie ausgewählt.« Wieder wischte Valeri das Blut ab. »Ich habe geträumt, dass ich hierher komme, zu deiner Rettung. Ich habe geträumt, dass mich eine Waffe im Gesicht trifft, und ich wünschte, ich hätte auch ge57 träumt, dass ich das Blut stille. Ich wusste, all das würde geschehen, und es war schmerzhaft für mich, es zuzulassen, aber es musste sein.« Alyx runzelte die Stirn. »Warum? Ich hätte fallen können. Andere hätten sterben können.« »Drei werden sterben - und ein weiterer wird nie wieder gehen können. Es ist ein furchtbarer Preis, aber er muss gezahlt werden.« »Ich verstehe nicht.« »Dass du eine Traumjagd unternommen hast, Alexia, macht dich zu einer von uns. Nicht in deinen Augen oder meinen, denn soweit es uns betrifft, wäre das nicht nötig gewesen. Aber in den Augen des Volkes hast du dich uns jetzt angeschlossen. Und in den Augen dieser Männer hast du bewiesen, dass du das Zeug zur Kriegerkönigin hast. Das brauchen wir, wenn wir unsere Heimat befreien wollen.« Sie nickte. Allmählich begriff sie. Obwohl die Überlebenden der Schlacht nichts von diesem Kampf erwähnen würden, würden sie doch in Wort und Tat deutlich machen, dass sie ihr vertrauten und bereit waren, ihr zu folgen. Andere würden sich ihnen anschließen, und wenn die Zeit kam, Okrannel zu befreien, würde ihr Volk ihr folgen. »Du hast Tatjana nichts von deinem Traum erzählt, oder?« »Nein. Hätte sie gewusst, was Serjei plante, so hätte sie niemals zugelassen, dass sich die Dinge so ereignen.« »Wenn du glaubst, dass alle Traumjagdträume wahr werden, dann hätte sie es nicht verhindern können.« 58 Valeri lächelte. »Es war mein Traum, und dieses Stückchen Schicksal konnte ich beeinflussen. Ich habe getan, was nötig war.« Alexia nickte.
Er sah sie fragend an. »Hast du geträumt?« »Ja, Onkel. Möchtest du wissen, was?« »Wird dein Traum unserem Volk Hoffnung geben?« »Nur wenn die Traumdeuter Überstunden machen.« Sie schmunzelte. »Ich schätze, ich werde den Kronzirkel belügen müssen. Ist das erlaubt?« »Wenn es Leben rettet, ist es deine Pflicht.« Valeri zuckte die Achseln. »Diese Entscheidung musst du selbst treffen. Und zwar bald.« »Bald?« Er nickte. »Wir kehren ins Lager zurück. Mikhail schläft noch, und wenn du ins Zelt zurückkehrst, wird er aufwachen und dir von seinem Traum erzählen. Er träumt von seinen Zwillingsbrüdern. Gemeinsam sind sie die Drei Brüder. Sein Traum wird große Hoffnung wecken. Ich weiß es, denn ich habe gehört, wie er es dir erzählte.« »Und was habe ich geantwortet?« »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht länger zugehört.« Er grinste. »Ich weiß, es ist keine große Hilfe, aber du kannst ihm eine Inspiration sein. Wenn dir das gelingt, wirst du zu einer Inspiration für uns alle. Das macht eine Führungspersönlichkeit aus.« »Eine Inspiration für andere zu sein und Träume wahr werden zu lassen.« »Ganz genau, Alexia.« Valeri steckte sein Schwert zurück und machte sich auf den Rückweg zum Lager. 59 »Du bist die Hoffnung und der Traum unseres Volkes. Viele werden sich an deinem Traum orientieren, aber ich halte die Vorzeichen hier für geeigneter. Wir brauchen keine Träumerin, sondern jemanden, der sich einem lebendigen Albtraum entgegenstellen kann, ohne zurückzuschrecken. Das ist die Frau, die uns zurück in die Heimat führen wird.« Alexia stand noch eine Weile da und betrachtete die Kadaver, dann nickte sie nur. Und folgte Valeri, entschlossen, seinen Traum zu Ende zu bringen, und mit ihm diejenigen so vieler anderer. Die Krells von Tancras Moor ist eine Geschichte, die ich ohne besonderen Grund geschrieben habe. Ich arbeitete damals bei Flying Buffalo und irgendwie bekam ich den Titel nicht aus dem Kopf. Er klang auch gut. Ich habe die Geschichte 1989 fertig gestellt, aber ich fand keine Möglichkeit, sie zu veröffentlichen, bis das Dragron-Magazine sie 2003 kaufte. Jesse Decker bat mich, sie um ein Zehntel der endgültigen Länge zu erweitern. Vermutlich werden Sie beim Lesen Anklänge an Robert E. Howard und dessen Figur Solomon Kane bemerken. Die Krells von Tancras Moor Die Nacht war kälter als die Münzen auf den Augen eines Toten. Der feuchte Wind, der vom durchnässten Moor heraufleckte, durchdrang meinen Wollumhang ebenso verächtlich wie meine dicke Winterkleidung. Er wand und schlängelte sich zwischen Haut und Stoff und drang mir bis in die Knochen. Die Kälte ließ mir das Mark gefrieren. Silbern und achaten lauerte die hohle Fäulnis darauf, auszubrechen und mich ganz zu verschlingen. Ich kann dich wärmen, sagte die Stimme in meinem Kopf. »Nein.« Ich gönnte mir die zahllosen Nadelstiche des Frosts an den Fingern und im Gesicht. »Du wirst heute Nacht noch reichlich Arbeit bekommen. Spar deine Kräfte lieber auf.« 61 Meine Weigerung gefiel ihm nicht, aber es konnte nichts dagegen tun. Die Wut wand sich wie sein schlanker Leib durch die Adern meines Hirns. Es wollte mich ebenso verzehren, wie es die Kälte tat, aber ich hielt es in Schach. Ich würde nicht so enden wie die anderen. Die Sterne hingen wie Glimmerflecken am Himmel. Der Mond, ein weißer Baumwollball, von grauem Schimmel befallen, ließ die Nacht mit seinem kalten Licht noch gnadenloser erscheinen. Es vertiefte den Schatten der Berge und Täler und verbarg die Steine, die den Reisenden stolpern oder ein Wagenrad bersten ließen. Als hätte er meinen Zorn auf ihn gespürt, hüllte sich der Mond in einen Hof, um seine Unschuld zu verkünden. Ich ging weiter. Mein Weg führte mich über eine Hügelkuppe, doch noch war mein Ziel nicht in Sicht. Zumindest sah ich auf der rechten Seite, in einer Senke, die das Feuer vor dem Wind schützte, fünf Männer sitzen und hörte Gelächter und Gesang. Töte sie, töte sie alle. Ich lächelte. »Nein.« Es versucht es immer wieder. Aber ganz gleich, wie sehr es mich bedrängt, meine Hand greift nie nach dem Schwert an meiner Seite. Nie wieder wird es von meiner Hand Blut kosten. Ich hätte hinübergerufen und gewartet, dass sie mich einluden, ans Feuer zu kommen, aber einer von ihnen spielte auf der Laute. Er besaß lange Gliedmaßen und wirkte jugendlich, doch die Haut um seine Augen und eine Spur von Grau im Haar kündeten von Erfahrung und durchlebten Jahren. Seine Finger allerdings waren schnell und schlank. Sie flogen so geschwind wie ein spielendes Kätzchen über die silbernen Saiten, 62 und die Musik, die er dem Instrument entlockte, klang klar und bittersüß durch die eisige Nacht. Euer Lieblingslied, mein Lord. Meine Nasenflügel blähten sich eine wutschnaubende Sekunde lang. Sei still!
Wenn Ihr es wünscht... zischte es sarkastisch. Um mich zu ärgern, webte es einen minderen Zauber, der mein Gehör schärfte. Ich ignorierte es. Es schwieg wie eine verlassene Gruft. Es wusste, dieses Lied war eine schlimmere Folter für mich, als es selbst es jemals werden konnte. Ich stand außerhalb des Feuerscheins, und die Schatten verhinderten meine Entdeckung, aber sie waren kein Schutz gegen die volle Stimme des Sängers und die Leidenschaft des Vortrags. Im Osten war's vor kurzer Zeit Man singt die Mär bei Fest und Streit Da lebt' ein Krieger groß und stark Sehnt' sich nach Schlachtenlärm wohl sehr Bis dass er traf die Lady Bis dass er traf die Lady Ihr Thron war von unsich'rem Stand Feind und Verrat umringt ihr Land Das Land war klein, und es war schwach Sein Ende schien schon sicher, ach Bis dass sie traf Black Morgan Bis dass sie traf Black Morgan 63 Sie einigten sich, der Preis Für blut'ge Tat war Liebe heiß Morgan zerschlug der Feinde Heer Und prahlte laut noch umso mehr Er tat es für die Lady Er tat es für die Lady Aldare befreit vor Jubel sang Bei kühlem Bier sein Lob erklang Die Königin noch in der Nacht Hat er als Braut zu Bett gebracht Und beide waren glücklich Und beide waren glücklich Doch tot waren die Feinde nicht Auf Morgans Kopf wohl sie erpicht Ein Zauberplan war bald erdacht Der lebend ihn zum Toten macht Denn Morgan sollte leiden Denn Morgan sollte leiden Hinaus ins Feld musst Morgan bald Vielen Feinden und dem Heer tat er Gewalt Bis an sein Ohr drang garstig Wort Das schlimmste Ängste weckt sofort Black Morgan stürmte heimwärts Black Morgan stürmte heimwärts 64 Fand sie mit einem andern Mann Aus ihrem Lande, ihrem Clan Die Wut ihn wie der Böse ritt Erschlug sie und den Bruder mit Durchbohrt hat er die Lady Durchbohrt hat er die Lady Für Tränen hatte er die Zeit Zur Flucht sie blieb ihm, fern und weit Vom Ruhm blieb nur ein ferner Glanz Heut spielt er auf zum Totentanz Denn Morgan sinnt auf Rache Denn Morgan sinnt auf Rache Es heißt, dass er die Zaub'rer hetzt Die ihn so abgrundtief verletzt Bringt sie zur Streck', packt sie am Schopf Holt sich ihr Herz, verbrennt den Kopf Morgans Rache hält ewig Morgans Rache hält ewig Der letzte Ton des Liedes klang in die Nacht hinaus und brannte hell wie ein Stern. Die Männer in der Senke lachten und klatschten. Ihr Atem dampfte in der Kälte. Sie gratulierten dem Sänger und er lächelte dankbar. Jemand bot ihm eine Flasche und er trank. Über die erhobene Flasche sah er mich und verschluckte sich. 65 Das war nicht das erste Mal, dass mein Anblick diese Wirkung zeigte. Der Sänger senkte die Flasche. Die Flammen des Lagerfeuers blitzten und flackerten auf dem silbernen Verschluss, der den ledernen Flaschenmantel befestigte, und es sah aus, als wände sie sich in seinem Griff. Er ließ sie fast einen Fuß über dem Boden los. Einer seiner Kameraden schrie auf und stellte sie wieder hin, doch der Sänger nahm seinen Protest gar nicht wahr. Er hielt die Laute, als könnten deren silberne Saiten oder goldene Töne mich abschrecken. »Wer seid Ihr? Oder besser, in einer Nacht wie dieser, was seid Ihr?« Seine Stimme klang rein und gebildet, wie beim vorherigen Gesang. Er bemühte sich um Mut und Autorität, wie es seiner Ausbildung als Barde entsprach, aber das ängstliche Zittern seiner Stimme verriet ihn. Ich lächelte freundlich und öffnete langsam den Umhang. Er sah, dass ich nichts in den Händen hielt, die von Handschuhen geschützt waren, und dass sich meine Kleidung nicht wesentlich von seiner unterschied. Das Langschwert an meiner linken Hüfte beunruhigte ihn zunächst etwas, aber nur, bis er den um das Stichblatt gewickelten Lederriemen bemerkte, der es in der Scheide hielt. »Ich bin nur ein Mensch.« Das war einmal. »Ein Reisender, der dein Lied gehört hat, und dessen Knochen sich nach jedem bisschen Wärme sehnen, das ihr erübrigen könnt.« Ich trat näher und achtete darauf, meine Stimme freundlich und ruhig zu halten. Trotzdem, das Lagerfeuer schälte mich schnell genug aus 66 den Schatten, und sie sahen einen Mann, der selbst den Größten unter ihnen deutlich überragte. Das Feuer wärmte mein Gesicht und lockte die Farbe zurück in die Haut, die sich über hohe Jochbeine spannte. Ich bin sicher, dass meine Augen im Schatten verborgen blieben, doch das war nicht weiter von Bedeutung. Es gibt ohnehin nur wenige Menschen, die meinem Blick lange standhalten können. Meine Augen sind so dunkel,
dass sie ganz aus Pupille zu bestehen scheinen, bis silbernes Zauberfeuer sie durchzuckt. Ich bezweifle, dass das Feuer meinem langen weißen Haar irgendwelche Farbe verlieh. Ein heiterer, rundlicher Bursche - derjenige, der die Flasche in Sicherheit gebracht hatte, bevor sich zu viel des kostbaren Inhalts auf den Boden ergoss -, lachte laut und schlug dem Sänger auf den Rücken. »Jetzt komm, Patrick, heut ist keine Nacht, um sich von jedem Schatten bange machen zu lassen. Du hast dir mit dem >Black Morgan< selbst Angst eingejagt, dabei brauchen nur die Krells Angst vor diesem Lied zu haben.« Der Mann drehte sich zu mir um. »Willkommen an unserem Feuer, Kamerad. Ich bin Andrew Mac Alistair und der Knabe mit der goldenen Stimme ist Patrick Mac Fergus. Mein Neffe. Sein Talent hat er genau wie die Verschrecktheit von seinem Vater, meiner Schwester Mann. Das Feuer wärmt dich von außen - und das hier ist für innen.« Er reichte mir die Flasche. Ich hob sie an die Lippen und ließ den Inhalt über meine Zunge fließen. Er schmeckte weder süß noch sauer. Eher trocken und warm, und ohne irgendeinen wirklichen Geschmack. Dann wurde er bitter und biss 67 mir in die Zunge, während sich Feuer und Hitze in meiner Kehle und Brust ausbreiteten. Der Geschmack hielt sich noch etwas an den Rändern meiner Zunge, dann versiegte er wie die Wärme des Tages im Abendrot. Meine Augen wurden schmal. Ich widerstand der Versuchung, auszuspucken oder die Flasche zu leeren. Wie viele Jahre ist es her? Trink weiter. Keine Sorge, ich passe auf dich auf. Ich kümmere mich um alles. Ich gab Andrew die Flasche zurück. »Sehr gut, gerade das Richtige für eine Nacht wie diese. Brennst du ihn selbst?« »Da du ein Fremder bist, würde er versuchen, dir das weiszumachen, aber so ist es nicht.« Ein hellblonder Mann zu Andrews Rechten schenkte mir ein offenes Lächeln. Er war fast so groß wie ich - bemerkenswert für einen Moorbewohner. Dabei aber so hager wie ein Schlachtfeldplünderer oder verhungernder Pestkranker. »Ich bin Edward Mac Robert, und das ist mein Bruder, Logan. Wir brennen den Whisky.« Er warf Andrew einen schrägen Blick zu. »Er trinkt nur das meiste davon.« Alle fünf Männer lachten über Edwards Witz - Andrew am lautesten von allen. Logan, der mir auf der anderen Seite des Feuers gegenüberstand, war kleiner als sein Bruder und dürr wie ein hungriger Wolf. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, aber etwas in Patricks Lied hatte einen Widerhall in ihm geweckt, und er musterte mich misstrauisch. Auch auf den Zügen des Letzten der fünf lag Misstrauen. Er war alt, grau und knochig, und trug seine 68 Kleidung, als bestünde der Leib darunter aus nichts weiter als Besenstielen und Feuerholz. Seine kalten Augen kniff er zusammen, um mich deutlich erkennen zu können. Sie hatten dieselbe Farbe wie der Qualm seiner Pfeife. »Wohin mag derr Weg dich führren um diese Nachtzeit, Frremderr?« Er rollte die R liebevoll und gedehnt und machte aus dem Wort >Fremder< eine bösartige Anklage. Unsere Blicke trafen sich und wir kamen augenblicklich zu einer Übereinkunft. Er kannte die Antwort auf seine Frage und alle anderen, die er hatte stellen wollen. Ich wusste, dass niemand diese Antworten jemals erfahren würde, außer vielleicht seine Enkel in einer eisigen Nacht tief im Winter. Oder sie ihm auch nur glauben würde, so wie er sie erzählte. »An Tancras Moor vorbei. Ich habe im Norden etwas zu erledigen.« Andrew rieb sich die Hände und hielt sie ans Feuer. »Bist du unterwegs nach Richardston?« Ich nickte. Der alte Mann wusste, dass es gelogen war. Die anderen aber glaubten es mir. Edward schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Nacht, um übers Moor zu gehen. Hugh Krell wird unterwegs sein.« Ich neigte leicht den Kopf und hob die linke Braue. »Ich habe von ihm erzählen hören. Seid ihr deswegen hier draußen?« Andrew lachte laut. »Ganz sicher nicht, weil wir die Kälte so lieben, mein Freund. Aye, Hugh Krell und seine Mondkrankheit sind der Grund, warum wir bis hier heraus kommen. Und er ist der Grund, warum 69 wir Patrick ein, zwei Mal >Black Morgan< singen lassen. Werwolf oder nicht, kein Krell wagt sich auf eine Meile an jemanden heran, der es wagt, von Black Morgan of Aldare zu singen. Es reicht schon, den Namen zu erwähnen, damit sich all diese gottverfluchten Hexen und Zauberer in ihre Pentagramme flüchten.« »Selbst Remington Krell?« Meine Augen verengten sich leicht. »Ich hätte gedacht, er ist aus härterem Holz.« »Er kümmert uns nicht, Fremder. Nachdem sein Sohn Neil mit Morgan abzog und Liam tot ist, gibt es außerhalb der Burg nichts mehr für ihn. Er hat sich noch nie die Hände schmutzig gemacht und Hugh ist ein armseliger Diener. In einer Nacht wie heute wird er zu Hause sein.« Der Dicke lächelte, als die Flasche wieder bei ihm ankam. »Du darfst gerne mit uns Wache halten. Das Feuer reicht für alle.« Ernst schüttelte ich den Kopf. »Ich fürchte, Andrew Mac Alistair, dass ich weitergehen muss. Ich hörte, dass mein Onkel in Richardston im Sterben liegt.« Andrew grinste. Der Whisky ließ seine Wangen rötlich glänzen. »Wie heißt er? Ich hab Verwandte in Richardston. Vielleicht kenn ich ihn.« »Nein, Andrew, seinen Onkel kennst du nicht.« Die Stimme des alten Mannes ließ Logan erstarren und Andrew
die Stirne runzeln. Er sah mich an. »Verzeih, dass wir dich aufgehalten haben, Fremder. Zu schade, dass wir uns nicht wiedersehen werden.« Ich nickte dem alten Mann zu. »Danke für das Feuer, den Whisky und das Lied. Gott behüte Euch.« 70 »Gott begleite dich, Fremder, und führe deine Hand.« Ich entfernte mich vom Feuer und opferte die Wärme, die ich dort gefunden hatte, der Nacht. Hinter mir hörte ich ein Gewirr aus Stimmen, aber nur eine einzige hatte Kraft oder Schärfe. Es war die des alten Mannes. »Noch einmal, Patrick, spiel noch mal >Black Morgans Sing es laut. Erinnere die Krells von Tancras Moor daran, was sie über ihr Haus gebracht haben, als sie sich gegen Morgan of Aldare verschworen.« Du hättest sie alle töten sollen. Ich schüttelte den Kopf, eine Bewegung, die ihm nicht behagte. Ich hörte das lange Haar über meine Wangen streichen, doch ich fühlte nichts davon. Ich hob die Hand an die frosttaube Haut. Sie war dick und steif. »Es gab keinen Grund, sie zu töten.« Der Alte, er wusste, wer du bist. »Ja, aber nicht, zu was ich geworden bin. Sie bedeuten keine Gefahr.« Es schwieg. Ich zog den Umhang fester um meinen Leib und ging schneller. Wäre es nicht so kalt gewesen, ich hätte mir die Zeit gegönnt, den Weg zu genießen. Das Moor hat nichts von der Schönheit eines Hochgebirgstals oder eines dichten Waldes, schon gar nicht bei Nacht. Doch es besitzt einen eigenen Charme. Dazu kam der prächtige Nachthimmel, trotz des spöttischen Mondes, der Eiskristallsterne und der gähnenden Leere des Moors. Wenn mir die Menschenmassen zu viel werden, kann ich davon träumen, in der graugrünen Weite des Moors allein zu sein. 71 Wir sind nicht allein. Ich sammelte die nötige Kraft, um durch die Dunkelheit zu sehen. Ich kannte diesen Spruch gut. Er würde das Licht der Sterne und des Mondes sammeln und mir gestatten, wie am hellen Mittag im fernen Sandmeer zu sehen. Mein Blick würde durch den Nebel brechen wie Sonnenstrahlen durch Gewitterwolken. Ich unterbrach. Sie brach aus dem Nebel und stolperte einen niedrigen Hügel herab. Ihr goldenes Haar verdeckte im Sturz ihr Gesicht. Ihr Nachthemd wäre für eine solche Nacht kaum geeignet gewesen, schon bevor die wilde Flucht durch das Moor es durchnässt und zerrissen hatte. Am Fuß des Hügels wälzte sie sich auf die bloßen, blutenden Füße und erstarrte, als sie mich sah. Ihr Haar glitt wie ein Schleier von ihren Zügen. Ich hatte den Eindruck, ihre wild blickenden Augen blau aufblitzen zu sehen, doch es war durchaus möglich, dass es nichts weiter als Entsetzen gewesen war. Das Mondlicht zehrte alle Farbe aus ihrer hellen Haut - ihr Teint war ebenso wie Augen und Haare das Erbe ihrer Mutter. Nur die gerade Nase und die Art, wie sie die Augen zusammenkniff, als sie mich ansah, verrieten, dass Krell-Blut in ihren Adern floss. »Schnell, er kommt. Ihr müsst fliehen!« Sie deutete hinter sich zur Hügelkuppe. Sie flehte mich an zu gehen, und doch verriet ihre Stimme keine Furcht. »Zu mir, Mädchen. Dein Onkel wird mir nichts tun -und dir auch nicht.« Sie rannte auf mich zu und packte mich am rechten Arm. Goldenes Haar peitschte über meine Schulter, als 72 sie den Kopf schüttelte und versuchte, mich mitzuzerren. »Seid kein Narr und versucht Euch nicht als Held. Lauft nur einfach, bitte, lauft!« Ich beachtete ihre Bitten nicht, zog den Umhang aus und legte ihn um ihren zitternden Leib. Die kalte Luft stürzte sich mit frischer Gewalt auf mich, als ich mich ihr dummerweise auslieferte. Sie schnitt durch mein Fleisch wie eine Henkersaxt, aber jetzt war mir ihr Biss willkommen. Er vertrieb die Müdigkeit der Reise und schärfte meine Sinne. »Wo?« Das Mädchen glaubte, die Frage gelte ihm, und murmelte etwas Unverständliches, während sie den Mantel fester um sich zog. Ich wartete auf eine Antwort und hörte zu, wie es sich mit dem anderen unterhielt. Ich verstand zwar das Zischen und Bellen nicht, mit dem es sich mit anderen seiner Art verständigte, die Herausforderung aber war deutlich. »Wo ist er, verdammt?« Nur ruhig, mein Lord. Er sollte ungefähr jetzt auf der Hügelkuppe sein. Der Nebel schlug Falten wie ein Vorhang, hinter dem jemand nach einer Öffnung stocherte, dann teilte er sich. Wie ein Scherenschnitt vor dem weißen Mond kauerte Hugh Krell auf der Hügelkuppe. Er blieb stehen und stieß ein leises, krächzendes Lachen aus. Er schnupperte einmal, dann hob er die graue Wolfsschnauze zum Himmel und heulte vor Begeisterung. Er kam zwei hüpfende Schritte den Gang herab, dann sprang er mit einem Satz auf ebene Erde. Er lan73 dete auf allen vieren, an Händen und Füßen gruben sich scharfe Krallen in den weichen, lehmigen Boden. Seine einst prächtige und mit Sicherheit maßgeschneiderte Kleidung war durch die Verwandlung seines muskulösen Körpers zerfetzt und verdreckt. Graue Fellbüschel ragten aus jedem Riss und jeder aufgeplatzten Naht. Der
Schaft seiner Reitstiefel bedeckte noch die Schienbeine. Unterhalb des Knöchels hatte er sie aber weggerissen, um besser rennen zu können. Seine Ohren stellten sich auf, als neues Bellen und Zischen durch meinen Schädel klang. Er öffnete das Maul zu einem Wolfsgrinsen. »Komm, süße Trista, komm zu deinem Onkel.« Seine Stimme gurgelte und winselte die menschlichen Worte hervor. Sämtliche R waren geknurrt. »Komm fort von ihm, damit sein Blut deine Schönheit nicht befleckt.« Der andere sagt, sein Meister ist mächtig. Darauf folgte ein scharfes Zischen und ein Knall wie ein Peitschenhieb, dann eisige Stille. Ich habe gesagt, du wirst das Herz des Krells verspeisen. Ich sah Hughs Nase zucken, als hinter mir der Wind auffrischte. Seine Wolfsaugen wurden groß und er legte den Kopf in einer allzu hündischen Geste der Verwirrung zur Seite. Dann hob er den Kopf und seine Lippen zogen sich zu einem Zähnefletschen zurück. Seine Fänge hatten die Farbe von Knochen, die von der Wüstensonne gebleicht waren. Er bellte die Worte: »Lange gewartet. Jetzt stirbst du!« Und sprang aus der Hocke. Sein Angriff kam schnell, aber seit sein Chacael mein Chacael vor seinem 74 Können gewarnt hatte, hatte ich damit gerechnet. Die krallenbewehrten Hände ausgestreckt, warf sich Hugh auf mich. Doch ich ließ mich auf die Knie fallen und duckte mich unter dem Hechtsprung weg. Er segelte über mich hinweg und landete, das Gesicht voraus, im Torf. Ich drehte mich um, und er erhob sich, spuckte Schlamm und Moos. Brackwasser tropfte ihm von Schnauze und Bart und verklebte das Fell auf seiner Brust. »Nur einmal. Jetzt bringe ich dich um«, grinste er. »Ich fress dich lebend.« Das Schwert. Benutz es. Ich sorge dafür, dass es ihn tötet! Hughs blindwütiger Angriff ließ mir keine Zeit zur Antwort, aber ich kämpfte gegen sein Drängen an, das Schwert zu ziehen. Krallentatzen schnitten durch mein Lederwams, als ich zurück und zur Seite wich. Ich fühlte das Feuer in den blutigen Furchen erwachen, die er über meinen Brustkorb zog. Doch ich zwang mich zur Beherrschung - denn die Kontrolle zu verlieren hätte bedeutet, ihm freie Hand zu lassen, und das konnte ich nicht erlauben. Hätte ich es getan, wäre ich einer von ihnen geworden. Ich rammte Hugh die linke Faust an die Schläfe, als er vorbeizuckte. Werwolf oder kein Werwolf, er spürte den Hieb wie von einem Hammer. Er riss den Kopf zu mir herum, gerade rechtzeitig, dass meine Rechte von unten seine Kinnlade traf. Sein Maul schlug mit einem lauten Knall zu, dann streckte ihn ein zweiter Hieb meiner Linken zu Boden. 75 Trista starrte auf die zuckende Gestalt ihres Onkels hinab. Dann sah sie zu mir auf. »Ist er ... ?« »Tot?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. In diesem Zustand reitet ihn das Chacael. Es lebt in seinem Hirn und besitzt große Macht. Aber selbst ist es recht empfindlich.« Ich hob die schmerzenden, blutenden Fäuste ins Mondlicht. »Es verträgt nicht viel. Es hat seine Macht aus Hugh Krell abgezogen und nun ist er erschöpft. So ist das bei einer Verwandlung.« Ich legte ihr den Arm über die Schulter und schob sie in Richtung des alten Clansitzes der Krells. »Komm, bring mich zu deinem Großvater. Wir haben etwas Geschäftliches zu klären.« Trista sah sich zu Hugh um. »Ihr lasst ihn doch nicht hier draußen?« »Er wird es überleben. Vorerst.« Ich spürte, wie sie zitterte, und wusste: Es kam nicht von der Kälte. »Ihr seid er, nicht wahr? Ihr seid Black Morgan of Aldare.« Ich drückte sie fester an meine Brust, um sie zu beruhigen. »Ich bin ein alter Freund deines Vaters. Ich bin gekommen, um ein Versprechen einzulösen, das ich ihm gegeben habe.« Remington Krell wirkte auf seinem weißen, grau geäderten Marmorthron nicht überrascht, als ich den großen Saal der Festung betrat. Links von mir strahlte das Feuer in einem Kamin, so groß wie die ganze Hütte eines Bauern, die Hitze in den Raum. Doch da der Kamin in der Form eines Drachenkopfes gehalten war, tat nur das zwischen spitzen Zähnen hindurchfallende 76 oder in gelben Augen leuchtende Licht etwas, um das Halbdunkel zu zerstreuen. Was es erhellte, erinnerte mich ungemein an verstaubte Grabbeigaben, die in einer längst vergessenen Gruft zerfielen. Remington beugte sich auf seinem Sessel vor und legte die Fingerspitzen aneinander. »So, so, du bist endlich gekommen.« Ich bemerkte einen seltsamen Unterton in seiner Stimme. »Ist das gekränkte Eitelkeit, die ich da höre, Krell? Ärgert es dich, dass ich auf meinem Kreuzzug nicht zuerst hierher gekommen bin, oder überrascht es dich, dass ich mir dich nicht bis zuletzt aufgehoben habe? Neil hätte deine Reaktion belustigt.« Die Augen des alten Krell wurden schmal, als ich seinen Sohn erwähnte. »Trista, lass uns allein. Dieses Gespräch berührt dich nicht.« Trista hob fragend den Kopf. »Aber er spricht von meinem Vater!« Ich legte ihr die Hand auf die linke Schulter. »Tu, was dein Großvater sagt. Geh in dein Zimmer und pack eine
leichte Reisetasche. Und zieh deine wärmsten Sachen an. Du reist heute noch von hier ab.« Zauberfeuer zuckte in tiefschwarzen Blitzen durch die stahlgrauen Augen Krells. »Oh, du bist wirklich eingebildet, Morgan. Glaubst du ernsthaft, du hättest in den letzten zwanzig Jahren genug gelernt, um es mit jemandem wie mir aufzunehmen? Ich kannte das Chacael schon vor deiner Geburt. Ich weiß auch seine Macht zu nutzen. Mit ihrer Hilfe werde ich dich vernichten.« Mein Blick wurde kalt. »So wie du deinen eigenen Sohn vernichtet hast?« 77 Er knurrte und ballte die Fäuste, dann erwiderte er den Hieb mit gleicher Härte. »Besser ein Tod aus gutem Grund als Unschuldige abzuschlachten ...« Das Bild meiner geliebten Atlante trat mir vor die Augen. Ich sah sie bei unserer ersten Begegnung -jung und voller Eifer, und doch weise über ihre Jahre hinaus. Sie hatte mir das Gefühl gegeben, mich von Grund auf zu kennen, alles, was ich je gewesen war, und alles, was ich jemals werden konnte. Kastanienbraunes Haar hing ihr über die Schultern und rahmte ein Gesicht ein, auf das die Götter neidisch waren. In ihren grünen Augen knisterte die Lebensfreude, ganz gleich, wie müde oder besorgt sie auch schien. Sie war ihr ständiger Begleiter, bis ... »In einem Wutanfall hast du deine eigene Frau getötet. Welch ein Narr!« Remingtons Hohn traf mich wie der Hieb einer glühenden Peitsche. Ich knurrte und hörte das Zischen meines Chacaels, das seines zum Zweikampf herausforderte. Eine halbe Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, mein Chacael freizugeben und ihm zu gestatten, die Macht einzusetzen, über die wir gemeinsam verfügten, ohne Rücksicht auf irgendetwas anderes als das Ziel, Morgan Krells letzte Sekunden wie Jahre der Qual erscheinen zu lassen. Dann, als sich die Wut weckte, erwachte auch der Sinn für Vorsicht und Selbstbeherrschung, den ich bewusst aufgebaut hatte, schnitt hindurch wie eine Sense und zwang die Wut zurück. »Treffend ausgedrückt, Krell.« Ich zwang meinen rasenden Puls zur Ruhe. »Es gab eine Zeit, als ich die Schuld an ihrem Tod dir und dem Komplott von Zau78 berern angelastet habe, in dem du nur eine unbedeutende Gestalt warst. Ihr habt die hässlichen Gerüchte in Umlauf gebracht, ich sei ein Hahnrei. Ihr habt sie mit Bruchstücken der Wirklichkeit gewürzt, die ihr mit euren dunklen Künsten gesammelt hattet, und ich habe sie geglaubt. Ich habe auf diese gewalttätige Weise reagiert, die mein ganzes Leben über der Quell meiner Kraft gewesen war. Auf eine Weise, die ich mein ganzes Leben lang bedauern werde.« Das gekünstelte Mitgefühl, das Krell zur Schau trug, verspottete mich wie ein Clown einen Zirkusbesucher, den er sich als Zielscheibe für seine Spaße ausgewählt hat. »Ich hörte, du bist hoch zu Ross bis in ihre Gemächer geritten. Da hast du sie mit ihrem Bruder gesehen, wie sie Wein tranken und sich lachend über ein Schachbrett beugten ...« Als sie mich sah, war meine Frau zunächst überrascht gewesen, dann hatte sie voller Unschuld gelächelt. Sie war aufgesprungen und zu mir gelaufen, als ich von meinem Pferd sprang. Sie hatte die Arme um mich gelegt und ich hatte ihr einen Dolch ins Herz gestoßen, bevor ich ihre Leiche gedankenloser beiseite geworfen hatte, als ich es mit einem Feind auf dem Schlachtfeld getan hätte. Ihr Bruder war aufgestanden und hatte das Schwert gezogen. Doch er war mir nicht gewachsen. Eine schnelle Parade, dann hatte ich ihm den Bauch aufgeschlitzt. Die Wunde war tödlich, aber ich hatte sie bewusst so platziert, weil dies eine furchtbare, schmerzhafte Art zu sterben war. Doch irgendwie hatte er die Schmerzen lange genug ertragen können, um mir noch zu sagen, dass er mein 79 Schwager war - der Bruder, der auf Reisen gewesen war, als wir heirateten. Er sagte mir, dass er gekommen war, weil sie ihm ein Geheimnis anvertraut hatte: Sie hatte mein Kind unter dem Herzen getragen. Er hatte vor mir auf dem Boden gelegen und versucht, sich weit genug aufzurichten, um zu ihr hinüberzublicken. Es war ihm nicht gelungen. Unter Tränen hatte ich ihn angelogen, sie würde überleben. Er starb glücklich. Ich starb ebenfalls. Ich kann sie zurückbringen. Ich habe die Macht, sie aus dem Jenseits zurück zu dir zu holen. Lass mich nur machen. Das verlockende Flüstern des Chacaels verklang, als ich den Kloß in meiner Kehle hinabwürgte. »Du solltest deinem Sohn dankbar sein, Krell, dass du so lange überlebt hast. Nachdem ich Atlante begraben hatte, wollte ich deine Festung hier stürmen.« Der alte Zauberer lachte abfällig. »Was du wolltest und wozu du in der Lage gewesen wärst, sind zweierlei. Dieses Moor ist mein! Mit meiner Macht hätte ich es dein ganzes Heer verschlingen lassen.« Ich lächelte kalt. »Nichts hätte mich daran gehindert, dich zu vernichten. Aber das ist etwas, das ich in einer anderen Zeit und in einer anderen Wirklichkeit unter Beweis gestellt haben mag. Dein Sohn hat mich darauf hingewiesen, dass es nur einen Weg gibt, gegen Zauberer zu kämpfen. Er hat mich von seiner Idee überzeugt und ich habe seinen Rat befolgt. Erfolgreich.« Ich sah die Angst in Krells Augen. Er kannte die Geschichten über Dutzende von Zauberern, deren 80
Schreckensherrschaft ein jähes Ende gefunden hatte. Von den Orten an allen Enden der Valaksanischen Inseln waren die Berichte über gewaltige magische Duelle, die ein Fremder gewonnen hatte, selbst bis hierher zur Feste Krell gedrungen. Das Lied, das die Männer sangen, die Krell Moor bewachten, war nur eines von vielen. Und sie waren Krell nicht entgangen. Remington überging die Tatsache, dass seine Enkelin noch nicht gegangen war. »Neil ist zur Strafe dafür gestorben, dass er dir unsere Geheimnisse verraten hat. Lange haben wir gehofft, wir hätten ihn aus dem Weg geräumt, bevor er dir das letzte Geheimnis offenbaren konnte.« Ich schüttelte sanft den Kopf. »Nein, er hat lange genug gelebt, um mir beizubringen, was ich wissen musste, um ein Zauberer zu werden.« Ich blickte hinüber zu dem Mädchen. »Er hat mir das Versprechen abgenommen, seine Tochter zu holen, bevor du ihr antun kannst, was wir uns selbst angetan haben.« Trista blinzelte mehrmals, dann starrte sie ihren Großvater mit leeren Augen an. Remington wischte ihren fragenden Blick beiseite. »Hör nicht auf ihn, Trista. Er ist ein Ketzer, wie dein Vater. Er wird dich nicht von hier fortbringen. Du hast Recht damit, eine Zauberin werden zu wollen. Und du wirst eine werden.« Ich streckte die Hand aus und drehte sie zu mir. »Haben sie dir erklärt, was es bedeutet, eine Zaubererin zu werden?« Ich zog am Kragen meines Hemds, weit genug, um eine kleine Narbe über der Halsschlagader zu entblößen. »Sie müssen dir davon erzählt haben, wie das Chacael zu einem Teil von dir wird. Es 81 steigt hoch in dein Hirn und weiß alles, was du weißt. Es gestattet dir, die unglaublichste Zaubermacht einzusetzen. Es schenkt dir Wohlstand und Freude und alles, was du dir wünschst.« Ich packte sie fest an den Oberarmen und hielt sie fest, als sie sich gegen den Schmerz wehrte. »Haben sie auch den Preis für diese Macht erwähnt? Haben sie erwähnt, dass du an dem Ort, an dem die Chacaels warten, darum wirst betteln müssen, dass eines von ihnen zu dir kommt? Haben sie erwähnt, dass du ein Geschäft mit ihnen eingehen musst? Die Chacaels wollen mehr als nur die Beweglichkeit, die du ihnen verleihst, und die Träume, die du mit ihnen teilst. Sie sind verderbte Kreaturen, die sich von Hass und Neid und Missgunst ernähren. Das ist es, was du ihnen versprechen musst, um die Macht zu erhalten, die sie anbieten.« Ich deutete zurück ins Moor. »Hugh Krell hat ein besonders schlechtes Geschäft abgeschlossen. In seiner Verzweiflung, aus dem Schatten des Vaters und des Bruders zu treten, bot er ihnen weit mehr an, als er jemals hätte tun dürfen. Das Chacael, das ihn gewählt hat, benutzt ihn wie ein Töpfer einen Klumpen Lehm. Dein Onkel hat dich heute Nacht durchs Moor gehetzt, damit sich sein Chacael an Hughs Wimmern und Angst darüber erfreuen konnte, zu was es ihn zu zwingen vermöchte, falls er dich einholt.« Remington Krell sprang auf und eine unsichtbare Kraft riss sie aus meinen Händen. »Genug, Black Morgan! Sie gehört uns. Wir werden über ihr Schicksal entscheiden, nachdem wir mit dir fertig sind.« Mit einem halb gemurmelten Gegenzauber lenkte 82 ich den auf mich zujagenden Feuerball in den Kamin ab. Er explodierte in einer riesigen Flammenzunge, die die Schnauze des Drachenkopfes schwärzte und ein Auge aufriss. Lodernde Kohlen verteilten sich über den grauen Boden und formten ein Niemandsland zwischen uns. Die rote Glut der Flammen zeichnete den Wahnsinn auf Remingtons Zügen in eindrucksvoller Deutlichkeit. Ich werde ihn zermalmen. Ich werde ihn zermalmen! »Nein!« Ich zog etwas von seiner Macht ab und formte einen Zauber, der wie ein Orkan durch den Saal fegte. Der Sturmwind schüttelte Remington Krell und drohte, ihn zurück auf seinen Thron zu schleudern. Graue und schwarze Haarsträhnen peitschten über sein Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Er krallte sich in den Wind wie an einen körperlichen Gegner, dann strömte Eis aus seinen Händen. Es formte sich zu einer Kugel, die den Wind einfing, bevor sie schrumpfte und ihn erstickte. Zum Schluss fiel die Eiskugel hinab auf den Marmorboden und zerplatzte zwischen den Kohlen. Krell wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Du hast viel gelernt, aber du gestattest dir nicht, die ganze Macht des Chacaels zu nutzen!« Krell gestikulierte noch und plötzlich floss der Boden wie Wasser. Der verflüssigte Stein stieg auf und schloss mich bis zur Taille in Marmor ein. »Das hier, Black Morgan, ist kein Kampf, bei dem du dir Zurückhaltung erlauben kannst.« Tief in meinem Innern brannte die Wut über seine Frechheit, mir zu erzählen, was ich mir erlauben 83 konnte und was nicht. Unter allen Gegnern, die ich schon gestellt hatte, zählte er bei Weitem nicht zu den stärksten. Die anderen aber hatten überhaupt keine Gegenwehr erwartet. Den Abwehrzauber gegen den Feuerball hatte ich sofort gesprochen, weil ich ihn schon so oft gegen den ersten Angriff meiner Feinde eingesetzt hatte. Auch mein Orkan überraschte viele, weil sie auf die Abwehr tödlicher Angriffe vorbereitet waren. Und das war er nicht. Was dem alten Krell an Macht fehlte, machte er mit Verschlagenheit wett. Zauber flogen aus seinen Fingern und formten teuflische Fledermäuse mit ledrigen Flügeln und Mäulern voller rasiermesserscharfer Zähne. Sie stürzten sich auf mich, schnappten nach mir, ihre durchdringenden Schreie waren nur zu spüren, aber kaum hörbar. Mein Wams hielt einen Teil der Angriffe ab, doch mit gefesselten Beinen konnte ich ihnen nicht entkommen. Panik nagte an mir, als der Stein höher kroch. Bisse an Schultern und Ohren zogen Blut. Die Bisse brannten. Das
Fieber breitete sich in meinem Körper aus. Der Stein stieg über meinen Bauch und Rücken, drückte auf meinen Leib und erschwerte mir das Atmen. Und doch hätte ich Remington Krell trotz alledem besiegen können, hätte ich ihm allein gegenübergestanden. Er war jedoch nicht allein. Er hatte einen Verbündeten. Mein Chacael. Gib mich frei! Gib mich frei! 84 »Nein!« Ich zwang die Panik nieder. Ich kämpfte gegen den Schmerz an, um mich zu konzentrieren. Ich rang mit meinem Chacael, zwang es, mir die Macht für den Zauber zu geben, den ich zur Flucht aus dem steinernen Gefängnis brauchte. Es widersetzte sich jedoch umso stärker, ließ die Schmerzen neu auflodern, die ich zu lösen suchte, schürte die Panik. Gib mich frei oder wir sind verloren! Er hat uns eine falle gestellt! Einen Augenblick lang wirbelten meine Gedanken durcheinander, dann erkannte ich, dass sich auch Remington Krell zurückhielt. Ein halbes Dutzend Fledermäuse, die an mir nagten, hätten ebenso gut eine einzige riesige Fledermaus sein können, die große Stücke Fleisch aus meinem Leib riss. Eine Marmorhülle hätte ein Sarkophag sein können. Er hätte mich töten können, doch Neil und der alte Mann am Lagerfeuer waren sich einig gewesen: Der alte Mann machte sich nie die Hände schmutzig. Er wartete auf irgendetwas. Aber auf was? Bevor ich mich mit einem Zauber befreien konnte, kreischte Trista aus voller Kehle. Aus dem rechten Augenwinkel sah ich eine riesige pelzige Gestalt durch ein Bogenfenster klettern, doch mir wurde zu spät bewusst, wer es war. Ihr Aufschrei, meine Schmerzen und die zunehmende Panik angesichts meiner Fesselung brachen den Griff um die ständig zurückgehaltene Macht. In einem Augenaufschlag war das Chacael frei - und es handelte. Ein silbern gleißender Kugelblitz löste sich von den Fingerspitzen meiner rechten Hand. Er flog geradewegs 85 auf das Fenster zu, dann, als der Werwolf landete, fiel er herab. Der Blitz traf Hugh Krell an der rechten Brust und explodierte mit einem Donnerknall. Blut und Hautfetzen verteilten sich auf Wand und Decke. Eine halbe Sekunde lang sah ich weiße Rippen, bevor das Feuer sie schwärzte. Der Blitz verwandelte Hugh Krell in eine lebende, schreiende Fackel. Sein Heulen klang wie das eines gequälten Hundes, dann erstarb es in einem krächzenden Gurgeln, als er Feuer einatmete. Sein Fell ging wie Zunder in Flammen auf und badete ihn in goldenes Licht. Er stürzte zuckend zu Boden und schlug blind um sich, bis die Flammen versiegten und sich in eine süßlich-eklige Rauchsäule verwandelten. Wieder loderte Wut in mir auf, aber sie zielte weder auf Remington Krell noch auf dessen sterbenden Sohn. Ich richtete sie gegen den Dämon, der in mir wohnte, und gewann die Kontrolle zurück. Wortlos, ohne ihm Gelegenheit zum Widerspruch zu geben, packte ich seine Macht und zwang das Chacael unter meinen Willen. Die steinerne Hülle, die mich einschloss, barst in einem Wirbelwind aus Marmorsplittern, die alle Fledermäuse zerfetzten. Ich streckte die linke Hand zu Remington Krell aus und ballte sie zur Faust. Diesmal hielt ich nichts zurück. Die Luft, die ihn umgab, verhärtete sich zur Festigkeit von Stein und zerquetschte ihn. Ich hielt die Faust lange genug geschlossen, um sicherzugehen, dass er bewusstlos war, dann öffnete ich sie und ließ ihn vor dem Thron zu Boden sinken. Es ist ein Fehler, einen Feind wie diesen am Leben zu lassen. Du wirst es bedauern. 86 »Das hast du auch schon bei allen anderen gesagt.« Verachtung färbte meine Worte. »Du dachtest, er könnte mich bezwingen. Du hast gehofft, er würde siegen und dir in seinem Sieg gestatten, mit mir zu tun, was dir gefällt.« Die ständige Hoffnung jedes Sklaven. »Ein Sklave, du? Du hast einiges vergessen. Es wird Zeit, dass du dich erinnerst.« Meine Wut blieb ungestillt und ich spießte das Chacael mit ihr auf. »Du hast ohne meine Erlaubnis gehandelt.« Ich betrachtete die qualmende Leiche Hugh Krells, die mit blinden Augen zur Decke starrte. »Du hast ihn umgebracht.« Es war eine Falle. Ich musste uns verteidigen. Das gestattest du sogar den anderen. »Du hast ohne meine Erlaubnis gehandelt.« Es wand und krümmte sich in meinem Geist. Die anderen handeln ohne Erlaubnis ihrer Wirte ... Ich schüttelte den Kopf. »Aber du und ich, wir sind nicht wie die anderen, erinnerst du dich? Wirte kommen nach ein paar Jahren Unterricht an den Vereinigungsort. Sie sind jung und bilden sich in ihrer Einfalt ein, beherrschen zu können, was ihr anbietet. Sie glauben, ihre Opfer seien den Preis wert und meinen, niemand würde je die Schulden eintreiben, die sie anhäufen. Das ermöglicht den anderen ihren Erfolg und gestattet ihnen, ohne Erlaubnis ihres Wirts zu handeln. Aber dieses Geschäft haben wir nicht gemacht. Ich bin zum Vereinigungsort gekommen, habe jedoch keine Zugeständnisse gemacht. Ich habe nicht vergessen, wie du gekämpft und dich mit den anderen um die Ehre gestritten hast, mein Chacael zu werden. Du hast ge87 wusst, dass ich länger studiert hatte als die anderen, und du hast den Schmerz und die Verzweiflung gespürt, die ich als Folge meiner früheren Taten mit mir herumtrage. Du hast nach der Vergeltung gehungert, die ich in meinem Herzen trug, und nach der Macht, die ich fähig war einzusetzen. Du hast mir ein Zugeständnis gemacht,
erinnerst du dich?« Ich habe versprochen, nicht ohne deine Erlaubnis zu handeln. »Und du hast dein Versprechen gebrochen. Dafür wirst du büßen.« Wie? »Du hast damit geprahlt, du könntest sogar den Tod besiegen.« Ich deutete auf Hugh Krells Leiche. »Bring ihn in Ordnung. Heile ihn von dem, was ihm dein Artgenosse angetan hat.« Es wollte sich sträuben und rebellieren, aber meine Wut ließ ihm keinen Ausweg. Energie floss aus meinem Körper und hüllte die verkohlte Leiche in einen Kokon aus blauem Licht. Funken und düsterblaue Fäden durchzogen ihn, verbargen die Leiche und den Vorgang des Wiederaufbaus. Das Blut und die Hautfetzen an den Wänden und auf dem Boden verschwanden, dann öffnete sich der Kokon und gab einen nackten, schlafenden Jüngling mit geraden Gliedern frei, der nicht länger zu halb-tierischer Gestalt verzerrt war. Du hast nichts von Kleidung gesagt, erinnerte es mich. »So leicht kommst du mir nicht davon.« Ich schaute zum schlafenden Remington Krell hinüber. »Ihre beiden Chacaels haben uns als ihren Herrn bestätigt?« 88 Ja. Es zögerte, dann setzte es eine Bitte hinzu. Nicht noch einmal, Morgan. Zwing mich nicht, es noch einmal zu tun. Ich lachte leise und grausam. »Wie? Ich soll mich nicht an die Vereinbarung halten, die wir vor so langen Jahren geschlossen haben? Du hast versprochen, nicht ohne meine Erlaubnis zu handeln. Und ich habe versprochen, dich zum Herrscher deiner Art in meiner Welt zu machen. Ich werde meinen Teil der Vereinbarung erfüllen. Das verlangt meine Ehre.« Ich atmete langsam durch. »Zwing sie. Du kennst die Formel. Zwing sie für immer.« Ich hörte die zischende, krachende Sprache der Chacaels und erkannte problemlos die Empörung in ihren Antworten. Mein Dämon hatte ihnen befohlen, niemals Zauberei einzusetzen, außer zur Selbstverteidigung oder wo es einem anderen half, ohne dass eine Chance auf eine Belohnung oder Entschädigung für ihren Wirt bestand. Durch ihre Niederlage wurden die Chacaels der Krells gezwungen, denen zu helfen, die keine Vereinbarung mit ihnen eingegangen waren. Sie beschweren sich, dass sie verhungern werden. »Sag ihnen, sie sollen von ihrem eigenen Elend zehren.« Trista Krell kam zu mir und gab mir meinen Umhang zurück. »Muss ich Euch begleiten, mein Lord?« Ich blickte in ihre blauen Augen hinab und sah denselben Lebensfunken, den ich in den Augen meiner Frau ausgelöscht hatte. »Verstehst du, was es bedeutet, ein Zauberer zu werden?« Sie nickte. »Diesen Preis werde ich nicht bezahlen.« 89 Sie sah hinüber zu ihrem Onkel und zum Großvater. »Ihr habt ihnen die Zauberei genommen, oder?« Ich nickte ernst. »Ja. Außer unter sehr begrenzten Umständen verfügen sie über keine Zauberkräfte mehr.« Trista schob sich eine golden Locke hinter das linke Ohr. »Dann werden sie sich an ein Leben ohne sie gewöhnen müssen. Sie sind meine Familie ...« Ich legte ihr den Finger auf die Lippen. »Sprich nicht weiter. Dein Vater, mein Freund, wollte, dass ich dich fortbringe, bevor eine Zauberin aus dir werden kann. Er wollte nicht, dass du mit der Last leben musst, die er sich aufgebürdet hatte, und er wollte auch nicht, dass du so wirst wie dein Onkel. Sofern dies gesichert schien, wollte er vor allem, dass du glücklich wirst. Ich bete, dass du in der Sorge um diese beiden dein Glück findest.« Zurück auf der Straße, auf dem Weg nach Richardston, saugte mir die Nacht die Wärme aus dem Leib - wie ein Egel das Blut. Die Schnittwunden auf der Brust und die Bisse am übrigen Körper stachen, aber weder sie noch die Kälte konnten mir etwas anhaben. Ich wanderte weiter, verloren in Erinnerungen an ferne Orte und Zeiten, in denen ich noch Freude kannte. Wirt, du hast die Macht gespürt. Du hast gespürt, wie leicht es war, beide Krells zu besiegen. Warum verweigerst du dich der Freude dieser Macht? Es gibt nichts und niemanden in dieser Welt, der unserer Macht widerstehen könnte. Wieder blühten Atlantes engelsgleiche Züge vor meinem inneren Auge auf. »Du irrst dich. Ich stehe zwischen uns und dem, was diese Macht uns brächte.« 90 Warum ? Atlantes Antlitz verschwamm und wurde von Hugh Krells rauchender Leiche ersetzt. »Weil ich weiß, dass mir die Macht niemals geben kann, was ich mir ersehne, ganz gleich, wie ich sie einsetze.« Aber ich kann sie dir zurückgeben, so wie ich es mit Hugh Krell getan habe. Ich schüttelte den Kopf, diesmal sanft. »Nein. Würde ich dir gestatten, mich dazu zu überreden, würde ich mir von dir auch die furchtbarsten Verbrechen aufschwatzen lassen - und alle würdest du damit rechtfertigen, dass sich hinterher alles in Ordnung bringen ließe. Ich würde wieder das bluttriefende Ungeheuer werden, das seine eigene Frau ermordet hat. Ganz gleich, wie groß deine Macht ist, ich werde dir niemals gestatten, Black Morgan of Aldare wiederzuerwecken.« Das Chacael verstummte - ein weiteres Mal überzeugt davon, dass ich unmöglich war - und ich beschleunigte meinen Schritt. Mit einem winzigen Zauber sorgte ich für Rückenwind. Dabei ging es mir weniger darum,
schneller voranzukommen, als um die leise Musik, die der Wind herantrug. Leise mitsummend ging ich durch die Nacht. 91 Sei mein Zuckerschnäuzehen habe ich Mitte der Achtziger als Parodie auf »political correetness« und all diese Gesetze geschrieben, mit denen die Menschen vor den Folgen ihrer eigenen Dummheit beschützt werden sollen. Sie besitzt auch Cyberpunk-Elemente, allerdings hat Lawrence Watt-Evans, der sie für die Anthologie Newer York kaufte, mir abgeraten, das >C-Wort< zu benutzen, wenn ich sie beschreibe. Ich erinnere mich, dass ich die Geschichte gerade fertig hatte, als ein Freund, Scott Wareing, vorbeikam, um mich zu einem Fußballspiel abzuholen. Bevor ich mich umziehen ging, gab ich ihm die Geschichte. Ich hoffte, Gelächter zu hören, aber im Wohnzimmer herrschte Totenstille. Er schaffte sechs Seiten, bevor wir uns auf den Weg machten. Etwa zwanzig Minuten später fragte er vorsichtig: »Äh, sollte die Geschichte komisch sein?« Ich antwortete: »Ja, aber du hast nicht gelacht.« Dann hat Scott gelacht. Er hatte sich das Lachen verkniffen, weil er dachte, ich hätte die Geschichte ernst gemeint. Sei mein Zuckerschnäuzehen Der Nieselregen dampfte auf der Ziegelmauer der Gasse und brach das Licht der Straßenlaterne in tausend winzige Regenbögen. Tief in den Schatten, die außerhalb des Lichtkreises herumlungerten, justierte ich das Mikro an meinem Mund. Meine behandschuhten Finger glitten am Kabel zurück bis zur Buchse hin92 ter dem linken Ohr. Ich zog den Stöpsel heraus und steckte ihn wieder rein - das Prüfsignal bestätigte eine einwandfreie Funktion des Funksystems -, dann knirschte ich ungeduldig mit den Zähnen. Ich bewegte die Finger der Rechten und fasste die Smith & Wesson M-19-Multi-Pistole fester. Mein Daumen strich über den Wählhebel, doch ich unterdrückte den Drang, von Tefjac auf Mixergeschosse umzuschalten. Unter dem Lauf hing der M-107-T-plas-Aufsatz mit den seitlichen, an Insektenkiefer erinnernden Elektroden. Die Ladespulen glühten grün. Ich grinste. Ein Hardwareproblem gab es jedenfalls nicht. Ich sah zu der dunklen, in der Gassenwand mir gegenüber versenkten Tür hinüber. Das Licht der Straßenlaterne erreichte sie nicht, aber es wurde vom nassen Bürgersteig, den die schlurfenden Schritte verlorener Seelen sauber gekehrt hatten, hell genug reflektiert, um ihre versteckte Lage zu kennzeichnen. Ich warf einen Blick auf den Menübalken an der Unterkante der rechten Linse meiner Scharfschützenbrille und aktivierte das IR-SichtProgramm. Es zeichnete die Tür in Gold- und Rottönen vor dem dunklen Purpur der Ziegel. Es zeigte sogar gelb den Handabdruck des letzten Besuchers, der durch die verkleidete Metalltür gegangen war. Bevor ich mich ganz in Gedanken über die Laster verlieren konnte, die hinter dieser Tür auf ihre Opfer warteten, knisterte der Anruf aus dem Lautsprecher in meinem linken Kieferknochen. »Kanalisationstrupp in Stellung. Sorry, mussten zwei Kroks erledigen. Bereit.« »Zählt bis drei«, knurrte ich ins Mikro, »dann macht alles dicht.« 93 Ich trat mutig aus den Schatten. Meine Linke öffnete den grauen Trenchcoat. Er schlug um meine Beine zurück, und der Stern, den er auf meiner Brust freilegte, identifizierte mich deutlich als Regierungsbeamten, als einen der Besten der Besten. Die Perversen, die sich dort drüben im Smoke-Easy versteckten, würden ihre erste Begegnung mit einem Agenten des Amtes zur Kontrolle von Alkohol, Tabak und Süßwaren niemals vergessen. Die Mündungsflamme des M-19 schwärzte die Tür, als der erste Feuerstoß durch das Schloss krachte. Ein paar Kunden duckten sich vor dem Hagel der Metallsplitter, als ich durch die Tür trat und einen Blick auf den >Suchen< Knopf des Menübalkens warf. Die Scharfschützenbrille wechselte blitzartig durch verschiedene Modi und wählte dann die Lichtverstärkung als beste Einstellung für die schummrig verrauchte Atmosphäre dieser Umgebung. Rote Linien flammten in einem Fadenkreuzmuster über meinem rechten Auge auf, und ein roter Punkt leuchtete, sobald meine Pistole auf ein mögliches Ziel deutete. Ich drehte mich nach links, wo ein Riesenmutant, an dessen Unterlippe der Stummel einer kubanischen Corona hing, von seinem Platz aufstand und wie eine Flutwelle über mir aufragte. Er streckte Hände so groß wie Schaufelblätter nach mir aus und im schwachen Licht glitzerten die scharfen Messerkrallen an beiden zweifingrigen Händen. Ich gab einen Feuerstoß ab und bemerkte erst, dass ich unbewusst auf Mixerpatronen umgeschaltet hatte, als sein Brustkorb davonflog und seine Beine im Eingang landeten. 94 Der Clonekin an der Bar- ein Einstein-Modell - hob kapitulierend alle vier Hände, doch der Kanisterschläger an der Hintertür sprang von seinem Hocker und riss eine Schrotflinte aus Vorkriegsbeständen hoch. Die Kunden zwischen uns hechteten in Deckung, warfen mit Asche bedeckte Tische um und schleuderten die darauf herumliegenden Zigaretten wie Geschosse durch die Luft. Fast hätte ich über die Nikofreaks gelacht, als sie sich in die knappe Deckung des Smoke-Easy drängten. Als hätte Ihre >Entspannungs< Sucht sie nicht ohnehin schon umgebracht. Einen Augenblick lang war ich versucht, den genmanipulierten Verbrecher blind um sich ballern zu lassen, aber die Vorstellung, dieses Ding auch nur einen Schuss abfeuern zu lassen, bevor ich es erledigte, war um nichts weniger ekelhaft als der Gedanke an die Pusher, die unschuldige Schulkinder mit Zuckerstangen ins Verderben lockten.
Der rote Punkt vor meinem rechten Auge leuchtete auf, und mein Daumen schaltete zurück auf Tefjacs, als sich mein Finger um den Abzug spannte. Die reibungs-resistenten Kugeln bohrten sich durch die Panzerung des Rausschmeißers. Der Ganove knallte gegen die Wand, rutschte an ihr abwärts und blieb als formloser Sack über seinem umgekippten Hocker liegen. Ich hob die Waffe zur Decke, und die Zielbestätigung auf dem rechten Brillenglas schaltete sich ab. Zusammen mit dem Lächeln, das sich auf meine Züge stahl, löste dies etwas von der Spannung im Raum und senkte die Stresswerte auf eine gesetzlich erlaubte Ebene. »Sie sind alle festgenommen. Die Anklage lautet: Verstoß gegen die Selbstschutzgesetze.« Ohne mich 95 um ihre Bitten und Beschwerden zu kümmern, nickte ich in Richtung eines der Tische, die auf der Seite lagen. »Sie auch, Ratsherr Foster.« Ich lachte, als ich ihn stöhnen hörte, dann grinste ich noch breiter, weil das Funkgerät krachte und ich die Bestätigung erhielt, dass der Lageranbau des Smoke-Easys ebenfalls gesichert war. Die taktische Einheit der Stadtpolizei in den rauchgrau-schokoladenbraunen Stadtkampf-Tarnanzügen strömte durch die offene Tür und sammelte die Gefangenen ein, während ich zu dem Biotank-Baby an der Bar schaute. »Mach mir die Tür nach hinten auf.« Es gehorchte, und auf dem Weg stieg ich über den Ratsherrn. Ich war kaum durch die Tür, als mir der Geruch entgegenschlug und meine Nase aus Protest den Dienst verweigerte. Kisten verschiedenster Größen und Formen füllten die lange, dunkle Lagerhalle bis an die Decke. An den Seiten der Kisten prangten deutlich schwarz gemalte Inhaltsangaben, aber ich wusste auf den ersten Blick, dass sie gelogen waren. Es stank nach Schokolade. Ich schob die M-19 zurück ins Holster und schaltete die T-plas aus. Mein neuester Partner erschien in Begleitung eines Gefangenen. Der Verdächtige wehrte sich ohne Aussicht auf Erfolg, als hätte sein korpulenter Leib nicht die geringste Chance gegen einen gesunden, jungen, verantwortungsbewussten Patrioten gehabt. Der Verdächtige widerte mich an, und dies nicht nur, weil er Süßwaren an Kinder verkaufte. Ein Blick auf seine dunklen Finger und die Flecken auf dem grauen Anzug - und ich wusste: Er war dumm genug 96 gewesen, den Verlockungen seiner Suchtware selbst zu erliegen. Er schnupperte an der rot-weißen Gartennelke in seinem Knopfloch und verzog abfällig den Mund. »Na, wenn das nicht Elliot Nestle ist.« Ich versetzte ihm einen harten Schlag ins Gesicht, bevor ich mich wieder unter Kontrolle hatte. »Beleidigungen helfen dir jetzt auch nichts mehr, Cadbury!« Ich sah an ihm vorbei zu meinem Deputy, Raul Danton. Sein elektrisch-blauer Adleraugenblick verriet mir, dass er jeden Vorwurf, ich hätte den Verdächtigen geschlagen, bestreiten würde. Ich zog die abgegriffene Karte aus der Jackentasche. »Sie haben das Recht zu schweigen, solange Sie es schaffen. Alles, was Sie sagen oder denken, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Während der Gedankenanalyse haben Sie das Recht auf eine Cyberlinkverbindung zu einem Anwalt. Falls Sie dies wollen, sich aber keinen Anwalt leisten können, wird man Ihnen ein ROM-basiertes Expertensystem zum Direktanschluss zur Verfügung stellen.« Ich starrte in seine leeren, schokoladenbraunen Augen. »Haben Sie diese Rechtsbelehrung verstanden?« Cadbury grinste mit gelben Zähnen. »Es ist mehr nötig als Ihre Verhörspezialisten, um den kognitiven Dschungel zu roden, den sie in mein Hirn gepflanzt haben.« Ich zuckte die Achseln. »Dann können wir Sie halt nicht brechen. Bu-hu.« Ich deutete auf die Kisten rings um uns. »Sie werden auf Jahre hin kein Tageslicht mehr sehen, Cadbury. Das sind Dealermengen.« 97 Victor Cadbury lachte, und seine fleischigen Wangen hüpften, als wollten sie die Häme in seiner Stimme noch unterstreichen. »Das? Ha!« Seine dunklen Augen zuckten von einer Kiste zur nächsten. »Ihre Leute werden Ihnen in Kürze mitteilen, dass das hier nichts weiter als Milchschokolade ist. Sie haben gar nichts.« »Weg mit ihm!«, schnaubte ich wütend. Wieder hatte die Coryza, der Schmuggleruntergrund, im Vorfeld von einer Razzia erfahren, in die ich drei Monate Planung investiert hatte. So viel Arbeit für nichts als Vollmilchschokolade. Ohne an die harte Ware kommen zu können, an Brasilianische oder noch besser, Schweizer Weiße, kamen sogar mir schon Zweifel, ob ich die Amerikaner vor sich selbst beschützen konnte. Mein Boss, Inspektor Harris Martin, unterbrach die Arbeiten im Mobo-Sektor, um sich meinen Ausbruch anzuhören. »Ich weiß es nicht, Harry«, hörte ich mich jammern. »Nichts klappt. Überall haben wir unsere Leute, die sich abmühen, die Schmuggelringe zu zerschlagen, die das Dreckszeug ins Land bringen, aber je mehr wir uns bemühen, desto stärker wird die Coryza. Sie breitet sich wie eine Krankheit aus!« Harry nickte mit seiner schlohweißen Mähne, und eine ernste Miene legte sich wie eine Maske über sein Gesicht. »Heimtückisch, es gibt kein anderes Wort dafür. Wir haben ja schon alle Mühe, auch nur zu verhindern, dass es nicht noch schlimmer wird.« Ich schüttelte den Kopf. »Wie sollen wir das schaffen, solange alle Welt die ersten Kontakte mit Süßwarensucht als Kavaliersdelikt behandelt? Ernsthaft, 98 Harry.« Ich drehte mich zu dem verdunkelten Fenster des Büros um. »Wenn es hier oben ernsthaft kalt wird,
brauen die Mütter von Montreal bis zum Bostonplex ihren Kindern >Heiße Schokolade< gegen die Kälte. Kein Kind nimmt von einem Fremden Süßigkeiten an, aber wie können wir ihnen vermitteln, dass Schokolade bösartig ist, wenn ihre eigene Mutter sie ihnen gibt?« Harrys Stimme wurde rau, als ihn der Ernst der Lage wieder einmal zermürbte. »Sie haben Recht, Mark, wir arbeiten gegen eine doppelte Moral. Ich kann mich selbst noch daran erinnern, dass ein Onkel dunkle Halbbitterschokolade - brasilianische, glaube ich - in meine allererste Tasse Kaffee schabte. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht.« Ich schnaubte. »Wem sagen Sie das. Ich bin in Hershey groß geworden, im Militärdistrikt Pennsylvania. Wir wohnten im Schatten der alten Fabrik, und ich kann mich noch gut an Tage erinnern, als der ekelhaft süße Rauch aus der Fabrik das ganze Tal füllte. Ich bin früh mit dem Übel der Schokolade in Berührung gekommen.« Ich fletschte die Zähne und schlug mir mit der Faust in die linke Hand. »Ich habe mit ansehen müssen, wie die Sucht meinen älteren Bruder zurichtete.« Harry beugte sich vor. »Akne?« Ich nickte traurig. »In ihrer schlimmsten Form, Harry. Sein ganzes Gesicht und der Rücken. Seine Freunde erzählten ihm, es läge nicht an der Schokolade. Und er glaubte ihnen. Er ertränkte seine Tränen und Schande in dem Zeug und blähte sich auf. Eine Weile hat er gedealt - hat den Kindern in der Schule Pralinen und Riegel verkauft. In der Zeit konnte er sich Topqualität leis99 ten: Schweizer Weiße. Aber sein Imperium schmolz dahin wie Schokolade, die man zu lange in der Hand hält.« Meine Stimme versagte. »Er ist daran gestorben.« Harry schüttelte mitfühlend den Kopf und gab mir Zeit, mich zu beruhigen. »Konnten Sie ihn nicht in einem Carob-Programm unterbringen?« Ich seufzte schwer. »Dafür hatte es ihn schon zu schlimm erwischt. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, Harry. Die Jungs von der Bostoner Sitte haben mich gerufen, als sie ihn fanden. Er lag am Ende einer Seitengasse, Fertigkuvertüre um den Mund und auf dem Zeigefinger. Ich weiß nicht, woher er sie hatte, aber diese konzentrierte Schokolade war zu viel für ihn.« Harry schüttelte sich. »Eine Überdosis ist nie ein schöner Anblick.« Er hob einen der in Goldpapier gehüllten Hasen auf, die wir in der Lagerhalle gefunden hatten, und betrachtete ihn eindringlich. »Manchmal fällt es schwer zu glauben, dass etwas, das so unschuldig daherkommt, so gefährlich sein kann.« Ich betrachtete den zuckrigen Nager, der sich langsam zwischen seinen Händen drehte. Das Papier klebte wie ein Neglige an ihm und zeigte in seinen funkelnden goldenen Glanzlichtern nur die positiven körperlichen Eigenschaften eines in Märchen und Legenden gefeierten Tiers. Der Hase sah tatsächlich harmlos aus, aber das machte ihn in meinen Augen nur noch abstoßender, denn er verführte die Einfältigen und verdammte sie zu einem Leben des Verbrechens und der Erniedrigung, aus dem die wenigsten einen Ausweg fanden. 100 Ich stand auf. »Er mag unschuldig aussehen, Inspektor, aber ich weiß es besser. Ich schaue auf unsere Fahne, auf die dreizehn Streifen und siebenundsechzig Sterne, und Stolz füllt meine Brust. Und dann schaue ich auf diesen Hasen und weiß, er und diejenigen, die ihn in unser Land gebracht haben, kennen nur ein Ziel: Die letzte Bastion wahrer Freiheit auf Erden zu untergraben.« Ich beugte mich über seinen Schreibtisch. »Und ich sage Ihnen noch etwas, Harry. Sie steckt dahinter!« Der Hase hielt an und Harrys braune Augen fixierten mich. »Andrea Tobler! Woher wissen Sie das?« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe ein Gerücht aufgeschnappt, dass sie letztes Jahr den Cadbury-Besitz geschluckt hat.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den Hasen. »Außerdem muss Ihnen aufgefallen sein, wie leicht diese Hasen sind, Inspektor. Sie sind hohl. Gibt es eine bessere Methode, den armen Versklavten, die an ihrer widerwärtigen Ware hängen, noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen?« Harrys dunkle Augen wurden schmal, und er betrachtete den Hasen mit verändertem Gesichtsausdruck. »Möglicherweise sind Sie da über was gestolpert, Mark.« Er sah zu mir hoch. »Ich werde mich der Sache annehmen. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Aber angesichts Ihrer Vergangenheit, was die Tobler betrifft, sollten Sie besser ein paar Tage Urlaub nehmen. Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass Sie durchgedreht sind.« »Geht klar, Sir.« Ich lächelte. »Ich wollte ohnehin mal ein paar Tage draußen auf meiner Ichthyo-Kulturanlage verbringen. Gute Jagd.« 101 Raul sah, als ich ihn um Mitternacht aus dem Bett klingelte, ebenso verwüstet aus wie sein Apartment. Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar und starrte mich an. Eine seiner Kontaktlinsen war verrutscht, und sein rechtes Auge schien ein brauner Mond zu sein, der halb hinter einem blauen Schatten verschwand. Aber er bemerkte es nicht. »Lieutenant Glace? Was tun Sie denn hier? Ich dachte, Sie wären auf Ihrer Fischfarm in Jersey.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Das war nur eine Deckgeschichte. Wir beide machen uns heute Nacht noch auf den Weg nach Montreal. Sie ist da oben - und ich werde sie mir holen.« »Was, wie?«, fragte Danton, als er aus dem Bett sprang und seinen Gefechtsoverall überzog. Während er den Gürtel mit seiner H & K MP-47 umlegte und das Holster am rechten Bein festband, erklärte ich
es ihm. »Erinnern Sie sich an die Blume, die Cadbury am Revers stecken hatte? Das war eine Peppermint-Nelke. Die werden nur in Surrey gezüchtet. Die Coryza kauft sie auf dem Blumenmarkt in Holland und schmuggelt sie nach Montreal ein. Sie hat uns Cadbury in die Hand gespielt, weil er den Profit gegessen hat.« Um Dantons markantes Kinn spielte die Muskulatur. »Andrea Tobler. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal diese Chance bekomme.« Seine Rechte streichelte den Griff seiner Waffe. Ich schüttelte den Kopf. »Sie können jeden anderen haben, sogar Fred Whitman. Aber Andrea gehört mir.« 102 Vom Widerschein der Lokomotivlichter eingefrorene Bilder zuckten am regenstreifigen Fenster vorbei, während der Zug durch eine Nacht brauste, die dunkler war als Backschokolade. Ich starrte mein Spiegelbild an, bis Danton eine Tasse heiße Hühnerbrühe vor mir abstellte und der Dampf meine Züge verbarg. »Erde an Lieutenant Glace. Alles in Ordnung, Sir?« Ich entspannte die säuerliche Miene und drehte mich zu ihm um. »Ja, klar, Raul. Mir geht es gut. Nennen Sie mich Mark, okay?« Er nickte und nippte vorsichtig an der Brühe. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« Ich nickte. »Nur zu.« Ich wusste, was kam. Alle meine neuen Partner stellten irgendwann diese Frage. Keiner von ihnen konnte die Gerüchte glauben, bis ich sie bestätigte. »Sie waren wirklich drüben, Sir, äh, Mark?« Ich sah ein Funkeln in seinen Augen - ein Funkeln, das ich vor langer Zeit auch im Spiegel gesehen hatte. »Wie ist es in Europa?« Ich nippte an meiner Brühe und schmeckte kurz das Salz, bevor mir die heiße Flüssigkeit die Geschmacksnerven abtötete. »Es ist nicht so schlimm, wie manche es darstellen, Raul. Es kann sogar sehr hübsch sein. Ich meine, sicher, es ist dekadent, ein hedonistisches Himmelreich für die, deren Reichtum auf Pralinen und Schokoladeriegeln aufgebaut ist. Aber es gibt auch Kultur da - und nicht nur im Joghurt.« Ich lächelte bei der Erinnerung. »In der ersten Nacht in der Schweiz hätte ich mich fast verraten. Das Zimmermädchen hatte das Bett gemacht und ein Stück 103 Schokolade auf das Kissen gelegt! Das hat mich einen Augenblick lang geschockt, aber ich habe es geschafft, die Schokolade einem Bekannten zu schenken. Trotzdem, es war knapp.« Raul nickte ernst. »Es muss eine echte Herausforderung gewesen sein, als verdeckter Ermittler der Süßwarenpolizei zu arbeiten.« Ich seufzte schwer. »Das war es auch, und mehr als das. Wenn man so viel Zeit in der Gesellschaft von Chocolatiers verbringt, verliert man irgendwann die Bodenhaftung. Sie haben mich schnell akzeptiert, weil ich mich als Ex-Patriot ausgab, der sich davor drücken wollte, für die letzte Runde der russisch-amerikanischen Kriegsspiele in der Volksrepublik Kolumbien eingezogen zu werden. Und dann haben sie herausgefunden, dass ich aus Hershey kam. Es hat keinen Monat gedauert - und wir waren dicke Freunde. Sie haben mich in die Schweiz geschickt, weil sie sich Großes von mir versprachen.« Raul schluckte mühsam und tastete sich vorsichtig an die Frage heran, um die es ihm schon die ganze Zeit ging. »Sie kannten sie, oder?« Ich nickte stumm, weil ich einen Kloß im Hals hatte, der mir das Sprechen unmöglich machte. Ich hob die Tasse Suppe an den Mund und trank gerade genug, um ihn zu vertreiben. »Ja, ich kannte Andrea. Ein paar von den Cadburys haben mich ihrem Vater empfohlen, Herrn Helmut Tobler, und ich gefiel ihm. Er nahm mich mit zu sich nach Hause, nach Zürich, und führte mich ins Geschäft ein. Andrea bekam die Aufgabe, mein Deutsch zu verbessern.« 104 Meine Stimme verklang, als ich sie mir bei unserer ersten Begegnung vorstellte. Sie war auf einem Ausritt gewesen und trug einen Helm, aber als sie ihn abnahm, fiel wallendes schwarzes Haar herab und umrahmte ihr engelsgleiches Gesicht. Blaue Augen - naturblau -musterten mich aufmerksam, als sie über den weißen Marmorboden im Ballsaal ihres Vaters herüberkam. Auf halber Strecke schenkte sie mir ein Lächeln, und ich fühlte, wie ich rot wurde. Sie war schlank und zierlich, aber mit einer Charakterstärke, die wie ein Fusionsgenerator brannte und sie völlig erfüllte. Raul räusperte sich. »Es heißt, Sie hätten sie sogar geliebt ...« Ich nickte. »Ich weiß, und man hält es für eine große Eroberung, dass ich mit der Königin der Pralinen geschlafen habe.« Ich starrte ihn streng an. »Aber ich sehe das nicht so.« Meine Stimme verlor die Schärfe. »Ich habe sie wirklich geliebt.« Raul betrachtete mich mit mitfühlendem Blick, eine unausgesprochene Bitte um eine Erklärung auf den Lippen. Er wusste, er durfte die Frage nicht stellen. Und er wusste ebenso sicher, dass er diesen Teil der Geschichte nie von einem seiner Umkleidekabinenfreunde zu hören bekäme. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich weiß, es klingt wie Verrat, Raul. Deswegen habe ich es für mich behalten. Ich habe Wochen, Monate in ihrer Gesellschaft verbracht. Meine Mission lautete, mich in das ToblerImperium einzuschleichen, und ihr Vater gab unserer Romanze seinen Segen. Anfangs glaubte ich, ich hätte alles unter Kontrolle, aber es dauerte 105 nicht lange, da war ich ebenso vernarrt in sie wie sie in mich.«
Raul schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir Leid, Mark.« »Das braucht es nicht. Ich war glücklich und genoss jeden Moment, den wir zusammen verbrachten. Wir haben das Leben, um uns daran zu erfreuen, soweit es das Gesetz erlaubt, und wir waren wirklich verliebt.« Ich kicherte. »Um genau zu sein, es war nur ein einziges Wort. Ohne dieses eine Wort würden Sie jetzt vielleicht mit Inspektor Martin in diesem Zug sitzen, um mich zu stellen!« »Ein Wort?« Rauls Überraschung über mein Geständnis unterlag der Neugier. »Was hätte sie sagen können, das Sie beide auseinander getrieben hat?« Ich trank von der Hühnerbrühe und nutzte das Brennen, um mich zusammenzureißen. »Zuckerschnäuzchen.« »Wie bitte?« Ich nickte ernst und schaute ihn über den Tassenrand an. »Sie haben richtig gehört. Zuckerschnäuzchen. Sie wissen, ich fluche nur ungern, aber sie nannte mich Zuckerschnäuzchen. In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich mich fast von einer Gesellschaft und einem Lebensstil hatte verführen lassen, die so pervers sind, dass sie eine derartige Obszönität als Kosewort betrachten können.« Raul legte den Rest der Fahrt nach Montreal in entsetzt-schockiertem Schweigen zurück. 106 Der Ganove schrie, als sich die blaue T-plas-Kugel ausdehnte und ihn einschloss. Die blauen Blitze umschwirrten ihn wie ein Fischnetz auf Acid, ließen die Muskeln sich verkrampfen und verbrannten ihm die Haare. Energie-Tentakel trieben an seinen Beinen hinab und erreichten schließlich den Boden. Sie leuchteten silbern auf, dann verschwanden sie und er brach wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, zusammen. Ich ging in die Hocke und nickte unbewusst, als Rauls Stimme in meinem Kopf erklang. »Roger, Raul. Einer ist ausgeschaltet, aber ich kann seinen Partner nicht finden. Ich will hoffen, dieser winselnde Bonbonmann hat uns nicht angelogen, was die Schutzmaßnahmen der Coryza betrifft.« »Die Posten sind genau da, wo er sie vorhergesagt hat.« Rauls Antwort war von Störungen durchzogen, aber ich hörte weder Schüsse noch das Zischen eines Plasmastoßes. »Ich gehe jetzt rein, Mark. Wir sehen uns hinten in der Blumenhalle.« Ich drehte schnell den Kopf und suchte die Gasse ab, weil ich befürchtete, dass sein Funkspruch Warngeräusche übertönt hatte. Aber kein Zielerfassungspunkt leuchtete auf. Mit einem Blick auf den Menübalken auf der rechten Linse schaltete ich die Brille auf IR, aber alles, was ich sah, war der nachglühende Körper des ausgeschalteten Ganoven und die Wärmesignatur seiner Fußspuren, die sich langsam auflöste. Ich blickte hoch, um die Dächer und die rostige Feuertreppe abzusuchen, und hätte fast einen ebenso großen Fehler begangen wie der Mann über mir. 107 Ich sah seine rotviolette Gestalt und das größer werdende weiße Feuer in seiner Hand. Ich presste zum Schutz vor dem gleißenden Lichtstoß die Augen zu und riss mir blind die Brille vom Gesicht. Dann drehte ich mich weg und duckte mich, fort von dem ersten Schwärm Wolframnadeln aus seinem Colt. Aber selbst mit der Hand vor den Augen konnte ich das sonnenhelle Licht der Magnesiumfackel nicht aussperren. Hätte ich eine Sekunde langsamer reagiert, mir hätte die Leuchtpatrone entweder die Augen verbrannt oder sein erster Schuss mich zerfetzt. Ich öffnete die Augen einen Schlitz, sah aber im gnadenlosen Licht des Magnesiums nichts als den aufgedunsenen Schatten des Schützen. Die Fackel, die er hoch in der linken Faust hielt, tauchte die ganze Gasse in grellweißes Licht und verwandelte ihn in einen Schattenriss mit Irokesenschnitt und zusammengewürfelter Schutzkleidung, wie sie bei Montreals Straßenbanden modern war. Der Colt schien an seinem Arm angewachsen, und von seiner Stellung auf der Feuertreppe aus feuerte er einen zweiten Schauer Metallnadeln - die Hälfte prallte als Querschläger vom Geländer der Treppe ab -, der mich hinter dem ausgebrannten Wrack einer Iacocca-Karre in Deckung hechten ließ. Der Schütze lachte und verspottete mich mit stark akzentuiertem Englisch. »Ich spiele mit dir wie ein Hund mit einem blinden Eichhörnchen, eh, Couchon?« »Du blöde Praline«, fluchte ich zurück. »Selbst ein blindes Eichhörnchen findet ab und zu eine Eichel.« Ich zielte mit der M-107 auf die Feuertreppe und drückte ab. 108 Sein Schrei hallte durch die Ziegelschlucht, als die erste Energiekugel an den Elektroden Gestalt annahm und sich gierig auf das Eisengerüst stürzte, das wie ein Parasit an der alten Hausmauer hing. Ein Tornado aus blauem Feuer wirbelte um das Metall herum. Funken flogen, wo Farbe abgesprengt wurde oder die Überreste einer Wäscheleine verbrannten. Der Zyklon saugte den zweiten und dritten Plasmastoß auf, dann jagte er auf einem azurblauen Feuerschweif wie eine Rakete himmelwärts. Hoch über mir tanzte der Schütze eine spasmodische Tarantella. Die ihn einhüllende Energie ließ den Treibsatz seiner Pistole in einer rot-grünen Flammenkugel detonieren und verzehrte die Fackel wie ein Nikofreak die erste Zigarette des Tages. Dann stiegen blaue Elektrofinger auf und kitzelten eine Reaktion aus der tief hängenden Wolkendecke. Der tödliche Blitz krachte herab und heizte die komplette Feuertreppe für eine kleine Ewigkeit zu kirschroter Glut auf, bevor die Druckwelle des Donnerschlags mich auf den dreckigen Gassenboden warf. Energie züngelte von der Feuertreppe auswärts und floss durch die regennasse Gasse wie Feuer auf einem Benzinmeer. Sie schlug
über das rußgeschwärzte Skelett des Wagens und ließ sein Skelett hellrot aufglühen. Ich rollte mich auf die Füße und hoffte auf den Schutz meiner isolierten Gefechtsstiefel. Vom Donner taub und ohne meine Brille nachtblind drehte ich mich zur Lagerhalle um und erstarrte. Ich sah das rote Fadenkreuz eines dritten Postens - vor dem mich niemand gewarnt hatte - und versuchte auszuweichen. Doch der Müll der Gasse 109 rutschte unter meinen Füßen weg. Ich sah das Fadenkreuz aufblitzen, dann spürte ich den Stich des Narkopfeils am Hals. Ein schwarzes Gewitter stahl mir die Sicht, und der Boden schoss mir entgegen, um mich bewusstlos zu prügeln. Ich wachte auf und hörte ein Lachen, von dem ich nur hoffen konnte, dass es der letzte Überrest eines sich verflüchtigenden Albtraums war. Ich erkannte es sofort und bittere Angst stieg meine Kehle herauf. Falls ich nicht aus einem Albtraum erwachte, versank ich gerade in einem. Ich öffnete die Augen und schluckte mühsam. Mein Hals schmerzte. Ich saß auf einem Metallstuhl, mit einem Seil und Lederriemen gefesselt, und stellte fest, dass ich der Mittelpunkt einer kleinen, von Wänden aus gestapelten Frachtkisten eingegrenzten Bühne war. Die Holzkisten waren ähnlich markiert wie die, die ich an diesem Abend schon früher gesehen hatte. Sie waren bis zu einer Höhe von zwölf Fuß aufgestapelt und erreichten fast die Leuchtröhren, die an langen Ketten von der Decke hingen. In ihrem Widerschein erkannte ich eine zweite, mit Kisten voll gestellte Etage und einen schmalen Laufsteg, der in der Dunkelheit verschwand. Danton saß auf einem Stuhl neben mir. Sein von Blutergüssen übersäter Kopf hing zur Seite, als hätte man ihm das Genick gebrochen. Doch seine Brust hob und senkte sich mit einer gleichmäßigen Kraft, an der ich erkannte, dass er noch lebte. Schokoladenkrümel 110 bedeckten die kräftigen Seilschlingen, die ihn an den Stuhl fesselten. Ich lächelte. Trotz der Folter hatte er sich geweigert, die Schokolade zu essen. Noch ein paar mehr wie er ... Fred Whitmans abgehackte Lache schnitt durch meine Gedanken und senkte scharfe Krallen in mein Hirn. Ich schaute zu ihm hinüber und starrte ihm ins Gesicht. Ich senkte den Blick auf seine Wange, dann lachte ich. »Das Souvenir hast du immer noch, wie ich sehe.« Fred zuckte zurück. In seinen Augen stand die Angst. Unbewusst hob er die Hand und berührte die breite, unregelmäßige Narbe, die seine rechte Gesichtshälfte so verunstaltete wie Kuhfladen eine Bergwiese. Dann verkrampften sich die sanft tastenden Finger zu Krallen und er ballte die Faust, um sie vor meinem Gesicht zu schütteln. »Diesmal wirst du bezahlen, Glace!« Die kleine Gruppe hinter ihm nickte zwar, doch ich sah ihren Gesichtern an, dass sie ihn bemitleideten. Damals in Europa hatte Fred Whitman entschieden, ihm stehe die Rolle als Andrea Toblers Partner zu. >Der schöne Fred< hatte man ihn genannt - er war bei den Damen sehr beliebt gewesen. Irgendwie hatte er geglaubt, er brauchte mich nur aus dem Weg zu räumen, und Andrea wäre mit ihm in die Kissen gesunken. Sein Feldzug gegen mich hatte mich zwar die Tarnung gekostet, doch unsere letzte Auseinandersetzung hatte ihn erledigt, und da sich seine Haut nicht problemlos züchten ließ, blieb er fürs Leben gezeichnet. Fred drehte sich zu einem Tisch hinter ihm um und nahm eine mit farbloser Flüssigkeit gefüllte Glasflasche 111 mit einem dicken Glasstöpsel. Vorsichtig hob er den Stöpsel heraus und ein kaum sichtbarer Dunst stieg aus dem Flaschenhals. Er hielt die Flasche in der rechten Hand, senkte eine Glaspipette in die Flüssigkeit und verschloss den Zylinder mit dem linken Daumen. Er zog die Pipette weit genug hoch, um die Flüssigkeit von der Außenseite abfließen zu lassen. Dann hielt er sie in die Höhe, so dass ich einen einzelnen Tropfen an der Spitze glänzen sehen konnte. »Das ist Salzsäure, Glace.« Fred grinste grausam und schleuderte den Tropfen auf mein Knie. Die Uniform qualmte, als sich die Säure durch den Stoff fraß. »Die Chirurgen werden es niemals schaffen, dein Gesicht wiederherzustellen.« Ich sah aus dem Augenwinkel die Bewegung und das blaue Leuchten, als Fred die Pipette auf mein Gesicht zubewegte. Die blaue Energiekugel traf ihn an der linken Schulter und schleuderte ihn gegen die Kistenwand. Die Pipette fiel zu Boden und zerplatzte in ein Dutzend Scherben, als die volle Flasche mit Säure an einer der Kisten explodierte. Das blau leuchtende Plasma spann einen Kokon um Whitman und hob ihn in die Luft, dann löste es sich auf - wie Nebel. Sein schlaffer Körper fiel auf den Boden der Lagerhalle. Ich sah zum Laufsteg hoch und im Widerschein ihres T-plas-Werfers bemerkte ich die Andeutung eines Lächelns auf ihren Zügen. Das grünliche Leuchten tauchte ihr Gesicht in weiches Licht und erinnerte mich an die vielen Morgenstunden, in denen ich nur ihr wunderschönes, schlafendes Antlitz bewundert hatte. Unsere Blicke trafen sich eine halbe Sekunde lang, 112 und mein Herz loderte in einem Feuer der Gefühle, das ich schon vor langer Zeit gelöscht zu haben gehofft hatte. Sie wandte sich ab und schaute herunter zu ihren Untergebenen. »Schafft Fred raus zum Gyrojet und haltet Abstand von der Halle.« Mit einem Chor von Bestätigungen wurden sie aktiv und ließen Danton und mich schnell mit Andrea Tobler allein. Ich sah hinüber zu der von der Säure angefressenen Kiste. In dem Säureteich, in dem die letzten Reste des Verpackungsmaterials brodelten, entdeckte ich ein Dutzend goldener Hasen. Ich nickte ihr lächelnd zu. »Meinen
Glückwunsch zu der Idee, wie du aus deinen Kunden noch mehr Profit schlagen kannst. Hohl statt massiv. Brillant.« Sie beantwortete das Lob mit einer spöttischen Verbeugung. »Und ich gratuliere dir, dass du diese Lagerhalle gefunden hast. Ich hatte Victor befohlen, die Blume abzunehmen, bevor er in deinen Sektor fuhr, aber Fred hat ihn angestachelt, in der Hoffnung, dass du der Spur folgst und in unsere Hände fällst.« Sie deutete zum Blumenlager hinauf, das sich auf Straßenhöhe befand. »Die Blumen helfen, den Duft unserer Ware zu überdecken und verhindern, dass uns die Siliköter der Süßwarenpolizei aufspüren. Dein einziger Fehler war, dass du deinen Informanten am Leben gelassen hast. Er hat erst uns an dich verraten, und dann dich an uns. Wir wussten mit dem ersten Funkspruch, wo ihr wart.« Ich gestand mit einer bedauernden Grimasse meinen Fehler ein. Dann entschied ich mich zu einem 113 Bluff und grinste. »Dieses Lager ist erledigt, Andrea. Ich habe auf dem Computer der Abteilung ein Programm installiert, das Inspektor Martin morgen früh informiert, wo ich bin.« Ich sah mich in aller Ruhe um. »Bis dahin wirst du all das hier niemals wegschaffen können. Du hast verloren.« Sie schüttelte den Kopf und fixierte mich mit einem strengen Blick - dem Blick, den sie sich für solche Gelegenheiten aufsparte, bei denen ich ihr einen Bären aufbinden wollte. »Das bezweifle ich, Mark. Du konntest mich noch nie anlügen - und du hast es auch bis heute nicht gelernt. Außerdem«, fügte sie hinzu und hob die Tplas-Waffe, »spielt es tatsächlich auch gar keine Rolle.« Sie feuerte einen Energiestoß quer durch die Lagerhalle ab. Als er traf, explodierte etwas, das die Hallendecke in einen flackernden Flammenschein tauchte. Das rotgoldene Feuer spielte über Andreas Gesicht und zauberte Glanzlichter auf ihr rabenschwarzes Haar. »Du, Mark Glace, und dein Partner, ihr werdet heldenhaft in einem Feuer umkommen, das den größten Vorrat an illegaler Schokolade vernichtet, der je in Nordamerika entdeckt wurde.« Ich starrte sie an und fand keine Worte. Schon trug mir der Rauch den Geruch von brennendem Holz und schmelzender Schokolade zu. Ich schluckte und sah ein letztes Mal hoch. »Ist das nicht ein bisschen viel - nur für zwei Alkohol-, Tabak- und Süßwarenagenten?« »Kostspielig, mag sein«, erwiderte sie, »aber selbst die Hasen aus Schweizer Weißer und die Halbbitterhühnchen sind hohl. Es ist kein wirklich herber Verlust.« Dann lächelte sie mich an. »Ich würde sagen, 114 >spektakulär< trifft es besser. Aber das ist ja wohl das Mindeste für den Mann, den ich liebe, meinst du nicht, Zuckerschnäuchzen ?« Ein brennender Schmerz zog sich immer noch unterschwellig über meinen säureverbrannten linken Arm, trotz aller Verbände, Salben, Tinkturen, Schmerzmittel und ärztlichen Versicherungen. Er trotzte meiner Müdigkeit. Der Holzstuhl knirschte unter meinem erschöpften Körper, und der Geruch von Feuer und Krankenhaus stieg in einem schweren Dunst auf, der Inspektor Martin zwang, sich zurückzulehnen, als er die Abschrift des Berichtes las, den ich im Krankenwagen diktiert hatte. Er legte die letzte Seite auf den Stapel in der Mitte der Schreibunterlage, dann nahm er die Brille ab und benutzte sie als Briefbeschwerer. Mit geröteten Augen starrte er mich an. »Mein Gott, Mark, das war eine ganz erstaunliche Arbeit. Einer Eingebung folgend entdecken Sie ein gigantisches Schokoladenlager. Sie entkommen aus einer brennenden Todesfalle und tragen Ihren bewusstlosen Partner zum nächsten Krankenhaus.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Bild des Präsidenten an der Wand hinter sich und grinste trocken. »Als die Nachricht bekannt wurde, hat der Alte hier angerufen. Dafür bekommen Sie einen Orden.« Harry schüttelte den Kopf, ohne dass eine einzige Locke seines weißen Haars verrutschte. »Sie haben die Sache sehr geheim gehalten. Ich wünschte, Sie hätten mich eingeweiht, damit ich Ihnen hätte helfen können.« 115 »Ist schon okay, Harry. Diesmal brauchte Andrea Ihre Hilfe nicht.« Der schockierte Ausdruck auf seinem Gesicht und der Schmerz in seinem Blick leiteten eine stotternde Verteidigung ein. Doch ich schnitt ihm knurrend das Wort ab. »Ich habe mich gefragt, woher zum Teufel Andrea wusste, wo wir zuschlagen wollen. Dann wurde mir klar, dass sie einen Spitzel hier in der Behörde haben musste.« Die Empörung ließ Harry rot werden und vertrieb die graue Totenblässe. »Wie können Sie es wagen, mir Bestechlichkeit vorzuwerfen!« Ich schnaubte abfällig. »Sparen Sie sich die Mühe, Harry.« Ich fixierte ihn, und er wagte nicht, sich zu bewegen. »Ich erzählte ihr, ich hätte Ihnen eine Nachricht hinterlassen, wo ich sei, und das beunruhigte sie nicht im Geringsten. Aber der eigentliche Trick bestand darin herauszufinden, wie sie es geschafft hat, Sie zu bezahlen. Sie sind zu schlau, um sich mit Geld auf einem Auslandskonto abspeisen zu lassen. Aber Sie wissen auch, dass Sie auf einem Konto hier kein Geld verstecken können.« Ich lächelte und leckte mir über die Lippen. »Ich hätte es schon eher erkennen müssen, aber tatsächlich hat es gedauert, bis die Lagerhalle um mich herum in Flammen stand.« Ich beugte mich vor und gestikulierte vorsichtig mit meinem bandagierten Arm. »Sehen Sie, die einzige Möglichkeit, mich zu befreien, bestand darin, den Stuhl umzukippen und mich zu der Säurepfütze hinüberzuarbeiten, die aus einer der Schmuggelgutkisten lief. Die Säure brauchte ihre Zeit und zerfraß zusammen mit den Seilen meine Haut. Ich hatte 116
reichlich Zeit, die goldenen Schokoladehasen anzustarren, und endlich habe ich erkannt, wie Sie Ihr Geld bekommen haben.« Ich nickte anerkennend. »Es war ein guter Plan, Harry.« Ich hob den Arm und deutete mit der Linken auf den goldenen Hasen, der immer noch auf Harrys Schreibtisch stand. »Wie Andrea es selbst feststellte: Der Verlust hohler Hasen war ohne Bedeutung, was das Gewicht an Schokolade angeht. Also mussten sie in Verbindung mit etwas von weit höherem Wert stehen. Weil wir alle beschlagnahmte Schokolade chemisch vernichten, muss die Folie von sämtlichen Hasen entfernt werden, bevor sie in die Bottiche geworfen werden.« Ich zog die Waffe und richtete sie auf Harrys Brust. »Die Säure hat die Folie nicht angetastet, Harry! Sie fraß sich durch die Seile und durch mein Fleisch, aber nicht durch die Folie aus reinem Gold. Ich bin sicher, die Müllfahrer, die die Folie für Sie eingesammelt haben, werden Sie gerne verraten, sobald sie erfahren, wie viel sie wirklich wert ist.« Ich stand auf und Harry breitete flehend die Arme aus. »Kommen Sie, Harry, seien Sie vernünftig. Es gibt mehr als genug für uns beide. Ich kann Ihnen ein großartiges Angebot machen.« Der Rückhandhieb mit der Pistole schlug Harrys Kopf zur Seite. Ich sah Blut über seine Wange laufen, wo eine Kante die Haut aufgerissen hatte. Dann steckte ich die Waffe ein und hob den Hasen vom Schreibtisch. »Sie haben mich zum Narren gehalten, Harry, aber jetzt sind Sie dran.« 117 Zwei Federal Marshals öffneten die Bürotür und nahmen Harry mit. Als sie an mir vorbeikamen, zerdrückte ich den hohlen Kopf des Hasen und warf ihm die Süßigkeit zu. »He, Harry«, rief ich ihm nach. Er drehte sich mit mattem Gesicht um, das goldene Teil an die Brust gedrückt. »Ja?« »Denken Sie an mich, wenn Sie im Zuchthaus sitzen.« Ich grinste böse. »Und träumen Sie süß.« Der Tipp ist eine Geschichte, die ich für Roger Zelaznys G/üc/csrad-Anthologie geschrieben habe. Roger hatte mich gebeten, ein Stück zu seinem Buch mit Glücksspielgeschichten beizusteuern. Ursprünglich hatte ich vor, ihm eine meiner S/7acfoiwun®-Erzählungen zu schicken - ich war davon ausgegangen, dass FASA mir gestatten würde, ihre Welt zu benutzen -, die schließlich in dem Buch Wolf and Raven als >Designated Hitter< erschien. Wenn man den Anfang der beiden Geschichten vergleicht, werden Ähnlichkeiten im Hintergrund erkennbar, auch wenn sich die Handlung im Verlauf grundlegend unterschiedlich entwickelt. Das Wissen um die America-West-Arena, in der die Suns spielen, verdanke ich Tom Ambrose, einem Vizepräsidenten der Mannschaft, der mich zusammen mit fünf anderen Autoren in der Anlage herumgeführt hat. Der Tipp »He, Killian, warum verschwendest du deine Zeit mit diesem Buch, statt ein paar dieser Anrufe zu beantworten oder mir zu helfen oder sonst was?« Hanks Frage überraschte mich. Nicht, was ihren Inhalt betraf, wohl aber, dass er diese Woche bis zum Donnerstag damit gewartet hatte. Normalerweise nahm er seine Verantwortung als Präsident der >Rettet-Killian-Sloane-vor-schlechten-Einflüssen<-Gesellschaft ernster. »Komm schon, du brauchst bloß 'ne Wafer einzustöp119 sein und hast den ganzen Inhalt auf einen Rutsch, wozu verbringst du deine Zeit damit, es zu lesen?« Ich drückte den >Lesezeichen<-Knopf des eLesers und legte das Gerät auf die Theke. »Ich lese das Buch, weil das meinen Verstand trainiert.« Ich sah zu ihm hinüber und konzentrierte mich auf das natürliche linke Auge, nicht auf die rot leuchtende Ersatzlinse in der anderen Höhle. »Das Zeug zu kennen ist besser, als es saugen zu können. Das hast du mir in Lhasa selbst gesagt, Sarge. Erinnerst du dich?« Er grinste mich mit gelben Zähnen an und schob den Zigarrenstummel von einer Seite des breiten Mundes zur anderen. »S'is' nich', dass ich Hilfe brauchte, aber ich stehe hier vor einer schwierigen Entscheidung.« Seine rechte Chrom/Stahl-Armprothese hob sich und er deutete mit dem Zeigefinger durch das Zimmer. Ein kleiner roter Laserpunkt tanzte in der Mitte des hochauflösenden Sony-MuralVision-LCD-Fernsehschirms. »Wenn wir uns morgen das Suns-Spiel ansehen, haben wir die Wahl. Die nationalen Kommentatoren hassen Phoenix und machen uns dauernd schlecht.« Ich zuckte die Achseln. »Dann hör dir halt die lokale Radioübertragung an.« Sarge schüttelte sich und ich verspürte eine entsprechende Regung in meinem Rückgrat. »Würde ich ja, aber das geistert.« Ich nickte und schüttelte mich erneut. In Lhasa, wo wir mit den Tigern gegen die Hans gekämpft hatten, war unsere gesamte Echtzeitvideokommunikation erst zu einem Satelliten hochgesaust, bevor die Signale 120 von dort zu uns am Boden reflektiert wurden. Ich erinnerte mich, dass ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie jemand von einem Scharfschützen abgeknallt wurde und danach über den Helm-Videoschirm seine EZV-Bitte um Feuerdeckung erhielt. Wir nannten das >geistern<, und es setzte uns dermaßen zu, dass wir EZV nur für die Verbindung mit Hilfseinheiten weit hinter den Linien einsetzten. Was das Spiel betraf, führte das Geistern zu einem seltsamen Effekt. Die Bilder auf dem Schirm zeigten die Vorbereitung eines Spielzugs, aber Marjerle und Johnson von KSUN meldeten den Spielzug, bevor der Ball die Hände des Spielers verlassen hatte. Das schafften sie, weil uns ihre Sendung über Telefonleitungen erreichte und
schneller war als das Fernsehsignal über Satellit. Es war nicht annähernd so schlimm wie das Geistern im Feld, aber die Puristen, die das Spiel im Tigers' Den verfolgten, behaupteten, dass es das ganze Spiel verdarb. Ehrlich gesagt hielt ich sie für bescheuert, aber das behielt ich für mich, denn hätte ich es ausgesprochen, hätte ich einen noch asozialeren Eindruck hinterlassen, als Hank ihn schon befürchtete. Außerdem hätte dabei die Gefahr bestanden, dass ich den Eindruck erweckte, meine Wahlheimat sei mir gleichgültig. So etwas konnte in der momentanen Atmosphäre einem Selbstmord gleichkommen. Die Playoffs zwischen den Suns und den Sonics, bei denen Seattle hier in Phoenix mit vier Spielen führte, hatten eine geradezu apokalyptische Bedeutung gewonnen. Ich gebe durchaus zu, dass ich mitfieberte und mich schon auf die Begegnung mit 121 Cleveland im Finale freute, aber ich wusste genug Abstand zu wahren, um mir bewusst zu bleiben, dass es nur Sport war. »Ich weiß nicht, Sarge. Beleidigungen oder hellseherisches Lob.« Ich griff wieder nach dem eLeser. »Ich würde das Radio nehmen.« Mein Vorschlag traf auf taube Ohren. Und die Stille in der Bar ließ mich vermuten, ebenfalls taub geworden zu sein. Ich sah zunächst zu Hank hinüber, denn wenn er so stumm war, konnte er eigentlich nur tot sein. Ein Stück Asche fiel von dem Zigarrenstummel zwischen seinen dicken Lippen und zerstäubte zu einer grauen Wolke, als er seinen ausladenden Bauch traf. Das rote Licht in seinem roten Auge brannte noch, aber das hieß nur, dass die Batterien noch nicht leer waren. Als sein Mund aufklappte und der Stumpen in Richtung Linoleum flog, wusste ich: Er lebte und war überrascht. Und dass ich die nächsten drei Jahre zu hören bekäme, dass er nicht im Mindesten überrascht gewesen sei. Tatsächlich hatte ihn seit der Zeit vor meiner Geburt noch nie irgendetwas überrascht. Ich folgte Hanks Blick zur Tür und entschied, dass Überraschung die angemessene Reaktion war. Der Mann duckte sich, um durch die abgerundete Türöffnung zu treten. Als er sich wieder aufrichtete, ließ es sein perfekt maßgeschneiderter Anzug irgendwie möglich erscheinen, dass das Tigers' Den geschrumpft war. Natürlich stimmte dies nicht wirklich, denn der Mann, der da in der Bar stand, war anderthalb Fuß größer als ich und mehr als hundert Pfund schwerer. Trotzdem erschien es mir einen Moment lang die einzige Erklä122 rung zu sein, dass das Gebäude geschrumpft war. Denn es schien völlig unmöglich, dass Christian Bradley ins Den gekommen war. Bradley sah sich um - und wurde wie jeder andere auch beim ersten Besuch hier vom Fenster in die Sporthalle abgelenkt -, dann kam er in meine Richtung. Als er sich zwischen den Gästen, die zwischen uns saßen, hindurchschob, rückte er die Krawatte zurecht, um seine Verärgerung zu überspielen, aber ich las sie ihm vom Gesicht ab, als wäre sie in Neon buchstabiert. Sein Lächeln erinnerte mich an das warnende Knurren eines Tigers. Immerhin musste ich ihm zugute halten, dass er mir ins Gesicht sah, als er mich erreichte, und mich nicht von oben bis unten musterte. »Sie sind Killian Sloane.« Ich nickte. »Sie sind der Wirbelwind, der Duke of Dunk, der Stuff-o-lith.« Ich bemerkte das ärgerliche Blitzen in seinen Augen, als ich seine Spitznamen aufzählte. Das betrachtete ich als gutes Zeichen. Es war eine Reaktion, die nicht zu dem Image eines Egomanen passte, der sich in seinem Ruf als Retter des Phoenix-NBA-Teams sonnte. »Kann ich was für Sie tun?« »Ich habe nach Ihnen geschickt.« »Tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass ich in irgendeinem Versandkatalog stehe.« Er fuhr sich mit einer langfingrigen Hand über den glatt rasierten schwarzen Schädel. »Ich hatte um ein Treffen gebeten. Ich habe Arbeit für Sie.« Ich zuckte die Achseln. »Ich bin nicht auf der Suche.« »Sie wissen, was ich meine.« 123 »Ach ja?« Der Zorn flammte ebenso schnell auf wie zuvor, aber er fing ihn ab und erstickte ihn augenblicklich. »Okay, ich verstehe. Ich habe das falsch begonnen. Es gibt etwas, von dem ich möchte, dass Sie es für mich erledigen. Deshalb wollte ich, dass Sie sich bei mir melden.« »Ich habe eine Regel, Mr. Bradley: Wenn jemand um einen Gefallen bittet, dann ist er es, der zu demjenigen kommt, von dem er den Gefallen will.« Der Basketballstar schloss halb die Lider. »Das habe ich gehört. Deshalb bin ich hier, Mr. Sloane.« Ich beobachtete ihn und wollte mit meinem Schweigen eine Mauer zwischen uns aufbauen. Aber Hank riss sie ein. »Er ist hier, Kill, genau hier, in meiner Bar, im Den.« Hank wischte sich die Chromhand an der fleckigen Schürze ab und streckte Bradley das quietschende Metallteil entgegen. »Hank Winchester. Sie dürfen mich Sarge nennen.« Bradley nickte, unternahm aber keine Anstalten, Hanks mechanische Hand zu ergreifen. »Angenehm, aber ich werde meine Spielhand nicht in Ihren Schraubstock legen.« Hank blickte seine Hand an, als hätte sie ihn verraten, dann nickte er. »Klar, die brauchen Sie morgen Abend, richtig? Sie werden die Sonics platt machen, richtig?«
»Das ist der Plan.« »Super. Kann ich Ihnen etwas bringen? Aufs Haus?« Ich stand auf. »Wir brauchen nur einen Ort, an dem wir uns unterhalten können, Hank. Wir sind da drü124 ben. Falls wir sonst noch was brauchen, lassen wir es dich wissen.« »Aber, Kill ...« Ich grinste Hank an. »Ich bin sicher, nachher signiert dir Mr. Bradley ein Bild oder sonst was.« »Aber sicher, Sarge, alter Kumpel.« »Super.« Hank nahm den eLeser von der Theke und legte ihn zurück neben die Registrierkasse. »Falls ihr irgendetwas braucht, lasst es mich wissen.« »Geht klar.« Ich dirigierte Bradley zu einer kleinen Nische in der Nähe des riesigen Fensters, das auf Hanks anderes Unternehmen zeigte. Die Glaswand bot uns einen ausgezeichneten Blick auf den riesigen, an eine Lagerhalle erinnernden Saal, der in den Camelback Mountain gegraben war. Vom Boden bis zur Decke erhoben sich kahle weiße Kabinen - wie eine überdimensionierte Bienenwabe. In den beiden unteren Etagen hielten sich Kampfsportenthusiasten mit Virtual-Reality-Helmen und Kinsense-Anzügen unter dem Gi auf. Die meisten arbeiteten einfache Katas ab, ein paar aber schienen Sparringskämpfe mit Gegnern in benachbarten Kampfkabinen durchzuführen. Unmittelbar über ihnen benutzten die Kämpfer Waffen aller Art, von historischen bis zu den lächerlichen Gebilden, die sich die Scriptschreiber für VR-TV-Serien ausdachten. Den Bewegungen eines halben Dutzends Leute nach zu urteilen war gerade die neueste Version von PredatorDuel eingetroffen, und die meisten waren dabei, den Kampf mit einem imaginären Außerirdischen zu verlieren. Aber ein Bursche hatte 125 immerhin einen Sieg errungen und tanzte begeistert in seiner kleinen Wabe umher. Die oberste Etage, die sich auf einer Höhe mit der Bar befand, verfügte über doppelt so große Duellkammern, die auf beiden Seiten offen waren. In diesen Kabinen kämpften die Teilnehmer wirklich gegeneinander, ohne auf VR-Helme oder Kinsense-Anzüge auszuweichen. Ein KS-Anzug konnte zwar als Ergebnis eines feindlichen Treffers einen Bluterguss hinterlassen, aber die Hiebe, die die Kämpfer auf der oberen Ebene austeilten, waren in der Lage, Knochen zu brechen oder innere Organe zu verletzen. Jeder dieser Kämpfer war verchromt, um seine Reflexe neuroelektronisch zu verbessern. Seine Kampfsportfähigkeiten hatte er aus der Software, die er sich gerade eingestöpselt hatte. Hinter den oberen Kammern lag ein großer offener Raum mit grünen Matten. Dort leitete ein Schwarzer Gürtel eine Trainingssitzung mit dreißig Teilnehmern. Die Schüler waren bunt gemischt, von Kindern bis zu Rentnern. Sie alle schienen die Sache ernst zu nehmen, auch wenn ein paar der Teenager dazu neigten, sich aufzuplustern und ihre Verbeugungen abzukürzen. Bradley klopfte an das Fenster, bevor er sich setzte. »Das habe ich früher auch gemacht.« »Ich weiß.« »Ja? Ich hätte Sie nicht für einen Fan gehalten.« »Bin ich auch nicht. Ich lese zu meinem Schutz. Im Tippblatt steht über Sie, dass Sie einen schwarzen Gürtel in Keupso Chirigi haben. Aber das stimmt nicht.« 126 Bradley drehte den Kopf und sah mich an, statt die Duellanten in den Kabinen zu beobachten. »Woher wissen Sie das?« Ich zuckte die Achseln. »Sie bewegen sich falsch. Das ist ein Kampfstil mit einer Menge Schläge gegen lebenswichtige Punkte, und die PR-Abteilung mag die Anspielung, dass Sie auf dem Court genau das veranstalten. Tatsächlich macht die Art, wie Sie sich ans Brett bewegen, den Eindruck, dass Sie Yu-sool oder Judo gelernt haben.« »Yu-sool, während mein Vater seine Kirche in Seoul hatte.« »Aber Sie sind nicht hier, damit ich ein Urteil über Ihr Kampfsporttalent abgebe, oder?« Der lange Kerl schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Problem. Ich möchte, dass Sie es beheben. Als ich hierher ans College kam ...« Ich hob die Hand. »Machen Sie's kurz.« Wie jeder in Phoenix hatte auch ich Bradleys Lebensgeschichte schon weit öfter gehört, als mir lieb war. Ältester Sohn eines Baptistenpredigers aus Mississippi, der als Missionar in Korea gewesen war. Er war zu einem baumlangen Kerl gewachsen und hatte ein beträchtliches Geschick beim Basketball entwickelt. Vor elf Jahren war er nach Amerika gekommen und hatte Michigan State einen weiteren Gott für ihr Basketball-Pantheon geschenkt. Ungefähr zur selben Zeit zerfiel das chinesische Imperium und es kam zu Kriegen in Korea, Indochina, der Mongolei, Chinesisch Turkestan und Tibet. Und während er in die eine Richtung den Pazifik überquerte, um als Sportler Ruhm zu ernten, überquerten 127 ihn Leute wie Hank und ich in die andere, um Weltpolizist zu spielen. Offenbar war Bradleys Rückkehr ins Land seiner Geburt keine reine Freudenfeier gewesen. Dieselbe Gesetzgebung, die - als späte Buße für Vietnam - dafür sorgte, dass bevorzugt Weiße eingezogen wurden, löste in den Staaten wachsenden Rassismus aus. Bradley hatte sich nie mit den Problemen herumschlagen müssen, die
für in Amerika aufwachsende Afroamerikaner alltäglich waren, deshalb hatten ihn die Vorurteile und der Hass besonders hart getroffen. Er hatte sich den Ruf erworben, offen auszusprechen, was er dachte. Die Tatsache, dass er zu einem Werbeträger für die Islamic Nation of Purity wurde, half auch nicht gerade, die Gemüter zu beruhigen. Als er jetzt mit mir sprach, erkannte ich an seinen Pausen, dass er sich bemühte, eine weniger aufreizende Wortwahl als üblich zu verwenden. »Als in Korea die Hölle ausbrach, zog meine Familie hierher zurück. Wir stehen uns alle sehr nahe, und ich habe sie immer in meine Karriere einbezogen. Meine Eltern kümmern sich um die Fanpost, erst in Philly und jetzt hier in Phoenix. Es hat schon immer Leute gegeben, die mich nicht mögen, deshalb sind sie da abgehärtet. Vor einer Weile aber war etwas in der Post, das sie beunruhigt.« Er zog ein gefaltetes Blatt aus der Innentasche seiner Jacke und schob es mir herüber. Ich bemerkte ein leichtes Zittern seiner Finger. Ich nahm das Blatt und entfaltete es. 128 Lieber Mr. Bradley, wir lieben aufmüpfige Nigger und lassen sie bezahlen. Wir haben Geld auf das Seattle-Spiel am 14. gesetzt. Wenn Sie gewinnen, gewinnen wir. Oder haben wir auf Ihre Niederlage gesetzt? In Hochachtung Ihrer Anstrengungen für uns, [unterzeichnet] World Aryan Resistance »Tja, die Suns bringen diese Stadt wirklich zusammen.« »Mir wäre es lieber, das Ungeziefer bliebe draußen.« Ich zuckte die Achseln. »Das ist das kosmische Gleichgewicht. Sie haben sich mit der Islamic Nation of Purity verbündet, also entscheidet WAR, Ihnen ebenfalls Grund zur Sorge zu bereiten. Klingt nach einem ewigen Problem, Wirbelwind. Sie ernten, was Sie säen.« »Ich bin nicht mit der Nation verbündet.« Ich hob eine Augenbraue. »Wenn Sie nicht gerade auf dem Court sind, könnte man den Eindruck bekommen, Sie und Lester Farouk wären siamesische Zwillinge.« Ich sah mich im Den um. »Um ehrlich zu sein bin ich überrascht, dass er jetzt nicht hier ist.« Bradley verzog das Gesicht. »Ich habe ihm nichts davon gesagt, dass ich hierher komme. Er ist nicht mein Aufseher, auch wenn er sich manchmal dafür hält.« Wieder hielt mich der Bruch zwischen dem realen Menschen und seinem Bild in der Öffentlichkeit davon ab, ihn zurückzustoßen. »Na schön, diese Weißfanatiker schreiben, dass sie auf Sie gesetzt haben. Oder gegen Sie. Wer weiß. Wie auch immer: Sie wollen das Spiel manipulieren. Melden Sie sie der NBA.« 129 »Das kann ich nicht, Mann. Seit der Jordanaffäre ist die NBA völlig paranoid, wenn es um Glücksspiel geht. Vergessen Sie nicht, dass Colangelo in dem Komitee war, das '97 die Hälfte der Bulls aus der NBA geworfen hat. Wenn ich das melde und wir verlieren, dann feuert er mich höchstpersönlich. Und wenn wir gewinnen, kann er mich immer noch bestrafen und diese Idioten verdienen ein Vermögen.« »Und Sie werden morgen gewinnen, oder?« Phoenix hatte das erste Spiel in Seattle gewonnen, dann aber das nächste an die Sonics verloren, und ihr erstes Heimspiel ebenfalls. Sie mussten die Serie ausgleichen. So gut sie auch waren, sie waren nicht die '92/"93-Suns. »Wir müssen und wir werden gewinnen. Und WAR gewinnt auch.« »Falls sie nicht gegen Sie gewettet haben.« »Okay, zuzutrauen wäre es ihnen wohl schon, so dämlich zu sein.« Bradley lehnte sich zurück und legte die Hände flach auf den Tisch. »Deshalb bin ich hier. Ich weiß, dass Sie keine Sympathien für weiße Rassisten haben. Da war diese Tempelsache ...« »Das hat doch hiermit nichts zu tun. WAR sind nicht die Jünger des Führers Jesus ... und die Morde damals haben mich persönlich betroffen.« Ich brachte meine Wut unter Kontrolle. »WAR mag für Sie eine persönliche Bedeutung haben, aber nicht für mich.« »Hören Sie, Sie werden es nicht bereuen, Sloane. Versprochen.« Der flehentliche Ton in Bradleys Stimme erstarb, als sich erneut Schweigen über das Den legte und ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte. »Chris, Mann, du 130 solltest diesen Blanke nicht um Hilfe bitten. Das habe ich dir doch gesagt.« Ich sah zu dem schlanken Mann hoch, der zwischen uns stand. Lester Farouk war hellhäutiger als Bradley und die beiden Männer, die sich hinter ihm aufgebaut hatten. Und er zeichnete sich durch eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Malcolm X aus. Ich wusste, dass es sich dabei um das Ergebnis kosmetischer Chirurgie handelte, aber bis auf Athleten wie Bradley und Bettler war bei jedem irgendwo nachgeholfen worden. Um die Verbindung mit Malcolm noch zusätzlich zu betonen, trug Farouk eine Brille - eine Eigenheit, die ihn in einer Zeit, in der man Augenprobleme jederzeit am nächsten LaserDoc-Kiosk beheben lassen konnte, aus der Menge heraushob. Ich ließ seine Hand auf meiner Schulter, weil ich wusste: Er wartete nur darauf, dass ich sie wegschlug. Die beiden Schläger hinter ihm, in schwarzer Montur mit schwarzem Barett und Sonnenbrille, standen bereit, um innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die kleinste Bewegung zu reagieren. Das selbstbewusste Grinsen auf
ihren Gesichtern verriet, dass sie die neuesten Flexware-Kampfsportwafer eingeschoben hatten. Vermutlich KataPerfect 4.2 oder möglicherweise auch das neue CarnageMaster 3000. Sie hätten es genossen, mich - die letzte Große Weiße Hoffnung - hier im Den zu Brei zu prügeln. Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch, im Rhythmus eines Schlafliedes, das ich während meiner Zeit bei den Tibet Tigers gelernt hatte. Bradley brach das Schweigen. »Lester, ich weiß 131 deine Besorgnis zu schätzen, aber ich komme mit dieser Sache selbst klar.« Farouk schüttelte den Kopf und nahm die Hand von meiner Schulter. »Bruder Christian, du behauptest, du könntest die Sache selbst klären, aber dann kommst du zu diesem Blanke, zu diesem Gespenst, damit er es für dich tut. Du lässt dich von den Machtstrukturen einlullen, die behaupten, nur der weiße Teufel könne unsere Probleme lösen.« Ich grinste. »Einen Teufel fängt man am besten mit einem anderen Teufel.« »Ihre Leichtfertigkeit wird Ihnen nichts helfen, wenn Sie sich vor Allah dafür verantworten müssen, wie Sie uns unterdrückt haben, Killian Sloane.« »Ich habe niemanden unterdrückt, Farouk.« Der Anführer der Islamic Nation of Purity schüttelte langsam den Kopf. »Sie, Sloane, sind Erbe jahrhundertelanger weißer Unterdrückung der Farbigen. Ihr Eismenschen seid unfähig, Mitgefühl zu empfinden und versteht nicht, wie Farbige solche Freude am Leben haben können. Ihr haltet uns in der Unterdrückung, weil wir Euch sonst hinwegfegen würden.« Ich kniff die Augen zusammen. »Soweit ich mich erinnere, Farouk, haben eine Menge von uns >Eismenschen< in Tibet gekämpft und sind gefallen, um zu verhindern, dass Nichtweiße andere Nichtweiße umbringen.« »Ha! Die Han-Imperialisten in Tibet und anderswo waren durch die von weißen Europäern erdachten und verbreiteten Philosophien korrumpiert.« »Mao Tse Tung war ein weißer Europäer?« 132 »Sehr witzig, Sloane. Marx war weiß und stand unter dem Einfluss jüdischer Verschwörer.« Ich nickte nachdenklich. »Ah ja. Das erklärt einiges.« Farouk schnaufte. »Was soll das heißen?« »Sie werden diese Sache also für Bradley regeln, ja? Wie wollen Sie das machen - wollen Sie sich bei einem gemütlichen Stelldichein zu einem Gespräch mit WAR treffen?« Farouk reagierte, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Sie haben den Ruf, ein harter Brocken zu sein, Sloane, aber glauben Sie ja nicht, Sie wären hart genug, uns ungestraft beschuldigen zu können, mit WAR unter einer Decke zu stecken.« »Verzeihen Sie mir den Irrtum«, konterte ich. Der Leibwächter, der mir am nächsten stand, zuckte mit dem rechten Auge. »Muss wohl Eismenschenlogik gewesen sein. Ich dachte, gleich und gleich gesellt sich gern.« Farouk hob die rechte Hand und zeigte auf mich. Als der Mann mit dem Augenzucken auf mich zukam, vollführte ich mit der rechten Hand eine Reihe Fingerbewegungen, die Zeichensprache ähnelten, aber für jeden Ameslan-Kundigen im Raum nur sinnloses Geplapper gewesen wären. Plötzlich erfassten heftige Zuckungen den Mann. Seine Arme und Beine streckten sich und sein Rücken bog sich nach hinten, als sich sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten. Einen Pulsschlag später wurde er schlaff und stürzte wie ein Sack zuckenden Fleisches zu Boden. Der zweite Leibwächter setzte sich in Bewegung, doch ein roter Laserpunkt erschien auf Farouks Brille. Farouk hielt den Mann auf und deutete mit einer Kopf133 bewegung zur Theke, wo Hank eine abgesägte Nadelflinte in der rechten Hand hielt. Das Zielsucherlicht erlosch nicht, bewegte sich aber auf Farouks Kehle abwärts, begleitet vom Quietschen von Hanks Metallellbogen. »Der kleine Punkt ist Eismensch für >Zeit, sich zu verabschieden^« Ich blickte zu dem Mann auf dem Boden. »Aspirin und zwei, drei Tage reichlich Flüssigkeit.« Während der noch bewegungsfähige Schläger seinen Kollegen zur Tür schleppte, deutete Farouk mit dem Finger auf mich. »Denken Sie daran, Eismensch: In Phoenix kann es sehr heiß werden.« Ich beachtete ihn nicht und drehte mich wieder zu Bradley um. »Okay, Farouk und seine Jungs sind zu unfähig, das in die Hand zu nehmen. Warum ich?« Bradley sah auf den Boden, dann wieder hoch zu mir. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« Ich wartete, bis die Muslims die Bar verlassen hatten, dann antwortete ich ihm mit leiser Stimme. »Die Kämpfer hinter Ihnen sind größtenteils weniger muskelbepackt als Farouks Leibwächter. Das sind Gewichtheber, aber sie kamen hierher, in eine Bar, die von Kampfsportlern frequentiert wird, und waren bereit, sich mit mir anzulegen. Das kann nur bedeuten, dass sie Top-Combatware fahren. Diese Art Software analysiert den Gegner, wählt eine Methode basierend auf seinen Aktionen und führt sie aus. Der Mann, der gerade zu Boden ging, hatte KataPerfect 4.2 und Norris Utilities geladen.« »Woher wussten Sie das?« Bradleys Augen wurden 134
schmal und er beantwortete seine Frage selbst. »Das Augenzucken?« »Er hat mein Fingertrommeln auf dem Tisch gehört, und die Software hat es in einen Versionscheck-Befehl übersetzt. Das hat das Augenzucken ausgelöst.« »Und Ihre Handzeichen waren ein System Interrupt?« Ich nickte. »Sehr gut. KataPerfects Hauptentwicklerin stammt aus Tibet.« »Und hat Ihnen einen Gefallen getan.« »Sie und eine Reihe ihrer Landsleute glauben irrtümlich, so tief in meiner Schuld zu stehen, dass sie es nie wieder gutmachen können.« Ich beugte mich über den Tisch. »Im Gegensatz zu denen weiß ich, dass ich Ihnen gar nichts schulde, also warum sollte ich mich für Sie mit WAR anlegen?« »Er sagte mir, ich soll Ihnen ausrichten, es sei >ein Gefallen für einen Freund<.« Verdammt, das ist die Sorte Gefallen, die schmerzhaft endet. Ich verzog das Gesicht. »Typisch.« Bradley lächelte. »Ich bin ihm in Seattle begegnet, vor dem ersten Spiel. Obwohl er da oben wohnt, unterstützt er die Suns, hauptsächlich, weil Sie hier wohnen. Er sagte, es würde Ihnen nicht gefallen, aber Sie würden mir helfen. Und er sagte auch, dass Sie der Einzige sind, der mir helfen kann - nicht, weil Sie sein Freund sind, sondern weil Sie ein Freund der Menschen sind. Das ist ein hohes Lob vom Dalai Lama.« Ich schnitt eine peinlich berührte Grimasse. »Er ist ein Kind.« »Sie haben ihn beeindruckt.« 135 »Siebenjährige sind leicht zu beeindrucken.« »Er ist nicht mehr sieben.« Bradley schüttelte den Kopf. »Und er spielt gar nicht schlecht Basketball. Angeblich haben Sie es ihm beigebracht.« »Er übertreibt«, knurrte ich, denn schließlich kann man den Dalai Lama nicht beschuldigen zu lügen. »Genug. Ich wäre lieber wieder in chinesischer Gefangenschaft, als das länger zu ertragen.« Bradley nickte. »Ich verstehe. Sie tun es also?« »Ja, ich habe ein, zwei Ideen, die funktionieren könnten.« Ich überlegte kurz, dann fügte ich hinzu: »Sie kümmern sich um die Nation und gewinnen das Spiel und ich nehme mir die WAR vor.« »Abgemacht.« Bradley schob sich aus der Nische und reichte mir die Hand. »Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Meine Hand verschwand in seiner. »Ich hoffe nur, das sagen Sie auch noch, wenn dies hier vorbei ist.« Der Trick dabei, Hassprediger daran zu hindern, von einem Sieg der Suns zu profitieren, bestand darin, so zu denken wie sie. Das war schmerzhaft und zugleich schmerzhaft einfach. Weiße Rassisten, alle Rassisten, um genau zu sein, bauen ihr Gedankengerüst auf einem Fundament aus gewollter Ignoranz und bösartiger Leichtgläubigkeit auf. Alles Schlechte ist das Werk von Weltverschwörungen, und die große Masse der Bevölkerung glaubt nur deshalb nicht an diese Verschwörungen, weil sie hinters Licht geführt wird. Es ist ein teuflischer Zirkelschluss, der seine eigene verdrehte Logik besitzt. Die Tatsache, dass es keine 136 Beweise für die Existenz einer Weltverschwörung gibt, ist der Beweis für deren Existenz. Denn sie ist so geschickt ins Werk gesetzt, dass sie keine Spuren hinterlasse Natürlich sorgt die Tatsache, dass sämtliche Weltverschwörungen von Leuten betrieben werden, die genetisch minderwertiger sind als der durchschnittliche Arier, dafür, dass der durchschnittliche Arier Hinweise auf ihre Existenz findet. Auch wenn der durchschnittliche Arier blöd genug ist zu glauben, dass irgendwo in Argentinien ein hundertsiebenundfünfzig Jahre alter Hitler seine Rückkehr plant. Die World Aryan Resistance war ein Bilderbuchbeispiel derartiger Gruppen. Geleitet wurde die Organisation von einem gewissen Foster Gench. Seine beiden Söhne Grendel und Wolfgang waren seine Stellvertreter. Gench war ein Colonel bei den Lhasa Leopards gewesen - der anderen amerikanischen Einheit in Tibet. Bei den Tigers hatten wir sie die Lhasa Apsos genannt, weil sie die Hauptstadt nie verließen. Foster leistete sich einiges, während er auf Posten war, und ein Teil der Boat People, die mit dem Kleinen und mir entkamen, erzählte der Regierung davon. Das brachte ihm ein Kriegsgerichtsverfahren und eine unehrenhafte Entlassung ein, die ihm den Weg zu seiner neuen Laufbahn als Hassprediger ebnete. Grendel kontrollierte einen Kader aus Skinheads, die in Phoenix mehrmals für Ärger sorgten, wenn es auch nicht über ein paar Körperverletzungen und einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Scottsdale hinausging. Und das, obwohl er selbst ein zotteliger, bärtiger Riese war. In mir sah er den Hauptverantwort137 liehen für die Schande seines Vaters - obwohl ich bei dessen Prozess nicht einmal als Zeuge geladen war —, und hatte schon vor Längerem geschworen, mich zu erledigen. Sein Problem bestand darin, dass er noch keine Software gefunden hatte, die mir gewachsen war. Also machte er zwar reichlich Lärm, aber dabei blieb es auch. Wolfgang fungierte als Propagandist der Gruppe. Er schrieb und redigierte zwei Newsletter und zahllose Pamphlete, die WAR über die ganze Welt an ähnlich gepolte Grüppchen verschickte. Wolfgang war der Mann, wenn es darum ging, die Gruppe in Fernseh- und Radiodebatten über Rassenreinheit und -Überlegenheit zu repräsentieren. Er hatte Lester Farouk schon oft zu einer Debatte herausgefordert. Wolfgang benutzte das Radio auch dazu, wegen der Jünger gegen mich zu hetzen. Doch er war leichter zu ignorieren als sein größerer und dümmerer Bruder. Ich hatte den Eindruck, dass WAR versuchte, mit den Briefen an Bradley zwei Fliegen mit einer Klappe zu
schlagen. Falls sie auf einen Sieg gewettet hatten und Phoenix gewann, konnten sie kassieren und Bradley würde es wie ein Stein auf dem Gewissen lasten. Verlor Phoenix, konnten sie behaupten, Bradley sei der Verantwortung, die auf seinen Schultern ruhte, nicht gewachsen gewesen, weil er ja nur der »Schlammrasse« angehörte. Kam es nach dem Spiel zu einer Untersuchung gegen Bradley wegen Glückspiels und er wurde aus der NBA ausgeschlossen, wäre ihnen damit ein noch größerer PR-Erfolg gelungen. Natürlich konnten sie nur dann einen wirklich gro138 ßen Sieg erringen, wenn sie auf eine Niederlage der Phoenix Suns setzten und Bradley dann beschuldigten, er hätte das Spiel geschmissen, damit sie ihre Wette gewannen. Das wäre das perfekte Ergebnis für sie gewesen und das Ende für Bradley. Es war genau die Art Hinterlist, zu der ihre kümmerlichen Hirne fähig waren. Und der Brief, den sie Bradley geschickt hatten, hätte selbst unter den besten Umständen ausreichen können, sein Spiel zu versauen. Falls dies der Plan war - und das hielt ich für wahrscheinlich - bestand mein nächster Schritt darin herauszufinden, bei wem sie ihre Wette abgeschlossen hatten. Es war theoretisch denkbar, dass einer der Genchs nach Las Vegas oder Reno gefahren war, um die Wette zu platzieren, aber ich entschied mich, lokalere Möglichkeiten zu überprüfen. Schließlich lebten sämtliche Indianerstämme Nordamerikas vom Glücksspiel, und das bot WAR eine mögliche dritte Fliege, indem sie sich ihren Gewinn von Nichtweißen auszahlen ließen. Ich rief Jerry Begay im Kachina Casino und Wettbüro an. Jerry war ebenfalls ein Tiger gewesen und er hatte eines frostigen tibetanischen Abends - vorgeschlagen, dass wir ihn nach dem Krieg alle nach Arizona begleiten sollten. Seine Tour in Lhasa endete, als ihm eine Han-Falle das linke Bein unterhalb des Knies abriss, also flog er voraus und wurde zu einem Magnet für uns andere. Ich erklärte ihm die Lage, ohne auf Bradleys Situation einzugehen, und ließ ihn in dem Glauben, ich sei wegen der Jünger an WAR interessiert. Er ließ es durch den Computer laufen und rief kurz 139 darauf mit der Bestätigung zurück, dass sie massiv gegen Phoenix gewettet hatten - schon vor Beginn der Playoffs. »Kill, so wie das hier aussieht, kassieren diese Bleichhaut-Bastarde eine halbe Million, wenn die Suns absaufen.« »Das kann man nicht mehr als Taschengeld bezeichnen, Jerry.« »Allerdings nicht. Damit lassen sich reichlich Kreuze und Benzin kaufen. WAR hat außerdem einen Ableger in Seattle, also fragen wir auch bei den Casinos in den Makah- und Quinault-Reservaten an. Wir haben in den Neunzigern zu schwer für diese Casinos gearbeitet, um uns jetzt von ein paar Weißfanatikern über den Tisch ziehen zu lassen. Natürlich werden wir die Wetten stornieren.« »Das lässt WAR immer noch ihren Einsatz. Ich würde sie lieber rupfen, du nicht?« »Sicher. Hast du einen Plan?« »Ich denke schon. Erinnerst du dich noch, wie du mir in Lhasa von dem Geld erzählt hast, das dein Großvater beiseite schaffte?« »Himmel, Killian, sei bloß ruhig. Ich muss besoffen gewesen sein.« »Um genau zu sein, wir waren damals beide damit beschäftigt, uns auszudenken, wie wir es der Regierung heimzahlen konnten, die uns irgendwo in Tibet den Arsch hat abfrieren lassen.« »Ich erinnere mich.« »Nun ja, ein Plan, der gut genug war, um Onkel Sam die Hosen runterzuziehen, sollte ja wohl mehr 140 als ausreichend für diese Dummbeutel sein. Meinst du nicht?« Mir war klar, dass das richtige Timing für diese Operation entscheidend war. Ich rief Bradley an und sagte ihm, ich hätte alles unter Kontrolle. Ich hörte die Erleichterung in seiner Stimme und hoffte, dass er ein gutes Spiel hinlegen würde. In Anbetracht der Tatsache, dass mein ganzer Plan davon abhing, hoffte ich sogar auf ein Jahrhundertspiel. Ich traf mich etwa eine Stunde vor dem Spiel mit Jerry im Den. Er wirkte nicht sonderlich begeistert von meinem Anblick, aber trotzdem reichte er mir den Aktenkoffer. »Ich will nur hoffen, du weißt, was du tust, Sloane.« Er musterte mich von oben bis unten und fluchte herzhaft. »Scheiße, Mann, du trägst keine Schutzkleidung, und eine Knarre hast du auch nicht. Bist du wahnsinnig?« »Du weißt sehr gut, dass ich wahnsinnig bin, Jerry.« Ich grinste schief. »Ich gehe nur ein paar meiner weißen Brüder besuchen. Wozu brauche ich da Waffen?« Jerry klopfte auf die winzige silberne Scheibe hinter seinem rechten Ohr. »Hast du ein Schwachsinnsprogramm gestöpselt, Bruder? Diese Typen sind vielleicht keine Killer, wie die Jünger es waren, aber Menschenfreunde sind das auch nicht. Die machen dich platt, wenn sie eine Gelegenheit sehen.« »Ich habe keine große Wahl, Jerry.« Ich seufzte. »Wenn ich aufkreuze, als würde ich Ärger erwarten, denken sie, es wäre was im Busch.« Ich deutete mit 141 dem Daumen zur Glaswand. »Mit Grendel werde ich fertig, selbst wenn er die neueste Krawallware fährt.« »Ach ja? So wie ich gehört habe, hättest du kürzlich erst fast gegen eine KataPerfekt-Marionette den Kürzeren
gezogen.« »Nicht mal annähernd, aber das Programm ist schnell.« »CarnageMaster 3000 ist noch schneller, und davon ist eine Beta im Umlauf. Ich habe läuten hören, dass sich Grendel ziemlichen Ärger mit seinem Bruder eingehandelt hat, weil er WAR-Knete benutzte, um sich die Beta zu besorgen, statt sie auf das Spiel zu setzen.« Das ließ mich einen Moment zögern. In der Army waren wir alle >aufgepeppt< worden, damit wir verschiedene MOSware - Militärische Spezialisierungssoftware - fahren und innerhalb der Einheitsstruktur an unterschiedlichen Positionen eingesetzt werden konnten. Wir hatten sehr schnell gelernt, dass unsere Leistungen auf einem Spezialgebiet von der Qualität der Software abhingen. Und da die Regierung Aufträge grundsätzlich an den billigsten Anbieter vergab, endeten eine Menge Soldaten im Leichensack, weil irgendein Programmierer bei einem Stück Code geschludert hatte, als seine Frau ihn verließ. Wenn man in eine Situation geriet, die eine nichtexistente Subroutine aufrief, war man entweder wie gelähmt, flippte aus oder floh. Viele von uns zogen es vor, nichts Komplexeres als ein Sprachprogramm zu stöpseln und verließen sich lieber auf unsere angeborene Grau-RAM als auf Nintendo-Rambo-Wafer. 142 Kommerzielle Softwarepakete waren von besserer Qualität, hatten aber immer noch reichlich Probleme. Genau wie bei Spielprogrammen konnte man sie überlisten, sobald man wusste, wie das Programm auf einen bestimmten Zug reagierte. Natürlich funktionierten diese Tricks und Fallen nur, wenn man schnell genug war. Und viele Programme fingen Fehler blitzartig ab. KataPerfect zum Beispiel war tatsächlich beinahe schnell genug, mich zu besiegen. Die früheren Versionen der CarnageMaster-Serie hatten mir einige Probleme bereitet, und was man über CM3K hörte, war beeindruckend. »Schätze, das muss ich riskieren. Haben sie in der Beta-Version das Komprimierungsproblem gelöst?« Da Flexsofts Bewegungen als Angriffe interpretieren, mussten Kampfprogramme bewusst aufgerufen werden, damit ihr Benutzer nicht alles und jeden attackierte. Die Zeitspanne, die nötig war, um die Software hochzufahren, gab dem Gegner die Möglichkeit zu einem Überraschungsschlag. »Ich glaube nicht, aber sie braucht nur eine halbe Sekunde für die Dekomprimierung.« »Dann werde ich diese halbe Sekunde wohl dazu benutzen müssen, Grendel eins auf die Birne zu geben, oder?« Jerry schüttelte den Kopf und setzte sich eine Suns-Baseballmütze auf. »Ich wette nicht dagegen. Schließlich standen die Chancen, dass du den Kleinen aus China rausbringst - eine Milliarde zu eins dagegen? Viel Glück.« »Spar dir deine guten Wünsche für die Suns auf.« 143 Während ich durch die Stadt fuhr, wurde mir allmählich klar, wie dringend die Suns Jerrys gute Wünsche brauchten. Wir begannen das Spiel sehr zäh, und Bradley hatte einen der schlimmsten Starts im ganzen Jahr. Am Ende des ersten Viertels wurde er, wenn man Marjerles Kommentar glauben konnte, beim Kampf um einen Rebound in die Mangel genommen. Als niemand ein Foul pfiff, beleidigte er einen Schiedsrichter und handelte sich ein technisches Foul ein, das Seattle einen Zwölf-Punkte-Vorsprung brachte. Das zweite Viertel lief besser wie üblich hatte das Technische Bradley beruhigt - und ich hörte mir das Spiel über ein kleines Ohrhörerradio weiter an, als ich in den WAR-Bunker spazierte. Ich hatte meinen zerbeulten Ford Atlas 4x4 eine Querstraße vor dem alten U.-S.-West-Gebäude an der Indian School abgestellt, das die World Aryan Resistance als Hauptquartier ausgewählt hatte. Es war ein altes Backsteingebäude, wie es in Phoenix sonst kaum noch existierte. Abgesehen von einem schwarz-rotweißen Schild neben der Tür sah man ihm nicht an, was es beherbergte. Vermutlich war das zum Schutz gegen Angriffe aus vorbeifahrenden Autos so eingerichtet worden. Zwei Skinheads tasteten mich ab, bevor sie mich ins Managerbüro führten. Sie musterten das Miniaturradio an meinem rechten Ohr abfällig - weniger, weil es billig war, sondern weil es sich um ein Mitsubishi-Gerät handelte -, erklärten mich aber für sauber. Derjenige, der mir die Treppe hinauf folgte stieß mich mit seiner RepetierNadelflinte an, als ich stehen blieb, um 144 Marjerle zuzuhören. Bradley schnitt durch die Bahn und legte den Ball hinter sich ins Netz. Das brachte Phoenix zur Halbzeit mit fünf Punkten in Vorsprung und erhöhte meine Erfolgschancen. Die Bezeichnung Managerbüro erweckt einen weitaus eleganteren Eindruck, als ihn der Raum verdiente, in den mich der Skinhead brachte. Denn obwohl er reichlich Platz für die drei Schreibtische und jede Menge Bücherregale bot, wirkte das gesamte Mobiliar mitgenommener als mein Atlas. Alles hier war grau angemalt. Es musste wohl Farbe von den Wänden übrig geblieben sein. Die buntesten Gegenstände im Zimmer waren der Fernseher, die Hakenkreuzfahne und das Hitlerbild. Die Genchs eingeschlossen. Foster wirkte verhärmt und halb tot, was zu den Gerüchten passte, er habe Leberkrebs. Grendel war vom Hals bis zu den Doc Martens schwarz gekleidet, und mit seinem Bart und der Haarmähne erinnerte er geradezu an einen Löwen. Wolfgang war eine jüngere, schlankere Ausgabe seines Vaters, und nur der zurückweichende Haaransatz beschädigte das energische Bild, das er abzugeben versuchte. Foster erhob sich halb aus dem Sessel und krächzte: »Killian Sloane, wenn ich mich nicht irre.« Ich nickte. »Ich habe ein Angebot für Sie.« Wolfgang deutete mit der Fernbedienung auf den 47-Zoll Curtis-Mathis-Sparkfresco-Monitor und schaltete die
Halbzeitanalyse des bisherigen Spiels stumm. »Hütet euch vor Quislings, auch wenn sie Geschenke bringen.« H5 Grendel lachte. Es klang, als versuche ein Grizzly, Stahlwolle auszuhusten. Er war aufgestanden, als ich ins Büro trat, und wartete mir gegenüber. Er hob die Hand und tippte sich hinter das rechte Ohr, um mir zu verstehen zu geben, dass er Software gestöpselt hatte und bereitstand, mich auseinander zu nehmen. Es war eine Warnung, die ich nicht brauchte. Aber ich wusste sie trotzdem zu schätzen. Ich gab vor, Grendel nicht zu beachten. »Sie haben Wetten gegen die Suns in diesem Spiel abgeschlossen. Sie haben sie von sieben verschiedenen Personen über fünf Tage im Kachina platzieren lassen. Falls die Suns verlieren, gewinnen Sie fünfhunderttausend Dollar. In meinem Aktenkoffer habe ich zweihundertfünfzig-tausend - Ihren Einsatz sowie einen beträchtlichen Profit - zum Tausch gegen Ihre Wettscheine.« Wolfgang schüttelte den Kopf. »Noch vierzig Minuten, und wir gewinnen fünfhunderttausend. Warum sollten wir die für das tauschen, was Sie uns anbieten?« Ich sah Foster an. »Sind Ihre Jungs wirklich so dumm? Ihr ganzes Leben haben Sie von Verschwörungen herumgebrüllt, und jetzt erkennen Sie nicht, was vor sich geht?« Foster schloss nur halb die Augenlider, also machte ich weiter und konzentrierte mich auf Wolfgang. »Das hier ist ein professionelles Sportereignis, Wölfchen. Die Werbespots da kosten eine halbe Million für dreißig Sekunden.« Ich klopfte gegen das Radio an meinem Ohr. »Das Lokalradio kostet zehn Kilo die Minute. Was ihr gewinnt, nehmen die allein mit dieser Sendung ein. 146 Wenn Ihr daran denkt, dass dieses Spiel in die ganze Welt übertragen wird, kommt ihr auf einen Betrag, der jede Vorstellung sprengt.« »Und wir nehmen uns einen Teil davon.« Trotzig schob er die Unterlippe vor, aber in seinen Augen sah ich Zweifel aufsteigen. »Von wegen, denn ihr werdet die Wette verlieren. Was bringt mehr Geld in die Kasse - eine Playoff-Serie aus fünf oder eine aus sechs Spielen?« Wolfgang beäugte mich misstrauisch. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will sagen, der Ausgang steht fest. Seattle wird das Spiel schmeißen. Das weiß doch jeder. Warum zum Teufel glaubt ihr wohl, haben euch die Navajos überhaupt erlaubt, die Wetten abzuschließen? Sie wussten schon, wie es laufen würde, noch bevor die Serie begann. Man hat euch über den Tisch gezogen.« Grendel nickte ernst. »Die Juden kontrollieren eben die Medien.« Ich verzichtete auf einen Kommentar. »Ihr wart euer Geld schon los, noch bevor ihr das Casino verlassen habt. Ich biete euch eine Chance abzuspringen.« »Warum?« Foster hob den Kopf. »Sie mögen uns nicht.« »Meine Gründe spielen keine Rolle.« »Aber wenn ich sie nicht kenne, kommen wir nicht ins Geschäft.« Ich zögerte. Wolfgang schaltete den Fernseher wieder laut. »Die zweite Hälfte beginnt. Sie stehen im Weg, Sloane.« Ich zuckte die Achseln und drehte mich zur Tür. 147 »Wenn Sie unbedingt verlieren wollen, bitte sehr. Glauben Sie ja nicht, dass es mir etwas ausmacht.« Foster hob die Hand. »Ich glaube Ihnen. Und ich nehme Ihr Geld. Ich will nur wissen, was einen Mann wie Sie dazu bringt, hierher zu kommen.« Ich atmete tief durch. »Der Kerl, der Ihre Wetten autorisiert hat, bewirbt sich um den Posten als Stammespräsident, gegen Jerry Begay, einen Kumpel von den Tigers. Wenn bekannt wird, dass er ein Geschäft mit WAR gemacht hat, bläst das seiner Kampagne das Licht aus.« »Loyalität.« Foster lächelte. »Schade, dass Sie weniger Loyalität für Ihre eigene Rasse empfinden, Sloane.« »Die Loyalität zu meiner Spezies hat Vorrang. Kommen wir ins Geschäft oder nicht?« Foster nickte. »Wolfgang, die Wettscheine.« Wolfgang holte sie aus einer der Schubladen im Schreibtisch seines Vaters. Ich stellte den Aktenkoffer ab und er öffnete ihn, dann reichte er mir die Scheine herüber. Wolfgang blätterte durch eines der Bündel mit ZwanzigDollar-Scheinen, zählte die übrigen und nickte, als ich zurück auf meine Anfangsposition ging. »Die Summe stimmt, Vater.« »Es war ein Vergnügen, Geschäfte mit Ihnen zu machen, Mr. Sloane.« Ich blickte zum Fernseher, als die Sonics den Ball bekamen und das dritte Viertel einläuteten. »Bradley soll in der zweiten Hälfte das Spiel seines Lebens machen.« »Das wäre auch besser für ihn«, knurrte Wolfgang. »Wie der Nigger, so die Suns.« 148 Noch während er sprach, flog der Ball durch die Luft und verfehlte den Korb. Bradley holte sich den Rebound und erntete den Ellbogen eines Sonics-Spielers in die Rippen. Ein Schiedsrichter pfiff, und das Fernsehbild wechselte zu einer Totalen. Noch während sich der Basketball zur Seitenlinie bewegte, zoomte die Kamera wieder einwärts und ich reagierte. Ich wirbelte herum und platzierte in einem Drehsprung die linke Ferse an Grendels rechter Schläfe. Sein Kopf
flog zur Seite, Speichelfäden zogen sich durch die Luft. Der Riese stolperte mit hilflos rudernden Armen nach hinten. Er krachte hart genug gegen den Fernseher, dass der ganze Raum erzitterte. Grendels Leib nahm den Platz von Bradleys Bild ein, und es sah aus, als erteile der Schiedsrichter Grendel das zweite technische Foul und werfe ihn aus dem Spiel. Grendel prallte vom Fernseher ab und schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Als ich wieder aufkam, griff mich meine Skinhead-Eskorte an. Dem Ersten der beiden wich ich mit einem Seitschritt aus und warf ihn über die rechte Hüfte. Er flog über Foster und den Schreibtisch und rammte Wolfgang den Kopf in den Leib. Der Aktenkoffer kippte über die beiden, Dollarbündel flogen wie übergewichtiges Konfetti durch die Luft. Der zweite Skinhead drehte die Nadelflinte um und schwang sie wie eine Keule. Ich fing den Schlag mit dem linken Unterarm ab, dann schoss meine Rechte vor. Die gestreckten Finger trafen ihn am Bauch und schickten ihn würgend und zuckend zu Boden. Ein schneller Tritt an den Kopf brachte ihn zum Schweigen. 149 Ich griff mir die Pfeilflinte und hielt Foster in Schach, während ich rückwärts zu Grendel ging. »Geschäft ist Geschäft, Colonel.« Ich drehte Grendels Kopf nach rechts und klappte die Waferbuchse hinter dem Ohr auf. Unter dem Mein-Kampf-Wafer sah ich einen, der nach der CarnageMaster-3000-Beta aussah. Hätte die Geistermeldung des Radios über das technische Foul mir nicht die Zeit verschafft zu reagieren, so hätte ich möglicherweise herausgefunden, wie gut CM3K wirklich war. Foster starrte mich dumpf an. »Warum arbeiten Sie für den Nigger?« »Wie ich bereits sagte, Loyalität zu meiner Spezies.« Ich schob den Wafer zu den Wettscheinen in meine Tasche und stand auf. Hinter ihm kamen Wolfgang und der andere Skinhead auf mich zu, doch Fosters Hand und meine Flinte brachten sie zum Stehen. »Geschäft ist Geschäft, Mr. Sloane. Wir haben Ihr Geld, Sie haben unsere Wettscheine. Und ein Versprechen, dass wir uns noch um Sie kümmern werden.« Stellt euch hinten an, dachte ich. Ich verließ das Gebäude und vergewisserte mich auf dem Weg zu meinem Atlas und auf der Fahrt zurück, dass mir niemand folgte. Als ich sicher war, unbehelligt zu bleiben, hielt ich an, erledigte zwei schnelle Telefonate und fuhr hinunter zur Arena, um auf das Ende des Spiels zu warten. Ich betrat die Arena über die Laderampe. Einer der Wachleute brachte mich durch den hohen Korridor nach Süden, wo Christian Bradley auf dem Übungscourt wartete. Ich trat durch die Glastür und stieg die 150 Stufen hinab auf den Holzboden. Eine Weile sagte keiner von uns etwas, und das Einzige, was durch die riesige Halle dröhnte, war der Donner des gedribbelten Balls und das dumpfe Klatschen, wenn er ins Netz schlug. Bradley fing den Ball auf und klemmte ihn unter den Arm. Er trug noch immer das Spieltrikot und eine extrem wütende Miene zur Schau. »Hat es funktioniert?« Ich nickte. »Ich habe ihnen zweihundertfünfzig-tausend gegeben und die Wettscheine bekommen. Sie gehen an einen Freund in der Navajo Nation. Und die ursprünglichen Wetten bekommt die Thurgood-MarshallStipendienstiftung. Die Navajos stehen in Ihrer Schuld.« Bradley schüttelte den Kopf. »Nein, sie stehen in Ihrer Schuld.« »Nein«, widersprach ich mit leiser Stimme. »Sie schulden mir etwas. Möglicherweise sogar mehrfach.« Ich deutete auf das Anzeigebrett, das den Endstand zeigte: Phoenix hatte mit einundzwanzig Punkten Rückstand verloren. »Warum das zweite technische Foul? Fast hätte mich das erledigt. Sie brauchten nur zu gewinnen. Ich habe die harte Arbeit gemacht. Was sollte das?« Bradley warf mir den Ball zu. »Ich hab getan, was ich tun musste, Mann. Meinen Teil der Vereinbarung.« »Wie denn? Dass Sie wegen eines lausigen Ellbogens ausflippen, war nie Teil unserer Vereinbarung.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht das. Ich habe mich um die Nation gekümmert. In der Halbzeit hat mir Lester erzählt, dass er sich um die Weißfanatiker gekümmert hätte. Sie in ihrem eigenen Spiel geschla151 gen hätte. Er war losgegangen und hat ein dickes Bündel vom Geld der Nation auf unseren Sieg gesetzt. Mit dem Gewinn wollte er die WAR platt machen.« Ich drehte den Ball und fühlte das trockene Leder über meine linke Hand gleiten. »Die Botschaft der Nation gefällt Ihnen um nichts besser als die der WAR, habe ich Recht?« »Sloane, mein Vater ist Baptistenprediger. Ich bin im Glauben an Jesus aufgewachsen und glaube immer noch an ihn. Gleichzeitig sind wir Schwarzen immer noch eine Minderheit, und zwar eine, die Bedarf nach einer eigenen Identität hat. Ich kann versuchen, mich für etwas einzusetzen, aber die Leute sehen in mir nur einen Basketballprofi und wollen vor allem genauso viel verdienen wie ich. Die Nation ist nicht vollkommen, aber sie ermöglicht es den Kids, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Das kann ich unterstützen, aber ich werde keinen Krieg gegen irgendwelchen Nazi-Abschaum finanzieren.« Ich nickte nachdenklich. »Das kann ich verstehen. Ich kann es sogar respektieren.« »Tut mir Leid, dass ich Ihnen die Tour versaut habe.« Ich zuckte die Achseln. »Kein Blut, kein Foul.« Ich warf ihm den Ball wieder zu. Er ließ ihn einmal hart aufprallen. »Ich bin immer noch wütend, dass diese Weißfanatiker zweihunderttausend Dollar haben.« »Grundlos. Vor etwa fünfzehn Minuten sind die Genchs vom Schatzamt verhaftet worden. Sie hatten
zweihundertfünfzigtausend in Zwanziger- und Hunderter-Blüten in ihrem Hauptquartier und versuchen 152 gerade zu erklären, dass sie die gegen Wettscheine eingetauscht haben, die das Doppelte wert sind.« Bradley zog eine Augenbraue hoch. »Sie haben ihnen die Scheine mit Falschgeld abgekauft? Woher hatten Sie ... will ich das eigentlich wissen?« »Vermutlich nicht, aber stellen Sie sich, rein hypothetisch, nur vor, dass Sie eine souveräne Nation sind, der Invasoren ihre Gesetze aufgezwungen haben. Und die Agenten des Invasors gestatten Ihnen nicht, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Zum Beispiel blockieren sie die Casinos, die sie eröffnen.« »Wie es die Staaten um die Jahrhundertwende in den Reservaten getan haben.« Ich nickte. »Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie zu diesem Entschluss gekommen sind: Wenn man Ihnen nicht erlaubt, Geld zu verdienen, dann drucken Sie es einfach selbst, für einen Geheimkrieg gegen die Eindringlinge. Aber die geben dann doch nach und Sie bekommen Ihre Casinos ...« »Und für den Fall, dass sich die Lage ändert, haben Sie Ihre Geheimwaffe in der Rückhand.« »Rein hypothetisch, versteht sich.« »Versteht sich.« Bradley grinste. »Das gefällt mir, Sloane. Das gefällt mir sogar sehr.« »Nicht der Rede wert.« Ich drehte mich um und wollte schon gehen. »He, Moment. Was bin ich Ihnen schuldig?« »Mir?« Ich drehte mich wieder um und runzelte die Stirn. »Sie schulden mir gar nichts. Das war ein Gefallen für einen Freund. Sie erinnern sich?« »Aber wollen Sie denn gar nichts?« 153 Ich grinste. »Ich sage Ihnen was: Gewinnen Sie einfach die nächsten drei Spiele und schlagen Sie dann Cleveland.« »Das mache ich sowieso - für mich selbst und für Sie und das ganze restliche Valley. Wollen Sie nichts Besonderes?« »Das ist etwas Besonderes.« Ich nickte ihm zu und ging die Treppe hinauf. »Ich habe einen Freund in Seattle, der ein großer Suns-Fan ist. Gewinnen Sie alle Spiele. Betrachten Sie es als einen Gefallen für einen Freund.« Einfach zauberhaft war das Ergebnis eines Gesprächs mit Dennis L McKiernan. Wir hatten beide gerade einen Roman mit einem etwas zähen Anfang veröffentlicht. Dennis sagte: »Zu schade, dass es keine Möglichkeit gibt zu garantieren, dass die Leser bis zum Ende durchhalten.« Da kam mir augenblicklich die Idee für diese Geschichte. Einfach zauberhaft Ich spürte ein erregtes Zittern der Vorfreude, als mir der Postbote den Bogen Papier aus der Hand nahm. Der Ausdruck gelangweilter Gleichgültigkeit in seinen Augen ertrank in einer Woge lustvollen Verlangens, die über seine Züge spülte. Sein Mund stand offen, als seine Augen jedes Wort verschlangen, und eine Sekunde später formten auch die Lippen jedes einzelne. Seine Augen zuckten von einem Wort zum nächsten, schneller und immer schneller, als er sich dem Ende der Seite näherte, dann drehte er das Blatt um und suchte gierig nach mehr. Als er sah, dass er alles gelesen hatte, las er es schnell noch einmal. Und er hätte es auch noch ein drittes Mal gelesen, doch ich griff nach dem Papier. Er versuchte, es zu behalten, aber ich faltete den Bogen, so dass er die Schrift nicht mehr sehen konnte. Und er kam wieder zu sich. Widerwillig erlaubte er mir, ihm das Blatt aus der Hand zu ziehen. »Mein Gott, das ist großartig!« Er wischte sich mit 155 einem vergilbten Taschentuch die Stirn. »Haben Sie noch mehr davon? Es muss noch mehr geben. Ich meine, das ist das Beste, was ich je gelesen habe. Mein Gott, Sie sind ein Genie!« Ich lächelte gnädig. »Danke, Carter. Es ist nichts weiter als ein kleiner Text, den ich da heute Morgen hingeschmiert habe.« Der Postbote pfiff leise durch die Zähne. »Mann, ich dachte, Sie hätten das Schreiben aufgegeben, nachdem dieser Typ vor fünf Jahren Ihr Buch abgelehnt hat. Ich meine, wissen Sie, ich habe Ihr Buch damals nicht gelesen, aber wenn es auch nur so ähnlich war wie das da, dann war der Herausgeber ein Narr.« Ich unterdrückte meinen Zorn bei SEINER Erwähnung und hielt die leutselige Maske aufrecht. »Nun ja, Herausgeber sind bekannt für gelegentliche Fehlurteile. Vielleicht sieht er seinen Fehler ja inzwischen ein. Danke für die Ermutigung, Carter.« »Nichts zu danken, Mister Daye.« Er deutete mit zitterndem Finger auf den Zettel in meiner Hand. »Falls das veröffentlicht wird, sagen Sie mir Bescheid. Ich kaufe jede Menge davon.« Ich hielt mein Lachen im Zaum, bis ich die Tür geschlossen und verriegelt hatte, dann hallte es laut von den Wänden meines schäbigen Domizils wider. Ich zerknüllte das Blatt in der linken Hand und warf es achtlos in die Ecke. Ich hatte es geschafft! Nach fünf Jahren der Forschung, der Versuche und Prüfungen hatte ich es geschafft. Ich hatte das Geheimnis gelüftet und jetzt würde ich mich rächen. Ich bückte mich und hob das Papierknäuel wieder 156
auf. Dann strich ich es auf dem Deckel des Großen Albert glatt. Ein einfaches schmales Blatt liniertes Papier, in keiner Weise bemerkenswert. Tatsächlich war es nicht einmal ein Text, diese Ansammlung von Worten, die der Dummkopf Carter zu einem der großen Werke der Weltliteratur erklärt hatte. Ich fühlte, wie mich die Macht durchströmte, als ich laut vorlas: »Clorox, verschied. Suppen, 1 Pfund Reis, Klopapier«, aber ich konnte vor Lachen nicht an mich halten. Die Worte bedeuteten nichts, und wären auch ein Nichts gewesen - ohne das Zeichen, das ich mit größter Sorgfalt auf den Kopf des Zettels gezeichnet hatte und jetzt unter meiner Daumenkuppe verbarg. Dafür hatte ich mich fünf Jahre lang in arkanen Schriften vergraben. Ein trügerisches, kaum fassbares Symbol, das ich durch uralte Pergamentbögen verfolgt hatte, die seit Jahrhunderten von niemandem mehr beachtet worden waren. Ich war durch die Tagebücher von Hexenjägern und verbotene Bücher in Sprachen gewatet, die seit Langem als vergessen galten, aber vor Macht pulsierten. Ein Hinweis hier, ein Indiz dort, das waren die Wegweiser auf meiner Suche nach einem Symbol der Macht gewesen, einem Symbol, das schon Legionen von Männern und Frauen in den Untergang gelockt hatte. Schließlich war meine Suche gescheitert, denn jede Spur des Siegels, nach dem ich suchte, war zerstört. Die um seine Macht wussten, hatten gelernt, es zu fürchten, und hatten all seine Darstellungen vernichten lassen. Aber andere Siegel hatten hier und dort etwas davon übernommen, um etwas von der Macht für sich zu stehlen, die noch immer wirkte. Wie ein Archäologe ^57 oder Genetiker verfolgte ich die Spur zu dieser Eva aller arkanen Symbolik zurück. Ich stahl hier etwas vom Siegel Salomos, und dort vom Alphabet Enochs. Langsam, allmählich, methodisch und wissenschaftlich baute ich das Symbol wieder auf, nach dem ich so lange gesucht hatte. Ich holte es aus der Vergessenheit zurück. Ich erschuf das Siegel der Sirenen neu und wusste, es war gut. Carter hatte es bewiesen. Carter, mein Laborrattenholzkopf, hatte endlose Listen voller Dummheit über sich ergehen lassen, als ich die verschiedensten Variationen an ihm ausprobierte. Auf manche hatte er seltsam und belustigend reagiert, aber bis heute Morgen hatte er sich nie so verhalten, wie ich es wollte. Heute aber hatte Carter unter dem Einfluss des Sirenensiegels meine Einkaufsliste wie einen Kriminalreißer verschlungen und war unfähig gewesen, sie wieder wegzulegen. Er hatte mehr davon gewollt, und als er nicht mehr fand, hatte er alles noch einmal gelesen. Aus diesem Fragment hatte er geschlossen, ich sei ein literarisches Genie. Wenn es bei Carter funktioniert hatte, würde es auch bei IHM funktionieren. Ich ging ins Schlafzimmer, vorbei an den staubigen Bergen aufgestapelter Bücher, die auf dem Wohnzimmerboden wie Stalagmiten wirkten. In einem Gefühl der Unbesiegbarkeit streckte ich mich und holte den eingerahmten Brief von seinem Platz über dem Bett. Mein Antrieb, der Stachel in meinem Fleisch, die Antriebsfeder meiner Suche. Dieser Brief verfolgte mich, seit Carter ihn gebracht hatte. Über die Jahre 158 hatte ich ihn immer mal wieder gelesen, wenn mir die Verzweiflung alle Kraft geraubt hatte - um die Wut neu anzufachen. Jetzt hatte ich den Sieg in der Tasche und gestattete mir den Luxus, mich an meine Erniedrigung zu erinnern. Sehr geehrter Mr. Daye, unter normalen Umständen betrachte ich es als Gebot der Höflichkeit, mich bei jedem Autor zu bedanken, der uns hier bei Mountain Books seine Arbeit zusendet. In dem von Ihnen eingereichten Text finde ich jedoch nicht das Geringste, was mich dazu veranlassen würde. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sowohl in Ihrem Begleitschreiben und in Kapitel 3 Ihrer Meinung über die >minderwertigen und kindischem Texte Ausdruck verleihen, die wir im Rahmen unserer Reihen veröffentlicht haben. Die Wiederholung dieser Kritik in den Kapiteln 7, 12 und 12J könnte man für übertrieben halten, aber ohne Zweifel entspringt es Ihrer Überzeugung, dass unsere schwachsinnigen Herausgebern unfähig [wären], literarische Feinheiten zu erkennen, selbst wenn diese aufstünden und sie mit einem atomaren Partikelaktzellerator [sie] beschießen< würden. Ich muss Ihnen zustimmen, dass Ihr Werk schwer zu kategorisieren ist, allerdings nicht, weil, wie Sie behaupten, dass >die Literatur als Konzept zu begrenzt ist, um [Ihr] Werk zu fassen.< Sie sind kein Dostojewski. Sie sind kein Dickens. Sie sind nicht mal literarisch gebildet. Der Roman, den Sie uns geschickt haben, eignet 159 sich allein als Wörterbuch gnadenlos zu Tode gerittener Klischees. Ich würde sagen, Ihre Figuren sind Pappkameraden, aber das hieße doch, Pappe zu beleidigen. Sämtliche Filmdiven der Stummfilmära waren zusammen weniger schwülstig als Ihre Schreibe. Die Bereitschaft zum Verzicht auf kritische Distanz, die notwendig wäre, um Ihre Geschichte zu glauben, wird einzig und allein von der Anstrengung übertroffen, die man aufbringen müsste, um zu glauben, wir würden auch nur daran denken, diesen so genannten Roman zu veröffentlichen. Wenn 50 000 Schimpansen, die jahrelang auf 50 000 Schreibmaschinen herumhämmern, in der Lage sind, die Werke Shakespeares zu schreiben, dann, so vermute ich, könnten 50 000 Hyram Dayes auf dieselbe Weise einen beinahe publizierbaren Schundroman zu Stande bringen.
Ich hoffe wirklich und wahrhaftig, dass dies der einzige Roman ist, an dem Sie sich versucht haben. Falls nicht, befürchte ich, dass Ihre Wohnung vom Umweltamt als Giftmülldeponie klassifiziert werden könnte. Eigentlich müssten Sie einer Bürgerrechtskommission dafür gemeldet werden, dass Sie dieses Machwerk ohne Warnhinweis versenden, und tagte der Nürnberger Gerichtshof noch, ich würde Sie für die Herstellung dieses >Werks< vor ihm anklagen. Falls Sie auf Grund irgendeiner verdrehten Logik (zu der Sie ohne den geringsten Zweifel fähig sind) immer noch nicht verstanden haben, dass ich Ihnen empfehle, jedwede schriftstellerische Tätigkeit sofort und dauerhaft einzustellen, betrachten Sie bitte zumindest Mountain Books nicht als möglichen Abneh160 mer für Ihre Arbeit. Dasselbe gilt für alle sonstigen nahen und entfernten Mitglieder Ihrer Familie. Mit verächtlichsten Grüßen, Gordon Cobb Chefherausgeber Ich schleuderte den Rahmen davon. Er krachte gegen die Wand und zerbrach. Leise kichernd griff ich aufs oberste Regalbrett und holte den Karton mit meinem Manuskript herunter. Liebevoll blies ich den in einem halben Jahrzehnt auf dem Deckel gelandeten Staub weg. Ich stellte den Karton aufs Bett, öffnete ihn und hob das 600-Seiten-Manuskript heraus. Ich drückte es an die Brust und kehrte an meinen Arbeitsplatz zurück. Endlich würde Kettensägenidyll der Liebe das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Ich widerstand der Versuchung, das Sirenensiegel auf das Titelblatt zu zeichnen. Diese Seite war überflüssig und würde vermutlich auch nicht kopiert werden, falls das Manuskript in der Druckerei vervielfältigt wurde. Außerdem vermutete ich, dass - falls das Siegel seinen Einfluss bereits in der Poststelle ausübte - es ewig dauern würde, bis mein Manuskript IHN erreichte. Ich schlug die erste Seite auf und machte mich auf dem Leerraum über dem Vorwort an die Arbeit. Ich tauchte meinen dünnen Pinsel in das Fläschchen mit schwarzer Tusche und zeichnete das Siegel der Sirenen. Mit schlangengleichen Formen erzeugte ich die Raute, die das gesamte Motiv umschloss und ihm seine Macht verlieh. Dann fügte ich nahe der Spitze den dreischenkligen Wirbel hinzu, der den Leser in 161 das Werk zog. Leichte Schattierungen und Windungen in den Linien deuteten verführerische weibliche Kurven und die Gebärmutterwärme an, an die wir uns alle dunkel erinnern und nach der wir uns immerzu still sehnen. Dies trieb den Leser weiter und versicherte ihm, dass, ganz gleich, was er las, nichts richtiger oder vollkommener sein konnte. Kräftige, flinke Tentakel zogen sich abwärts und verschlangen sich in einem Morast keltischen Knotenwerks ineinander. Das platzierte mein Werk sicher als Teil der Wirklichkeit und belohnte den Leser mit dem Wissen, er sei wahrhaft fähig, wirkliche Kunst zu erkennen. Und in den Augen des Lesers verdiente mein Werk eindeutig die Anerkennung als höchste Form menschlicher Leistung innerhalb der Welt der Literatur und der gesamten Kunst. Fertig. Ich widerstand der Versuchung, meine Arbeit zu bewundern. Ich hatte eine Karteikarte über die obere Hälfte des Siegels gelegt, während ich an der unteren arbeitete. Ich wusste, hätte ich mir gestattet, der Versuchung zu erliegen, ich hätte mein Buch von Anfang bis Ende gelesen, und wieder und immer wieder, bis ich vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre oder mir jemand das Manuskript gewaltsam entrissen hätte. Nachdem ich drei Tage damit zugebracht hatte, die Fernsehzeitung zu lesen, auf die ich in Gedanken das Siegel gezeichnet hatte, war ich entschlossen, diesen Fehler kein zweites Mal zu begehen. Ich legte die Titelseite wieder an ihren Platz und den Begleitbrief, den ich Anfang der Woche aufgesetzt hatte, darüber. Diesmal verzichtete ich darauf, IHN an 162 meiner Weisheit teilhaben zu lassen. Tatsächlich war mein Brief, abgesehen von dem energisch formulierten Vorschlag, das >Motiv< auf der ersten Manuskriptseite auch auf der ersten Seite des Romans abzudrucken, wohl das Banalste, was ich je geschrieben hatte. Ich lächelte. Es würde Zeit genug für andere Briefe mit anderen Siegeln bleiben, um IHN eines Besseren zu belehren. Mit dem sorgfältig verpackten Manuskript machte ich mich auf den Weg zum Postamt. Ich widerstand der Versuchung, es als Expresssendung aufzugeben und verließ mich darauf, dass es als Postsendung erster Klasse in zwei Tagen in New York sein würde. Rache genoss man am besten kalt, erinnerte ich mich, und ein per Eilboten eintreffendes Manuskript hätte augenblicklich Warnzeichen schrillen lassen. Das galt es zu vermeiden. Es sollte IHN völlig überrumpeln. Es folgte eine Übung in exquisiter Agonie. Ich begann ein Dutzend verschiedener Romane um Clint Kerage, den Helden aus Kettensägenidyll der Liebe, und verwarf sie wieder. Ich kann nicht zählen, wie oft ich zum Telefonhörer griff, um bei Mountain Books anzurufen. Doch ich hängte immer wieder auf, bevor man mich zu IHM durchstellen konnte. Nein. Nein! Ich würde mich nicht verraten. Die Zeit für Häme würde später kommen, wenn mir Kettensägenidyll ein Vermögen eingebracht hatte und ER in meiner Villa an der Cote d'Azur vor mir im Staub lag. ER würde um meinen nächsten Roman betteln, und ich würde mit ihm spielen, ihm Hoffnung machen und ihn dann mit seinen eigenen Worten auspeitschen, 163 jenen Ausdrücken, die sich längst in mein Hirn eingebrannt hatten. Gegen Ende der Woche hatte ich mich entschlossen, von dem gewaltigen Vorschuss, den man mir anbieten
würde, eine Videokamera zu kaufen. Ich wusste, das wahre Geld würde erst die Verfilmung von Kettensägenidyll bringen, und ich war ziemlich sicher, dass das Siegel mit ein paar Änderungen auch im Filmoder Videoformat funktionierte. Für den Bruchteil einer Sekunde durchzuckte mich ein kalter Schauder bei dem Gedanken, irgendwelche Fernsehmacher könnten mein Geheimnis schon kennen und seit Jahren einsetzen. Fast hätte mich das Entsetzen übermannt, doch ich riss mich zusammen und schwor mir, niemandem sonst zu gestatten, von meinem Geheimnis zu profitieren. Dann, am Samstag, stand Carter vor der Tür. Ich unterschrieb für die Expresssendung, die er für mich hatte, dann schloss ich die Tür, ohne mich um sein armseliges Gewinsel zu kümmern, noch einmal einen Blick auf den Zettel werfen zu dürfen, den er das letzte Mal gelesen hatte. Als ich ihm erklärte, dass ich den Text verbrannt hatte, weil er meinen Ansprüchen nicht genügte, fiel er in sich zusammen und stöhnte. Als ich die Sendung aufriss, verdrängte ihn dessen Inhalt vollständig aus meinem Bewusstsein. Der Brief kam von IHM. Speichelleckerisch ist ein köstliches Wort, das sich vollkommen in den Mund schmiegt, um es mit Verachtung auszuspucken. Aber diesen Brief damit zu beschreiben, hieße, die Sonne als ein Photon zu beschreiben, oder einen Ozean als ein Molekül. Ich las den 164 Brief mit derselben Hingabe wie Carter meine Einkaufsliste. »Brillant... einzigartiges Werk von einer bis dato unvorstellbaren Vision und Breite ... erdig und realistisch, doch zugleich fantastisch und allegorisch ... geniale Beschreibung, Charakterisierung und Handlung... ein Meisterwerk von der Hand eines Großmeisters der englischen Sprache.« Ja, ja, er schrieb alles, was ich erwartet hatte, und noch mehr. Er war zerschmettert, zertrümmert auf dem Amboss seines eigenen Egos. Er hatte den Köder geschluckt und saß am Haken. Er schrieb, dass er das Buch sofort in Druck geben wolle, und davon ausginge, dass ich mit dem in zwei Ausführungen beiliegenden Vertrag zufrieden sein würde. »Unterschreiben Sie beide Exemplare, schicken Sie sie im beiliegenden Antwortumschlag zurück - und wir sind im Geschäft.« Er schloss mit: »Bis ich Ihr Buch las, war ich Atheist, Ihr Werk hat mich überzeugt, dass Gott existiert und seine Hand über Sie hält.« Mein Gelächter hallte mir noch in den Ohren, als ich mich an den Schreibtisch setzte, um die Verträge durchzulesen. »Der Autor versichert ...« Ja, das Übliche. Ich stockte, als ich zu der Passage kam, in der sich Mountain Books alle Serienrechte für das Werk sicherte. Aber das ließ ich durchgehen. Ich konnte jedoch keinem Magazin gestatten, mein Siegel als Teil des Buches zu benutzen, oder Millionen Zombies würden nur immer wieder den einen Auszug lesen, ohne je das 165 ganze Buch zu kaufen. Nein, das durfte nicht geschehen. Immer schneller las ich, weiter, weiter. Das Anwaltsjargon flog vorbei, versuchte, mich in einem Wald aus Unterabsätzen einzufangen. Doch ich bahnte mir einen Weg. Dann erreichte ich einen weiteren Stolperstein: kein Vorschuss! Und noch einer: Tantiemen in Höhe von 0,0001 Prozent des Verkaufspreises, zahlbar einmal im Jahrhundert, am 29. Februar! Was war denn das ? Immer weiter sauste ich durch den Vertrag. Eine Unverschämtheit nach der anderen wurde da über mich und meinen Roman ausgeschüttet. Mountain Books behielt sich sämtliche Rechte an Fremdsprachen- und Buchclubausgaben vor und brauchte mir nichts dafür zu zahlen! Sie forderten, dass ich exklusiv für sie arbeitete und alle drei Monate einen neuen Roman ablieferte, auf Lebenszeit. Ich sollte nach New York und in ihr Gebäude ziehen, um dort für sie zu arbeiten. Und nach meinem Ableben wollten sie das Recht, x-beliebige Stümper unter meinem Namen schreiben zu lassen! Mir klappte die Kinnlade runter, so unfassbar war das. Gordon Cobb - ER - hatte meine Arbeit praktisch als göttlich gelobt, aber irgendein habgieriger Sesselfurzer in seiner Rechtsabteilung versuchte, mir vorzuenthalten, worauf ich doch ein Recht hatte. Bestimmt irgendein kleiner, von Ehrgeiz zerfressener Gnom mit einem Titel vom South Bayou College für Rechte und Kosmologie. Aber er würde den Tag verfluchen lernen, an dem er es gewagt hatte, diesen Leib166 eigenenvertrag aufzusetzen. Wenn ich mit IHM fertig war, würde ER mit diesem Idioten fertig sein! Wütend schlug ich die letzte Seite des Vertrags auf und erstarrte. Gordon Cobb hatte bereits unterschrieben. Wie hatte er diesen Hohn eines Vertrags mit seiner Unterschrift in die Post geben können? Wusste er nicht, mit wem er es hier zu tun hatte? Sah er denn nicht, dass er sich ins eigene Fleisch schnitt? Dann sah ich es, ganz unten auf der Seite. Ich erkannte die sanfte Dreiecksform. Die wie schwarze Flammen abstehenden Tentakel wogten wie in einem gespenstischen Wind. Die ungleiche Waage in seiner Mitte bewegte sich ins Gleichgewicht, als ich den Kopf neigte, um sie zu betrachten. Die Form. Die Schlichtheit. Die Einladung, sich anzuschließen. Alles ergab einen Sinn. Das Sklavensiegel. Ich griff zum Stift. 167 Die Parker-Panik ist eine Geschichte aus dem Universum des DeaaYands®-Rollenspiels von Shane
Lacy Hensley. Da viel von dem, was ich schreibe, in Universen spielt, die andere erdacht haben, hielt ich es für angebracht, auch eine solche Geschichte in dieser Sammlung zu haben. Das Ziel bei einer solchen Arbeit ist es, die Welt in einer Geschichte zu erforschen, zu deren Verständnis man das Spiel, dem das betreffende Universum als Hintergrund dient, nicht zu kennen braucht. Das Einzige, was Sie über Deadlands wissen sollten, ist, dass es in einer sehr eigenartigen Version des Wilden Westens spielt, in der auch Magie existiert. Die meisten Menschen ignorieren sie allerdings, und um einen Zauber zu wirken, projiziert ein Huckster seinen Astralleib auf eine Ebene, auf der er mit einem Geist um die Macht kämpft, die für den Zauber notwendig ist. Die Hauptfigur Nevan Kilbane und seinen Hintergrund habe ich ursprünglich für eine Deadlands-Spielrunde erfunden. Die Parker-Panik Mit quietschenden Rädern und schnaufender Lok hatte der Zug kaum den Bahnhof verlassen, als ich schon hörte, wie Karten gemischt wurden. Ich hätte Desinteresse vortäuschen können, weil ich zwei der Männer schon dabei beobachtet hatte, wie sie zwischen El Paso und Tucson ein Greenhorn ausgenommen hatten. Sie waren keine guten Pokerspieler, aber das Greenhorn war noch miserabler gewesen - und die beiden Karten168 haie hatten es für nötig gehalten, in den wenigen Partien, da das Glück ihr Opfer nicht ohnehin schon im Stich gelassen hatte, hemmungslos zu betrügen. In Tucson jedoch war ein neuer Fahrgast eingestiegen, und ich wollte nicht, dass sie ihn ebenfalls ausnahmen. Ich schob den Stetson zurück und warf einen Blick durch den Wagen bis zu den drei Männern. Der Geber, ein junger, rundlicher Bursche, war Vertreter für irgendeine Firma in Chicago, die Smith & Robards »in ihrem eigenen Spiel besiegen« wollte. Der Name der Firma war Menomony Wilson. Ich erwähne ihn nur, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand sonst es je wieder tun wird, falls die Qualität der Angestellten einen Rückschluss auf die der Firmenleitung gestattet. Außerdem erklärt es bloß, wie ich ihn nenne, denn seinen tatsächlichen Namen habe ich nie herausgefunden. Sein Musterkoffer lag ihm auf den Knien und fungierte als Spieltisch. Ich reckte mich träge, dann stand ich auf und wankte im Takt mit dem Zug hinüber. »Ist das ein reines Dreierspiel?« Wilson blickte mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und Schweiß auf den Schläfen zu mir hoch. »Howdy, Kumpel. Pflanz dich nieder.« Ich ignorierte seinen Versuch, einem tonlosen Mittelwestakzent einen Westernklang zu verleihen. Dann reichte ich ihm die rechte Hand, an der ich einen schwarzen Handschuh trug, und er schüttelte sie, ohne beleidigt zu sein. Schätze, wenn man als Vertreter unterwegs ist, muss man lernen, mit jedem auszukommen. »Der Name ist Nevan Kilbane.« 169 Wilson erkannte meinen Namen nicht, einer der beiden anderen aber schon. Wilsons Partner stellte sich als Anderson Quilt vor, Rechtsanwalt, ursprünglich aus St. Louis. Der Neuzugang, hoch aufgeschossen und dürr wie eine Bohnenstange, trug Klamotten, so schwarz wie die eines Bestattungsunternehmers oder Predigers. Er sagte, er hieße Mitchell Johns. Er erwähnte nicht, woher er stammte, aber seine Stimme besaß diese Südstaatenmelodie, bei der mir immer ein wenig unbehaglich wird, selbst hier im Konföderiertengebiet. Quilt, der genug weiße Haare hatte und einen ausreichenden Bauchumfang, um etwa vierzig zu sein, lächelte mich an. »Sie heißen genau wie der Knabe, der diese Groschenromane schreibt. Diese Doctor-Sterling-Bücher.« »Das liegt vermutlich daran, dass ich genau der Knabe bin.« Ich erwiderte das Lächeln. »Der gute Doktor schreibt nicht gerne, aber er hofft, dass die Geschichten über seine Abenteuer die Leute davon abhalten, vom rechten Weg abzukommen.« Wilson blinzelte mich mit Schweinsaugen an. »Sie sind der Nevan Kilbane? Ich habe Die Parker-Panik gelesen. Ein tolle Geschichte. Dieser Doktor Sterling - oder sollte ich ihn Lord Uxbridge nennen? Ich hätte nichts dagegen, ihm auch mal zu begegnen. Glauben Sie, ich habe eine Chance?« »Möglicherweise, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich - es sei denn, Sie verstecken mehr in dem Koffer, als ich vermute.« Johns lehnte sich zurück und stützte sich mit dem 170 Rücken an die Wand des Wagens. »Die Parker-Panik Verzeihen Sie, aber ich bin mit Ihrer Arbeit weniger vertraut, Sir.« Wilsons Augen leuchteten auf und seine Hände unterbrachen die Manipulation der Karten. »Oh, es ist eine großartige Geschichte. Sie beginnt in Parker, Arizona, gar nicht weit von hier, im Nordwesten. Oh, äh, ist das in Ordnung, wenn ich sie erzähle, Mr. Kilbane? Ich meine, es ist schließlich Ihre Geschichte.« Ich nickte und ließ ihn erzählen. Da er Reginald Sterling nie begegnen würde, gönnte ich ihm wenigstens dieses Vergnügen. Als Wilson die Geschichte herunterratterte, erinnerte ich mich daran, wie sich die Dinge in Parker ganz anders entwickelten, als ich es ursprünglich erwartet hatte. Ich stellte mein Pferd unter und schlenderte zum Grand Hotel von Parker hinüber, das keineswegs sonderlich grand war, und sich auch nur Hotel schimpfte, weil >Zwinger< keine geeignete Bezeichnung für einen Ort ist, wo Menschen unterkommen. Ein Blick auf die
Schlüssel, die hinter der Rezeption an der Wand hingen, legte den Schluss nahe, dass auch ein Zimmer verfügbar war. Also trug ich mich ins Gästebuch ein. Die Vogelscheuche von einem Kerl hinter dem Tresen drehte das Buch um, blies die Tinte trocken und fuhr meinen Namen mit einem tintenverschmierten Finger nach. »Sind Sie der Nevan Kilbane?« Ich nickte, dann legte ich den Finger an die Lippen. Er schaute erst nach links, dann nach rechts - dabei 171 bewegte er nicht den Kopf, nur die Augen, und die nicht immer gemeinsam. Er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern, das immer noch laut genug war, um Fensterscheiben klirren zu lassen. »Sind Sie gekommen, um sich für Dr. Sterling die Lividianer anzuschauen?« »Nah. Komme aus Nevada.« Er nickte verschwörerisch. »Kein Wort mehr, ich verstehe. Soll ich für den Doktor die Präsidentensuite freihalten?« Wieder legte ich den Finger an die Lippen, dann zwinkerte ich. Er holte den Schlüssel zur Suite vom Brett, dann gab er mir den für Zimmer 214. »Die Treppe hoch, an der Straße. Von da aus können Sie die Geisterstampede sehen.« Ich fand die Idee einer >Geisterstampede< zwar hochinteressant, ließ mich dadurch aber nicht von meinen ursprünglichen Plänen abbringen. Ich hatte vor, meinem Pferd und auch mir selbst ein paar Tage Erholung zu gönnen und dann weiter nach Quartzite zu reiten. Dort wollte ich versuchen, von Kriegers Spur wieder aufzunehmen. Die Konföderation kontrollierte ein gewaltiges Gebiet, früher oder später mussten ihm jedoch die Verstecke ausgehen. Ihnen sagt der Name von Krieger vermutlich nichts, aber diejenigen unter uns, die in Colton, dem Gefangenenlager knapp außerhalb von Sparta, Georgia, seine Art der Gastfreundlichkeit genießen durften, werden ihn niemals vergessen. Die Rebellen betrieben Colton als Lager für >besondere< Gefangene: hauptsächlich für 172 diejenigen von uns, die aus den anderen ausgebrochen waren. Von Krieger hielt uns unter Kontrolle, indem er uns aushungerte, und noch mit einigen anderen Methoden, die, sagen wir es mal so, nicht gerade bei Hoyle standen. Es ist ziemlich herb, wenn man in einem Lager sitzt, um das die wiederbelebten Leichen der eigenen Freunde patrouillieren. Nach dem Großausbruch aus Colton war von Kriegers Karriere beendet. Die Leute in Sparta sahen, was er mit den Gefangenen gemacht hatte, und jagten ihn geteert und gefedert aus der Stadt. Er tauchte unter, und ich kehrte mit meinem Lieutenant, Augustus Henry Adams, in den Norden zurück. Doch ich schwor mir, von Krieger für seine Verbrechen bezahlen zu lassen. Und ich trainierte für den Tag unseres Wiedersehens. Jahre später und ein Stückchen kräftiger gebaut als beim letzten Mal, als mich von Krieger zu Gesicht bekommen hatte, brach ich in den Westen auf, um nach ihm zu suchen. Unterwegs begegneten mir die seltsamsten Dinge, und ich erzählte Augustus in meinen Briefen von diesen Abenteuern. Er machte dann aus einem davon eine Geschichte über Dr. Reginald Sterling, einen britischen Adligen, der mit seinem loyalen Adlatus, nämlich mir, durch den Westen zog und nach düsteren, satanischen Geheimnissen Ausschau hielt. Er brachte einen Herausgeber, dessen Sohn mit uns aus Colton entkommen war, dazu, sie zu veröffentlichen, und das Ergebnis erwies sich als Verkaufsschlager. Nicht, dass ich was gegen das Geld hätte, das die Geschichten einbrachten. 173 Anfangs hatte ich protestiert, die Veröffentlichung meiner Abenteuer würde von Krieger warnen, dass ich auf seiner Fährte war. Augustus jedoch war anderer Meinung. Er nahm an, dass sich von Krieger vermutlich nicht einmal an meinen Namen erinnerte, und selbst wenn, er würde mich doch nicht ernst nehmen, da diese Abenteuer alle viel zu unwahrscheinlich waren. Aber das wichtigere Argument war ein anderes: Selbst wenn von Krieger zu dem Schluss kam, dass ich ein Problem darstellte, dann würde er doch versuchen, Sterling aus dem Weg zu räumen - schon im Lager hatte er sich immer den Kopf jeder Widerstandsgruppe vorgeknöpft. Und da Sterling nicht existierte, würde von Krieger vor lauter Wut darüber, dass er ihn nicht zu fassen bekam, kaum auf mich achten. Augustus und ich wussten natürlich, dass es Sterling nicht gab, aber für Tausende Leser wie Wilson und Quilt galt das nicht. Unser Herausgeber erhielt reichlich Post, die an Sterling adressiert war. Die Schreiber baten ihn, nach verlorenen Wertgegenständen für sie zu suchen oder nach Angehörigen, die im Krieg verschwunden waren. Dann gab es da noch die seltsameren Briefe. Sterling war als Mann der Wissenschaft bekannt, der mit dem Aberglauben auf Kriegsfuß stand, und es gelang ihm immer, etwas scheinbar Übernatürliches als den Trick irgendeines Verbrechers zu entlarven. Das war der Teil der Geschichten, den Augustus beisteuerte. Nicht, weil er nicht gewusst hätte, wie es in der Welt wirklich zuging, sondern, weil er schlau genug war, um zu wissen, dass die meisten es nicht 174 wahrhaben wollen. Ich muss zugeben, es gab Augenblicke, in denen ich Sterlings Abenteuer las und mir wünschte, ich könnte meinen Revolver mit seiner Logik laden. Dort in Parker, in Zimmer 214, machte ich mir ein paar Notizen über meine Erfahrungen in Nevada, bei der
Groom-Mine, und über die seltsamen Geschehnisse dort, um sie Augustus zu schicken. Vermutlich würde er dem Ganzen einen reißerischen Titel wie >Das gespenstische Grauen von Groom< verpassen. Ich wollte gerade aufstehen, um die Lampe herunterzudrehen, als ich in der Ferne das Donnern von Hufen hörte. Ich legte den Federhalter beiseite, öffnete das Fenster und steckte den Kopf ins Freie. Ich blickte nach Osten, nicht sicher, was mich erwartete. Parker liegt entlang einer Hauptstraße aus festgetrampelter Erde oder Schlamm und verläuft von Ost nach West. Der Westen neigt sich abwärts zum Colorado River. Am Westende des Ortes steht eine Kirche -eine der Kongregationalisten, glaube ich, auch wenn wir im Roman eine Methodistenkirche daraus gemacht haben, weil die Kongregationalisten zu viele Protestbriefe an den Verlag schreiben. Danach folgen, wenn man die Straße nach Osten hinaufschaut, der General Store, der >Golden Rule<-Saloon und Maud's Rooming House & Restaurant. Auf der Südseite steht zwischen der Kirche und dem Grand Hotel noch das Gemeindehaus, in dem sich die Schule, die Bücherei und das Sheriffbüro befinden. Auf der Ostseite gibt es noch ein so genanntes Friendly House, das, soweit ich das feststellen konnte, als ich in den Ort ritt, eine Damenpension 175 ist. Es hat einen großen Salon für den Empfang von Herrenbesuch, und die Damen, die dort wohnen, müssen über einen großartigen Sinn für Humor verfügen, denn man hört eine Menge Gekicher. Dahinter befinden sich noch die Schmiede und der Mietstall. Hinter den Hauptgebäuden liegen kleinere, dicht gruppierte Wohnhäuser, und Ranchen verteilen sich auf die ganze Umgebung. Inzwischen war es Nacht geworden, und die wenigen schwachen Gaslaternen an der Straße stellten sicher, dass es in ganz Parker düster war. Der Donner der Hufe im Osten wurde lauter, und dann sah ich sie am Stall vorbeikommen. Der bloße Anblick jagte mir einen Schauder durch den Leib, und meine Linke fiel wie von selbst auf den Griff des Revolvers an meiner Hüfte. Es waren Büffel. Hunderte. Ihre Augen leuchteten in eitergrünem Feuer, und das Trommeln ihrer Hufe ließ das ganze Hotel erzittern. Ein riesiger weißer Büffel führte die Herde an - ein mächtiges magisches Symbol bei den Indianern. Hinter ihm folgte eine Flut aus Fell und Hufen, Hörnern und Muskeln, breit genug, um vor dem Saloon Stühle und Fässer vom Gehsteig zu fegen und die Damen im Friendly House in den hinteren Bereich ihrer Veranda zu scheuchen. Als die Büffel die Höhe des Hotels erreichten, stieg ich aus dem Fenster auf das Vordach und lief zum Rand. Ich zog die Waffe und jagte eine Kugel nach der anderen in die braune Fleischlawine. Natürlich war mir klar, wie sinnlos das war, aber ich wusste, ich musste es versuchen. Selbst wenn es sich um gewöhnliche Tiere 176 gehandelt hätte, hätte eine Revolverkugel keinen dieser Kolosse erledigen können, und gewöhnlich waren diese Büffel ganz und gar nicht. Ich weiß nicht, ob sie so verhext waren, dass ihnen keine Kugel etwas anhaben konnte - aber wenn man sah, was meine Schießübungen ausrichteten, hätten sie es ebenso gut sein können. Trotzdem - der Versuch, sie mit einem Revolver aufzuhalten, erschien mir auf jeden Fall einfacher als die andere Methode. Wie gesagt, diese Büffel gehörten nicht zu der üblichen Sorte. Selbst im schummrigen Licht konnte ich Knochen vorstehen sehen, und Stellen, an denen die Haut aufgeschlitzt war. Vermutlich waren das einige von den Tausenden von Büffeln, die Ostküstenbesucher als Belustigung abgeschossen hatten, zum größten Teil aus dem fahrenden Zug. Einigen hatte man die Zunge und andere Delikatessen herausgeschnitten, aber die meisten waren als reine Volksbelustigung abgeknallt worden. Jetzt hatte sie jemand wiederbelebt, und es sah ganz danach aus, dass er es getan hatte, um sie wie einen Rammbock mitten durch die Kirche zu treiben. Ich seufzte und ließ die behandschuhte Rechte in die Tasche meiner Weste sinken. Obwohl es sich um eine Kongregationalistenkirche handelte, fühlte ich eine gewisse Verpflichtung, sie zu retten. Nicht, dass ich irgendwelche Bindungen an diese spezielle Spielart des Christentums besitze, aber irgendwie erschien es mir einfach erstaunlich rüpelhaft, Zombiebüffel durch ein Gotteshaus zu treiben. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, 177 beschwor ein Bild der Ewigen Jagdgründe vor meinem geistigen Auge herauf. Was die Sehnsucht nach einem Aufenthalt betrifft, wirkte Parker verglichen mit diesen Gefilden wie Paris auf mich, und ich bin gar nicht mal so wild auf die Franzosen. Schattengestalten, manche groß und stachelig, andere klein und schlängelnd, bewegten sich durch die Jagdgründe. Eine davon griff ich mir, und wir rangen ein wenig, aber ich konnte sie überzeugen. Zurück in Parker warf ich einen Blick auf das Kartenspiel, das ich aus der Tasche gezogen hatte. Die sieben Karten, die ich vom Stapel abgezählt hatte, ergaben einen Straight. Ich verschmolz mit den Schatten des Hotels und tauchte an der Schule wieder auf. Eigentlich hatte ich den Schatten der Kirche angepeilt, aber dafür war der Zauber zu schwach gewesen. Statt vor der Stampede aufzutauchen, stand ich nur neben dem weißen Monstrum, das sie anführte. Obwohl ich schon ein wenig müde war, brauchte ich noch einen Zauber. In den Ewigen Jagdgründen griff ich mir den Schwanz des Manitous, den ich gerade erst benutzt hatte, und verknotete ihn gehörig. Seine Wut strömte durch mich hinab in das Füll House, das ich gezogen hatte. Aus meiner linken Handfläche schoss ein Strahl ätherischer Energie, der unter den Hufen des Leitbüffels einschlug und mit der Gewalt von zwanzig Stangen TNT explodierte. Das schleuderte ihn in die Luft und riss ihn in kleine Fetzen. Außerdem sprengte die
Detonation ein riesiges Loch in den Boden und warf die vorderen Büffel, die sie nicht umbrachte, beiseite. 178 Der Rest der Herde jagte natürlich weiter, stürmte aber links und rechts an dem Krater vorbei, mit weiten Sprüngen über die Körper ihrer wieder toten Brüder. Ohne den weißen Leitbüffel blieb die Herde zweigeteilt und schloss sich nicht mehr zusammen, zumindest nicht, bis sie an der Kirche vorbei war. Ich hoffte, dass sie so lange weiterrannten, bis sie an der nächsten Flussbiegung in den Colorado donnerten und Richtung Mexiko davongespült wurden. Aber darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Jetzt sackte ich erst einmal zurück an die Wand des Gemeindehauses und ergab mich der Erschöpfung durch die beiden Zauber. Ich schaffte es gerade noch, das Kartenspiel wieder einzustecken, bevor mir die Augen zufielen. Wilson zückte ein graues Taschentuch und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich muss sagen, Sir, ich war höchst erstaunt, wie schnell dieser Doktor Sterling ist. Ich meine, als er dort in der Methodistenkirche sitzt und betet und das Donnern der Hufe hört. Er kommt heraus und sieht diesen riesigen weißen Büffelautomaten geradewegs auf die Kirche zustürmen. Ich wäre vor Schreck in Ohnmacht gefallen.« Quilt nickte zustimmend. »Aber Doc Sterling, der ist einfach zurück in die Kirche getreten, hat die Öllampe genommen, die bei der Tür hing, und sie so gezielt nach dem Büffel geworfen, dass die Maschine explodiert ist, einfach in tausend Stücke zerplatzt.« Wilson hob beide Hände. »Und ich betrachte es überhaupt nicht als Schande, Mr. Kilbane, dass Sie vor 179 diesem mechanischen Schrecken Reißaus genommen haben. Ich hätte es genauso gehalten.« »Und immerhin waren Sie es, der dadurch gesehen hat, woher er kam.« Quilt nickte mir anerkennend zu. »Sie müssen wissen, Mr. Johns, nachdem Doctor Sterling diesen Büffel in die Luft gejagt hatte, machte ihn das nachdenklich, und er fand eine Menge über die Geheimnisse heraus, die es in Parker gab. Und dann kommt der Teil, der mir persönlich am besten gefallen hat.« »Ja.« Auf Wilsons Züge trat ein breites Lächeln. »Miss Jezebel Knox.« Es dauerte wirklich nicht lange, bis mich ein paar Bürger aufweckten, die Angst hatten, ich sei in der Stampede verletzt worden. Ich versicherte ihnen, dass mir nichts fehlte, sondern dass mir von der Staubwolke, die die Tiere aufgewirbelt hatten, nur die Luft weggeblieben war. Und ich hustete ein paar Mal kläglich, um es glaubhafter zu machen. Einige der Damen zeigten Mitgefühl, doch die meisten Männer sahen mich an, als hätte ich mich selbst als zart bezeichnet. Das war zwar unangenehm, aber wenigstens hielt es mir sie vorerst vom Leib, und verringerte die Gefahr, dass sie mich als Jünger des Großen Hoyle erkannten. Aus dem generellen Tenor der Gespräche über die Stampede schloss ich, dass die Leutchen in Parker nicht allzu viel für Personen übrig hatten, die sich mit arkanem Wissen beschäftigten. Wobei es nicht etwa so war, dass sie wütend mit dem Höllenfeuer für die offensichtliche Hexerei drohten, die gerade mitten 180 über ihre Hauptstraße gedonnert war. Im Gegenteil, sie redeten über die Stampede, als wäre es ein völlig normales Vorkommnis gewesen. In Gedanken hatten sie bereits eine Viehpanik daraus gemacht, und bald verlagerte sich die Debatte auf das Einzäunen der Felder -und warum dies das Ende des Westens bedeutete oder nicht. Die Einwohner von Parker wollten ganz offensichtlich nichts davon wissen, welche Kräfte hier am Werk waren, und damit verhielten sie sich ganz normal. Augenblicklich hatten sie die eine Tatsache aufgegriffen, die sich auch in meinem Hinterkopf festgesetzt hatte und beinahe so merkwürdig war wie die untoten Büffel selbst. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Büffel Prärietiere sind. Und Arizona ist eine Wüste. Natürlich war es denkbar, dass jemand sie von dem Ort, an dem sie umgekommen waren, hierher geführt hatte. Aber das hätte viel Zeit und Kraft erfordert. Um eine derartige Vorarbeit zu honorieren, brauchte es eine gewaltige Belohnung, und wenn ich mich in Parker umschaute, sah ich absolut nichts, was dies hätte rechtfertigen können. Ich klopfte mir den Staub von den Sachen und ging zurück zum Grand Hotel. Der Portier, dem ich aus verschiedenen Gründen insgeheim den Namen Scrub gegeben hatte, winkte mich auf eine Weise zu sich herüber, die größtmögliche Aufmerksamkeit garantierte, während sie das genaue Gegenteil vorgab. Ich schob mich hinüber, machte ein sehr interessiertes Gesicht und kippte den Hut in seine Richtung. »Sie ha'm die Stampede gesehen, oder?« 181 »War sie das?« »Ja, aber diesmal war es anders.« Er beugte sich herüber. Sein Atem stank wie ein alter Spucknapf. »Vorher waren es nur Geister, aber diesmal war es echt.« Ich nickte. »Das habe ich gesehen.« Scrub musterte mich verschwörerisch. »Was meint Doctor Sterling? Ist er schon an der Sache dran?« »Er ist dran, und er möchte, dass Sie uns helfen.« Ich senkte die Stimme. »Was glauben Sie, wer dahinter steckt?« Er dachte kurz nach, obwohl ich wusste, dass ihm augenblicklich eine Antwort auf der Zunge lag. »Die Lividianer. Die stecken dahinter.« »Lividianer. Die haben Sie schon mal erwähnt, als ich ankam. Wer ist das?«
»Vielleicht sollten Sie jemanden fragen, der Ihnen das auch beantworten kann«, stellte eine Frauenstimme hinter mir fest. Ich drehte mich um, und dort in der Hotelhalle stand eine der schönsten Frauen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Sie trug das lange schwarze Haar zu einem einfachen Zopf geflochten und nicht einen Tupfer Kriegsbemalung auf dem Gesicht. Das Kleid hätte niemand, der irgendetwas von Kleidern verstand, anders als einfach genannt. Keine Ringe, keine Halskette, keine Haube oder Handschuhe. Sie trug nichts von alledem, und trotzdem wären ihr in London, Paris, New York oder Boston alle Herzen zugeflogen. Augenblicklich zog ich den Hut. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Miss Knox.« 182 »So ist es, Mr. Kilbane, aber jetzt, wo diese lange Durststrecke vorbei ist, habe ich die Entbehrungen auch schon vergessen.« Ihre blauen Augen musterten mich auf eine Weise von oben bis unten, dass ich rot wurde. Dies löste ein Lächeln bei ihr aus. »Sie haben sich kaum verändert.« »Nein, wohl nicht.« Ich deutete mit der offenen Hand auf die Stühle in der Halle. »Wollen wir uns unterhalten?« Sie blickte an mir vorbei zu Scrub und rümpfte die Nase. »Was ich zu sagen habe, ist für Ihre Ohren bestimmt, nicht für die ganze Stadt. Vielleicht in Ihrem Zimmer?« »Nach Ihnen.« Scrub rannte nach draußen, als wir die Treppe hinaufgingen, doch war ich zu sehr auf Jez konzentriert, um mir dabei etwas zu denken. Auf dem Weg hinauf hob sie die Röcke weit genug, um zierliche Füße und ausgesprochen wohlgeformte Knöchel zu offenbaren. Ich wusste, dass ich diese Schuhe schon einmal gesehen hatte, und als ich mich daran erinnerte, wo, führte mich das in eine Zeit, die Jahre vor Colton lag. Im Krieg tut man so manches, auf das man nicht stolz ist. Nach der Schlacht am Dead River, in der beide Seiten restlos zerschlagen wurden, war ich vom Rest der Truppe abgeschnitten und hatte mich verirrt. Ich lief nach Süden statt in die andere Richtung, wie ich es hätte tun sollen. Irgendwann versteckte ich mich im unbefestigten Keller eines ausgebrannten Plantagensitzes, und Jezebel, ihre beiden Schwestern 183 Lilith und Salome sowie Leviticus Knox kamen auch herunter und leisteten mir Gesellschaft. Leviticus Knox war ein General bei den Rebs, aber die Schlacht, die meine Einheit zerschlagen hatte, hatte auch seine aufgerieben. Der Mann war schon immer von mächtiger Statur gewesen, mit wehender Mähne aus kräftigem Haar und einem dichten schwarzen Bart. Er ähnelte John Brown dermaßen, dass seine Männer ihn John Black nannten. Und er war berühmt für seine Wutausbrüche und die feurigen Ansprachen an seine Truppen. Wir nannten ihn Lividicus Brown, weil er so oft rot anlief - jedenfalls hatten wir das gehört. Am Dead River, erzählte mir Jez, hatte ihr Vater Dinge gesehen, die ihm Todesangst eingejagt hatten. Er wusste, dass er es mit etwas zu tun hatte, das sich nicht mit normalen Mitteln erklären ließ. Das hatte seinen Kampfgeist gebrochen. Er wusste Dinge, die ich erst in Colton herausfand. Den Verstand hatte er vielleicht noch nicht verloren, aber er hing an einem seidenen Faden. Knox murmelte unablässig Bibelzitate vor sich hin - vor allem aus der Offenbarung, und das ist nichts, was man sich anhören möchte, wenn man in einem dunklen Keller sitzt und sich vor feindlichen Soldaten versteckt. Mir war klar, dass mich die Rebs als Kriegsgefangenen nehmen würden, falls sie mich entdeckten, und Jez hatte Angst, sie würden ihren Vater als Deserteur erschießen. Ich persönlich hatte daran meine Zweifel, denn er war einer ihrer besseren Generäle. Seine Erfahrung als Pionier vor dem Krieg - und der Stab, den er um sich versammelt hatte - verliehen ihm eine gute 184 taktische Einsicht. Wenn man es mit den Georgia Volunteers zu tun bekam, konnte man sicher sein, dass das Schlachtfeld sie begünstigte. Jezebel sagte kein Wort, als wir den Flur zu meinem Hotelzimmer hinabgingen. Ich öffnete die Tür für sie und schloss sie hinter uns, aber als sie sich umdrehte und die Arme um meinen Hals legte, kam das völlig überraschend. Sie küsste mich, heftig und mit einer Leidenschaft, die die Jahre vergessen machte. Ich umarmte sie und hielt sie fest, erwiderte den Kuss und hoffte, dass es mir irgendwie gelingen würde, die Jahre auf Abstand zu halten, die vergangen waren, seit wir uns zuletzt in den Armen gelegen hatten. Endlich lösten sich unsere Lippen und sie legte den Kopf auf meine Schulter. »Gott sei Dank, du bist hier. Ich habe den Brief an deinen Herausgeber schon vor Monaten geschrieben. Er war verschlüsselt, aber ich wusste, du würdest es durchschauen und erkennen, dass er von mir stammt. Und du bist gekommen.« Ich wusste von keinem Brief, und ich war mir keineswegs sicher, dass Augustus ihren Code durchschaut hätte. Er wusste zwar von Jez, aber nicht, wer sie wirklich war. Wir hatten uns tagelang in dem Keller versteckt, bis jemand nach draußen musste, um Wasser zu holen. Ich meldete mich freiwillig, nachdem ich meine Uniform längst weggeworfen hatte, um zu verhindern, dass mich die Rebs sofort abknallten. In der Zwischenzeit hatte allerdings die Union das Gebiet eingenommen, und rings um unseren Keller hatte das ist Massachusetts Regiment sein Lager aufgeschlagen, meine alte Einheit. 185 Ich fand Augustus, meinen Lieutenant, und versicherte ihm, dass ich nicht desertiert war. Und ich stellte ihm die Knoxens vor. Ich nannte sie die Whites und behauptete, Leviticus sei ein Prediger, dem man übel mitgespielt hatte. Augustus arrangierte sicheres Geleit für sie, und das war das Letzte, was ich von Jezebel sah, bis wir uns
jetzt in Parker wiedertrafen. »Ich muss mehr wissen, als du geschrieben hast. In der langen Zeit muss sich einiges verändert haben.« Sie nickte ernst und ihre Haare kitzelten mich am Hals. »Das hat es. Es ist schlimmer geworden. Ich werde dir alles erklären. Morgen früh.« »Bis morgen früh ist es noch eine recht lange Zeit, Miss Knox.« »Ich weiß, Mr. Kilbane.« Sie löste sich aus meinen Armen, aber nur, um mich an den Händen zu fassen und weiter ins Zimmer zu ziehen. »Ich hatte nie eine Gelegenheit, mich bei Ihnen dafür zu bedanken, dass Sie meinen Vater, meine Schwestern und mich gerettet haben. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass Sie mich für undankbar halten.« Sie schenkte mir ein Lächeln, das mein Herz in Brand setzte, und die Flammen breiteten sich durch meinen ganzen Körper aus. Jezebel Knox ließ meine Hände kurz los, gerade lange genug, um die Lampe auszulöschen. Und dann verbrachten wir den Rest der Nacht in einem Zimmer, das ungefähr so dunkel war wie vor Jahren der Keller, aber sehr viel einladender. Wieder wischte sich Wilson den Schweiß ab. »Dass Doc Sterling der Frau begegnet ist, die ihm all die Jahre 186 zuvor das Herz gebrochen hatte, und dann so galant ist, über sie zu wachen, während sie in seinem Bett schläft ... Nun, Sir, das zeigt doch, was für ein ehrenhafter Mann Doc Sterling ist.« Quilt stieß an meinen Stiefel. »Wären Sie nicht vor Entsetzen weggerannt, hätten Sie vor der Tür Wache stehen und den beiden etwas Privatsphäre verschaffen können.« Johns schniefte. »Es klingt durchaus nicht so, als hätte Doctor Sterling die Lage der Frau ausgenutzt, hätte sich denn die Gelegenheit dazu ergeben. Kein Gentleman hätte das getan.« »Dann brauchen Sie mich nicht als Gentleman zu bezeichnen.« Wilson lachte so heftig, dass seine Wangen zitterten. Quilt starrte seinen Begleiter streng an. »Ich glaube kaum, dass Sie Jezebel und ihre Familie vor dem Bengalenaufstand in Lahore gerettet hätten - das geschah, bevor Sie Doctor Sterling begegnet sind, nicht wahr?« Ich nickte. »Das trifft zu. Eine furchtbare Zeit, habe ich gehört.« »Es mag entsetzlich gewesen sein, aber was Doctor Sterling da draußen bei Resurrection Farms erwartete ...« Quilt zitterte, als säße er nackt auf einem Block Eis. »Das werde ich so schnell nicht vergessen können.« Von der Straße aus wirkte Resurrection Farms fast wie ein Spiegelbild der Plantage, die Jezebels Familie in den Südstaaten hatte zurücklassen müssen. Ein Trampelpfad wand sich einen Hügel zum Haupthaus hinauf. Der Bau dieses Hauses musste ein Vermögen gekostet 187 haben, wenn man bedachte, dass jemand das Holz dafür hatte von Flagstaff oder Umgebung bis hierher transportieren müssen. Das zweistöckige Gebäude hatte Glasfenster, zwei Kamine an jedem Ende und ein Vordach, das auf riesigen Säulen ruhte. Es war das beeindruckendste Haus, das mir unter die Augen gekommen war, seit wir vor Jahren im Süden Feuer an die Plantagen gelegt hatten. Und mir fiel auch auf, dass hier jemand, genau wie bei den Büffeln, eine Menge Arbeit investiert hatte, um etwas Großes an eine Stelle zu setzen, wo es nichts verloren hatte. Jez lenkte ihr Pferd nahe genug an meines heran, dass unsere Knie sich berührten. »Vater nennt dieses Haus das Heilige Grab.« Ich runzelte die Stirn. »Der Ort, an dem der Herr bis zu seiner Auferstehung ruhte?« Sie nickte langsam. Ich spürte ihre Angst. »Nachdem wir eine Weile hier waren, musste ich zurück nach Georgia, um mich um gewisse Geschäftsangelegenheiten zu kümmern. Vater und meine Schwestern blieben jedoch hier zurück. In den drei Monaten, die ich fort war, hat sich eine Menge verändert. Das Haus wurde gebaut, ebenso die anderen Sachen.« Die anderen Sachen, die sie erwähnte, kamen in Sicht, als wir die Bergkuppe erreichten und der Blick am Haupthaus vorbei bis zum fernen Colorado River hinabreichte. Die Saguarokakteen und staubig roten Felsen überall hatten von Anfang an die Illusion einer Südstaatenplantage gestört. Das Hüttenlager hinter dem Haus versetzte ihr den Gnadenstoß. Kleine pri188 mitive Hütten, halb aus Lehmziegeln gebaut, der Rest unterschiedlich lange Holzbretter und ein löchriges Dach, erstreckten sich den Hang hinunter. Ich hatte schon bei den Silberminen in Nevada Hütten dieser Art gesehen, wenn sie da auch noch hastiger zusammengenagelt waren. Hinter ihnen hatte man ein paar Terrassen in den Hang gegraben und bebaut, allerdings wirkten die Pflanzen auf den Feldern verkümmert und in der heißen Sonne verdörrt. Das Erschreckendste von allem aber waren die Leute, die den Hang zur Rückseite des Hauses entlangschlurften. Sie trugen allesamt fadenscheinige und einfache Kleidung, ähnlich dem Kleid, das Jez angezogen hatte. Aber nicht einer von ihnen sah annähernd so gut darin aus. Vermutlich lag das daran, dass ihre Haut aschfahl war und der Farbe ihrer verdreckten Kleidung stark ähnelte. Sie wirkten lustlos, etwa so wie jemand, in dessen Schädel ein Kater und die Morgensonne kollidieren. Kinder stolperten hinter ihren Eltern her, und falls ich es richtig deutete, war Vielweiberei bei den Lividianern nichts Ungewöhnliches. Ich erinnerte mich an Scrubs Bemerkungen, besonders an deren Vehemenz. »In deiner Abwesenheit ist dieser
Kult entstanden?« Jez nickte, während die Leute durch eine Kellertür im großen Haus verschwanden. »Du erinnerst dich, wie müde mein Vater war? Dass er Zuflucht in der Bibel suchte?« »Hauptsächlich in der Offenbarung des Johannes, wenn ich mich recht entsinne.« »Während ich fort war, will er die Bibel entschlüs189 seit haben. Sie soll ihm bestätigt haben, dass Jesus Christus in Parker auf die Welt zurückkehren wird, und dass er bald kommt, sehr bald schon.« Sie zügelte vor dem Haupthaus das Pferd. »Er fing an, den Leuten hier zu predigen. Und seine Jünger kommen hier auf die Höfe. Sie geben ihr ganzes Hab und Gut der Kirche des Leviticus, leben nach seinen Regeln, befolgen seine Befehle und bereiten sich auf die Wiederkehr vor.« Ich saß ab, dann half ich Jez. »Und dein Vater glaubt all das wirklich?« Sie umarmte und drückte mich. »Ich weiß es nicht, Nevan. Seit meiner Rückkehr habe ich ihn nicht mehr unter vier Augen gesprochen. Meine Schwestern kümmern sich um ihn. Sie lassen mich nicht in seine Nähe. Ich höre ihn nur, wenn ... komm mit, du wirst es sehen.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich ins Haus. Während es von außen wirklich beeindruckend wirkte, machte es im Innern einen ziemlich jämmerlichen Eindruck. Die Wände waren nur halb verputzt, und Möbel standen herum, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie zueinander passten. Ich hatte die sichere Vermutung, dass hier das beste Mobiliar landete, das Parker zu bieten hatte. Und was ich in diesem Haus sah, sagte ebenso viel über die enorme Distanz Parkers von der Zivilisation wie über die Hingabe der Sektenjünger aus, die für den Traum des Leviticus Knox alles aufgaben. Ich folgte Jez eine Treppe in den Keller hinab. Sie führte uns mitten in einen großen, rechteckigen Raum. Es war kühler als oben, aber das lag nicht nur 190 daran, dass es feucht und dunkel war. Der Keller war ein einziger großer Raum, eine Art Versammlungssaal voller langer, krude zusammengezimmerter Tische. Graue Menschen saßen daran und hoben Messdienern hölzerne Schalen entgegen. Die Messdiener rollten große Kessel mit einer dampfenden Pampe durch die Reihen, die das Heimweh an die Hungerrationen in Colton in mir weckte. Die Portionen wurden in einem großen Klumpen serviert und die Leute begannen augenblicklich zu essen. Viele verzichteten auf Löffel und schaufelten sich den Brei gleich mit den Fingern in den Mund. Was herabfiel, lutschten sie aus dem Hemdstoff. Bis auf das Nordende des Raumes herrschten Schatten und Grau. Dort hatte jemand eine Art Bühne aufgebaut, in deren Mitte ein vergoldeter Thron stand. Der Rücken war mit roten Samtkissen gepolstert, und auf den hölzernen Partien wanden sich Seeschlangen, Drachen und andere biblische Ungeheuer. Die Schnitzereien liefen in einem Drachenkopf und einem Schlangenkopf aus, die, angemessen zermalmt, als Fußstütze dienten. Zu beiden Seiten schmiegten sich Jez' Schwestern, Lilith und Salome, verführerisch an den Thron. Sie trugen weiße Kleider, die aus Seide gewirkt schienen. Sie klammerten sich an ihre Körper wie Efeu an eine Hauswand und brachten die darunter liegende Architektur wirklich zur Geltung. Ihre Augen waren vom selben Blau wie die Jezebels, aber sie wirkten irgendwie kälter. Ihr Haar hatte einen Stich ins Rötliche entwickelt, an den ich mich nicht erinnerte. 191 Doch es war der Mann auf dem Thron, der meine volle Aufmerksamkeit auf sich zog, als er sich erhob. Er trug eine Generalsuniform der Südstaaten, aber aus einem derart weißen Stoff, dass es beinahe in den Augen schmerzte, ihn anzuschauen. Sie war mit angemessen goldenen Litzen verziert - und am Hut trug er eine goldene Feder. Er zupfte am Ansatz weißer Handschuhe, während seine Töchter die Ärmel und den Rücken der Jacke glatt strichen. Seine weiße Maske reichte vom Haaransatz bis zum Kinn, besaß aber einen Ausschnitt, der den Mund und den tiefschwarzen Bart freiließ. Die Augen der Maske waren schräge Schlitze, was zusammen mit dem in Gold gestickten Kreis aus drei Sechsen auf seiner Stirn einen diabolischen Eindruck hinterließ. Mir lief es kalt den Rücken hinab. Die Art, wie ihm seine Töchter die Arme streichelten, wirkte einen Deut vertrauter, als ich erwartet hätte, und das beunruhigte mich. Leviticus Knox legte die Arme auf den Rücken und seine Töchter sanken neben ihm auf die Knie. Sie drehten sich zu ihm um und senkten den Kopf, als wären sie unwürdig, sein Antlitz zu erblicken. Auch die Grauen rings um uns herum senkten den Kopf. Mir war aufmüpfig zu Mute und ich behielt den Kopf oben. Leviticus sprach, der tiefe Klang seiner Bassstimme wirkte hypnotisch: »Brüder und Schwestern, die Zeit ist nahe. Eure treue Hingabe an unser Werk hier hat euch vor dem Verhängnis gerettet. Ihr bereitet die Welt auf das kommende Armageddon vor. Ihr erwartet ein Zeichen und sollt wissen, dass es letzte Nacht in 192 Parker ein solches Zeichen gegeben hat. Eine Stampede aus Höllenbestien donnerte über die Hauptstraße und hätte die Kirche dort zertrümmert, doch Gott in Seiner unendlichen Güte und Weisheit brachte mich dorthin. Obwohl jene, die sich uns nicht angeschlossen haben, verirrt sind, hat Gott sie nicht verlassen. Er brachte mich dorthin, und ich hielt die Bestien auf, sandte sie zurück in den Fluss, der sie in die Hölle zurückriss, in die sie gehören.« Zustimmendes Murmeln schlug in Wellen durch den Saal und Köpfe hoben und senkten sich wie vom Wasser getragen. In meinem Herzen entzündete sich ein Funke der Hoffnung, als ich Leviticus sprechen hörte. Tief im
Innern wusste ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Irgendetwas war hier falsch, aber ich kam nicht darauf, was es sein könnte. Leviticus' Stimme versicherte mir, dass ich nicht zu denken brauchte, und Jez' leises Nicken bestätigte es noch. »Brüder und Schwestern, die Zeit unserer Erhebung und Belohnung nähert sich. Diejenigen unter uns, die gestorben sind, werden auferstehen, um sich dem Herrn anzuschließen. Sie sind die Glücklichen, sie sind die Gesegneten, denn durch ihren Tod sind sie bereits von allen Sünden gereinigt und bereit für das Paradies.« Leviticus hob die Hand und berührte die dreifache Sechs auf seiner Stirn. »Ihr fragt euch, warum ich das Zeichen des Tieres trage? Ich trage es, weil ich zugebe, ein Sünder zu sein. Ich weiß, in meinem Herzen beherberge ich das Böse, und erst im Tod werde ich vom Übel gereinigt und von meinen Sünden befreit. Für uns, die 193 Erwählten, birgt der Tod keine Furcht, denn er ist nur das Portal ins ewige Paradies.« Ein Amen oder zwei stiegen aus der Gemeinde auf. Auch meine Lippen formten das Wort und ich verfiel in Panik. Ich gehörte nicht zu den Erwählten. Ich war keiner von denen, die zusammen mit Leviticus durch dessen Werk gerettet werden würden. Ich trug sein Zeichen nicht, und wenn der große Seelentrieb kam, würde ich aus der Herde ausgeschlossen bleiben. Das wollte ich aber nicht, und ich wusste, ich musste einen Weg finden, ihm zu beweisen, dass ich es wert war, gerettet zu werden. Jez hatte gesagt, die Leute hier hatten alles der Kirche gespendet. Ich erinnerte mich daran. Das war der Schlüssel zu meiner Rettung. Ich wollte ihm meinen kostbarsten Besitz schenken, um zu beweisen, dass ich Teil seiner Herde war. Meine Linke glitt in die Tasche und packte das Kartenspiel. Ich zählte sieben Karten ab und wollte sie Leviticus zeigen, und zwar ausschließlich, um ihm zu beweisen, wie wertvoll meine Spende war. Einen Augenblick lang verschwand der Raum um mich herum und die Ewigen Jagdgründe traten an seinen Platz. Ich fand einen Manitou zwischen meinen Fingern. Es war nur ein Winzling, kaum wert, ihn einzufangen, aber der Kampf mit ihm reichte aus, um mich wieder zu Verstand zu bringen. Leviticus hatte einen Zauber benutzt, um diese Menschen unter seinem Einfluss zu halten. Das hatte ich sofort erkannt. Dass sie ihm glaubten, machte es umso leichter für ihn, sie hinters Licht zu führen. Sein Einfluss auf mich 194 war schwächer gewesen, und mein kleiner Jagdausflug hatte ihn problemlos gebrochen. Aber zu wissen, was er tat, war nicht gleichbedeutend damit, ihn aufzuhalten. Ich packte den Manitou fester und presste ihm seine Macht ab. Dann verschmolz ich wieder mit der realen Welt und deckte die Karten in meiner Hand auf. Ich hatte nur ein mickriges Paar Vieren, aber das genügte mir. Das blendend bunte Schauspiel der Karten hatte nur auf zwei Personen eine Wirkung, weil nur zwei in meine Richtung schauten. Jez keuchte und hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Leviticus blinzelte zweimal, dann tat er einen Schritt auf mich zu. Die Köpfe seiner Töchter zuckten herum und ihre Augen sprühten Gift und Galle. »Da sind sie, Ungläubige! Es sind Dämonenhelfer, meine Gläubigen.« Er hob die Hände zum Himmel und formte sie zu Krallen. »Erhebt euch und vernichtet sie!« Seiner Stimme gehorchend sprang die graue Masse wie ein Mann auf die Beine und stürmte auf uns los. Wilson holte eine silberne Reiseflasche hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Er wischte sich mit dem Handrücken einen bernsteingelben Tropfen vom Mund, dann schüttelte er den Kopf. »Dieser Doctor Sterling: zu erkennen, dass Leviticus Äther in den Keller leitete, um den Verstand der Grauen zu umnebeln. Das war genial, einfach genial.« Quilt runzelte die Stirn, als Wilson die Flasche wieder einsteckte. »Darauf hätte jeder kommen können, 195 selbst Mr. Kilbane hier. Es wurde in der Geschichte erwähnt, dass er darüber nachdachte, aber ...« Wilson nickte mir zu. »Das hat er auch, aber ihm fehlte der wissenschaftliche Hintergrund, um zu erkennen, um was es sich handelte. Und Doctor Sterling war nötig, um die Streichhölzer zu entzünden und das Gas um ihn und Miss Knox herum zu verbrennen. Dann hat er die beiden in Sicherheit gebracht, Mr. Kilbane und Miss Knox.« Johns sah von seiner Ecke der Sitzbank aus herüber. »Es macht den Eindruck, dass Sie für Ihren Meister eher eine Behinderung darstellen als eine Hilfe. Oder sind Sie zu bescheiden, um Ihren Beitrag angemessen herauszustellen?« Mit Unbehagen bewegte ich die Schultern. »Ich tue, was ich kann. Meine Bemühungen verblassen im Vergleich zu Dr. Sterling.« Wilson lächelte mich an. »Sie machen sich gut.« Johns zog eine Augenbraue hoch. »Nur wenigen gefällt es, im Schatten eines größeren Mannes zu stehen. Es muss unerträglich für Sie sein.« Quilt nahm mir die Antwort ab. »Das ist etwas ganz anderes, wenn man für einen Mann wie Doctor Sterling arbeitet. Er hat Mr. Kilbane schon so oft das Leben gerettet, dass man mit dem Zählen nicht nachkommt, habe ich nicht Recht? Was für ein Mann wäre unser Freund hier, wenn er ihm dafür nicht dankbar wäre?« Johns lächelte. »Ein ganz normaler?« »Ich bin einfach altmodisch.« Ich schenkte Johns ein freundliches Lächeln. »Ich gebe Ehre dem, dem sie 196 gebührt, nehme mit, was ich kann, und führe meine Anweisungen aus. Es ist ein einfaches Leben, aber es gehört
mir.« Wilson lachte. »Das nennen Sie einfach? Dann haben Sie wohl vergessen, was in Parker geschehen ist, dort auf Resurrection Farms!« Die Grauen drangen auf uns ein, Männer und Frauen drängten sich in die vorderste Reihe, Kinder knurrten uns zwischen den Beinen und hinter den Röcken an. Ich schob Jez die Treppe hinter uns hinauf, dann folgte ich. Mit einer Hand steckte ich die Karten ein, mit der anderen zog ich den Revolver. Ich richtete die Waffe auf die Grauen und spannte den Hahn, dann überlegte ich mir das mit dem Warnschuss. Weder der Anblick der Waffe noch das Geräusch schreckte sie ab, und mir war schon klar: Feuer und Blei, das nicht auf sie gezielt war, würde sie auch nicht aufhalten. Ein Kaliber-.45-Peacemaker spuckte ein Stück Metall, das groß genug war, jedem das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Was diese Grauen anging, von denen grinste niemand, aber die Kugeln wischten ihnen das komplette Gesicht weg. So gründlich, dass andere es sich aus dem Gesicht reiben mussten. Und ich hätte schon erwartet, dass sie das ein wenig gebremst hätte. Sie haben die Leichen weggezogen, aber dann verfolgten sie uns weiter. Als ich um die Biegung der Treppe kam, sah ich Jez' Rock den nächsten Absatz hoch verschwinden. Nachdem sie außer Sicht war, wechselte ich den Revolver in die Rechte und griff wieder nach den Karten. Ich gab 197 mir ein Paar in den Zauber, den ich gegen den Leitbüffel benutzt hatte. Er spritzte einen Grauen über die ganze Treppe. Aber noch besser war, dass er auch die untere Hälfte der Stufen, auf denen ich stand, mitsamt Treppenabsatz wegsprengte. Ein halbes Dutzend Graue stolperte ins Leere und stürzte schreiend ab. Ich rannte die Treppe hoch, klappte den Zylinder auf und ließ die leeren Patronenhülsen hinter mir die Stufen hinabklimpern. Als ich im Erdgeschoss ankam, war mir klar, dass ich schnell aus dem Haus musste. Die Grauen waren durch eine Außentür in den Keller gelangt, also konnte sie die zerstörte Treppe nur eine Weile aufhalten. Ich schaute mich nach Jez um, sah sie aber nirgends. Dann hörte ich einen Schrei von oben. Ich rannte mit klirrenden Sporen die Treppe hinauf, nahm mit jedem Schritt zwei Stufen. Oben angekommen fand ich eine ganze Reihe geschlossener Türen vor. Ich stieß eine nach der anderen auf, aber erst im Hauptschlafzimmer fand ich Jez. Sie stand mitten in diesem riesigen Zimmer. In die Innenwand war ein großer Kamin eingelassen, und zu beiden Seiten des großen Himmelbetts standen kleine Schminktische mit großen Spiegeln und bis zum Bersten mit Kleidern gefüllte Schränke. Sie hatte die Arme um ihren Leib geschlungen und zitterte. »Das darf nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein.« Ich schob eine Patrone nach der anderen in die Kammern des Revolvers, dann klappte ich ihn wieder zu. »Kein Zweifel, hier stimmt was nicht.« 198 Jez drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war bleicher als das einer Schwindsüchtigen. »Diese Schminktische, die Kleiderschränke, sie gehören meinen Schwestern.« Ich nickte und folgte ihrem Blick zum dritten Kleiderschrank, gefüllt mit den Uniformen ihres Vaters. Die Anwesenheit der Kleider, aber nur eines Bettes legte unappetitliche Gedanken nahe, die zu der Art und Weise passten, wie sich die liebevollen Töchter im Keller benommen hatten. Mir stieg ein saurer Geschmack in den Mund, doch ich wusste: uns blieb keine Zeit, alles in Erfahrung zu bringen, was sich hier abspielte. Ich steckte die Waffe ein und packte Jez bei den Schultern. »Das war es nicht, was ich gemeint habe, als ich sagte, hier stimmt etwas nicht.« Ich deutete mit dem Kopf zum Kamin. »Dies dort ist das Problem.« Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Es gibt keinen Schornstein dafür. Das habe ich auf dem Weg gesehen. Er versteckt irgendetwas.« Ich ging zum Kamin und hockte mich vor die Öffnung. Dann griff ich hinein und fand einen Schalter. Ich warf ihn um. Die Rückwand des Kamins klappte weg und gab eine nach unten führende Leiter frei. »Schätze, ich habe es gefunden.« »Ich verstehe nicht. Was geht hier vor, Nevan?« »Ehrlich gesagt, das weiß ich auch noch nicht, Jezebel, aber ich habe vor, es herauszufinden. Und dazu steige ich jetzt da hinunter.« »Ich komme mit.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte, dass du von hier verschwindest. Das ist wichtig.« Ich erklärte ihr, dass sie als Geisel zu benutzen der einzige Weg 199 war, mich aufzuhalten. Und ich erklärte ihr noch ein paar andere Dinge. Sie umarmte mich und gab mir einen Kuss, beides sehr viel kürzer, als mir lieb gewesen wäre. Ich zwinkerte ihr zu, dann stieg ich die Leiter hinab. Rau lag das Holz unter meiner linken Hand, und drei Viertel des Wegs hinab zog eine nicht entzündete Fackel in einem Halter eine Rußspur über meinen Rücken. Davon aber abgesehen erreichte ich den Boden der Grube ohne Zwischenfall. Ich musste einen kurzen Tunnel entlanggehen, bevor ich eine Höhle erreichte, deren Boden entlang einer steilen, nach Süden führenden Klippe abfiel. Im Westen, jenseits der Klippe, sah ich einen zweiten Tunnel, der meiner Schätzung nach zum Fluss führte. Ursprünglich war es vielleicht einmal eine natürliche Höhle gewesen, aber hier hatte jemand eine Menge Arbeit geleistet. Vermutlich die Lividianer, vor allem, da ich am Fuß der Klippe
einige Leichen liegen sah. Sie waren hinabgestürzt und wohl schon unrettbar zerschlagen gewesen, noch bevor sie unten aufschlugen. Das brachte sie einen Schritt näher an die Hölle, und was mich betraf, machte das einen prächtigen Eindruck. Über der Schlucht erhob sich ein robustes Holzgerüst, das sich wie ein Spinnennetz an ein Sims entlang der Nordwand klammerte. Es erinnerte an das Deck eines Schiffes, das sich im Sturm wiegte, nur war es abwärts in die Schlucht geneigt. Darauf stand eine Kanone, wie ich sie im Krieg zu Hunderten gesehen hatte. Obwohl sie keinen sonderlich bemerkenswerten Eindruck machte, bekam ich das Gefühl, dass etwas 200 damit nicht stimmte. Also teilte ich mir einen Zauber aus, der mir alles über irgendeine Hexerei verriet, die auf der Kanone lag. Ich erhielt einen ganzen Wust von Informationen über das Ding. Jemand hatte genug Magie darauf verwendet, um es in einen Talisman zu verwandeln, und nach allem, was ich von den Hoylschen Künsten wusste, war das keine leichte Aufgabe. Erst muss man einen Gegenstand finden, der bereits eine gewisse Bedeutung besitzt, um ihn dann zu bearbeiten. Danach muss in einem langen Ritual die gewünschte Magie in diesen Gegenstand eingearbeitet werden. Das Ganze funktioniert am besten, wenn der Gegenstand und die Magie, die er aufnehmen soll, miteinander verwandt sind - auf derselben Welle liegen. Da eine Kanone dazu da ist zu zerstören, war das ganz und gar kein gutes Omen. Auf dem Gerüst über mir erschien Leviticus, eine brennende Fackel in der Hand. »Sie haben sie also gefunden. Schade, dass Sie nicht auf den Geheimausgang aus dem Leiterschacht getroffen sind. Er befand sich an der Fackel. Sonst stünden Sie jetzt hier und hätten eine Chance, mich aufzuhalten. Aber so haben Sie die nicht.« Er tätschelte die Kanone mit der freien, behandschuhten Hand. »Falls Sie sich fragen, welche Bedeutung eine Kanone haben könnte - diese hier hat bei Fort Sumter den ersten Schuss abgegeben. Das war der Beginn des Südstaaten-Befreiungskrieges, und ich werde sie benutzen, um eine neue Nation zu gründen.« Er senkte die Fackel an die Zündschnur. Die Lunte spuckte und sprühte Funken, dann fing sie Feuer. »Adios. Ihr Versuch, mich aufzuhalten, kam zu spät.« 201 Er steckte die Fackel in eine Wandhalterung, so dass keine Schatten mehr um die Kanone blieben, dann rannte er zurück zum Leiterschacht. Ich stand da und kämpfte mit mir. Fast wäre ich zurück zum Schacht gelaufen und hätte sechs Schüsse hinauf in die Dunkelheit abgefeuert, aber Leviticus zu töten hätte seine Kanone nicht aufgehalten. Hinaufklettern konnte ich nicht schnell genug, und selbst ein Schattengang dort hinauf hätte unter Umständen nichts geholfen, weil ich zu weit entfernt von der Kanone aufgetaucht wäre, um die Lunte noch löschen zu können. Ich überlegte mir sogar, die Lunte auszuschießen. Ich dachte schon, dass ich sie treffen könnte, war mir sogar ziemlich sicher, es fertig zu bringen, aber die Kugel selbst konnte den Rest der Lunte unter dem Feuer wieder in Brand setzen. Und was, wenn ich daneben schieße? Ich zögerte eine Sekunde, dann wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich zog die Karten und rannte auf die Klippe zu. Schnell hob ich mit einer Hand ab, dann zählte ich mit dem Daumen sieben Karten. In den Jagdgründen suchte ich mir einen Manitou, der ziemlich platt war und sogar weich, abgesehen von den Krallen und den Zähnen an den Rändern. Er war darauf aus, mich einzuwickeln, und ich ließ ihn. Dann packte ich seine Augenstiele und band sie zu einem gehörig schmerzhaften Knoten, der ihm klar machte, dass ich mir seine Macht auslieh. In der Höhle sprang ich, als die Kanone feuerte, und warf mich zwischen die Kugel und die Schlucht. 202 Ich weiß selbst, dass das verdammt idiotisch klingt, und eigentlich hätte ich zur Belohnung ein Loch durch den Leib geschlagen bekommen sollen, so groß wie die Vorstellung, die ein Politiker von seiner Bedeutung hat. Um ehrlich zu sein, ich war keineswegs sicher, dass mein Vorhaben gelingen würde. Andererseits aber sah ich auch nicht, dass ich in dieser Angelegenheit überhaupt die Wahl hatte. Der Zauber, den ich um mich legte, war derselbe, von dem ich annahm, dass er auch auf den Büffeln gelegen hatte - der also bewirkte, dass kein auf sie abgegebener Schuss traf. Nun hatte die Kanone ja genau genommen gar keinen Schuss auf mich abgegeben, sondern ich hatte mich in den Weg der Kugel geworfen. Und wenn ein Anwaltszauber auf der Kanone gelegen hätte, wäre ich vermutlich als erstes Lebewesen am Boden der Parkerbucht begraben worden. Aber so kam es nicht. Soweit ich das nachvollziehen kann, lag auf der Kanonenkugel ein mächtiger Zauber, weil sie aus der FortSumter-Kanone abgefeuert wurde. Manche Leute nennen ihn Erdberster, und er kann ein mehr oder weniger starkes Beben auslösen. Wenn man bedenkt, dass Kalifornien ohnehin schon gehörig durchgeschüttelt worden war, brauchte ich nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, was uns erwartete, falls die Kugel ins Ziel ging. Aber so verfehlte sie mich, schlug in die Klippenkante und prallte schräg aufwärts ab. Also, einerseits war ich froh, dass ich den Plan der Lividianer vereitelt hatte, andererseits aber steckte ich in einer gewissen Klemme. Immerhin flog da ein verhexter Kanonenball als Querschläger durch die Höhle 203 und löste kleine Erdbeben aus, wo immer er auftraf. Davon ganz abgesehen zertrümmerte er auch alle paar Sekunden mehr von dem Gerüst, und die Splitter waren teilweise so lang wie mein Arm. Es schien nicht gerade empfehlenswert, von so etwas getroffen zu werden. Und als wäre das noch nicht genug, hatte mich diese ganze
Hexerei völlig ausgelaugt. Ich erinnere mich wohl noch, wie ich zur Deckung in den Tunnel gehechtet bin und mir der Gedanke kam, dass es doch recht zweifelhaft war, ob der mich vor einem Erdbeben beschützen konnte. Ich bin sicher, der Gedanke hätte mir endlos zugesetzt, aber wie Lady Fortuna es so wollte, mir knallte ein Stein an den Hirnkasten und ich verschlief - was sicherlich eine peinigende Zeit war. »Sie sehen«, erklärte Quilt recht getragen, »es ist schon ein Mann von Doctor Sterlings edlem Geist und scharfem Verstand nötig, um eine Lösung für ein so furchtbares Problem zu finden. Nur er war in der Lage auszurechnen, wie er mit einer einzelnen Stange TNT genau die eine Gerüststütze wegsprengen konnte, die dafür sorgte, dass sich die Kanone drehte und ihr Projektil ins Haus feuerte. Und wie er Sie, Mr. Kilbane, dann an die eine Stelle gezogen hat, an der das Gerüst Sie vor den herabfallenden Steinen beschützte, das ist beeindruckend. Ein so flinker Geist und eine solch beeindruckende Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien.« Wilson rieb sich mit dem Taschentuch die Nase. »Aber der Preis, den Doctor Sterling dafür bezahlen musste! Es muss für ihn entsetzlich gewesen sein.« 204 Johns runzelte die Stirn. »Was ist denn geschehen?« Quilt antwortete ihm mit leiser, respektvoller Stimme. »Die Kanonenkugel schlug ins Haus und explodierte. Sie zertrümmerte die Hauptstützbalken und das gesamte Gebäude stürzte ein. Die Öllampen entfachten ein Feuer. Leviticus Knox, seine Töchter und - eine Tragödie - auch Jezebel waren im Innern gefangen. Eine Notiz, die sie an Doctor Sterlings Sattel zurückgelassen hatte, teilte ihm mit, dass sie zurückreiten musste, um zu versuchen, ihre Schwestern zu retten. Sie hatten sich alle im Haus befunden, als es zerstört wurde. Sie sind alle tot.« Wilson nickte. »Knox hatte es nicht anders verdient - er hat versucht, ein Loch in die Hölle zu schießen und die Dämonen zu befreien, um die Wiederkehr des Herrn zu erzwingen.« »So kann man es sicher sehen.« Ich nickte ernst. »Die Knoxens sind alle gestorben, als das Haus einstürzte. Auch Jezebel. Der Doctor, er ... suchte, solange er konnte, aber das Feuer ...« Ich schluckte mühsam. »Ich vermute, ein gewisser Trost war es ihm, dass sie bei dem Versuch starb, ihre Familie zu retten. Und so ist diese Parker-Panik nun ein für alle Mal vorüber.« Wilson schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Die Geschichte war ein Knüller. Ist es immer noch. Werden Sie noch eine schreiben?« Ich zuckte die Achseln. »Wenn der Doctor sie diktiert.« Ich stand auf. »Falls die Gentlemen mich entschuldigen, ich glaube, ich kann jetzt etwas frische Luft gebrauchen.« Ich zog mich durch den Wagen zurück und trat 205 durch die hintere Tür hinaus auf die kleine Plattform am Ende des Waggons. Ich schloss die Türe hinter mir und setzte mich auf die Treppe. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken gegen das verwitterte Holz des Eisenbahnwagens und ließ die Vibrationen der Räder meine Muskeln lockern. Kurz schloss ich die Augen und machte mir auch nicht die Mühe, sie zu öffnen, als ich das Öffnen der Tür hörte. »Mr. Kilbane, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich hätte da noch eine Frage.« »Nur zu, Mr. Johns.« Seine Stimme wurde lauter, als er sich neben meine linke Schulter hockte. »Als Mann der Wissenschaft kann Doctor Sterling doch nicht geglaubt haben, dass Knox es wirklich darauf angelegt hatte, die Hölle aufzusprengen, oder? Ich meine, eine derartige Erklärung steht im Widerspruch zu der technischen Brillanz, mit der er das Rätsel der Büffelautomaten und dieser Höllenkanone gelöst hat. Das glaubt er nicht ernsthaft, oder doch?« Ich zuckte die Achseln, dann öffnete ich langsam die Augen. »Ich weiß nicht immer, was in seinem Kopf vorgeht, aber da könnten Sie schon Recht haben, Mr. Johns. Sehen Sie, nachdem wir uns aus der Höhle geschleppt hatten, fanden wir Jezebel und ihren Vater lebend, außerhalb des brennenden Hauses.« »Sie haben überlebt?« »Das haben sie, Salome und Lilith allerdings nicht. Sie kamen im Feuer um.« Ich sah ihn an und langsam trat ein Lächeln auf meine Züge. »Es stellte sich heraus, dass während Jezebels Reise nach Georgia einer der 206 alten Armeeadjutanten ihres Vaters nach Parker gekommen war, ein gewisser Dalton Jeffries. Er war ein hervorragender Pionier gewesen, deshalb hatte ihn Knox in seinen Stab geholt. Aber Dalton wandelte auf düsteren, gefährlichen Pfaden. Der Doctor nimmt an, dass Jeffries den Platz von Knox eingenommen hat, nachdem der alte Mann zusammenbrach. Er ließ sich mit dessen Töchtern ein und benutzte seine Zauberkünste, um die Lividianer zu versklaven. Er nahm ihm alles Land ab, was den größten Teil Parkers ausmachte, und wollte Kalifornien im Meer versenken, das dann bis nach Parker gereicht hätte. Der Ort wäre das neue San Francisco geworden - und alles hätte ihm gehört.« Johns lächelte ebenfalls und stand langsam wieder auf. »Ein brillanter Plan.« Ich nickte. »Dann stimmt wohl, was Sie gesagt haben. Es war unerträglich für Sie, der Untergebene eines anderen zu sein und mitzuerleben, wie er selbst für Ihren Wahnsinn die Verantwortung übernahm. Habe ich Recht, Mr. Jeffries?« Johns zuckte zusammen, dann steckte er die Hände in die Taschen seines langen Mantels. »Es überrascht Sie
nicht, mich hier zu sehen?« »Quartzite liegt ebenfalls an der Spalte, die auch durch Parker verläuft.« Ich lehnte mich zurück, so dass mein Stetson hochgedrückt wurde. So konnte ich seine Augen sehen. »Und dann war da letzte Woche in Boston der Diebstahl der ersten amerikanischen Kanone, die im Unabhängigkeitskrieg abgefeuert wurde. Wir dachten uns, dass Sie es wohl noch mal versuchen würden.« 207 »Dann sollten wir das lieber hier und jetzt beenden.« »Ist wohl besser so, denn >Die Quartzite-Querele< wäre ein lausiger Titel.« Ich gestikulierte mit der behandschuhten Rechten und sah Jeffries die Augen aufreißen. Als Hoylist erkannte er einen Talisman, wenn er einen sah. Seine rechte Hand bewegte sich in der Manteltasche und zählte Karten ab. Ich weiß nicht, ob er versuchte, herauszufinden, welcher Zauber auf dem Handschuh lag, oder ob er sich verteidigen wollte. Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Er war auf den besten Trick hereingefallen, der einem Zauberer zur Verfügung steht: auf eine Täuschung. In diesem Fall hatte er sich völlig auf die rechte Hand eines linkshändigen Revolverhelden konzentriert. Ich verpasste ihm nur drei Kugeln, was vermutlich schon eine mehr war, als nötig gewesen wäre. Aber der erste Schuss ins rechte Knie verwirrte ihn möglicherweise noch mehr als der Handschuh. Der zweite durchbohrte sein Herz und nahm auch noch ein Stück Rückgrat mit. Der letzte ventilierte seine Schädeldecke, dann packte ich ihn am Kragen und warf ihn in die Nacht hinaus. Ich steckte den Revolver wieder ein und kehrte zu den beiden Kartenhaien zurück. Wilson sah auf. »Habe ich Schüsse gehört?« Ich nickte. »Ich dachte, ich hätte Kojoten gesehen.« Und dann schob ich mich auf den Platz ihnen gegenüber. »Spielen wir?« Quilt runzelte die Stirn. »Sollten wir nicht auf Mr. Johns warten?« 208 Ich warf einen kleinen Zauber, der ihnen die Erinnerung an Mr. Johns nahm. Ich hielt nicht viel von dem Manitou, den ich mir dafür griff, aber er erwies sich als der Aufgabe gewachsen. Mehr als gewachsen, den leeren Mienen nach zu urteilen, mit denen sie mich anglotzten. »'n Abend, Gentlemen«, sagte ich, und zupfte an der Krempe meines Stetson. »Nevan Kilbane ist der Name.« Quilts Augen leuchteten auf. »Sie heißen genau wie der Knabe, der diese Groschenromane schreibt. Die DoctorSterling-Bücher.« »Das liegt vermutlich daran, dass ich genau dieser Knabe bin.« Ich erwiderte das Lächeln. »Vielleicht haben Sie den letzten gelesen. Er heißt Die Parker-Panik. Was in dem Buch steht, ist allerdings nur die halbe Geschichte.« Windtiger ist die älteste Geschichte dieser Sammlung. Als ich sie 1983 niederschrieb, ging ich noch davon aus, dass meine Laufbahn auf Marek-und-Rais-Abenteuern aufbauen würde. 1992 überarbeitete ich sie zur Veröffentlichung in Mage's Blood and Old Bones, einer Anthologie, die ich gemeinsam mit Elizabeth Danforth für Flying Buffalo zusammenstellte. Damals veröffentlichten alle Spielefirmen Fiktion, und auch wir wollten unser Stück vom Kuchen. Die Handlung der Geschichte ist dieselbe wie 1983, nur viel besser geschrieben. Windtiger »Geht es dir gut? Bist du verletzt?« Die Antwort ihres Seelengefährten fiel locker genug aus, um die Angst aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Ich werde es überleben. Jetzt sind wir sicher. Der Sturm kann uns nichts mehr anhaben.« Sie stockte. »Schon, aber wir sind gefangen. Wir können niemals mehr nach Hause.« »Was macht das schon, wenn wir in Sicherheit sind?«, kam die ruhige Antwort. »Schlafe sanft, dies wird unser neues Zuhause sein. Entspann dich. Ich werde dich beschützen. Ich verspreche dir, wir werden geborgen und beisammen sein ... für immer ...« »Mal sehen ... geräucherte Schnepfe, Devorkians bester Weißwein, Brot, khalarianischer Brandy und eine 210 Ausgabe von Hessochs >Verse für Liebende<.« Der narbengesichtige Dieb begutachtete den Inhalt des großen Weidenkorbs, der in der Mitte des Tisches stand. »Das sollte genügen, es sei denn ...« Während er nachdachte, strich er sich unbewusst mit der Linken über den tief schwarzen Kinnbart. »Marek, was wäre der bessere Käse zu diesem Wein: ein scharfer Klessa oder ein milder Shlor?« Marek hatte die Füße auf den Tisch gelegt und hörte kaum die Frage. Ohne seinen breitkrempigen Hut, der über die Augen gezogen war, zurückzuschieben, reckte er sich und gähnte. »Klingt gut, Rais. Was immer du für das Beste hältst.« »Marek, das ist wichtig!« Bevor sein Partner wieder einschlafen konnte, knallte Rais die offene Hand auf den Tisch. Mit schneidend scharfer Stimme versuchte er sich an einer Erklärung. »Wie sollen wir bei unseren Damen den richtigen Eindruck hinterlassen, wenn wir in der Wahl des Käses schludern? Alles muss perfekt sein.« Mit einer einzigen flüssigen Bewegung schwang der große, hagere Dieb die Beine vom Tisch, zog den Hut und beugte sich vor. »Pass auf, Rais: Du bist es, der die Damen beeindrucken will. Du hast die Liebreizende Mariette angesprochen, nicht ich. Ich begleite euch auf diesem kleinen Ausflug nur, weil sie sich geweigert hat, deine Einladung anzunehmen, wenn du keinen Begleiter für ihre Nichte vom Lande findest, die Liebreizende Natica.«
Mit verschmitzt funkelnden Augen setzte Rais einen verletzten Ausdruck auf und starrte auf Marek hinab. »Ich versuche nur, dir etwas Kultur zu vermit211 teln, und du tust geradezu, als hätte ich von dir verlangt, deinen Schwertarm abzuhacken.« In seiner schwarzen Samtjacke über einem weißen Hemd und einer schwarzen, in kniehohe Reitstiefel gesteckten Samthose entsprach er ganz und gar der Vorstellung eines Bildungsbürgers in Gull. »Du kannst doch nicht ernsthaft einen Einwand dagegen haben, die Liebreizende Natica zu begleiten.« »Da ich ihr noch nicht begegnet bin, weiß ich es nicht.« Wieder gähnte Marek und drohte, die Pfauenfeder aus seinem Hutband zu zupfen. »Aber das ist ohnehin nicht der Punkt. Du wolltest, dass ich uns einen Wagen und Decken besorge. Das habe ich getan. Sie warten im Stall am Nordtor. Damit habe ich meinen Teil geleistet. Die Küche ist deine Abteilung. Jetzt gib mir einen Apfel.« Mit einem leisen Fluch rettete der kleinere Dieb alle vier Äpfel vor dem Zugriff seines Partners und legte sie in den Weidenkorb. Marek stand zügig auf, klappte den Korb zu und nahm ihn unter den Arm. Ohne aus dem Tritt zu geraten, lief er zur Tür der Taverne zum Schwarzen Drachen und hielt erst an, als er bemerkte, dass Rais nicht folgte. Er drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Nimm meinen Degen und den Mantel. Beeilung, wir haben schon genug Zeit vertrödelt.« Rais schloss mit einer silbernen Widderkopfbrosche den eigenen schwarzen Mantel um seinen Hals, bevor er sich Mareks grünen Umhang über den Arm legte. Er überprüfte, ob sein Rapier korrekt an der linken Hüfte hing und schob den Dolch im rechten Stiefelschaft in eine bequemere Position. Dann erst nahm er 212 das Rapier seines braunhaarigen Partners und legte es auf den Mantel, zusammen mit beiden in Tuch gewickelten Käselaiben. »Wenn sich keine klare Wahl anbietet, ist es die richtige Entscheidung, beide zu nehmen.« Marek hielt die Tür auf und lachte leise. »Warum ist dir diese Erkenntnis nicht schon früher gekommen?« »Weil du dich da noch nicht freiwillig gemeldet hattest, den Korb zum Nordtor zu tragen, mein Freund«, grinste Rais. Die Stallungen waren nicht sonderlich weit entfernt, allerdings gab es keinen direkten Weg vom Schwarzen Drachen dorthin. In einer kreuz und quer von Kanälen durchzogenen Stadt bewegte man sich entweder mit einem schmalen Zubringerboot, zu Fuß durch Gassen und über Fußsteige oder auf den größeren Boulevards per Kutsche. Die Bewegung über Land macht es notwendig, Brücken zu überqueren, wobei ein schwerer, sperriger Korb ausgesprochen hinderlich ist. »Bist du sicher, dass du den Korb nicht eine Weile tragen willst, Rais?« »Ganz sicher, mein Freund.« Marek wechselte ihn von der linken Hand in die rechte und zog Rais weiter, bevor er bei einem Straßenkind ein paar halb vertrocknete Blumen kaufte. »Nein, du brauchst jetzt keine Blumen. Am Ziel unserer Fahrt wird es sie reichlich geben, da könnt ihr, du und die Liebreizende Mariette sie nach Herzenslust pflücken.« Der dunkeläugige Dieb verzog ärgerlich das Gesicht. »Du besitzt keinen Funken Romantik.« »Ha!« Mareks grüne Augen blitzten schelmisch. 213 »Und das kommt von einem Mann, dessen leidenschaftliche Liebesaffären die Lebensdauer eines auf der Straße verlorenen Golddukaten haben.« »Die anderen Frauen waren nicht wie die Liebreizende Marietta.« Rais' Blick schweifte in eine unbestimmte Ferne und signalisierte einen Stimmungswechsel, den Marek in den letzten zwei Wochen zu fürchten gelernt hatte. »Sie ist anders. Sie ist voller Leben. Sie versteht ...« »Sie findet es interessant, von einem der berüchtigtsten Diebe Gulls umworben zu werden.« Bevor Rais protestieren konnte, hielt Marek an und deutete über den kopfsteingepflasterten Platz. »Da ist er: unser Wagen!« Er strahlte stolz. Rais schluckte. »Du hättest mich die Blumen kaufen lassen sollen.« »Nicht nötig.« Marek stellte den Korb am hinteren Ende der flachen Ladefläche ab. »Als ich den Wagen habe mitgehen lassen, waren noch ein paar drin.« Zwar fehlte der schwarzen Kutsche das übliche rechteckige, schwarze Stoffdach über der Ladefläche, aber auch so schien sie unverwechselbar. Die angespannten schwarzen Hengste waren prachtvolle Tiere, und das lackierte Holz hatte man auf Hochglanz poliert. Doch das änderte nichts an der ominösen Bedeutung des Fahrzeugs. »Du hast einen Leichenwagen gestohlen, Marek.« Der jüngere Dieb stieg auf den Kutschbock. »Wie viele andere Wagen, glaubst du, standen zur Auswahl -mit zwei Sitzbänken und einem so prächtigen Gespann?« 214 »Aber ... ein Leichenwagen?« Rais legte den Käse in den Korb, dann drapierte er Mareks Mantel darüber. Und betrachtete besorgt die Ladefläche. »Ein Leichenwagen?« »Rais, er hat eine großartige Federung und garantiert eine ruhige Fahrt auf der Sorte Straße, über die du uns schickst.« Er beobachtete, wie sein Freund unter der Ladefläche nachschaute. »Aber nein, ich habe die Leiche nirgendwo versteckt. Ich habe ihn mir geholt, nachdem er sie am Friedhof abgeliefert hatte. Zufrieden?«
Rais stieg neben ihm auf den Kutschbock. »Ich schätze, es hätte schlimmer kommen können.« »Ich bin nicht völlig verblödet, weißt du. Nur weil ich nicht übermäßig versessen darauf bin, diesen hochwohlgeborenen Damen nachzustellen, bin ich doch nicht darauf aus, deine Chancen zu sabotieren, ein Gigolo zu werden.« Eine leichte Brise hob ihm das schulterlange Haar vom Kragen, und ein breites Grinsen stahl sich auf sein glatt rasiertes Gesicht. »Aber ich wünschte, ich hätte mich nicht zu diesen Klamotten überreden lassen.« »Was stimmt mit ihnen nicht?« Rais musterte Mareks Aufzug von oben bis unten. »Der Schneider hat trotz deines Gehampeis unanfechtbar genau Maß genommen. Der grüne Satin für dein Hemd und die Hose wurde extra aus Knor eingeführt. Der Schuster hat dir die feinsten Stiefel der Stadt gefertigt, und die Näherin, die die Silberfadenstickerei am Saum deines Mantels angebracht hat, brauchte volle zwölf Stunden dafür.« 215 Marek erkannte den Ton in Rais' Stimme und verwarf seinen Plan, den Mantel irgendwo unterwegs zu verlieren. »Ich will mich ja auch gar nicht beschweren, weder über die Sachen, noch darüber, dass du mich zwingst, mich als Leibförster des Prinzipals zu verkleiden.« »Die Sachen stehen dir.« Rais grinste verschwörerisch. »Du machst in dem Anzug eine gute Figur. Ich bin sicher, die Liebreizende Natica wird dich sehr, naja, attraktiv finden.« Marek ließ kurz die Zügel zucken und setzte die Pferde in Richtung Nordtor in Bewegung. »Die Aussicht stört mich keineswegs, aber du weißt sehr gut, was passiert, wenn ich mich derart herausputze. Bis jetzt habe ich solch feine Sachen noch nie einen ganzen Tag lang anbehalten.« »Ich bezweifle, dass die Liebreizende Natica dich so attraktiv findet.« Rais fuhr sich mit den Fingern durch das schwarze, in der Stirn spitz zulaufende Haar. »Ich wüsste nicht, was deine Sachen ruinieren könnte. Das wird jetzt nur ein kurzer Ausflug in eine Bucht an der Küste.« »Wenn er so kurz wird, warum hast du dann genug Essen für einen ganzen Monat eingepackt?« Rais' Augen verengten sich zu schwarz glänzenden Schlitzen. »Du hast deinen Hut im Schwarzen Drachen gelassen.« »Jetzt, wo du's sagst: stimmt.« Marek kicherte. »Was für ein Pech. Gerade fing ich an, mich an die Feder zu gewöhnen.« Die Fahrt zu dem Herrenhaus, das die Liebreizende 216 Mariette als Frühlingssitz betrachtete, verlief schnell und ohne Zwischenfall. Rais überprüfte seine Jacke und strich sie noch einmal glatt, als Marek den Wagen die halbkreisförmige Zufahrt des Hauses hinauflenkte. Ein livrierter Diener trat aus einem kleinen Wachhaus und nahm die Zügel in Empfang, sobald die beiden Diener abstiegen. Der Mann wirkte ganz und gar nicht erfreut über ihre Anwesenheit, sagte aber nichts, als Marek das Rapier umlegte und seinen Mantel schloss. Rais stiefelte forsch zur Eingangstür und betätigte zweimal den riesigen bronzenen Klopfer. Etwas schneller als Marek schätzte, dass er benötigt hätte, um das Schloss zu knacken und ungeladen in das Haus einzudringen, öffnete ein Diener mit einer gepuderten Perücke. »Ja?«, fragte er gedehnt, in einem angewiderten Tonfall, der vollendet zu seiner hochnäsigen Miene passte. »Wir sind hier, um die Liebreizenden Mariette und Natica zu besuchen.« Rais' Blick wurde streng. »Deine Vorgesetzten dürften dich doch auf unsere Ankunft wohl vorbereitet haben.« Obwohl Marek versuchte, ihn mit einem stummen Kopf schütteln zu warnen, erstarrte der Diener. »Ich habe keine Vorgesetzten in der Dienerschaft dieses Hauses.« »Was nicht gerade für dieses Haus spricht.« Rais trat einen Schritt vor. »Falls sich das bis in diese Einöde noch nicht herumgesprochen hat: Es ist Sitte, dass ein Herrenbesuch im Haus auf seine Damen wartet.« Rais' eisiger Ton und der stechende Blick, mit dem er den Butler musterte, zeigten die erwünschte Wirkung. 217 »In der Tat, treten Sie ein und warten Sie.« Der Mann zog sich von der Tür zurück, dann bellte er einer Zofe einen Befehl zu, die daraufhin die geschwungene Marmortreppe in den ersten Stock hastig hinauflief. Er beendete seinen Rückzug auch recht schnell, so dass Marek und Rais zwar in die Eingangshalle mit dem schwarz-weißen Marmorfußboden gelangen konnten, er ihnen den Weg tiefer ins Haus jedoch weiter versperrte. Hinter ihm gingen ein Küchenjunge und ein Kellerbursche in Stellung, um die Diebe aufzuhalten. Marek grinste. »Scheint fast so, als hätte man uns erwartet.« Rais erwiderte das Grinsen. »Und unser Ruf eilt uns voraus.« Zu einem Versuch herauszufinden, wie stark die Abwehrmaßnahmen wirklich waren, kam es nicht, weil die beiden Damen, die die Diebe abholen wollten, am Kopf der Treppe erschienen. Marek erkannte sofort, dass Rais nicht ohne guten Grund vierzehn Tage lang von der Liebreizenden Mariette geschwärmt hatte. Sie war von durchschnittlicher Größe und eher schlanker Statur, ihre Haltung jedoch strahlte eine Selbstsicherheit aus, die ihr volle Aufmerksamkeit garantierte. Das tiefschwarze Haar, auf dem blaue Glanzlichter tanzten, fiel ihr in Wellen bis auf die halbe Höhe des Rückens. Ihre fein ziselierten Züge und blauen Augen formten ein Antlitz von klassischer Schönheit, dessen Eindruck sie durch gekonnten Einsatz von Kosmetik noch unterstrich. Als sie die Treppe herabstieg, spielte ein hintergründiges Lächeln über ihre Züge. Sie stellte Blickkontakt zu
218 Rais her und brach ihn dann schüchtern, als schmeichelte ihr seine Aufmerksamkeit und machte sie zugleich verlegen. Rais strahlte. »Sie ist eine Flamme - und ich bin eine Motte.« Marek würgte. »Sie ist ein Netz und du bist ein Fisch.« Er gestattete sich ein heimliches Grinsen. Sein Freund war Mariette völlig verfallen. Er gab der Beziehung nicht allzu lange, aber wenn sie seinen normalerweise so zynischen Freund glücklich machte, genügte ihm das. Mariettas Begleiterin bot einen beachtlichen Kontrast zum Erscheinungsbild ihrer Cousine. Die Liebreizende Natica war größer als sie und auch üppiger. Ihr Gesicht wirkte etwas runder, als ihr möglicherweise lieb war. Doch Marek fand diese Rundung noch an anderen Stellen ihres Körpers wieder, wo sie ihm sehr behagten. Ihr blondes Haar war kürzer geschnitten als das Mariettes und zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Obwohl ihr Teint einen Hauch heller schien als der ihrer Cousine, lag in Naticas blauen Augen ebenso viel Leben. Sie starrte Marek einen Moment lang an, dann blieb sie an der letzten Stufe mit dem Absatz hängen. Sie stolperte zwar, aber mit einer Hand auf dem Geländer und Mareks Hilfe blieb sie auf den Beinen. »Danke«, murmelte sie. Ihre Wangen röteten sich und sie weigerte sich, ihn anzuschauen. Beide Frauen hatten die nahezu gleichen Reitkostüme gewählt. Die Liebreizende Mariette trug eine schwarze Samtjacke, kurz genug, um ihre beinahe 219 unsichtbare Taille zu betonen. Unter der Jacke trug sie eine weiße, schulterfreie Bluse, die ihren Busen zur Schau stellte. Eine Reithose mit weiten, bis kurz über die Knie reichenden Beinen vervollständigte das Kostüm. Die Hosenbeine waren nicht in die Stiefel gesteckt, die in silbernen Metallkappen endeten. Diese schmiegten sich wie eine zweite Haut an ihre wohlgeformten Beine. Der Liebreizenden Naticas Kostüm unterschied sich von dem Mariettes nur in Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck jedoch deutlich beeinflussten. Die Länge der grünen Samtjacke betonte ihre Größe, ihre weiße Bluse war hochgeschlossen. Die Reithose passte in Farbe und Material zur Jacke. Hose und Stiefel betonten Beine, die zwar etwas fülliger wirkten als die ihrer Cousine, deswegen aber nicht weniger attraktiv. Die Liebreizende Mariette reichte Rais die Hand. »Ich hoffe, wir haben Euch nicht warten lassen.« Rais verbeugte sich knapp und begrüßte sie mit einem Handkuss. »Keineswegs, meine Lieblichkeit, keineswegs. Wir sind soeben erst eingetroffen.« Wie eine wütende Katze drehte sich Mariette zu dem Butler um und fauchte ihn an. »Warum hast du ihnen die Mäntel nicht abgenommen und Wein angeboten, Rene?« Der Butler starrte trotzig zurück. »Auf der Liste der Vorräte, die während seiner Abwesenheit verfügbar sind, wie sie Euer Vater mir hat zukommen lassen, ist kein Wein für beliebige Reisende aufgeführt. Ich habe nicht den Wunsch, den Zorn Eures Herrn Vaters zu erregen, Eure Lieblichkeit.« 220 Bevor Mariette reagieren konnte, schritt Marek zu Gunsten des Butlers ein. »Meine Lieblichkeit, Rais und ich hatten gehofft, uns ohne langen Aufenthalt auf den Weg begeben zu können - bevor die Flut den Ort erreicht, den wir für unseren kleinen Ausflug gewählt haben. Ich bin sicher, Euer Rene hat das verstanden und wollte uns nicht länger festhalten als unbedingt notwendig.« Ein kaum wahrnehmbares Nicken Renes begleitete Mareks Erklärung. Besänftigt, ohne wirklich getäuscht zu sein, ließ Mariette das Thema fallen. Sie lächelte den größeren Dieb an. »Marek, gestattet mir, Euch mit meiner Cousine bekannt zu machen, der Liebreizenden Natica ni Aelas. Sie stammt aus der nördlichen Baronie Sollern.« Marek nahm ihre Hand und hob sie an die Lippen. »Es ist mir eine Freude, Liebreizende Natica.« Sie lächelte und wurde wieder rot, sagte aber nichts. Bevor ihr Schweigen peinlich werden konnte, ergriff Mariette erneut das Wort. »Rene, wir sind bald zurück. Ich erwarte, dass du und die anderen sich in unserer Abwesenheit im Haushalt nützlich machen.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass Widerstand die schmerzhaftesten Bestrafungen nach sich ziehen würde. »Ich werde mich darum kümmern, Lieblichkeit.« Renes Ton machte Marek überdeutlich, dass er Mariettes Drohungen als ebenso substanziell wie Nebelschwaden betrachtete. Vor dem Haus half Rais der Liebreizenden Mariette auf den Wagen. Sie nahm in der Mitte der hinteren Bank Platz. Rais stieg neben sie, und sie schob die rechte Hand durch seine linke Armbeuge. 221 Marek stand bereit, der Liebreizenden Natica auf dieselbe Weise auf den Kutschbock zu helfen. Sie sprang jedoch aus eigener Kraft hinauf, ohne seine Absicht auch nur zu bemerken, und griff mit geübter Hand nach den Zügeln. Marek schwang sich hinterher und wartete, dass sie zur Seite rutschte. Er räusperte sich leise, als er nach den Zügeln griff. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich fahre. Ich kenne den Weg.« Wieder lief sie rot an. »Verzeihung. Es tut mir Leid. Ich ...« »Ihr könnt reden!« Marek grinste. Sie senkte den Blick, doch Marek drückte ihre Hand, als er ihr die Zügel abnahm. »Verzeiht mir. Rais wird Euch gerne bestätigen, dass ich unter anderem deshalb so gut mit dem Degen umgehen kann, weil mich mein Mundwerk regelmäßig in Schwierigkeiten bringt.« Er ließ die Zügel zucken und die Pferde setzen sich in Bewegung. »Allzu viel Übung habe ich mit Pferd und Wagen nicht, denn ich komme auch aus Gull. Falls es schwierig wird, gebe ich Euch die Zügel.«
Wie sein schwarzäugiger Partner bot auch Marek Natica die rechte Armbeuge an. Sie bemerkte seine Geste nicht, bis er ihn wieder zurückzog, so dass sein Arm verschwand, als ihre Hand sich ausstreckte. Sobald Marek bemerkte, was geschehen war, streckte er den Ellbogen wieder aus, doch nun zog sie die Hand zurück. Mit einem leisen Lachen hielt er den Arm ausgestreckt. »Ich beiße nicht, ehrlich.« Die Liebreizende Natica lächelte verlegen und legte die linke Hand sanft in seine Armbeuge. Der Wagen rollte aus der Einfahrt und zurück auf 222 die Straße nach Gull. Doch bevor die Hafenstadt in Sicht kam, schwenkte Marek auf einen im Grunde nur aus Wagenrillen bestehenden Weg, der sie schließlich auf eine alte Küstenstraße führte. Sie folgten ihr zurück nach Nordwesten und bogen dann auf eine andere wenig befahrene Straße ab, die zurück in Richtung der östlichen Landgüter schwenkte. Marek spürte an ihrer Hand, wie die Liebreizende Natica zunehmend nervös wurde. Um ihre Anspannung zu lösen, setzte er zu einer Wegbeschreibung an, die laut genug war, das Flüstern und Kichern hinter ihnen zu überhören. »Der Ort, zu dem wir fahren, war früher eine Schmugglerbucht. Vor langer Zeit konnte man noch mit einem Schiff hineingelangen, aber vor etwa hundert Jahren hat ein Sturm tonnenweise Sand vom Meeresgrund aufgewirbelt und dort abgeladen.« Er deutete auf die beiden Monde, die knapp über dem Horizont hingen. »Heute, da beide Monde zusammenstehen, wird die Ebbe besonders tief sein, und wir haben eine Chance, manches zu sehen, was sonst vom Wasser bedeckt ist.« Marek runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, was Rais noch erzählt hatte, um ihn zu diesem Ausflug zu überreden. »Wer weiß, vielleicht finden wir einen versunkenen Schatz oder so etwas.« Natica drehte sich um und sah ihn an, dann wanderte ihr Blick an ihm vorbei. Sie betrachtete das Meer und die Zwillingsmonde mit einer Konzentration, die Marek vertraut war. Es war der gleiche Blick, mit dem er den funkelnden Lohn seiner Beutezüge begutachtete. Die Schönheit des Ausblicks hielt sie 223 gefangen, und für Marek verlieh ihr das etwas von der Schönheit, die sie gerade in sich aufsog. Als der Wagen die Hauptstraße verließ, kippte er nach links und sie fiel gegen Marek. »Alles in Ordnung?« »Ja«, flüsterte sie schüchtern, richtete sich auf und rutschte ans Ende der Bank. Als er ihr den Arm anbot, nahm sie ihn nur zögernd, und für den Rest der Strecke lag ihre Hand hölzern in seiner Armbeuge. Wenn er sie ansprach, nickte sie, aber sie war zu nervös, um selbst die einfachste Konversation zu Stande zu bringen. Am Ende des Weges zog Marek an den Zügeln und brachte den Wagen so dicht wie möglich an dem Sandpfad zum Stehen, der zum Strand führte. »Rais, begleite die Damen hinunter zur Bucht. Ich binde da vorne die Pferde an.« »Es ist mir ein Ver...«, setzte Rais an, Natica unterbrach ihn jedoch. »Ich helfe Marek.« Sie deutete auf den Korb. »Es genügt, wenn ihr beide das Essen mitnehmt.« Sie kletterte vom Kutschbock und machte einen der Hengste los. Ihre kräftigen Finger lösten die Schnallen problemlos. Marek, der mit dem anderen Pferd beschäftigt war, bewunderte, wie schnell sie das ihre aus dem Harnisch befreite. Er fing einen aufmunternden Blick von Rais auf, zuckte aber nur die Achseln, als der kleinere Dieb und Mariette mit dem Korb und zwei Wolldecken abzogen. Marek führte sein Pferd zum Gras. Natica hatte ein dickes Büschel ausgerissen und rieb ihr Tier damit ab, zu dessen deutlichem Vergnügen. Marek trat neben 224 sie und streckte die Hand aus. »Ihr solltet mir das überlassen. Das ist keine Arbeit für jemanden wie Euch.« Sie drehte sich zu ihm um, eine Augenbraue hochgezogen. »Wie meint Ihr das?« »Eine Adlige.« Unter ihrem strengen Blick musste Marek schlucken. »Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass Eure Cousine das tun würde.« »Ich auch nicht.« Natica lachte laut auf, und Marek hörte, wie ein Teil ihrer Nervosität verflog. »Ein nettes Lachen.« »Danke.« Sie lächelte ihn an und rieb das Pferd weiter ab. »Zu Hause tue ich das dauernd. Sollern ist zwar eine Baronie, aber es ist nicht furchtbar fein. Ich bin gewohnt, selbst für mich zu sorgen.« Sie seufzte schwer. »Ich hoffe, Ihr denkt nicht schlecht über mich, ich fühle mich nur recht unwohl -jetzt gerade. Ihr und Euer Freund seid viel wohlerzogener als die Männer, die ich kenne. Das Stadtleben ist so anders als bei uns im Norden. Ich fühle mich hier gar nicht wohl und ... also, es fällt mir schwer, mich so gepflegt zu benehmen. Wäre meine Cousine nicht, wäre ich gar nicht auf diesen Ausflug mitgekommen.« Mareks Augen wurden schmal. »Möchtet Ihr den Teil mit >wäre meine Cousine nicht< etwas näher erläutern?« »Oh«, stammelte Natica. Dann sah sie Marek in die Augen. »Ich möchte Eure Gefühle nicht verletzen, aber Mariette hat mir gesagt, dass Rais nicht mit ihr ausgeht, wenn sie keine Begleitung für Euch findet. Sie sagte, Ihr schafftet es nicht, selbst eine Frau zu finden, und dass sie euch dabei helfen will.« Sie musterte ihn mit kritischem 225 Blick, was in Marek das Gefühl weckte, ein Pferd auf einer Auktion zu sein. »Ihr müsst sehr seltsam sein, denn
eigentlich macht Ihr einen netten Eindruck.« Ein leises Knurren stieg aus Mareks Kehle auf. »Das ist beinahe wörtlich das, was ich über Euch gehört habe. Hat sich Eure Cousine Eure Hälfte unserer Partnerkleidung ausgedacht?« »Ja. Und bei Euch war es Rais?« »Der Kerl ist schon so gut wie tot.« Marek drehte sich zu dem Fußweg um, der hinab zur Bucht führte. »Es juckt mich in den Fingern, die Pferde wieder einzuspannen und die beiden der Flut zu überlassen.« »Nichts da.« Wütend warf sie das Gras auf den Boden. »Eine solche Behandlung haben die Pferde nicht verdient. Außerdem vermute ich, Mariette wollte Gouvernanten dabei haben, für den Fall, dass mein Onkel herausfindet, wer sie in seiner Abwesenheit besucht hat.« Sie griff das Zaumzeug ihres Hengstes und führte ihn zu einem kleinen Busch, der mitten in einem Grasstück wuchs. »In dem Kasten unter der hinteren Bank sind vermutlich Leinen.« Marek gab ihr sein Pferd und ging zum Wagen zurück. Wo sie es vorausgesagt hatte, fand er zwei dünne Stricke. Einen davon reichte er ihr, als er zurückkam, den anderen machte er am Zaumzeug seines Tieres fest. Dann banden sie die Pferde ans Gebüsch. »Ich vermute, meine Lieblichkeit, Ihr habt mit Eurer Annahme über die Liebreizende Mariette Recht.« »Bitte, Marek, nenn mich Ti. Ich kann Förmlichkeiten nicht ausstehen, und alle meine Freunde sagen Ti zu mir.« 226 »In Ordnung, Ti. Machen wir das Beste daraus.« Marek nahm seinen Mantel ab und warf ihn auf die Ladefläche des Wagens. Als er ihr seinen Arm anbot, nahm sie ihn sofort. »Da unten sollte es genug Gezeitentümpel und dergleichen geben, die wir auskundschaften können. Dann wird es auch für uns noch interessant, und unsere Begleiter haben genug Zeit, einander näher kennen zu lernen.« Sie unterdrückten beide ein Lachen, als sie den Pfad zum Strand hinuntermarschierten. Unter ihnen wirkten Rais und Mariette auf der Decke, die über den weißen Sand gelegt war, als wären sie geradewegs einer der romantischen Operetten entsprungen, die in Gull gerade so modern waren. Zwischen ihnen lag ein Holzbrett mit Käse - Marek sah auf den ersten Blick, dass beide Stücke angeschnitten waren - und die in einem Sonnenmuster arrangierten Keile zweier Äpfel. Sie nippten am Weißwein und ließen das kultivierte Lachen von Menschen hören, die fest daran glauben, Spaß haben zu müssen. »Marek, Liebreizende Natica, kommt, leistet uns Gesellschaft.« Marek hatte den Eindruck, einen flehenden Unterton in der Stimme seines Partners zu hören, entschied sich jedoch, ihn zu überhören. »Tut mir Leid, Rais, aber wir wollen die Gegend nach Gezeitentümpeln und Schmugglerschätzen absuchen.« Er ging neben dem Korb in die Hocke und holte die beiden noch nicht aufgeschnittenen Äpfel heraus. Ohne sich umzuschauen warf er Ti einen davon zu, dann rieb er den anderen an seinem Satinhemd ab. 227 Rais' Blick hätte ihn umbringen oder zumindest grausam verletzen können, aber Marek hielt sich nicht auf, sondern verschwand schnell außer Reichweite. Er umging das Wasser geschickt und steuerte tiefer in den natürlichen Hafen und die von der Klippe geformte Sackgasse hinein. Ti schockierte ihre Cousine, indem sie den ihr zugeworfenen Apfel aus der Luft griff und die weißen Zähne tief hineinschlug. Sie riss krachend einen großen Bissen aus der Frucht, dann stürmte sie Marek nach und hatte ihn schnell eingeholt. Beide blickten über die Schulter zurück zu Rais und Mariette, die einander mit stummen Blicken der Empörung und des Mitgefühls trösteten. Zufrieden, dass er es Rais zumindest teilweise heimgezahlt hatte, legte Marek den rechten Arm um Tis Taille und spazierte mit ihr den Strand entlang: »Dieser Kanal war mal tief genug, dass ihn ein Hochseeschiff problemlos befahren konnte. Inzwischen ist der Meeresspiegel noch gestiegen, aber die Bucht ist versandet, und die Schmuggler haben keine Verwendung mehr für sie.« Ti deutete auf einen kleinen Torbogen am Fuß der Klippe. »Haben die Schmuggler ihre Ware in Höhlen versteckt?« »Ich denke schon.« Er sah sie an. »Willst du nachschauen?« »Auf jeden Fall.« Ti lief hinüber zu dem Eingang und ließ sich auf die Knie fallen. Den Apfel fest zwischen die Zähne geklemmt, kroch sie hinein. Nach mehreren Sekunden, in denen er nur das Plätschern der Wellen und Tis Bewegungen durch den Sand hörte, 228 hallte ihre Stimme aus dem Loch. »Ich spüre einen Windzug durch die Höhle wehen. Und ich sehe Licht.« »Ich komme rein.« Marek folgte ihr in die Höhle, die linke Hand locker auf der Decke des kurzen Tunnels. Er arbeitete sich in einer unbeholfen watschelnden Art vorwärts, spürte aber deutlich die Brise, die sie erwähnt hatte. »Steh nicht gleich auf«, warnte sie. »Die Decke ist ziemlich hoch, aber noch nicht gleich. Du könntest dir den Kopf stoßen.« »Danke für die Warnung.« Er fand es nicht notwendig, ihr zu erklären, dass er es sich angewöhnt hatte, die linke Hand über dem Kopf zu halten, um genau solche Unfälle zu vermeiden. Als er zu ihr hinüberschaute, zeichneten sich ihre Umrisse undeutlich vor einer Helligkeit ab, die aus einem tiefer in die Höhle führenden Gang drang. Er stand auf und sah, dass der niedrige Tunnel in eine Kammer führte, die eindeutige Spuren zeigte. Jemand musste
darin gearbeitet haben. Die Öffnung, in der Ti stand, war nicht größer als eine normale Tür und zeigte landeinwärts. Als er sich ihr näherte, bemerkte er ein weiches, grünes Licht auf ihren Zügen. Das Licht warf Schatten, die einen Ausdruck der Verwunderung auf ihr Gesicht zeichneten. Sie trat ein paar Schritte vor, wie von dem, was sie sah, in den Bann geschlagen. Als er die Hand ausstreckte und sie berührte, zuckte sie zusammen, dann drehte sie sich zu ihm um. »Was ist da drinnen, Ti?« Sie zuckte die Achseln und trat beiseite. Hinter ihr sah Marek eine gewaltige Höhle, in der ein spiegelglat229 tes Meer das grüne Licht reflektierte. Und er sah den Ursprung des grünen Lichtes. Plötzlich verstand er den verwunderten Ausdruck auf Tis Gesicht. Er schüttelte sich und drehte sich zu ihr um. »Geh und hol Rais. Sag ihm, er soll das restliche Seil und die Laterne aus dem Kasten auf dem Wagen mitbringen.« Sie drehte sich um, um loszugehen, doch er hielt sie auf. »Augenblick, Ti. Sag ihm auch, er soll seinen Degen mitbringen.« Marek kannte den Ausdruck auf Rais' Gesicht bestens. »Was meinst du, Rais?« »Ich sehe es, aber es fällt mir schwer, meinen Augen zu trauen.« Rais strich sich über den Bart und merkte kaum, dass sich die Liebreizende Mariette an seine linke Schulter klammerte und sich vor dem Ding jenseits der schmalen Öffnung hinter ihm versteckte. Die gigantische Höhle schien Marek groß genug, um den gesamten Palast des Prinzipals aufzunehmen, wäre er vom höchsten Hügel Gulls hierher versetzt worden. Es war allerdings weder ihre Größe, die ihn überraschte, noch die Tatsache, dass sie mit Wasser gefüllt war, denn er hatte schon von dergleichen erzählen hören. Was ihn jedoch überraschte und Rais sichtlich konsternierte, war das Schiff, das auf diesem unterirdischen Meer schwamm. Die Segel des Viermasters leuchteten wie gewisse Moosarten und lieferten das grüne Licht. Rais stierte das Schiff mit zusammengekniffenen Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Tatsächlich die Windtiger. Selbst wenn der Name nicht auf dem 230 Rumpf stünde, die Malachitaugen am Bug wären Beweis genug für mich.« Als Rais den Namen des Schiffes aussprach, keuchte Mariette auf. Sie klammerte sich noch fester an ihn und duckte sich tiefer, so dass nur noch ihre Augen über seine Schulter lugten. Ohne sich zu ihr umzudrehen, tätschelte ihr Rais die Hand. Ti nutzte die Gelegenheit, sich das Schiff auch noch einmal anzusehen. »Und wer oder was war die Windtiger?« Marek setzte sich auf einen vom Wasser abgeschliffenen Stein knapp hinter dem Tunnelausgang. »Die Windtiger war das Schiff einer Piratin, die vor hundert Jahren diese Gegend unsicher machte. Ihre Kapitänin, Solana ni Jian, war eine Kriegerin von legendärem Können. Und auch ihre magischen Fähigkeiten waren so beeindruckend, dass es sie einzigartig und höchst gefährlich machte. Es gibt mehr als eine Geschichte darüber, wie sie Streitmächten, die Jagd auf sie machten, mit Zauberkraft entkam oder sie vernichtete.« Rais nickte zustimmend. »Diese Geschichten sind mehr Tatsachenbericht als Legende. Ihre Eroberungen, auf dem Meer ebenso wie in den Betten von Königen und Kaisern, verschafften ihr ein Heer von Freunden und Feinden. Es heißt, die Fürsten jagten sie mehr, um sie für sich zu gewinnen, als um ihre Schreckensherrschaft zu beenden. Nicht einmal die Meerläufer, die Piraten, die die Gewässer um Gull und Phoron normalerweise kontrollieren, konnten sie fangen. Es heißt, sie habe sogar deren Inselhauptquartier entdeckt und gewagt, es zu überfallen. Jeder ihrer Raubzüge war 231 spektakulärer als der vorangegangene und brachte noch reichere Beute. Dann verschwand sie plötzlich ins Reich der Legende. Es hieß, die Meerläufer hätten sie in die Enge getrieben, aber der Sturm, der diese Bucht unschiffbar machte, zerstreute auch ihre Kriegsflotte und gestattete Solana die Flucht. Niemand hat sie je gefangen. Sie wurde einfach nie wieder gesehen. Die Erklärungen reichten davon, dass ein Zaubererrivale sie getötet habe, bis zu der Behauptung, sie sei auf den Meeresboden gezerrt worden, um die Gemahlin des Meeresgottes Nadon zu werden.« Marek warf einen kleinen Kiesel in das Höhlenmeer und beobachtete, wie sich die Wellen kreisförmig von der Einschlagsstelle ausbreiteten. »Solana wurde zu einer Blut saugenden Hexe, die mit der Windtiger böse Kinder holte, um sie in Korallen oder Quallen zu verwandeln. Es gibt Leute, die das ernsthaft glauben.« Hinter Rais machte sich Mariette noch kleiner. Rais ließ sich auf ein Knie hinab und deutete zurück auf die Höhlenwand, die der Bucht am nächsten gelegen war. »Vor dem Sturm muss es eine Öffnung gegeben haben, die groß genug war, um der Windtiger die Fahrt in die Höhle zu gestatten. In jener Nacht muss sich das Schiff hierher in Sicherheit gebracht haben. Der Sturm hat genug Sand in der Bucht abgeladen, um das Schiff hier festzusetzen. Sie konnten nicht mehr fort und sind hier schließlich gestorben.« Ti stemmte die Fäuste in die Seiten. »Hier gestorben? Hätten sie die Höhle nicht verlassen?« Rais sog die Luft zwischen den gefletschten Zähnen ein. »Vielleicht nicht. Es gab eine Geschichte, der232 zufolge Solana und ihre Mannschaft mit dem Schiff verheiratet oder jedenfalls durch irgendein Ritual an es
gebunden waren. Es hieß, die Windtiger sei mehr als ein Schiff. Es aufzugeben wäre ihnen ebenso schwer gefallen, wie einen geliebten Menschen zurückzulassen.« »Möglicherweise haben sie es nie auch nur in Erwägung gezogen.« Als Marek das sagte, konnte er fast hören, wie die geisterhafte Besatzung des Schiffes seine Worte wiederholte. Ti deutete zur Küstenlinie nahe der Windtiger. »Das sieht wie ein Sims aus, das bis zur Deckshöhe steigt. Ich wette, wir könnten eine alte Planke finden oder mit dem Seil an Bord gehen.« Marek stand auf und klopfte sich den Sand von der Hose. »Das Holz dürfte ziemlich brüchig sein, aber wer weiß, was sich im Laderaum findet.« »Wie wahr, wie wahr.« Rais' breites Grinsen verblasste, als er zitternde Hände auf seinem Rücken spürte. Er drehte sich um und nahm Mariettes Hände in die seinen. »Kommt schon, es wird sicher wunderbar. Ein großes Abenteuer. Ihr braucht keine Angst zu haben.« Ihr Entsetzen hatte etwas Kindliches. »Versprecht Ihr mir, das nichts passiert?« »Natürlich. Ich werde nicht zulassen, dass Euch ein Leid geschieht.« Mariette duckte sich unter seinen Arm und Rais legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Die vier arbeiteten sich am Ufer entlang zu dem Sims vor, das Ti entdeckt hatte, Marek und Ti vorneweg. Vom Sims aus sprang Marek an Deck der 233 Windtiger, dann band er das Schiff mit dem Seil, das Rais ihm zuwarf, an einem Stalagmiten. Ti sprang ebenfalls auf das Schiff, dann half Rais der Liebreizenden Mariette an Bord. Marek deutete zur Deckskabine, wo ein Skelett am Steuerrad stand. »Offenbar hat sich zumindest einer geweigert, das Schiff zu verlassen.« »Ich frage mich, ob er zurückgeblieben ist, um das Schiff zur nächsten Inkarnation zu steuern.« Rais beobachtete das Skelett, als erwarte er eine Antwort von ihm. Als er keine erhielt, versuchte der dunkelhaarige Dieb Mariette, die am ganzen Körper zitterte, mit einem Lächeln aufzumuntern. Marek tastete sich vorsichtig über das Deck. »Sieht aus, als wäre die Luke zum Laderaum hinuntergefallen.« Mit dem nächsten Schritt fand er eine Planke, die unter seinem Gewicht hochklappte und Rais fast einen Kinnhaken versetzte. Ti hockte sich auf ein Knie und strich mit der Hand über das Deck. »Das ist sehr seltsam. Wenn dies hier die Windtiger ist, die vor hundert Jahren verloren ging, müsste das Holz völlig verrottet sein.« Marek überprüfte eine Sprosse der in den Laderaum führenden Leiter. »Scheint solide genug.« Er machte sich an den Abstieg, doch das grüne Licht der Segel warf mehr Schatten, als es für seine höchst lebendige Fantasie gut war. »Wenn du die Laterne anzünden und mit nach unten bringen könntest, Ti. Ich glaube, das wäre äußerst hilfreich.« Er schluckte sein Entsetzen hinunter und stieg weiter in die Dunkelheit, gleichzeitig froh und besorgt darüber, dass er keine Ratten hörte. 234 Unten angekommen stellte er fest, dass der Boden unter seinen Füßen fest und ziemlich trocken war. Über ihm stieg Ti auf die Leiter und kam, die Laterne in der Hand, zu ihm heran. Als sie auf halber Höhe war, gellte über ihr ein Schrei und sie blieb stehen. Mareks Hand fiel auf den Griff des Rapiers, doch dann erschien Rais in der Lukenöffnung und hob die Hände, um sie zu beruhigen. »Es ist nichts.« Rais unterbrach sich, als er ein Wimmern hörte. »Gut, es ist schon etwas, aber nichts von Bedeutung.« Er blickte in den Laderaum hinab. »Die Liebreizende Mariette glaubte, in der Nähe des Bugs etwas in grünem Licht pulsieren zu sehen. Seit wir an Bord gekommen sind, haben wir das Wasser in Unruhe versetzt, und die Reflexionen verursachen die verrücktesten Illusionen.« Marek legte Ti stützend die Hände um die Hüfte, als sie den Fuß der Leiter erreichte. Über ihnen machten sich Rais und Mariette an den Abstieg, Marek und Ti entschieden jedoch, mit der Untersuchung des Laderaums nicht auf die beiden zu warten. Ti drehte sich um und ließ das Licht der Laterne über die Fracht spielen. Kisten und Kästen lagen kreuz und quer verstreut. Holzfässer und Truhen waren geborsten, Säcke zerfallen. Ihr Inhalt hatte sich in den Laderaum ergossen und bedeckte wie ein funkelnder Teppich aus Gold und Juwelen den Boden. »Rais, es sieht aus, als hätte die Windtiger auf der Flucht vor den Meerläufern und dem Sturm einiges abbekommen.« Marek bückte sich und hob ein glitzerndes Goldstück auf. Er hielt es hoch, damit Ti die Laterne 235 darauf richten konnte - und kommentierte: »Vor über hundert Jahren geschlagen und noch wie neu.« »Hier muss ein Vermögen liegen«, hauchte sie ehrfürchtig. Er warf die Münze zurück auf den Haufen. »Mehrere Vermögen, so wie es aussieht. Das sind zum Teil Reichsmünzen. Solana und die Windtiger haben sich wirklich bedient, wie es ihnen beliebte.« »Bringt das Licht einmal hier herüber, bitte.« Auf der anderen Seite der Leiter kniete Rais neben einer Truhe ohne Deckel. Der Lichtkegel erweckte sieben Rubine in einer silbernen Halskette zu blutrotem Leben. »Scheint, dass die Besatzung die Schätze sortiert hat, bevor sie hier verstaut wurden.« Er warf Marek die Kette zu. Der große Dieb hielt sie nahe ans Licht und betastete das Schmuckstück mit sanfter Hand. »Überlegene Verarbeitung und wundervolle Steine. Das muss vom Festland stammen. Wunderschön.« Er trat aus dem Licht und legte Ti die Kette um den Hals. »Und hier ist sie noch schöner.«
Um sich nicht ausstechen zu lassen, zog Rais einen goldenen, reich mit Saphiren bestückten Armreif aus der zertrümmerten Truhe und legte ihn um Mariettes linkes Handgelenk. Sie kamen ans Licht, und alle vier bewunderten Mariettes neuestes Geschenk. Mariette drehte den Armreif im Licht, dass es nur so blitzte und glitzerte, und strahlte fast so hell wie das Schmuckstück. Sie hob die freie Hand und strich Rais übers Gesicht. »Oh, Rais, er ist wunderbar.« Sie küsste ihre Finger und drückte sie ihm auf den Mund. 236 »Ich hatte gehofft, dass er Euch gefällt«, lächelte Rais, doch Marek sah seinem Freund an, dass ihm ein deutlicher Kuss lieber gewesen wäre. Einen Augenblick lang wirkte die Liebreizende Mariette wie in Gedanken versunken, dann lachte sie plötzlich. »Jetzt verstehe ich. Ihr und Marek habt all das für Natica und mich arrangiert, nicht wahr? Ihr habt das alles nur für uns bauen lassen, habe ich Recht?« Ein Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus und das ängstliche Zittern in ihrer Stimme war fast verschwunden. »Aber natürlich, Cousine.« Ti klatschte in die Hände und starrte Marek in die Augen. »Wie klug von dir, es zu durchschauen. Sie wollten uns nur ein wenig Angst machen, um diese Geschenke noch prächtiger erscheinen zu lassen.« Marek verstand den Wink, seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe dir gleich gesagt, dass sie es herausbekommt, Rais. Wir hätten es besser wissen müssen. Wie dumm von uns, sie täuschen zu wollen.« »Du hast Recht. Es tut mir Leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.« Rais strich sanft mit der Hand an Mariettes Rücken hinab. »Ich hätte es wissen müssen.« »Ja, das hättet Ihr«, schalt Mariette ihn sanft aus. Mit jedem Satz ihrer Begleiter wurde sie entspannter und fröhlicher. Plötzlich ruckte das Schiff, als wäre es gegen ein Riff gelaufen. Rais stürzte auf die Schatztruhe und drehte sich gerade weit genug, um die Liebreizende Mariette aufzufangen, als sie ebenfalls fiel. Ti verlor den Halt und stürzte auf den Teppich aus Goldmünzen, konnte 237 aber noch verhindern, dass die Laterne auf dem harten Decksboden zerschellte. Marek wurde quer durch den Laderaum geschleudert, doch gelang es ihm, sich an der Leiter festzuhalten. Er warf seinem Partner einen Blick zu. »Was, in den sieben Höllen, war das?« »Ich weiß es nicht.« Rais hob die Liebreizende Mariette vorsichtig von seinem Schoß. »Wir steigen besser hinauf und schauen nach.« »Auf Eure Tricks fallen wir kein zweites Mal herein«, lächelte sie wissend. Marek flog die Leiter hinauf wie ein Affe, dem ein Leopard im Nacken saß. Rais folgte ihm wie die besagte Raubkatze. An Deck blieb Marek stehen und zog den Degen. »Wir bekommen Ärger, mein Freund.« Rais steckte den Kopf aus der Luke. »Reichlich Ärger.« Die Luke ins Mannschaftsquartier stand offen. Skelettkrieger, in deren leeren Augenhöhlen ein unheiliges grünes Licht flackerte, schlurften an Deck. Manchen hingen noch Hautfetzen am Schädel oder den Armen, und andere waren von mottenzerfressenen Kleidungsfetzen bedeckt. Den gefährlichsten Eindruck machten jene, die Haken an Stelle der Hände hatten, während die unversehrten Untoten nur knöcherne Finger schlössen und öffneten. Sobald auch Rais das Deck erreicht hatte, kamen die Matrosen auf die Diebe zu. »Verdammt, Magie! Solana muss einen Fluch über das Schiff gelegt haben.« »Das Leuchten ist in ihren Köpfen. Vielleicht ...« Marek sprang vor und schlug nach einem der Skelette. 238 Der Hieb trennte einem der Matrosen die Schädeldecke vom Kopf. Der pulsierende grüne Nebel darin klammerte sich mit tentakelartigen Schwaden an die Klinge, dann zerfaserte er. Das Skelett brach zu einem Haufen Staub und Knochen zusammen. »Gut.« Rais zog sich langsam zu der Stelle zurück, an der die Gruppe an Bord der Windtiger gekommen war. »Ich halte sie in Schach. Bring du die Damen herüber, dann setzen wir uns ab.« »UUH, schreckliche Monster und Kämpfe!«, gurrte die Liebreizende Mariette, als sie aus dem Laderaum stieg. »Natica, komm und schau dir das an. Sie sehen so tapfer aus.« Ti erreichte das Deck knapp nach ihr, und Marek las ihr vom Gesicht ab, dass sie das Bild ganz anders auslegte als ihre Cousine. »Hier, Mar, nimm die Laterne.« Ti rannte zum Hauptmast und bewaffnete sich mit einem Befestigungsholz. »Komm, Cousine, hier geht's ans Ufer.« Zwei der Matrosen nahmen Marek in die Zange, und plötzlich sah sich der Dieb Gegnern gegenüber, die sich mit weit mehr Geist bewegten, als er es den Untoten zugetraut hätte. Er parierte den Hakenhieb eines der beiden, wusste aber, dass der Matrose in seinem Rücken freie Bahn hatte. Er wirbelte herum und zog das Rapier durch eine Windmühlenparade. Trotzdem machte er sich innerlich darauf gefasst, dass knöcherne Krallen sein Fleisch zerfetzten. Der Schlag, auf den er wartete, blieb jedoch aus. Die Decksplanke zwischen den Beinen des Skeletts schlug hoch und zertrümmerte sein Becken in einer Wolke 239 aus Knochensplittern und Staub. Der Oberkörper des Matrosen fiel aufs Deck. Marek sprang über die
peitschenden Arme, um den Schädel mit einem Tritt in Richtung Deckskabine zu befördern. Er zwinkerte Ti dankbar zu, die ihm mit einem kräftigen Tritt aufs andere Ende der Planke das Leben gerettet hatte. Dann wirbelte er herum und hieb sich den Weg frei. Sich duckend, Haken schlagend und den Degen ständig in Bewegung arbeitete sich Marek in Richtung Ruderdeck vor, um die Aufbauten des Schiffes als Deckung nutzen zu können. Dieser Kampf erschien ihm bizarr, denn gegen lebende Gegner hätte er seine Schläge genauer und nach herkömmlicher Weise gesetzt. Im Kampf gegen Fleisch und Blut konnte ein sauber platzierter Stich ein Organ durchbohren oder eine Schlagader öffnen. Häufig sorgten Angst und Schmerz dafür, dass selbst leichte Verletzungen einen Gegner ausschalteten. Gegen die Skelette jedoch halfen nicht einmal die brutalsten Hiebe. Wenn er eine Hand abschlug, kroch sie ihm wie eine Spinne über die Planken nach, und dem Skelett blieben zwei spitze Knochenenden, mit denen es ihn aufzuspießen versuchte. Als er endlich die Treppe zum Ruderdeck erreichte, war ihm klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Skelette Rais und ihn überwältigten. »Vorsicht, Marek«, rief die Liebreizende Mariette. In ihrer Stimme lag die ganze Überzeugung einer Theaterbesucherin, die einer Figur auf der Bühne eine Warnung zurief. Doch er war ihr trotzdem dankbar, drückte sich flach auf die Stufen, und eine Skeletthand 240 peitschte durch die Luft, wo unmittelbar zuvor noch sein Kopf gewesen war. Marek griff nach oben, packte mit der Linken einen Brustkorb und hievte ihn über seinen Kopf in den Pulk von Matrosenskeletten, der an seinen Stiefeln zerrte. Der Aufprall des Matrosen zertrümmerte mehrere seiner Kameraden und verschaffte Marek die nötige Luft, um sich auf das Ruderdeck zu retten und einen Überblick über das Schlachtfeld zu gewinnen. Unter ihm fluchte Rais laut auf die Matrosen ein, die ihn bedrängten. Er schlug einem Skelett, das zu nahe kam, die Beine weg, doch es kroch weiter auf ihn zu, während zwei andere von links und rechts angriffen. Als der Erste seine Stiefel packte, warfen sich die drei nächsten vorwärts. Vor Mareks entsetzten Augen ging Rais unter einer Knochenlawine zu Boden. Bevor Marek reagieren konnte, tauchte sein Freund aus dem Pulk der Feinde auf - wie ein Wal, der versuchte, die winzigen Walfängerboote zu zertrümmern, die ihn bedrängten. Beide Hände fest um den Degengriff geschlossen, hieb er nach rechts und links. Mit einem gutturalen Brüllen schüttelte er sich, und Fingerknochen, die in seiner Kleidung hingen, flogen in alle Himmelsrichtungen. Rais ließ sich ganz von seiner Wut leiten, hieb und trat ohne einen Gedanken an Stil oder Finesse um sich. Er trat das verkrüppelte Skelett an seinen Füßen davon und stürmte vorwärts. Seine angeschlagenen Gegner zogen sich zurück. »Mariette, Natica, - schnell. An Land, jetzt!« Rais' geknurrter Befehl passte zu dem Mann, der den Weg in Sicherheit freigekämpft hatte. Seine Jacke war zer241 rissen und gab den Blick auf das Hemd darunter frei. Das Hemd selbst war von Blutflecken bedeckt. Sein Mantel hing ihm in Fetzen von den Schultern und die Stiefel bildeten einen Flickenteppich aus langen Kratzern und Bissspuren. Vom Schauspiel seines untergehenden und sich wieder aufrappelnden Freundes gebannt, hätte Marek das leise Klirren fast überhört, mit dem sich ein mit einem Dolch bewaffnetes Skelett anschlich. Grinsend streckte der Dieb die Hand aus und packte ein vom Mast herabhängendes Tau. Laut lachend schwang er sich vom Ruderdeck über das Hauptdeck bis zum Vordeck. Er landete leichtfüßig auf der Reling, drehte um und warf seinem wartenden knochigen Gegner das Seil zu. Die knöcherne Hand des untoten Seeräubers schloss sich um das Tau. Mit einem kurzen Anlauf und einem Sprung nach vorn steckte er sich das Messer zwischen die Zähne und sprang. Auf dem Flug zerrte ihm der Wind die letzten Fetzen Kleidung von den Knochen und ließ ihm nur noch vertrocknete Stiefel und einen steifen Gürtel. Als er sich Marek näherte, pulsierte das grüne Licht in seinen Augenhöhlen hungrig. Sekunden, bevor das Skelett das Vordeck erreichte, sprang Marek aufs Hauptdeck und durchtrennte in derselben Bewegung mit dem Rapier das Tau. Das mit Schwung durch die Luft segelnde Skelett fiel ein gutes Stück, als sich das Seilende in seinen Händen vom Rest des Taus löste, und knallte mit ganzer Wucht gegen die Reling. Knochenstaub überzog die Reling, und ein Hagel aus Knochensplittern prasselte über das Vordeck, Mareks Kopf und die vordere Hälfte des Hauptdecks. 242 Marek schüttelte sich die Knochenreste aus den Haaren und lief hinüber zu Rais, der noch immer damit beschäftigt war, die Skelettbesatzung aufzuhalten. Er half Ti dabei, Mariette auf das Sims zu bringen, dann setzte er an, ihr beim Ausstieg beizustehen, doch ein unflätiger Fluch Rais' stoppte ihn. »Verdammt, Marek, jetzt stecken wir in ernsten Schwierigkeiten.« »Und was soll das bis jetzt gewesen sein?« Mareks überraschte Miene verwandelte sich schnell in einen ebenso verzweifelten Gesichtsausdruck, wie ihn Rais zur Schau trug. »O ja, das ist ernst.« Solana stand vor dem Ruderdeck. Das pulsierende grüne Licht, das in den Augenhöhlen der Besatzung flackerte, hüllte ihre ganze Gestalt ein. Das durchscheinende Leuchten lag wie Fleisch über ihren Knochen und bot einen verlockenden Blick auf die Schönheit, die sie einst ausgezeichnet hatte. Der schlanke, geschmeidige Körper der in der Einbildung völlig nackten Piratin weckte das Verlangen beider Männer.
Der Ausdruck auf ihren bildschönen Zügen erstickte es jedoch wieder. Solanas geisterhafte Gestalt betrachtete die Verwüstung, und die Ungläubigkeit über den Anblick, der sich ihr bot, verzerrte ihr Gesicht zu einer Totenmaske aus Zorn und Hass. Ihre zerschmetterte und gebrochene Crew humpelte und kroch auf sie zu wie Eisenspäne, die von einem Magneten angezogen wurden. Mit flehend erhobenen Händen und klappernden Kiefern bettelten die Matrosen wortlos um Schutz und Rache. 243 Obwohl das grüne Licht versuchte, sie in altem Glanz erstehen zu lassen, konnte es nicht völlig verbergen, was aus ihr geworden war. Unter der smaragdgrünen Haut waren blanke Knochen erkennbar. Störrische Strähnen brüchigen, einstmals schwarzen Haars entkamen der magischen Aura, die sie einhüllte. Ihr Mund klappte auf und zu, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Ihre grünen Lippen bildeten Worte, die Marek und Rais nur erraten konnten. Doch ihre Bedeutung stand außer Frage. Nachdem die Kampfkraft der Besatzung versagt hatte, würde ihre Zauberei die Eindringlinge vernichten. Marek wusste mit unabwendbarer Gewissheit, dass sie sterben würden, falls er nichts unternahm. Er wollte handeln, doch der bloße Anblick Solanas schien ihm jeden Funken Tatkraft zu rauben. Er warf aus dem Augenwinkel einen Blick zu seinem Partner hinüber und hoffte, er selbst trage nicht denselben hirnlosen Ausdruck zur Schau wie Rais. Ti trat neben ihn, kniff das linke Auge zu und schleuderte das Holz. Es schoss auf die Wiedergänger-kapitänin zu und besaß erkennbar die nötige Gewalt, um ihre Knochen zu zertrümmern. Marek hüpfte das Herz in der Brust, doch als das Holz das Leuchten erreichte, das die Hexe umgab, änderte es den Kurs. Als besäße es einen eigenen Willen, segelte das Holz über das Deck und kehrte an seinen ursprünglichen Standort zurück. »Tut mir Leid, Marek«, flüsterte sie, während sie sich bückte, um sich mit einem Oberschenkelknochen zu bewaffnen. 244 Er schüttelte sich. Ihre Tat hatte den Bann gebrochen. Er streckte die Hand aus und strich ihr übers Haar. »Ich möchte dich etwas fragen, Ti.« »Ja?« »Was möchtest du im nächsten Leben werden?« »Schlauer.« Als sie den Knochen berührte, zuckte er. Er leuchtete grün auf und wand sich aus ihrem Griff. Ein grüner Lichttentakel der Hexe berührte ihn und der Knochen rollte und hüpfte über das Deck zu Solana. Ti presste die Hand an die Brust. »Kalt.« Grüne Nebelwolken lösten sich von der Zauberin und verwandelten sich in winzige Wirbelwinde, die die zerstreuten und zertrümmerten Knochenreste auf dem Deck einsammelten. Die winzigen Windhosen klirrten und rasselten, als sie ihre Schätze zurück zu Solana trugen. Rais zischte und brach fast zusammen, als ein Nebelwind um ihn tanzte und die Überreste seiner Opfer aufsammelte. »Böse.« Rais sank auf die Knie und presste sich die Arme um den Leib. Marek war sich unsicher, was mit seinem Freund geschah. Sein Blick galt wieder ganz Solana. »Bei den Göttern!« Sein Rapier fiel scheppernd aufs Deck, als ihn das, was er nun sah, den Atem stocken ließ. Unbewusst griff er nach Ti und versuchte, sie mit seinem Leib zu schützen. »Wir sind erledigt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Die Wirbelwinde aus grünem Nebel kehrten zu Solana zurück, doch sie wurden nicht langsamer oder lösten sich auf. Stattdessen verbanden sie sich zu einem gewaltigen Zyklon, der alle Knochen unterhalb ihres Halses davonriss. Das pulsierende Licht in ihren 245 Augen wurde stärker, als der Sturm aus grünem Licht und weißen Knochen um sie herumpeitschte. Die Helligkeit des Leuchtens drohte zu überstrahlen, was im Herzen des Sturms geschah. Dann aber ließ sie nach und die Eindringlinge konnten alles verfolgen. Solana und ihre Zauberei erschufen sie und ihre Besatzung neu. Fünf Piratenschädel rahmten denjenigen Solanas wie ein makabrer Kragen ein. Wirbel, wie halb geschmolzene Eisenklumpen aus kleineren Knochen gepresst, stapelten sich zu einer knochenweißen Schlange auf, die an der Rückseite ihres Schädels ansetzte und noch einen Fuß weiter hinaufreichte. Durch Zauberei geformte Oberschenkelknochen reihten sich zu einem neuen Rippenkäfig auf. Mit schmerzhaftem Knirschen setzten sie am Rückgrat an. Zwei Schulterpaare, einen Fuß übereinander, begannen über den Rippen und warteten auf die Arme. Sechs Oberarmknochen, magisch zusammengezogen, schoben sich in den Schultergürteln an ihren Platz, während Schienbeinknochen als Unterarme dienten. Knochensplitter und Fersenknochen wurden zu Handgelenken, Unterarmknochen formten die Pranken der Kreatur. Rippen - teils geborsten, teils intakt - setzen sich als bösartige Krallen auf die Pranken. Marek bemerkte, dass die Kreatur keine Daumen besaß und wusste: Es lag daran, dass sie nicht dafür gedacht war, irgendetwas zu greifen. Eine magisch zerschmolzene Knochenmasse formte sich zum Becken der Friedhofsbestie. Mit einem Donnerschlag schob sich das Rückgrat in die breite Kno246 chenschale. Verwobene Oberschenkel und Schienbeinknochen dienten der Kreatur auf dieselbe Weise wie zuvor
den Piraten. Teile zerborstener Schädeldecken wurden zu Kniescheiben - und die wulstigen Enden langer Knochen formten sich zu Knöcheln. Nachdem sich die oberen Pranken gebildet hatten, wiederholte sich das Muster bei den unteren, mit kürzeren, aber um nichts weniger bedrohlichen Rippenkrallen. Ein Schweif aus verwachsenen Wirbeln stützte die Kreatur, und an der Rückseite der Wirbelsäule ragten Schulterblätter wie Haiflossen auf. Leben pulsierte vom Zentrum des Ungeheuers auswärts. Das grüne Licht in Solanas Augen wurde schwächer, dann flammte es böse in den Augenhöhlen der Schädel auf, die sie umringten. Das grüne Leuchten strahlte von ihnen aus und floss entlang einiger imaginärer Adern über das Skelett. Die elfenbeinweiße Gestalt in magische Kraft gehüllt, bewegte die Kreatur ihre Pranken und tat einen ersten, zögernden Schritt. Rais wurde bleich, als er den Kopf hob und aufschaute. Ti griff mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen hinter sich und suchte Halt an der Reling. Marek, unfähig, die Augen von dem Schrecken zu nehmen, der auf ihn zustampfte, bückte sich und tastete nach seinem Degen. Nur die Liebreizende Mariette, sicher an Land und gefangen in ihrer irrwitzigen Fantasie, schien von dem Ungeheuer und der drohenden Gefahr vollkommen unberührt. Sie klatschte und lachte höflich beim Anblick der Kreatur. »Ti, halt dich bereit, die Laterne zu werfen.« Rais stand langsam auf. »Marek und ich lenken es ab.« 247 »Ziel gut«, flüsterte Marek und glitt nach links. »Da gibt es ein Problem bei deinem Plan, Rais.« Vor dem Kichern ihrer Cousine war Tis Stimme kaum zu hören. »Mariette hat die Laterne.« Mareks klare Stimme übertönte Rais' Stöhnen. »Liebreizende Mariette, jetzt kommt Eure Chance, eine Heldin zu sein. Werft mit der Laterne nach dem Ungeheuer.« Er bemühte sich, so leicht und ungezwungen wie möglich zu klingen, doch seine wachsende Panik ließ ihn eine Art Befehlston anschlagen. Er warf sich flach nach links und entging damit den peitschenden rechten Pranken der Kreatur. Ti lief hinter Rais vorbei und um die linke Flanke des Monsters, Rais wechselte den Degen in die linke Hand und zog den Stiefeldolch. Er balancierte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, dann peitschte seine Hand vor. Die Klinge, sich schnell überschlagend, glitt zwischen zwei Rippen hindurch und spaltete einen der Herzschädel. Marek bemerkte, dass der Energiestrom zum linken Bein verblasste, als das grüne Licht über den Dolch spielte. »Guter Wurf. Wir können es verletzen.« Die Kreatur drehte sich zu Rais um, den sie offenkundig als größte Gefahr für ihr weiteres Dasein betrachtete. Der narbengesichtige Dieb fasste den Degen fester, als das Ungeheuer auf ihn zuwuchtete, seine vier Arme zu einer zermalmenden Umarmung ausgebreitet. »Komm schon, Hexe, mein Leben für das meiner Freunde - das ist ein faires Geschäft.« An der Grabesstimme, mit der Rais den Satz aussprach, erkannte Marek den Entschluss des Freundes, sein Leben teuer zu verkaufen. »Schnell, Ti, pack den 248 Schwanz!« Marek stieß den Degen in den Unterleib der Kreatur, dann rissen er und Ti gemeinsam am Schwanz des Monsters und raubten ihm das Gleichgewicht. »Jetzt, Mariette, wirf die Laterne!«, schrie Ti. Mariette kommentierte den Befehl mit ungläubigem Gelächter. Rais brach zur linken Seite der Kreatur aus, als sich das Ungeheuer nach rechts drehte. Der Schwanz der Bestie riss Marek von den Füßen und warf Ti zu Boden. Sie rollte weg und hebelte sich wieder auf die Beine, während Rais nach vorne stürmte. Das Schwert nahezu senkrecht über den Kopf gehoben, stach er mit beiden Händen zu, trieb die Klinge durch den Schwanz der Kreatur und tief ins Deck. Er wirbelte herum und streckte Mariette beide Hände entgegen. »Verdammt, du hirnlose Kuh, schmeiß endlich die Laterne!« Mariettes Lachen brach ab, als hätte Rais ihr die Luft abgeschnürt. »Wie kannst du es wagen!«, kreischte sie. Mit loderndem Blick schleuderte sie die Laterne nach ihm. Sie zielte gut. Dass sie das Monster, das vor Rais stand, nicht beachtete, war noch besser. Die zur Hälfte mit Öl gefüllte Laterne explodierte beim Aufprall auf das linke Bein des Ungeheuers. Ölig schwarzer Qualm hüllte das Biest ein und schwärzte sein weißes Skelett. Gierig leckten die Flammen über die Knochen und breiteten sich in einem Feuermeer über das Deck aus, das sich immer weiter ausdehnte. »Mariette, lauft zur Bucht.« Marek konnte nur hof249 fen, dass sie ihn über dem Tosen des Feuers hörte, das mittschiffs tobte. »Ti, kannst du schwimmen?« »Wie ein Fisch.« »Dann ab über Bord.« Er sah zu, wie sie mit einem sauberen Hechtsprung in die Fluten tauchte, dann folgte er ihr. Als er wieder auftauchte und sich umschaute, sah er Rais von der Reling springen. Hinter ihm schlug das Monster, ein schwarzer Schattenriss vor dem goldenen Feuer, hilflos nach den flüchtenden Dieben. Die drei schwammen so schnell sie konnten und erreichten den Eingang der Kaverne im selben Augenblick, da Mariette ihren Weg um das unterirdische Meer beendete. Sie starrte an ihnen vorbei, als sie sich triefend an Land zogen. »Das war kein Spiel?«
»Das war kein Spiel«, versicherte ihr Ti. »Die Augen.« Mariettes Züge entgleisten, als sie zurück zum Schiff zeigte. »Die Augen.« Die grünen Malachitaugen am Rumpf der Windtiger leuchteten in einem Licht, das stark genug war, es mit dem Feuer aufzunehmen, das den Hauptmast hinaufstieg. Das Tau, mit dem sie das Schiff am Ufer festgemacht hatten, riss mit einem Donnerschlag, der durch die Höhle hallte. Mit lodernden Decks, Masten und Takelage glitt das Schiff auf sie zu. Blankes Entsetzen durchzuckte Marek. »In den Tunnel. Raus hier, schnell!« »Es geht nicht, die Flut ist da. Der Ausgang ist unter Wasser.« Tis Stimme ließ keinen Zweifel an ihrer Verärgerung. »Mariette weigert sich zu schwimmen.« »Zwing sie«, knurrte Rais. Die Höhle um ihn herum wurde hell, als die Windtiger näher kam. Das Wasser 250 schäumte und spritzte um ihren Bug, und der Fahrtwind dämpfte das Tosen der Flammen, die an ihrem Rückgrat nagten. Mariettes empörter Aufschrei erstarb in einem Gurgeln, als Ti sie unter Wasser zerrte. Marek und Rais wateten in die kleine Vorkammer. Das Wasser spritzte, als sie durch die knietiefen Fluten stampften, dann warfen sie sich in den Schutz des Wassers. Funken sprühten durch die Kammer und prallten von den Steinwänden ab, als die Windtiger den Bug in den Durchgang rammte. Planken splitterten und brachen. Der Kiel barst und lag so offen wie ein Knochen, den man gespalten hatte, um das Mark zu entfernen. Brennende Trümmerstücke des Schiffes zischten, als sie ins Wasser fielen und erloschen. Marek setzte sich auf und ließ den Arm, den er schützend vors Gesicht gehoben hatte, langsam sinken. Er blickte zur Windtiger zurück, und eines ihrer Augen sah ihn an. Er hatte diesen Blick schon früher gesehen, in den Augen eines Sterbenden, der seinen Mörder davongehen sah. Erschüttert duckte sich der Dieb unter die Wasseroberfläche und ließ das Schiff allein sterben. Mein Versprechen, mein Versprechen! Das Leid der Windtiger hallte lautlos durch die Höhle, als sie den Letzten der Mörder durch den Tunnel fliehen sah. Verzweiflung flutete sie wie das Wasser, das in ihren geborstenen Rumpf eindrang. Wie konnten bloße Sterbliche erreichen, was weder die Natur noch ganze Kaiserreiche nicht vermochten? Wie? Und warum? 251 Ihre Wut loderte heißer als die Feuer auf ihren Decks. Sie versuchte, sich an diese Wut zu klammern, aber die Flammen verzehrten alles, verschlangen auch den Grund, aus dem sie sich ans Leben klammerte. Mit der Zerschlagung ihres Versprechens ließ auch der hartnäckige Griff, mit dem sich die Windtiger an die Unsterblichkeit klammerte, nach. Das Leben verließ das Malachitauge, das den Dieben nachblickte. Das Auge wurde schwarz und zog sich zusammen, als wollte es die Flucht der kupferfarbenen Träne verhindern, die sich in einem Winkel formte. Die Träne hing im Augenwinkel, und dann, als das Leben das Schiff verließ, brannte sie sich eine Furche den Rumpf hinab. Sie floss auf ein kleines Sims über der Wasserlinie, wo sie sicher war ... Für immer. Giri ist eine dieser kurzen Geschichten, die einem plötzlich schon komplett einfallen. Ich war an der Ecke Indian School und 16. Straße, als mir die Idee kam. Ich fuhr sofort nach Hause und schrieb sie. Danach sammelte ich eine Reihe von Ablehnungen mit ihr, bis Roger Zelazny sie schließlich für seine Anthologie Warriors of Blood and Dream kaufte. Giri Die Nacht war so schwarz wie die Blindheit selbst. Ich sah ihn nur, weil er noch schwärzer als schwarz war. Er war düster und kalt, eine Obsidianstatue, die sich durch die Nacht bewegte, lautlos über das in den Hof hinausragende Ziegeldach schritt. Er war so schwarz wie der Tod, den er in sich trug. Er hielt an, als sich der Wind drehte, wartete darauf, dass er ihm eine Witterung zutrug, ein Geräusch, einen Hinweis auf den, der auf ihn wartete. Er wusste, dass jemand da war. Es musste jemand da sein. Fürst Kusunoki konnte nicht unbewacht sein. Er würde erst den töten, der auf ihn wartete, und danach den Fürsten selbst. Das würde seinen Verrat vollenden. Er ging in die Hocke und näherte sich der Dachkante. Jeder andere hätten ihn ohne den Kontrast des Nachthimmels verloren, ich jedoch nicht. Ich wusste, wo ich ihn zu suchen hatte. Ich wusste, wohin er sich bewegen würde. Ich kannte ihn besser als mich selbst. Er sprang in den Hof hinab. Weiche Ledertabi ge253 statteten seinen Zehen, sich in die Steine zu krallen, während seine kräftigen Beine den Aufprall abfingen. Die linke Hand berührte den Boden und half ihm, das Gleichgewicht zu wahren. In der Rechten hielt er ein feuergeschwärztes Katana. Wieder suchte er den Hof nach dem Posten ab. Ich ließ zu, dass er mich sah, bewegte mich nicht aus den Schatten oder zog die Waffe. Ich machte kein Geräusch, um ihn herauszufordern. Ich erlaubte ihm nur, mich zu sehen. Er ließ sich keine Überraschung anmerken - nicht darüber, dass er den Posten nicht früher bemerkt hatte, auch nicht über dessen Identität. Er richtete sich zu voller Größe auf und verbeugte sich vor mir. »Die anderen ehren
mich, Euch auszuschicken, damit Ihr mich gefangen nehmt.« Sein Tonfall verspottete mich. Ich erwiderte die Verbeugung. Er dachte, ich könnte sein Gesicht hinter der Stoffmaske nicht erkennen. Er bildete sich ein, mir verborgen zu bleiben, doch ich las in seinen Augen und seiner Haltung, selbst im Klang seines Atems. Er wirkte überrascht, erfreut und selbstsicher. Meine Augen wurden schmal. »Die anderen glaubten nicht, dass du es wagen würdest, auf diesem Weg zu kommen, und erwarten dich an der Südmauer.« Seine Maske spannte sich über dem Gesicht und verriet ein Lächeln. Noch mehr Selbstvertrauen, und nun kam auch noch Verachtung hinzu. »Du bist alt, Frau. Geh, und ich schenke dir das Leben.« Seine Worte klangen beruhigend, baten mir einen Ausweg an. Es war das Schweigen zwischen dem Zischeln einer Schlange. 254 Ich schüttelte den Kopf. »Ich soll gehen und meine Sippe entehren, wie du es getan hast? Eher würde ich mir den Bauch aufschlitzen. Du bist mir und meiner Sippe etwas schuldig. Und ich werde diese Schuld eintreiben.« Ich sah sein Lächeln verblassen. »Ich werde sie jetzt eintreiben.« Seine Augen verengten sich, ein bewusster Versuch, gegen seine wahren Gefühle anzukämpfen. Ungläubigkeit erfüllte sie, gestützt von seinen Erinnerungen. Dann sog die Kälte, die schwarze Leere seines Lebens, alles außer den Hass aus ihrem Blick. »Kannst du diese Schuld eintreiben, Frau? Ist das nicht zu viel für dich?« Ich weigerte mich, auf sein kleinliches Spiel einzugehen und anderen die Schuld für seine Taten anzulasten, obwohl ich mir der Konsequenzen für ihn und für mich vollauf bewusst war. »Die Schuld ist gewaltig. Das Leben meines Gemahls durch die eigene Hand ausgelöscht. Die Weigerung Fürst Kusunokis, mir diese Gnade zu gewähren. Die Schande, die meine Sippe seit deinem Verrat fühlt. Eine große Schuld, eine Schuld, die ich eintreiben muss, bevor du sie noch vergrößerst. Aber sie ruht nicht auf meinen Schultern. Du bist es, der sie tragen muss.« Sein Lächeln kehrte zurück und seine Gestalt bebte vor Kraft. »Ich werde dich töten, Frau, und du kannst mich nicht töten. Das weißt du.« Ich fühlte, wie sich mein Magen verkrampfte. »Wir lieben uns ...« »Du liebst mich. Ich habe keine Liebe mehr ... zumindest nicht für dich.« 255 »Dein Mangel an Liebe ist offenkundig, durch dein Handeln hier und in der Vergangenheit.« Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, fand meine Mitte und reinigte mich von Wut und Schmerz. »Spürtest du Liebe, so würdest du dich jetzt selbst entleiben, um einen Teil des Schadens zu beheben, den du angerichtet hast.« Ich wurde noch ruhiger. Ich handelte aus Liebe, deshalb war in meinem Tun kein Platz für Zorn oder Hass. »Trinken wir vorher Tee?« Sein Leib zitterte vor stummem Gelächter. »Ich habe genug Zeit verschwendet. Komm, und ich töte dich.« Ich trat aus den Schatten und ihm gegenüber. Wir waren ähnlich gekleidet, von Tabi und Hakama bis zur wattierten Hacke, den Handschuhen und der Kapuzenmaske. Unsere Kleidung war schwarz. Mein Katana war über einer rußigen Flamme ebenso geschwärzt wie das seine. In der Dunkelheit blieben unsere Klingen unsichtbar. Wir verbeugten uns voreinander. Seine Verbeugung war einen Hauch tiefer als meine, nicht aus Respekt, sondern aus Gewohnheit. Sein Geist rebellierte, doch sein Körper handelte wie schon so oft zuvor. Wir richteten uns fünf Schritte voneinander entfernt wieder auf und gingen in Position. Ich hatte beide Hände am Griff meines Schwertes und hielt die Waffe am rechten Ohr nach vorne gestreckt. Meine Haltung war breit und niedrig. Mein linkes Bein stand ihm am nächsten, meine linke Seite blieb ungedeckt. Seine Klinge verschwand fast in den Umrissen seines Leibes. Er hatte eine gute Haltung, die Beine weit 256 genug auseinander, zum Sprung gespannt. Er hielt das Schwert vor sich, vom Heft zur Spitze, schützte sich vom Schoß bis zu den Augen. Wir warteten. Eine Ewigkeit verging, ohne dass wir sie bemerkten. Wir waren beide zugleich lebendig und tot. Ein Angriff würde Jahrhunderte benötigen, um den Gegner zu erreichen, doch der Gegenschlag keinen Pulsschlag dauern. Es war ein Wartespiel, in dem die Zeit keine Rolle spielte, denn sobald sie ins Bewusstsein drang, brachte sie die Ungeduld mit. Im Spiel des Wartens bedeutet Ungeduld den Tod. Sterne schössen über den Himmel, Omen für Mönche und Wahrsager. Jener mochte meinen Tod vermelden, oder den seinen. Verspotteten uns die Götter, indem sie Funken in die Nacht schleuderten, so wie sie fliegen würden, sobald unsere Schwerter sich trafen? Falls unsere Schwerter sich trafen. In einem Augenblick, einem endlosen Augenblick, nahm es seinen Anfang und fand sein Ende. In unserer schwarzen Kleidung, eingehüllt in Dunkelheit, bewaffnet mit rasiermesserscharfem Stahl, den kein Auge erfasste, waren wir Schatten in den Schatten. Wie Fäden öligen Qualms drehten wir uns umeinander, glitten einer durch den anderen. In diesem Augenblick waren wir eins, wie wir es gewesen waren. Diesmal jedoch war es anders. Damals waren Leben und Schöpfung unsere Sorge gewesen. Jetzt wurden Tod
und Verderben zu den Früchten unserer Mühen. Hinter ihm wandte ich mich um - und er drehte sich ebenfalls. Dann brach seine Drehung ab. Seine Knie ^57 gaben nach, sein Schwert flog davon. Seine Hände fielen auf den Bauch und versuchten, die Flut der hervorbrechenden Eingeweide aufzuhalten. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Körper, seine Augen sprachen von Angst. Er sprach die Angst nicht aus. Wie sein Gelächter war sie nur für ihn allein bestimmt. Ich sah ihn sterben, den Mann, den ich getötet hatte. Den Mann, der seine Sippe verraten hatte und meinen Fürsten töten wollte. Ich beobachtete ihn ohne Reue oder Trauer, denn wenn die Liebe stirbt, existiert nichts anderes mehr. Und als er tot war, begrub ich meinen Sohn. Unter Toten... schrieb ich für die Anthologie Historical Hauntings, herausgegeben von Jean Rabe. Ich erklärte mich bereit, eine Geistergeschichte zu schreiben, obwohl ich kein Horrorschriftsteller bin. Aber ich wusste nicht so recht, was ich schreiben sollte, bis ich einen Ausflug nach Las Vegas machte. Ich trat aus dem Casino ins helle Sonnenlicht hinaus und sah die Flucht aus einem dunklen, schummrigen Untergrund vor mir. Der Rest war einfach. Unter Toten ... Ich fühlte mich tot, und das war ganz allein Lancaster Deans Schuld. Mein Kopf pochte vor Schmerzen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es ein Schädelbruch war. Aber wenigstens war er nicht so zermalmt wie der Schutzhelm, der mich wenigstens einen Augenblick lang geschützt hatte. Ich sah seine platt gedrückten Überreste unter einem geborstenen Betonpfeiler hervorragen. Eine verdrehte Stahlstrebe hatte sich von oben geradewegs hindurchgebohrt. Irgendetwas an diesem Anblick ließ mich grinsen und ich spürte die Blutkruste auf meiner rechten Gesichtshälfte brechen. Obwohl sich mein Gehirn anfühlte, als hätte es jemand mit einem Quirl bearbeitet, bemerkte ich das Brechen der Kruste. Es durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag. Ich war lange genug bewusstlos gewesen, um dem Blut Gelegenheit zum Trocknen zu geben. 259 Das war gar nicht gut, denn ich hörte keine Grabgeräusche. Und wenn sie nicht graben ... Ich führte eine hastige Inventur meiner Körperteile durch und stellte fest, dass sie noch alle vorhanden waren. Eine Menge Prellungen, aber nichts war verloren. Ich schniefte und blies eine blutige Rotzblase aus, die ich mit einer Hand wegwischte und dann, weil ich keine andere Möglichkeit sah, am Hosenbein abputzte. Falls ich hier noch einmal rauskam, würde mein Aussehen keine große Rolle mehr spielen. Plötzlich musste ich lachen. Meine Mutter würde sich freuen, dass ich saubere Unterwäsche trug, wenn sie mich danach ins Krankenhaus brachten. Ein kräftiger Schlag auf den Kopf - und plötzlich kannst du nicht mehr gerade denken. Ich zwang mich, durch den Nebel aus Schmerz zu stoßen, und suchte nach meinem Handy. Das einzige Licht hier kam von einigen dieser batteriegespeisten Notlichter und den anderen, die Lancaster Dean - >Der unfassbare Dekan der Magie< - für sein TV-Special aufgebaut hatte. Soweit ich das beurteilen konnte, war dies der einzige Gefallen, den er mir getan hatte, und soweit es mich betraf, nicht annähernd gut genug. Eine halbe Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, es könnte vielleicht nicht alles seine Schuld sein. Die Scottsdale Galleria war eine rosafarbene Monstrosität von Gebäude in der Scottsdaler Innenstadt, die als Einkaufszentrum für gehobene Ansprüche gedacht gewesen war. Eine Bestimmung, bei deren Verwirklichung sie elendig versagt hatte. Nach einer gewissen Zeit als Einkaufsgeisterstadt war sie pleite gegangen und da260 nach noch für ein paar Filme benutzt worden. Der bekannteste war >Tank Girl< - nur damit Sie ein Bild davon bekommen, wie schlimm es aussah. Danach brachte man eine Weile eine Wanderausstellung des Smithsonian darin unter, aber das auch erst, nachdem die Galleria zunächst als Sportbar-Komplex und dann auch als Bürogebäude gescheitert war. Das Gebäude war dermaßen von allen guten Geistern verlassen, dass es sich vermutlich nicht einmal als Obdachlosenunterkunft rentiert hätte. Irgendein Genie in der Stadtverwaltung entschied, dass es weg musste, und wie ließ sich die Aufmerksamkeit besser auf Scottsdale ziehen, als mit einer Sprengung im TV-Special eines Magiers? Lance Burton und David Copperfield winkten ab - für so ein Spektakel hatten sie zu viel Klasse. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass Siegfried und Roy auch abgelehnt hatten, sonst hätte ich hier mit ein paar verdammt wütenden Raubkatzen festgesessen. Ich bin sicher, dass auch noch eine ganze Reihe anderer moderner Houdinis auf diese goldene Gelegenheit verzichteten, aber schließlich fand sich Lancaster Dean. Ich persönlich kann keinen Zauberer von einem Landstreicher unterscheiden, abgesehen von denen, die in mannshoher Leuchtreklame in Las Vegas angekündigt werden. In der Stadt haben sie jedoch ein Mordsgetue wegen diesem Dean gemacht. Das übliche Geschleime, bei dem uns alle örtlichen Medien seine Hintergrundgeschichte um die Ohren schlagen. Sie wissen ja, wie das bei lokalen Fernsehsendern ist - was immer die PR-Leute raushauen, wird gesendet. 261 Der Legende nach ist er mit acht Jahren gestorben -einer seiner Wölflingfreunde schwört heute noch, dass er
nach einem Sturz keinen Puls mehr hatte. Und er behauptet, er sei dem Tod entkommen und zurückgekehrt. Nach diesem größten aller Entfesselungstricks war ihm eine Laufbahn als Entfesselungskünstler vorbestimmt. Keiner der Nachrichtenfritzen beschrieb seine Karriere als >bescheiden<, aber sie benutzten sämtliche Begriffe, die sie verwenden, wenn sie sich wünschen, sie bescheiden nennen zu dürfen. Was mich betrifft, ich kann nur feststellen, dass der Kerl so was wie ein Schmerz im Arsch war. Ich war zu einer letzten Überprüfung der Sprengladungen in die Galleria gegangen, nur, um mich zu vergewissern, dass alles perfekt verdrahtet war und wir die richtigen Pfeiler hochjagten, damit das Gebäude nach innen einstürzte und keine anderen Häuser in der Umgebung mitriss. So etwas nennt sich kontrollierte Implosion, und wir hatten alles dafür vorbereitet. Dean ließ die Inspektion zu einer Tortur werden. Überall hatte er sein Gerumpel rumstehen, und dann bestand er auch noch darauf, nach mir sogar selbst noch eine allerletzte Inspektion vorzunehmen, »nur, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung geht.« Wäre alles, was dieser Clown über Sprengstoff wusste, C-4 gewesen, es hätte nicht gereicht, um sein Toupet einen Zoll in die Höhe zu heben. Und ganz sicher hätte sämtliches C-4 in der Galleria seinem Ego keinen Kratzer zufügen können. Ich fand nur noch die Bruchstücke meines Handys. Mein Walkman war jedoch in bestem Zustand. Er 262 hing sogar noch an meinem Gürtel. Ich hatte bei der Inspektion keine Musik gehört. Ich hatte mir nur angewöhnt, ihn zu tragen, wenn ich mich mit Dean abgeben musste. Ich schaltete ihn ein und drehte die Lautstärke hoch, wenn ich es nicht mehr aushielt, mir anzuhören, wie mir dieses Windei meinen Job erklärte. Ich schaltete auf den lokalen Talk-Radio-Sender und erhielt die Bestätigung für das, was ich bereits wusste. »Willkommen zurück bei 620 Talk Radio. Wir haben Lancaster Dean bei uns im Studio. Um es noch einmal zusammenzufassen, Mr. Dean ...« Ich sah vor mir, wie er sich bei der Antwort aufplusterte - selbst im Radio -, und mir stellten sich die Zehennägel hoch. »Wir haben dort unten einen Mann. Einen sehr tapferen Mann, sehr tapfer. Er war dabei, die Sprengladungen zu überprüfen und ... ich hätte bei ihm sein sollen, aber er ist ein Profi.« »Bis die nächsten Angehörigen informiert sind, wird sein Name zurückgehalten, aber wir wissen, dass es sich um einen fünfunddreißigjährigen Sprengmeister handelt ...« »So ist es, und, also, Tom, falls Sie mich durch irgendein Wunder hören können: Wir holen Sie da raus. Ich schwöre es Ihnen, Pat, und auch all Ihren Hörern, ich werde nicht zulassen, dass Tom da unten stirbt. Ich bin in Kontakt mit dem Rettungsteam, und wenn wir uns auf den Weg machen ...« »Sagten Sie >wir
Ich drehte mich, um ihm das Gerät an meiner Hüfte zu zeigen. »Es hat den Einsturz besser überstanden als ich. Wir sitzen fest.« »Ach ja, und jetzt geben Sie einfach auf?« »Ich habe keine Wahl, oder?« Langsam ging ich wieder auf die Knie. »Sie werden einen Weg finden, uns hier rauszuholen.« »Der Einzige, der Sie hier rausholen wird, sind Sie selbst.« Er kam in die kleine Kammer zurück, wo er sich vor mir aufbaute und auf mich herabstarrte. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sohn. Das Leben ist ein großes Abenteuer und mit Herumsitzen und Warten bekom265 men Sie nichts davon mit. Wenn Sie damit Recht haben, dass Sie tot sind, und Sie tun gar nichts, dann bleiben Sie hier und warten, bis Sie vor Durst umfallen und sterben. Oder, selbst wenn Sie Recht hätten - Sie können schon von hier verschwinden. Sie können weiterkommen und sich nach draußen arbeiten. Vielleicht sterben Sie auch dabei, aber wenigstens wird man Sie nicht einfach irgendwo herumliegend finden. Wenigstens haben Sie dann bis zum Schluss gekämpft. Kann sein, dass man Sie in Erinnerung behält als den Kerl, der hier gestorben ist. Aber besser, man erinnert sich an Sie als an jemanden, der bei dem Versuch umgekommen ist, sich zu befreien.« Dann zwinkerte er mir zu. »Und falls ich Recht habe, wird das die größte Schau, die diese Stadt wohl je gesehen hat.« Es war nicht so, als hätte er mich irgendwie hypnotisiert oder so etwas, aber etwas an dem, was er sagte, packte mich. Ich kämpfte mich auf die Beine, ohne dass er einen Finger rührte, um mir zu helfen. Er ließ es mich alleine schaffen, was das noch unterstrich, was er gesagt hatte. Ich grinste - zum Teufel mit der Blutkruste - und folgte ihm durch das Loch in der Wand. Ich war etwas größer als er und es war verflucht eng. Ich musste meinen Hintern drehen und riss mir dabei eine Tasche meiner Jeans ab. Ich streckte die rechte Hand aus, in der Hoffnung, dass er sie packte. Stattdessen aber fand ich eine Metallstrebe und zog mich daran weiter. Ich kam durch und lehnte mich gegen ein halb eingestürztes Stück Wand, um zu Atem zu kommen. Mein Partner stand mit gekreuzten Armen vor mir. »Das war der erste Schritt. Gehen wir.« 266 »Moment, okay?« »Sie haben noch das ganze Leben Zeit, sich auszuruhen.« »Und das dürfte noch ungefähr fünfzehn Minuten betragen, wenn Sie mich nicht ausruhen lassen.« »Weniger. Ihnen bleiben keine fünfzehn Minuten.« Er runzelte die Stirn. »Sind Sie wirklich dermaßen schlapp?« Ich richtete mich auf und griff mir an den Bierbauch. »Wir werden doch im Alter alle etwas fülliger.« Er schlug sich auf den flachen Bauch. »Nur, wenn uns die Disziplin fehlt.« Dann legte er sich auf den Rücken und klopfte an ein dunkles, dreieckiges Loch in der Wand. »Hier hinein.« »Sie spinnen.« »Es geht. Auf halber Strecke fällt es nach links ab, dann führt es eine Weile aufwärts. Kriechen Sie nicht nach links, sondern nach oben.« Er zwängte sich in das Loch und war verschwunden. Ich ging hinüber, aber ich hörte nichts. Eine Sekunde überlegte ich mir, hier zu bleiben. Die Stille behagte mir nicht. Ich zog den Kopfhörer über und hörte gerade genug von Deans Stimme, um zu entscheiden, dass ich die Stille vorzog. Ein Blick genügte, um mir zu zeigen, dass ich mit dem Walkman hängen bleiben würde, also ließ ich ihn zurück. Leider war ich Dean damit nicht los, denn in Gedanken hörte ich ihn irgendwann in der Zukunft erzählen, wie sie meinen Walkman gefunden hatten, und dass er hoffte, seine ermutigenden Worte hätten mir in meinen letzten Sekunden Trost gespendet. 267 Ich wollte mich übergeben und war ziemlich sicher, dass es nicht an meiner Gehirnerschütterung lag. Der Tunnel war eng. Ich zog mich weiter, streckte die Arme aus, stieß mich mit den Füßen ab, so gut ich konnte. Zwischendurch kratzte immer wieder etwas an meiner Seite, zog an meinem Gürtel oder grub sich in meinen Bauch. In der pechschwarzen Dunkelheit malte ich mir die Krallen seltsamer Kreaturen aus, und das ließ mich an möglicherweise hier lauernde Ratten, Schlangen, Skorpione oder Schwarze Witwen denken. Ich entschied, dass selbst Gottes winzigste Geschöpfe schlau genug waren, von hier zu verschwinden. Trotzdem schüttelte es mich, wann immer irgendetwas über mein Gesicht strich. Auf halber Strecke hing mein linkes Bein in der Luft, doch es war so eng, dass ich nicht nachsehen konnte. Ich blieb in Bewegung, auch wenn es ohne eine Möglichkeit, das linke Bein abzustützen, schwieriger war. Meine Finger kribbelten und schmerzten von der Anstrengung. Dass ich die Luft an mir vorbei nach oben strömen spürte, half mir weiterzumachen, bestärkt von der Entschlossenheit, dass niemand mich in irgendein Zementrohr eingeklemmt finden würde - wie ein Hot Dog in der Kehle irgendeines Fettwanstes. Endlich zwängte ich mich frei. Ich legte mich erst auf die eine Seite, dann auf die andere, wie in einer dieser Zeitrafferaufnahmen eines Pflanzensprosses, der aus der Erde bricht. Ich fiel auf den Rücken und blieb einen Augenblick lang liegen. Schweiß brannte in meinen Augen. Ich keuchte und mein Atem rasselte leise. Vermutlich durch den Staub. 268 Mein Partner stand mit angewiderter Miene über mir und stemmte die Fäuste in die Seiten. Er hatte eine
beeindruckende Ausstrahlung, etwa so wie Rudolfo Valentino. Sehr dramatisch, überaus nachdrücklich und offensichtlich mit meiner bisherigen Leistung ganz und gar nicht zufrieden. Ich zuckte die Achseln. »Tut mir Leid.« »Um wen? Ihre Frau? Ihre Kinder?« »Keine Kinder. Ich hätte gern welche, aber meine Frau hat ihre Karriere - sie ist Rechtsanwältin. Vermutlich wird sie bald Witwe sein und tanzt wahrscheinlich gerade auf meinem zukünftigen Grab.« Ich wälzte mich auf den Bauch und kämpfte mich mühsam auf die Knie hoch. »Haben Sie Kinder?« Er schüttelte den Kopf. »Bess und ich ... Ich bedaure es.« Ich nickte stumm, dann stieß ich einen Seufzer aus. »Sorry, ich mach es nicht grad leicht, hier rauszukommen.« Er grinste. »Sie können es gar nicht leicht machen. Leichter vielleicht, aber nicht leicht. Wäre es leicht, wäre es der Mühe nicht wert. Dann könnte es jeder.« »Ja, aber wenn Dean hier festsäße ...« Er winkte abfällig ab. »Besser Tausend wie Sie als einer wie der. Los, weiter. Noch eine Anstrengung, dann sind wir hier raus.« Ich stolperte hoch und schwankte hinter ihm her. Wir suchten uns einen Weg durch einen Korridor, der den Einsturz halbwegs überstanden hatte, was mir ziemlich sicher sagte, dass ganz in der Nähe eine noch nicht gezündete Sprengladung lauerte. Offenbar war 269 ich im zweiten Untergeschoss der Tiefgarage aufgewacht und bewegte mich jetzt durch das erste nach oben. Schließlich bogen wir um eine Ecke und ich blieb stocksteif stehen. Ein Teil des Innenhofes war eingestürzt, und jetzt formte er einen Archipel aus gefliesten Inseln, die durch verdrehte Stützstreben verbunden wurden. Die Inseln schwebten über einem schwarzen Abgrund, in dessen Tiefe ein paar Notlampen schwach leuchteten. Die Dunkelheit machte es schwierig abzuschätzen, wie tief unter uns sie sein mochten, aber ihr Licht schälte zerklüftete Betonbrocken aus der Nacht. Ganz gleich, wie kurz der Sturz war- die Landung würde schmerzen. Mein Begleiter trat an den Rand des Abgrunds und ging in die Hocke. Er deutete auf eine dreieckige Insel. »Die ist der Schlüssel. Sobald Sie die erreichen, ist der Rest ein Spaziergang.« Ich schloss kurz die Augen. Als ich sie jedoch wieder öffnete, waren die Inseln noch zu sehen. »Ah, das wird sauschwer, die zu erreichen. Da wären erst mal die drei, die immer kleiner werden, und dann noch fast drei Meter bis ans unser Ziel. Und aufwärts.« »Halb so wild. Passen Sie mal auf.« Er ging ein gutes Stück zurück, an mir vorbei, nahm zwei Meter Anlauf und sprang auf die erste kleine Insel. Er landete genau in der Mitte des Ovals, stieß sich ab und flog weiter zur nächsten, zwei Meter weiter. Noch ein Schritt, und seine kräftigen Beine schleuderten ihn auf die kleinste der Inseln. Er ging in die Hocke, als er aufkam, dann sprang er weiter, überschlug sich in der Luft wie ein Profiturner und landete auf der höheren Insel. 270 Er hob jetzt die Arme, als warte er auf Beifall, aber nur das dröhnende Krachen herabstürzender Trümmer hallte durch die Dunkelheit. Er drehte sich langsam um, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Mit leuchtenden Augen nickte er mir zu. »Sie schaffen es, Tom. Los, Sie bringen das.« Ich schüttelte langsam den Kopf. Der pochende Schmerz hinter meinen Augen baute sich auf, bis ich überzeugt war, dass mein Schädel gleich platzen musste. »Das kann ich nicht.« »Sie können es.« Seine Stimme klang nun befehlend. »Sie müssen!« »Ich muss? Wer zum Teufel bilden Sie sich ein, dass Sie sind?« Mit hämmerndem Kopf richtete ich mich zu voller Größe auf. »Mag sein, dass sie mich hier finden oder da unten in der Grube, aber sie werden mich da finden, wo ich entscheide, dass sie mich finden. Ich muss überhaupt nichts.« »Doch, Tom, doch.« Er ging in die Hocke und deutete dorthin, wo mit ziemlicher Sicherheit die Rettung wartete. »Wenn Sie das nicht schaffen, hat Lancaster Dean gewonnen.« »Gewonnen?« »Ja, er gewinnt.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe schon Hunderte, Tausende solcher Typen wie ihn gesehen. Sie besitzen kein echtes Talent, nur das, sich zu verkaufen. Ich kenne mich auf dem Sektor auch ein wenig aus, ernsthaft, aber wenn man etwas verkaufen will, dann muss man auch was zu verkaufen haben. Er hat noch nie irgendetwas anderes getan, als anderer Leute Ideen für sich auszunutzen. Sie wissen, was pas271 sieren wird, wenn Sie das nicht schaffen. Er wird Ihnen einen Auftritt widmen, vielleicht eine ganze Tournee. Sie werden der Freund werden, den er verloren hat, eine kurze Pause in seiner Show, die ihn zwingt innezuhalten. Ihr Tod wird einen großen Mann vor seinem Publikum in die Knie zwingen, und dafür wird man ihn noch mehr bewundern. Wollen Sie das? Wollen Sie den Kerl, der Sie hierher gebracht hat, für ein paar Krokodilstränen in Ihrem Angedenken zum Helden machen?« Ich knurrte. »Ja ja, ich versuch es und schaffe es nicht, und dann erfahren die Leute, wie schrecklich mein Ende war. Ich kenne diesen Medienmist. Ich seh ihn dauernd. Ich bin nicht blöd. Es wird nicht lange dauern, und keiner weiß mehr, wie ich gestorben bin. Er wird trotzdem gewinnen. Er ist Lancaster Dean. Ein Star. Er ist der
Mann, der dem Tod entkommen ist!« »HA!« Der Mann sprang auf und starrte mich mit einem Blick an, der mich unwillkürlich zurückweichen ließ. »Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie glauben diesen Schwachsinn. Er ist nie gestorben. Das war ein Trick.« »Woher wissen Sie das? Waren Sie dabei?« »Nein, aber ich weiß es.« Seine Stimme wurde etwas leiser. »Wenn man stirbt, sieht man die Dinge aus einer anderen Perspektive. Den Applaus von Millionen zu ernten, ist ohne Bedeutung. Man lernt, was im Leben zählt. Er hat diese Lektion ganz offensichtlich nicht gelernt.« Ich nickte nachdenklich. »Vielleicht muss man nicht erst sterben, um das zu erkennen.« Ich bin kein großer Denker, und außerdem hatte ich gerade einen mächtigen Schlag auf den Kopf bekommen. Was in diesem 272 Augenblick für mich zählte, waren ein wenig Sonnenschein, das Lächeln meiner Frau, ein kaltes Bier, ein gegrilltes Steak und vielleicht, aber nur vielleicht, eine Chance, Lancaster Dean die Fresse zu polieren. Ich ging zurück an die Stelle, an der mein Begleiter losgerannt war, und lief selber los. Den Sprung zur ersten Insel schaffte ich locker, möglicherweise zu locker. Ich hatte weniger Schwung, als ich mir gewünscht hätte, als ich weitersprang, schaffte es jedoch trotzdem auf die zweite Insel. Dort hatte ich Platz für einen Extraschritt, dann weiter zur dritten. Sie hing da wie ein winziger Fliegendreck in einem Meer aus Schwarz, aber ich traf sie. Jetzt musste ich nur noch in die Hocke gehen und dann hochfedern, so wie er es mir vorgemacht hatte ... Ja, und dann ein Salto wie eine zierliche kleine Olympiaturnerin ... Es waren eigentlich nicht dieser Gedanke und die Unmöglichkeit, ihm das nachzumachen, die meinen Untergang bedeuteten. Mein Freund war kleiner und leichter als ich, und er war anders aufgekommen. Er war ein kleiner Velociraptor, und ich war ein Tyrannosaurus Rex, geradewegs aus >Jurassic Park< gekommen. Meine Sätze brachten alles zum Beben. Mein Ziel schüttelte sich, als ich aufsetzte, und kippte hart nach links. Eine Fliese zerbrach unter meinem Fuß und ich fiel. Ich landete auf der rechten Hüfte und rutschte weg. Dann fühlte ich meine Beine durch die Luft wedeln, meinen Hintern über den Rand schliddern. Ich versuchte, mich festzuhalten, brach mir die Nägel der rechten Hand ab, als ich verzweifelt um 273 einen Halt kämpfte. Ich rutschte immer noch, als ich plötzlich anhielt. Meine Beine baumelten über dem Abgrund und ein stechender Schmerz bohrte sich in meine linke Hüfte. Ich griff nach hinten und fand eine gekrümmte Stahlstrebe, an der sich mein Gürtel in der Nähe der rechten Pobacke verhakt hatte. Ich kippte nach vorn, aber mein rechter Fuß schlug gegen eine längere Strebe und bot mir Halt. Bebend klammerte ich mich an mein kleines Stück Beton. »Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.« Ich hörte seine Stimme von der Dreiecksinsel über mir herunterhallen. »Alles in Ordnung?« »Oh, Teufel, ja, mir geht's prächtig für jemanden, der an einem Stück Stein über einem verdammten Abgrund baumelt. Klar, alles bestens.« Ich knurrte wieder, dann sah ich hoch. »Denken Sie nicht einmal daran, herunterzukommen. Selbst wenn Sie mich befreien könnten, hier ist nicht genug Platz, und Sie kämen auch nicht wieder hoch. Gehen Sie ohne mich weiter.« »Ich lasse Sie hier nicht allein.« Seine Stimme klang wieder schneidend. »Sie werden sich befreien. Sie müssen sich befreien.« »Ist ja gut, Sherlock. Aber ich bin derjenige, der hier baumelt.« »Sie können es schaffen, Tom.« »Halten Sie jetzt vielleicht mal die Klappe? Ich muss nachdenken.« »Ja, natürlich.« Seine Stimme wurde zwar leiser, doch mir war klar, 274 er würde weiterquasseln. Fast hätte ich ihm noch einmal befohlen, ruhig zu sein, aber da ich ihn nicht sehen konnte, war seine Stimme der einzige Beweis, dass ich nicht allein war. Und in meiner momentanen Lage wurde nicht allein zu sein ein ziemlich bedeutender Aspekt meines Lebens - das, ehrlich gesagt, ziemlich dicht daran war, zu enden. »Wollen Sie wissen, wie er es gemacht hat, Tom?« »Was gemacht?« »Seinen Tod vorgetäuscht.« »Äh, klar.« Ich griff nach unten und schnürte meinen linken Arbeitsschuh auf. Ich hakte den kleinen Finger durch die Schlaufen des Schnürsenkels, damit er nicht nach unten fallen konnte. Vorsichtig zog ich ihn vom Fuß und hob ihn auf die Insel, während mir mein Begleiter Deans Trick erklärte. »Es ist gar nicht so ungewöhnlich, Tom. Die Fakire in Indien haben das früher dauernd gemacht. Man nimmt einen kleinen, harten Gummiball und versteckt ihn knapp unter der Achsel. Wenn man dann den Arm gegen die Brust drückt, schnürt der Ball die Blutzufuhr zum Handgelenk ab. Deans Freund suchte am Handgelenk nach einem Puls, fand jedoch keinen und rannte los, um Hilfe holen.« »Ist ja irre! Dieser Hurensohn hat also die ganze Zeit gelogen.« Ich grinste und verlagerte mein Gewicht weit genug, um mit den Zehen ein unsichtbares Stück Strebe zu packen und danach den rechten Fuß weit genug zu
heben, um auch diesen Schuh zu öffnen. »Deshalb haben Sie also gesagt, er besitzt kein wirkliches Talent.« 275 »Das ist ein Grund, ja. Und, Tom, ich vertraue darauf, dass Sie das für sich behalten.« »Deans Geheimnis?« »Den Trick mit dem Ball. Es wird nicht gern gesehen, dass man so was ausplaudert.« »Ihr Geheimnis ist sicher.« Ich hob den rechten Schuh neben den anderen auf die Flieseninsel und löste beide bis hinunter zu den drei letzten Schlaufen an jedem. Dadurch hatte ich knapp über einen Meter doppelten Schnürsenkel zur Verfügung. Mit den Zähnen und der linken Hand verknotete ich sie fest und sicher. Jetzt hatte ich zwei schwere Arbeitsschuhe, die mit gut einem Meter Schnürsenkel verbunden waren. Ich sah hinauf zur Dreiecksinsel und fand eine Strebenkante. »Okay, gehen Sie weg von der Kante und halten Sie sich an irgendwas fest. Ich habe nur eine Wahl, und ich möchte uns nicht beide umbringen.« »Verschwenden Sie daran keinen Gedanken, Junge. Tun Sie, was Sie tun müssen.« »Okay, mehr als schief geh'n kann es ja nicht.« Das Paar Schuhe in der linken Hand, zusammengebunden wie Turnschuhe, die man über eine Stromleitung wirft, versetzte ich meine kleine Insel in Schwingungen. Ich weiß, es klingt wahnsinnig, aber ich hatte wirklich keine andere Wahl. Mein Gewicht hatte meine Insel so weit abwärts gedrückt, dass ich das Dreieck nicht erreichen konnte. Ich konnte sie nur hoch genug bekommen, indem ich die Elastizität der Stahlstreben ausnutzte. Das Schaukeln war für meinen Schädel auch kein Genuss, abgesehen davon, dass es das Pochen an den 276 Rhythmus der Bewegung anglich. Im Aufschwung warf ich die Schuhe zum ersten Mal, traf aber nicht. Ich schwang weiter, kräftiger, doch die Stiefel prallten ab. Ich hörte Betonbrocken in den Abgrund krachen und wusste, dass das ganze Inselgerüst abzustürzen drohte. Ich wagte einen letzten kräftigen Schwung und passte genau den richtigen Moment ab. Der rechte Schuh flog über eine Metallstange und drehte sich zweimal herum. Mit der Rechten riss ich die Gürtelschnalle zurück, löste den Gürtel und ließ die Strebe, die ihn festgehalten hatte, wegrutschen. Die kleine Insel schlug, als sie abwärts fiel, gegen mein rechtes Bein. Dann hing sie zitternd unter mir und das hüpfende Strebengitter zwitscherte wütend. Ich zog im Hängen den Gürtel aus den Schlaufen der Jeans, schlug ihn doppelt und hakte ihn über eine zweite Strebe. Dann hielt ich mich fest und zog mich hoch. Ich ließ die Schnürsenkel los und griff ans Metall, danach packte ich den Gürtel ein Stück weiter oben. Mein linker Fuß fand eine andere lange Strebe und ich schloss die Zehen um das Metall. »Jetzt haken Sie das Kinn da oben ein. Handgriff rechts.« Er blieb auf der oberen Seite des Dreiecks, nickte und deutete hin. Es war dieses Kopfnicken, die Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg war, seine Zuversicht, die es mich bis auf das Dreieck schaffen ließ. Ich bin sicher, als ich mich erst mit dem Kinn auf der Oberkante der Insel befand, half mir ein Adrenalinschub, mich ganz in Sicherheit zu zerren. Doch sein Kopfnicken war es, das 277 mir sagte: Ich kann es schaffen. Irgendwie schien es ebenso wichtig, ihn nicht zu enttäuschen, wie lebend da herauszukommen. Ich kroch auf das Dreieck, dann drehte ich mich um und holte meine Schuhe. »Lassen Sie sie dort, wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Nein. Sie haben mir das Leben gerettet.« Ich grinste ihn über die Schulter an. »Außerdem - wissen Sie, wie lange es dauert, gute Arbeitsschuhe einzulaufen?« Er lachte und lief flink einen langen Streifen Fliesen entlang. Ich hängte mir die Stiefel an den Schnürsenkeln um den Hals und folgte ihm vorsichtig. Bald hatten wir festen Boden erreicht. Ich drehte mich um und sah zurück. Die Inseln schwangen in der Leere, brachen langsam auseinander. Von weiter oben stürzten Trümmer wie Kometen herab, einen Staubschwanz nachziehend. Ein riesiger Brocken zertrümmerte die Insel, an der ich gehangen hatte. Ich schüttelte mich. »Nur noch eine Minute.« »Eine Minute, die Sie nicht mehr haben, Tom.« Er deutete auf einen aufwärts führenden Tunnel, an dessen Ende ich Scheinwerfer leuchten sah. »Bewegung.« Ich kletterte hoch und schaffte es über eine schwierige Stelle. Dann drehte ich mich, um ihm zu helfen, aber er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er stand noch immer am Tunneleingang. »Kommen Sie, wir sind in Sicherheit. Wir haben es geschafft.« »Sie sind in Sicherheit, Tom. Sie haben es geschafft.« Er grinste und hob zum Gruß zwei Finger an die Stirn. »Ich muss zurück, meine Mutter holen.« 278 Damals ergaben seine Worte keinen Sinn für mich, hauptsächlich, weil ein Donnergetöse berstenden Betons sie überlagerte. Ein beachtlicher Teil dessen, was noch stand, wählte genau diesen Moment, um ebenfalls einzustürzen. An meinem Standort im Tunnel war ich etwa in derselben Situation wie eine Metallkugel in einem Luftgewehr. Ein gewaltiger Schub Staub und Luft schleuderte mich aus der Ruine. Ich flog hoch durch die künstlich erhellte Nacht, ein böses Omen für Lancaster Dean, aber ich hätte mich nicht besser fühlen können.
Durch die Medienpräsenz und all die Kameras habe ich mir meinen Flug noch oft ansehen können, aus den verschiedensten Blickwinkeln. Die Landung ist meine Lieblingsstelle, denn da saß er, Lancaster Dean, an einem improvisierten Tisch, und wurde interviewt, als ich herunterkam. Er und der Interviewer hatten sich bei dem Donner zur Galleria umgedreht. Der Reporter fiel in die eine Richtung, Dean in eine andere und sein Toupet in eine dritte - und ich rammte Dean durch den Tisch. Die Ärzte erzählten mir, ich sei durch die Gehirnerschütterung und den Blutverlust ziemlich von der Rolle gewesen. Sie ließen sogar einen Psychiater kommen und mir erklären, dass mein Wegbegleiter, von dem ich ständig redete, nie existiert habe. »Es ist ganz normal, dass sich manche Menschen in Stress-Situationen einbilden, jemand wäre bei ihnen, um nicht allein zu sein. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.« Klar, machen Sie sich keine Sorgen, aber schlucken Sie diese Pillen, bis Sie aufhören, Unsinn zu reden. Ich 279 hörte ziemlich schnell auf, Unsinn zu reden, vor allem, nachdem jemand meine Geschichte an ein Revolverblatt verkauft hatte und ich lesen durfte, ich hätte behauptet, ein Engel habe mich in Sicherheit geführt. Doch auch wenn ich aufhörte, darüber zu reden, wusste ich trotzdem noch, dass ich Recht hatte. Ich hatte den Beweis. Und dieser kleine rote Beweisball eignete sich großartig dazu, den Erstsemester-Medizinstudenten die Farbe aus dem Gesicht zu treiben, wenn sie meinen Puls nahmen - und keinen fanden. Kim, meine Frau, besorgte mir den Ball. Dass ich fast umgekommen wäre, half ihr auch zu erkennen, was im Leben zählt, und unsere Lebenswege trafen sich wieder. Sie war es auch, die herausfand, dass es einen Kurzschluss gegeben hatte, der die Sprengladungen auslöste, als Lancaster Dean einen Nasenhaarrasierer in eine schon völlig überlastete Steckdose gesteckt hatte. Die Abfindung deckte die Kosten für unser neues Haus. Schließlich würden die Kinder irgendwann eigene Zimmer verlangen. Die Entschädigung der Revolverblätter für die falschen Berichte dürfte ihnen das College bezahlen. Etwa zu der Zeit, als ich weit genug geheilt war, um wieder präsentabel zu sein, arrangierte Lancaster Dean ein Abendessen im Doubletree Resort. Es war nicht mehr und nicht weniger als eine Gelegenheit, sich mit mir ablichten zu lassen. Wir waren als die beiden Männer, die dem Tod von der Schippe gesprungen waren, berühmt geworden - und die Fotografen waren begeis280 tert, als ich vorschlug, sie sollten ein Bild davon machen, wie Dean meinen Puls fühlte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er keinen fand, war unbezahlbar. Zu schade, dass es keines der Bilder in seine PR-Mappe schaffte. Doch erst drei Wochen später, als ich mir bei meinen Turnübungen eine dieser Boulevardshows im Fernsehen ansah, fielen die letzten Puzzlesteine an ihren Platz. Es war gleich nach dem Segment, in dem Dean ankündigte, dass er sich aus dem Showgeschäft zurückziehen würde. Sie brachten einen kleinen Einspieler über mich und meine Flucht aus dem einstürzenden Gebäude, und verglichen sie mit den besten Entfesselungskunststücken berühmter Zauberer. Und dabei sah ich meinen Begleiter wieder. Die einzigen Bilder von ihm waren schwarz-weiß aber das Lächeln und die Augen, besonders die Augen, waren unverwechselbar. Zum Abschluss des Beitrags erklärte der Sprecher, meine Flucht sei besser gewesen als jeder Trick, den er jemals vorgeführt hatte. Natürlich irrte er sich. Harry Houdinis größter Triumph war es gewesen, als er den Abgrund überquerte, der die Lebenden von den Toten trennt. Er fand einen Freiwilligen aus dem Publikum, nahm ihn mit und brachte ihn heraus. Und er blieb sich bis zum Ende treu. Nur Harry konnte glauben, dass ihm diese Reise zweimal gelingen würde, das nächste Mal mit seiner Mutter. Und wissen Sie was? Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass er es geschafft hat. 281 Auf den Gedanken kommt es an schrieb ich für eine der l/Mafdun/f-Anthologien von Mike Resnick. Mike bot jedem Autor die Wahl zwischen zwei Szenarien, und wir sollten eine SF-Kriminalgeschichte schreiben, die seine Vorgaben erfüllte. Ich hatte zunächst zwei Fehlstarts bei dem Versuch, diese Geschichte über einen Mann zu schreiben, der seine Ehefrau ermordet hat, und einen Telepathen, der ihn überführen muss. Das Ganze wurde etwas verdreht, aber mir gefällt sie trotzdem. Auf den Gedanken kommt es an Sie betrat mein Büro auf Beinen, die so lang waren, dass sie als Stelzen durchgehen konnten. Derartige Schenkelchen kommen normalerweise woandersher, aber sie sah mir ganz nach einem Babyfabrik-Original aus. Das hochgeschlossene schwarze Kleid klebte an ihrer Figur, doch der breite schwarze Gürtel, die Perlen und der Hut mit Schleier verrieten mir, dass sie nicht auf Brautschau war. Sie war auf etwas anderes aus und hielt mich für den richtigen Mann, um es ihr zu besorgen. Sie blickte zu mir auf, ihre grünen Augen blitzten mich aus einem Fuchsgesicht an. Es durchzuckte mich wie ein Schlag. Unwillkürlich schaute ich nach, ob der Datamaster-301-Schreibtisch schon wieder einen Kurzschluss hatte, aber er arbeitete einwandfrei. Ich schenkte ihr ein Lächeln. Sie gab es mit Zinsen zurück, dann 282 fasste sie ihre Handtasche mit beiden behandschuhten Händen und hielt sie vor den flachen Bauch. »Mr. Martel? Ihre Sekretärin sagte, ich soll durchgehen.« Sie warf einen Blick auf den Holzstuhl vor meinem
Schreibtisch. »Darf ich?« Ich nickte. Eine Frau wie sie wirkt in einem Büro wie meinem völlig fehl am Platz. Ich halte es dunkel, damit ich nicht sehen muss, wie schäbig es ist. In der Mikrowelle auf dem Rollschrank drängen sich die Flecken von einer Million Tassen heißgestrahlten Kaffees. Auf den Regalbrettern stapeln sich Optikdatendisks. Die Beleuchtung ist so schwach, dass sie sich nicht einmal in ihren versilberten Oberflächen spiegelt. Das Sofa ist zugeschüttet mit Ausdrucken alter Fälle. Plötzlich wurde mir schmerzhaft klar, dass alle meine Fälle alt waren, genau wie mein Anzug. Eine Pechsträhne, aber möglicherweise ging die soeben zu Ende. Ich nickte in Gedanken, und sie fasste es als Zeichen auf loszulegen. Ich hätte den Irrtum korrigieren können, verzichtete aber darauf. »Ich bin seit Kurzem verwitwet. Mein Mann, Ken Cogshill, hat sich das Leben genommen.« Ich hatte das alles schon gehört. Genau genommen hatte ich alles schon gelesen, in ihren Gedanken. Etwa eine Sekunde, bevor sie die Worte aussprach, formten sie sich in ihrem Geist, und ich kannte sie. Sie beeindruckte mich. Überlegt und direkt. Die meisten Frauen haben nicht einmal ein Viertel dieser Vorlaufzeit. Sie blinzelte mit ihren großen Augen, unternahm aber keinen Versuch, die einzelne Träne wegzuwischen, die eine Spur aus Wimperntusche über ihre rechte 283 Wange zeichnete. »Ich habe meinen Mann geliebt, Mr. Martel, aber er ließ sich mit Richard Hybern ein. Erst dachte ich, es wäre nichts weiter als dessen Neue-Männer-Bewegung, aber er wurde Teil von Hyberns innerem Kreis. Ken hat ihm alles überwiesen. Und dann hat er sich umgebracht. Mir ist nichts geblieben.« Ich hätte zwar nicht gesagt, dass ihr gar nichts mehr geblieben war, aber damit konnte sie weder die Miete noch den Strom bezahlen. Ich sah sie an, ohne ein Wort zu sagen. Die meisten meiner Klienten glauben entweder, ich wollte damit einen harten Kerl markieren, oder sie betrachten es als Zeichen von Dummheit. Natürlich könnte es beides sein, aber vor allem gibt es mir eine Chance festzustellen, ob sie irgendetwas vor mir verbergen, ebenso wie sie es von mir annehmen. Falls ja, kommt es zum Vorschein. Dann warte ich noch etwas länger ab, ob sie es noch zur Sprache bringen oder an noch mehr Zeug denken, von dem sie nicht wollen, dass ich es erfahre. Sie hatte ein Ass im Ärmel, aber das wollte sie nicht ausspielen. »Ich habe mich mit ein paar Freunden unterhalten, und sie haben mir gesagt, Hamilton Martel sei hier der beste Privatdetektiv.« Ich sah Mortimer Phibbs durch ihre Gedanken zucken. Die Narben, die ich von diesem Scheidungsfall abbekommen hatte, spürte ich immer noch. »Mr. Martel, Sie müssen mir helfen.« »Harn. Nennen Sie mich Harn.« Ich weiß, es ist ein blöder Spitzname - Schinken, Himmel hilf -, aber er hat mir im Steinberg-Kannibalenfall das Leben gerettet, also bleibt es dabei. »Ich helfe Ihnen, wenn Sie mir eine Frage beantworten, Mrs. Cogshill.« 284 »Louise, bitte. Fragen Sie.« Sie nahm den Hut ab und ließ eine feuerrote Haarmähne auf die Schultern fallen. »Ich möchte Ihnen gegenüber völlig offen sein.« »Haben Sie Ihrem Gatten je gesagt, dass Sie Hybern aufsuchten und dieser Besuch damit endete, dass Sie mit ihm den horizontalen Tango tanzten?« »Woher wissen Sie das?« Ihre Wangen wurden um eine Schattierung dunkler als ihr Haar. Sie riss sich von meinem Blick los. »Ich schätze, Sie sind tatsächlich der richtige Mann für mich.« Sie ahnte gar nicht, wie Recht sie hatte, aber das gehörte nicht hierher. »Sie vermuten, Hybern hat es Ihrem Mann erzählt, und das hat ihm den Rest gegeben, richtig?« Ich kannte die Wahrheit, schon bevor sie antwortete. »Ja, nein, ich ...« Die Handtasche öffnete sich und diesmal kam rechtzeitig ein Taschentuch zum Vorschein, um die Tränen aufzufangen, die den Mascara-Highway entlangrollten. »Ken und ich hatten schon einiges durchgemacht und wir liebten uns. Er war einmal fremdgegangen, mit seiner Sekretärin, und ich habe ihm verziehen. Ich habe nie angenommen, dass es mir das Recht gäbe ... Ich weiß, wir hätten das durchstehen können. Aber ich fühlte mich so schmutzig und erniedrigt. Ich fühlte mich benutzt.« Alles, was sie sagte, registrierte ich auf meinem eingebauten Stussmesser als die Wahrheit. »In Ordnung, Louise, ich kann Ihnen helfen. Ich soll für Sie herausfinden, ob Hybern Ihrem Mann von ihrer Affäre erzählt hat und ob ich Ihnen das Familienvermögen zurückbeschaffen kann. Richtig?« Ich formulierte die 285 Frage bewusst so. Das ließ meine Arbeit als Wohltätigkeit erscheinen. Außerdem lege ich tatsächlich das Hauptgewicht darauf, den Leuten zu helfen. »Ja, ja, Sie verstehen das richtig.« Ich schenkte ihr mein >Alles-im-Griff<-Lächeln. »Ich berechne 5 Mille pro Tag plus Spesen.« Ich spürte ihre Überraschung, denn sie wusste, dass ich im Phibbsfall das Doppelte bekommen und Phibbs für meine neue Niere hatte blechen lassen. Was sie nicht wusste, war, dass ich meine Preise danach auslege, wie schmerzhaft der Anblick des Kunden ist. Sie nickte und griff sich an den Hals. Als sie die Hände wieder senkte, hielten sie die Perlenkette. »Das ist alles, womit ich Sie bezahlen kann.« Ich zuckte die Achseln. »Gehen wir raus zu meiner Sekretärin. Sie kann das arrangieren.« Ich vertraute Louise Cogshill, und sie war überzeugt, dass es sich um echte Zuchtperlen handelte. Ich verdiene meinen
Lebensunterhalt damit zu beweisen, dass Ehemänner ihren Frauen jeden Müll auftischen, wenn sie etwas ausgefressen haben, aber ich hatte nicht das Herz, ihr zu eröffnen, dass Kenny sie möglicherweise auch mit den Perlen betrogen hatte. Ich ließ ihr den Vortritt. Das war höflicher. Außerdem war es ein Vergnügen, ihr zuzusehen. »Dolores, dies ist Louise Cogshill. Unsere neue Klientin. Wir berechnen vier große Scheine am Tag plus Spesen.« Als mich beide überrascht anstarrten, hob ich die Schultern. »Sie ist Witwe.« Mit einem geilen Gang. Dol hätte fragend eine Augenbraue in die Höhe gezogen, wenn sie eine besessen hätte. Sie ist platin286 blond - aus echtem Platin. Ich habe sie vor einem Blind Date mit einem Schrottplatzmagneten gerettet und die Daten auf einem in ihrem Innern versteckten Eprom dazu benutzt, das Diskhaus ihres früheren Chefs zum Einsturz zu bringen. Seitdem arbeitet sie für mich, und seit ich mich als ihr Ritter in schimmernder Wehr herausgestellt habe, machten ihre Loyalitäts- und Hingabeprogramme Überstunden. Die Perlen sanken klirrend in Dols offene rechte Hand. Sie hob sie dicht ans Gesicht und ein dünner roter Lichtstrahl zuckte aus ihrer rechten Pupille. Der Laser glitt über ein paar der Perlen, dann schaltete er sich ab. Sie sah mit großen, elektrisch blauen Augen zu mir auf und blinzelte einmal. Die Perlen waren echt. Ich brachte Louise zur Tür und legte ihr die Hand in Taillenhöhe auf den Rücken. »Wenn ich etwas weiß, melde ich mich.« »Soll ich Ihnen meine Nummer geben?« Ich zwinkerte ihr beruhigend zu, als ich mir die Nummer einprägte, die durch ihre Gedanken glitt. »Die finde ich schon.« »Sie steht nicht im Telefonbuch.« Sie zweifelte an mir. »Ich habe gewisse Möglichkeiten, Louise.« Ich merkte mir auch ihre Privatnummer. »Schließlich bin ich Detektiv.« Sie strahlte mich an und ich vergaß, was sie dachte. »Es heißt, Sie sind der Beste. Viel Glück.« Glück braucht man, wenn man Karten spielt. So etwas tue ich nicht. Ich schummle. Ich kenne das Ergebnis noch bevor ich setze. Man mag es für unmoralisch halten, auf eine sichere Sache zu setzen, aber ich 287 halte das, was Hybern mit ihr und ihrem Mann getan hatte, für unmoralisch. Also bekämpfte ich Feuer mit Feuer. Wer durch das Schwert lebt, Hybern, der kommt auch dadurch um. Ich schloss die Tür hinter ihr und drehte mich zu Dol um, die züchtig an ihrem Schreibtisch saß. Sie hielt die Hände wie über einer Tastatur, aber da war keine. Ihre Finger betätigten Phantomtasten. Manche nennen so etwas eine virtuelle Tastatur. Ich nenne es eine Methode, die teuren kleinen Servomotoren in ihren Händen zu ruinieren. »Harn, ich habe den Scan der Perlen an Bronco geschickt. Er ist in der Leitung. Er sagt, er geht für sie auf vierzehn, aber wir verhandeln noch. Er will wissen, ob wir sie beleihen wollen oder ob er sie verkaufen kann.« Obwohl ich ihre Gedanken nicht lesen kann, wusste ich, was sie dachte. Sie wollte, dass ich die Perlen verkaufe, damit ich sie der Witwe Cogshill später nicht als galante Geste zurückgeben konnte. »Erst mal nur beleihen. Sie könnten das einzige Andenken an ihren Mann sein, das ihr geblieben ist.« Dol nickte, wie sie es immer tut. Sie behauptet, nur mein bestes Interesse zu verfolgen. Sie sagt auch, ich sei ein auf dem Schienenübergang der Liebe liegen gebliebener PKW. Doch sie ist immer zur Stelle, um die Trümmer einzusammeln, nachdem ich platt gewalzt worden bin. »Ja, Mr. Martel.« »Nicht diesmal, Dol. Du hast mich ganz für dich, das weißt du.« 288 Ihre Finger hielten an. »Ja, Mr. Martel«, wiederholte sie und ließ den Sprachsynthesizer ihre Stimme anheben, um den Worten einen ironischen Klang zu geben. »Mit den sechzehneinhalb, die ich Bronco gerade abgeluchst habe, können wir alle unsere dritten Mahnungen begleichen.« Ich grunzte nachdenklich. »Gut. Pass auf, ich brauche alles, was du über Richard Hybern auftreiben kannst. Und eine Akte über Cogshill.« Ich griff nach dem Hut und zog den Trenchcoat über. »Ich gehe essen. Sag dem Wiesel, ich bin bei Mickey« »Warum nimmst du mich nie irgendwohin mit, Harn?« Ich wusste so genau, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde, als hätte ich ein Drehbuch vor mir. Ich sah in die Ecke hinter dem Schreibtisch, auf die silberne Brezel, die die Schläger unseres Vermieters aus ihren Beinen gedreht hatten, als wir das letzte Mal die Miete schuldig waren. »Wie viel?« Sie hatte die Unschuldsmiene voll drauf. »Fünf.« »In Ordnung.« Ich lächelte sie an und öffnete die Tür. »Lass sie nur machen, und wir beiden Hübschen gehen tanzen.« Wir Telepathen sind so selten wie ehrliche Politiker. Ich bin mir nicht sicher, woran das liegt, aber ich habe meine Vermutungen. Als die Feds Insidergeschäfte zu einem Schwerverbrechen erklärt haben, hat das einigen von uns das Genick gebrochen, und ich schätze, der Geheimdienst und das FBI haben den Rest eingesammelt. Der Mob kennt ein paar interessante Tests auf 289
telepathische Begabung, aber der Preis, wenn man sie besteht, ist klein, aus Blei und kommt schnell. Deshalb mache ich einen weiten Bogen darum. Ich schob mich hinter meinen Tisch in Mickeys Diner und suchte Arnies Gedanken nach einer Empfehlung ab. Als ich nichts fand, entschied ich mich für das kleinste Übel. »Burger, Fritten und ein Käffchen.« »Geht klar«, raunzte er um eine durchgekaute Zigarre herum. »Verbrenn 'ne Kuh und schütt 'ne Ladung Knollen ins Fett«, brüllte er dem Elvis in der Küche zu. Der Kaffee floss in meine Tasse wie 10-W-40-M0-toröl. Ich war nicht sicher, ob ich es schaffen würde, ihn zu trinken, bevor er sich ins Steingut fraß. Aber ich ließ ihm trotzdem einen Vorsprung. Ließ ich ihn abkühlen, machte ihn das zwar schwerer zu kauen, aber meine Zunge zu pochieren stand nicht auf der Liste der Dinge, die ich mir für heute vorgenommen hatte. Das Wiesel schob sich auf die Bank mir gegenüber, und das rissige Naugahyde setzte seiner Polyesterhose zu wie Reporter, die einen Skandal wittern. Es grinste mich breit an und hoffte, eine Reaktion zu provozieren, aber ich schaltete ihn ab. »Was ist los, Mann?« Ich zuckte die Achseln. Das Wiesel ist schwach begabt. Wenn ich Meisterklasse bin, ist er bestenfalls Amateur. Er nimmt starke Gefühle wie Habgier oder Lust wahr und nutzt sie für Betrügereien. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sich seiner Begabung bewusst ist. Ich weiß aber, dass er sie hat, weil ich fühle, wie er herumtastet. 290 »Hab einen neuen Fall. Du hast doch schon mit diesen Neuen Männern zu tun gehabt, oder?« »Den Bly-Institute-Lesungen? Ja.« Er grinste wieder. »Jede Menge Bürohengste, die es nicht erwarten können, ihre Synthohaut abzulegen und zurück zu den Ursprüngen zu gehen. Ich hab ein paar Verbindungen und verkauf ihnen gebrauchte >Navajo<-Klamotten, damit sie für ihre Pow-Wows anständig gekleidet sind.« In seinem Hirn schmiegte sich die Selbstgefälligkeit um ein Etikett mit dem Aufzug >Made in Moldovas »Hübsche Sache.« »Ich krieg sogar ihre Halstons dazu. Wenn ich die weiterverkaufe, ist das reiner Gewinn.« »Bist du je Richard Hybern begegnet?« Arnie brachte meinen Teller und das Wiesel zuckte wie vor einem Verkehrsunfall zurück. Das konnte am Essen liegen. Der Burger sah aus, als wäre er erst geschmiedet und dann lackiert worden. Und die Fritten ... sie in Ketchup zu ertränken, war ein Dienst am Gemeinwohl. Außerdem brauchte ich eine Gemüsebeilage. »Ihm selbst nie, aber ich habe ein paar seiner Werber kennen gelernt. Kälter als marxistische Versprechungen, diese Typen. Sie hängen bei Blyathons herum und ziehen die Elite raus, um sie Hybern vorzustellen.« Das Wiesel verzog das Gesicht. »Meine Kunden nehmen sie nie.« »Ihr arbeitet auf verschiedenen Stufen der Nahrungskette, Kleiner.« Ich riss ein Stück aus meinem Burger, zwang es zwischen meine kräftigen Zähne und 291 kippte etwas Java hinterher, um seinen Abgang zu schmieren. »Du warst nie auf einem Hybern-Treffen?« »Verglichen mit Hybern sind die Freimaurer geradezu öffentlich. Das ist eine geschlossene Veranstaltung. Mitglieder laden andere Mitglieder zu einer Bly-Lektion ein, und dann machen sich die Hybern-Werber an die Arbeit.« Der Wiesel stellte sich mich in einer von Kugeln durchsiebten Eselsmütze vor. »Du bist doch wohl nicht hinter Hybern her?« »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?« Er glaubte ja, doch zu diesem Zeitpunkt stimmte es schon nicht mehr. »In diese Gruppe tritt man lebenslänglich ein, Mann.« Und damit meinte er nicht für lange. Als ich zurück ins Büro kam, sah ich einen Reparaturmeck hinter Dols Schreibtisch knien. Möglicherweise hätte ich mir dabei meinen Teil gedacht, aber Reparaturmecks sind für so was nicht ausgestattet. Zwei seiner Arme hielten ihr linkes Bein fest, während ein anderes Paar es langsam gerade bog. Die beiden Übrigen - die kleinen für Feinarbeiten - löteten Verbindungen an ihren Stummeln. Ihr Kopf drehte sich um hundertachtzig Grad zu mir. »Ich werde einen Zoll größer!« Ich warf den Hut auf den Ständer und zwinkerte ihr zu. »Die Akten liegen auf meinem Desktop?« »Ja, Mr. Martel.« Ich legte den Trenchcoat über die Couch und setzte mich vor den Datamaster 301. Es war nicht das neueste Modell, er funktionierte aber. Der große LCD-Flach292 bildschirm sah wie ein Cartoonschreibtisch aus, und drei bunte Akten lagen auf der Tischplatte. Ich berührte die erste mit der rechten Hand und sie glitt in die Mitte des Schirms. Eine Berührung an der Ecke öffnete sie und ich las. Hybern hatte seine Laufbahn am Bly Institute begonnen und für eine Weile hatte er wie der logische Nachfolger des Chefs persönlich ausgesehen. Dann wurde die Bewegung vom Wolfskrieger-Schisma überrascht, und den Blyers blieben nur noch Benimmseminare in Kindergärten. Es machte schon den Eindruck, Hybern könnte sich zum Oberhaupt der Wolfskrieger aufschwingen, doch er weigerte sich und verschwand für eine Weile aus dem Sichtfeld. Die Wolfskrieger waren ein seltsamer Auswuchs der Männerbewegung. Sie wehrten sich gegen den scheinbaren Widerspruch, sich dem Inneren Kriegen zu öffnen, aber die Gewalt und Feindseligkeit abzulehnen, die den
Krieger auszeichnete. Wie die meisten fehlgeleiteten Bewegungen schwangen sie zu weit in die andere Richtung und griffen Christentum und Buddhismus als >Schwächlingsreligionen< an. Sie verschrieben sich der Sadlerischen Lehre vom Ewigen Krieger Casca und zogen nach Guatemala, um das Land zu übernehmen und eine Militärherrschaft zu errichten. Die Welt erfuhr dann recht schnell, dass die nationale Frauenorganisation NOW die Bombe hatte, und die Wolfskrieger verschwanden im atomaren Dunst. Das Bly-Institut nutzte ihr Schicksal als Bestätigung für die Dummheit der Gewalt und brachte die Bewe293 gung wieder in Schwung. Hybern tauchte erneut als jemand auf, der Männern half, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen. Als seine Liste erfolgreicher Kunden lang genug war, setzte er sich ab und gründete seine eigene Gruppe: die Hybern-Organisation für Männlich Motivierten Existenzialismus. Als ich mir die Berichte näher ansah, verstand ich, warum das Wiesel so heftig auf Hyberns Namen reagiert hatte. HOMME wies eine bedauerlich lange Liste von Kunden auf, die durch Selbstmord oder Unfall aus dem Leben geschieden waren. Bei den ersten paar Gelegenheiten war HOMME im Lebenslauf der Verschiedenen aufgelistet, aber später wurde jeder Hinweis darauf unterdrückt. Durch eine Berührung des Häkchen-Icons über den eingescannten Zeitungsberichten sah ich, wie Dol die Nachrufe mit anderen Artikeln und Bildern verglichen hatte, um eine Liste der mit HOMME in Beziehung stehenden Toten zu erhalten. Andere Berichte, die sie gefunden hatte, ließen den Schluss zu, dass sich noch weitere Frauen in Louises Situation wiedergefunden hatten. Ich sah Hinweise auf zwei Gerichtsverfahren, um Besitz von HOMME zurückzuerhalten, den der Verstorbene der Organisation vor seinem Ableben überschrieben hatte. Ein Fall wurde außergerichtlich beigelegt. Ein weiterer Nachruf sagte mir, wie der andere sein Ende gefunden hatte. Die Cogshill-Akte war schnell gelesen. Ken hatte beim Versicherungskonzern Mutual of Prudential-Tokugawa schnell Karriere gemacht. Er und Louise wohnten seit sieben Jahren zusammen, die letzten vier davon als Ehepaar. Keine Kinder. Kens Großvater hatte sich 294 '89 in Panama mit einer Kriegsverletzung eine Congressional Medal of Honor erkauft. Sein Vater war dadurch nach West Point gekommen. Er hatte '32 das Offizierspatent zurückgegeben, um sich im Sino-Tibetischen Krieg der Ronald-Reagan-Brigade der Tibet Tigers anzuschließen. Ken wurde geboren, sechs Monate bevor seinen Vater bei den Kämpfen um Lhasa '33 eine Kugel erwischte. Kenny wirkte wie geschaffen für Bly und Hybern. Sein Vater und Großvater waren Kriegshelden, hatten aber für diesen Ruhm mit Blut bezahlt. Kenny hatte sich gegen das Militär entschieden. Deshalb brauchte er eine Bestätigung, trotzdem ein echter Kerl zu sein. Für mich persönlich wäre es reichlich Bestätigung gewesen, jeden Morgen neben Miss Schlafzimmerblick 2049 aufzuwachen, aber Kenny wollte mehr, und er war bereit, Hybern dafür zu bezahlen. Und hatte bezahlt. Laut der Kontoübersicht Cogshills, die Dol mit in die Akte gepackt hatte, hatte Kenny HOMME seine gesamten Ersparnisse überwiesen. HOMME wurde auch als Begünstigter seiner Lebensversicherung aufgeführt. Hybern würde das Geld von der Versicherung nicht bekommen, weil Kenny Selbstmord begangen hatte - das strich die Firma ein. Die Überweisung belief sich andererseits auf über zehn Mondo, reichlich für eine Datscha am Schwarzen Meer und die nötige Regierungsstabilität, um sie zu behalten. Meine Gedanken rasten. Ich wanderte raus ins Vorzimmer. »Dol, wie funktioniert das mit der Überweisung? Woher weiß die Bank, dass Cogshill HOMME das Geld überwiesen hat?« 295 Ihr Chip fabrizierte das, was einem Seufzen am nächsten kam. Es klang wie der Summer bei einer falschen Antwort in einer Quizshow. »Ich habe dir das schon mal erklärt, Harn.« »Sei so nett. Ich hab immer noch Bugs in meiner Wetware.« »Wohl eher Witwen.« Ich verzog das Gesicht. »Lass die Eliza-Emulation, Dol, es sei denn du verzichtest darauf, dass ich dir helfe, deine Stelzen zum Foxtrott zu bewegen.« Sie blinzelte einmal und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit. »Die Bank gibt jedem Kunden eine Kontonummer und einen Zugriffscode. Erstere ist allgemein bekannt, Letztere sollte ein absolutes Geheimnis bleiben. Manche Banken geben guten Kunden sogar Notfallcodes, damit es möglich ist, eine Transaktion zu verfolgen und abzubrechen, obwohl es aussieht, als liefe alles normal ab. Dies ist als Schutz gegen Erpresser gedacht.« »Hä? So einen habe ich nie bekommen.« Sie starrte mich an, um gute Kunden zu betonen. Wäre mein durchschnittlicher Kontostand eine Thermometeranzeige gewesen, hätte man den absoluten Nullpunkt neu bestimmen müssen. »Natürlich ermutigt man die Kunden, den Code häufig zu ändern, aber das tun die wenigsten. Genauso wie man ihnen davon abrät, zum Beispiel ihr Geburtsdatum zu benutzen.« Ich nahm mir vor, meinen Code zu ändern. »Überweisungen lassen sich also ziemlich einfach vortäuschen?« Sie schwenkte den Kopf. »Die Banken benutzen 296 noch eine zusätzliche Überprüfung. Wenn man eine Überweisung macht, übermitteln sie dem Kunden ein Wort
oder einen Satz, den er abtippen muss. Der Computer überprüft Reaktionszeit und Tippmuster und gleicht dies dann mit Daten von früheren Aufträgen ab. Falls die Muster übereinstimmen, wird die Überweisung ausgeführt. Codezahlen kann man stehlen. So etwas nicht.« »Aber ist diese Datenbank nicht ziemlich klein für Leute, die nicht viel tippen?« Wie mich. »Leute, die nicht viel tippen, haben vermutlich auch nicht viel Geld.« Wie ich. »Also hat Cogshill das Geld wirklich selbst an HOMME überwiesen.« Sie nickte. »Die Bank ist davon überzeugt und für die Feds reicht das. Wollte Mrs. Cogshill klagen, müsste sie sich einen Anwalt suchen, der scharf auf eine Niederlage ist.« »Wäre eine Niederlage so sicher?« »Nicht so sicher wie bei den Cybermähren, auf die du dein Geld setzt. Aber fast.« Sie streckte beide Beine aus und bewegte die Zehen. »Jetzt bin ich sogar schneller.« »Und die beiden Gerichtsverfahren, die es gegen HOMME gegeben hat?« »Bei denen ging es um Grundbesitz. Das ist eine andere Sache. Makler bringen alles durcheinander.« Sie streckte die Hand aus und bot dem Reparaturmeck die Glasschüssel mit den Batterien an. Er nahm sich eine Neun-Volt heraus und legte den Kopf zur Seite. 297 Sie kicherte blechern. Er faltete die Arme ein und stand auf. Der Reparaturmeck machte sich auf den Weg zur Tür. Ich ließ ihn hinaus, dann holte ich mir meinen Hut. »Ich bin weg.« Dol stand auf. »Nimm mich mit.« »Nichts zu machen.« Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen. Ich trat an den Schreibtisch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dass ihre Haut kälter war als Proktologeninstrumente, versuchte ich zu ignorieren. »Geh deine Titanstelzen erst mal einlaufen. Kauf dir ein Kleid. Was Hübsches. Was wirklich Hübsches. Hübsch genug, um tanzen zu gehen.« »Versprochen?« »Du bist mein Augapfel, Dol.« Ich zwinkerte ihr zu. »Kauf es dir auf mein Konto.« »Okay.« Sie himmelte mich mit Augen an - wie ruhige Seen aus Neon. »Wohin gehst du?« Ich zeigte ihr mein patentiertes >Alles-im-Griff<-Lächeln. »Ich gehe Hybern besuchen. Ich möchte wissen, was er von dieser ganzen Sache hält.« Ich hatte schon vertrocknete Butterbrote gehabt, die härter waren als der Wachmann in der Empfangshalle von HOMME. Ein großer Kerl in einem burgunderroten Blazer, der seine Bizeps spielen ließ, als er sich mir in den Weg stellte. »Und wohin glaubst du, dass du unterwegs bist, Zwerg?« Ich blieb stehen, schob den Hut zurück und schaute zu ihm hoch. Er hatte den typischen Schulhofschläger298 geist. »Ich dachte mir, die Stelle da hinten in der Nähe vom Aufzug sieht ein bisschen weicher aus, Muskelprotz. Du sollst nicht unnötig hart aufschlagen.« Ein kleines Fragezeichen tauchte aus dem Ozean des Gelächters in seinen Gedanken auf. »Hast du irgendwelche besonderen Vorlieben, was den Ambulanzdienst betrifft?« Das Fragezeichen wurde etwas größer. Wie alle Schläger erwartete er, dass ich Angst vor ihm hatte, und als sich seine Erwartung nicht erfüllte, bekam er Zweifel. Ich trat dichter heran, in seinen persönlichen Bereich, und in Reichweite meiner Geheimwaffe. Unsere Blicke trafen sich, und ich schlug zu. Wenn ich mich wirklich anstrenge, kann ich auf sehr kurze Entfernung jemandem einen Gedanken einpflanzen. Bei Frauen funktioniert dieser Trick nicht -mehr als ihre oberflächlichen Gedanken zu lesen, hat etwas von Folter, und etwas in ihren Geist zu projizieren, ist ganz unmöglich. Der weibliche Geist funktioniert anders als der männliche. Sie ähneln Katzen. Wir Männer haben mehr von Hunden. Vor langer Zeit habe ich mir vom Wiesel mal ein Magazincover fälschen lassen. Es zeigt mich, wie ich mit beiden Armen einen breiten Ledergürtel in die Höhe halte, der verfluchte Ähnlichkeit mit dem eines Weltmeisters hat. Das Magazin heißt >Killer Karate Today< und die Schlagzeile lautet >Martel massakriert Monster Man<. Ich habe das Bild intensiver studiert als das Finanzamt die Steuererklärung eines Bankers. Und jetzt platzierte ich eine Kopie davon im Hirn des Schlägers. 299 Es funktionierte besser als ein Tritt in die Weichteile. Er wurde kreidebleich und implodierte irgendwie. Bis auf seine Augen - die traten eher vor. »Mr. Martel für Mr. Hybern.« An der Wand surrte ein Telefon, und der Wachmann verschwand, um den Anruf anzunehmen. Ich atmete leise auf. Der Trick funktioniert nicht mehr allzu gut, seit TiK-Securimecks auf dem Markt sind. Ich habe mir sagen lassen, diese Maschinen denken auch, aber ihre künstliche Intelligenz stellt eher eine Verbindung zwischen dem Geist des Massenmörders Ted Bundy und dem des durchschnittlichen Heringshais dar. Manche Leute mögen es als intelligent betrachten, ihren Besitz von einem psychopathischen Mixer bewachen zu lassen. Ich gehöre jedoch nicht zu ihnen. Mecks denken binär. In Nullen und Einsen. Aus und an. Und wenn ein TiK jemanden
abschaltet, sind Mikrochirurgen mit einer Neigung für Puzzles nötig, um ihn wieder einzuschalten. Der Schläger hängte auf und ging hinüber zu den Aufzügen. Er drückte den Knopf und eine Tür öffnete sich. »Mr. Hybern erwartet Sie.« Ich nickte und setzte mich in Bewegung. Der Kerl tippte mir auf die Schulter, um mich aufzuhalten, dann riss er die Hand zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen. »Entschuldigen Sie, Sir, Mr. Martel, es ist nur ...« »Ja?« Ich öffnete den Mantel, um ihm zu zeigen, dass ich unbewaffnet war. »Nein, Sir, nicht das.« Er lächelte verlegen. »Würden Sie mir ein Autogramm geben?« 300 Das Wiesel arbeitet nicht viel, aber was es macht, ist Qualität. Die Aufzugtür schloss sich hinter mir. Ich stellte mich auf die Fahrt nach oben ein und verlor für einen Moment das Gleichgewicht, als die Kabine abwärts sackte. Kurz bedauerte ich, dass ich mir von Dol nicht auch die Pläne des HOMME-Gebäudes hatte besorgen lassen. Andererseits war mir klar, falls ich in eine Falle unterwegs war, wäre die auf dem Grundriss sowieso nicht eingezeichnet gewesen. Die Tür gab den Weg in einen dunklen Korridor frei. Die Wände waren aus Plexiglas und schwärzer als der Kaffee bei Mickey. Das einzige Licht lieferte ein schummrig roter Leuchtstreifen entlang der Oberkante einer der Wände. Ich sah gerade genug, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hinter mir glitt die Aufzugtür leise wieder zu. Der dicke schwarze Teppichboden verschluckte meine Schritte. Alle zehn Fuß zog sich ein dünner roter Strich quer über den Boden. Die Linien gingen an beiden Enden in die breiteren roten Bahnen entlang der Wände über. Das Ganze wirkte wie das Feldmuster für irgendein Korridor-Football-Spiel auf mich. Nach fünf dieser Linien bog der Gang im rechten Winkel nach links ab. Noch zehn Fuß - und er öffnete sich in einen Raum. Er war im selben Stil wie der Korridor gehalten, aber alles schien offener, höher und weiter. Das Zimmer wirkte quadratisch, doch an einer Ecke reichte der Gang in den Raum hinein. Schon seltsam, dass Leute Architekten dafür bezahlen, auf diese Weise Platz zu verschwenden. 301 Hinter Hyberns Schreibtisch, der in der Mitte des Zimmers stand, erhob sich eine schwarze, wie eine Stufenpyramide geformte Plexiglasfassade. Leuchtend rote Linien trennten die Ebenen der Pyramide. Um den Rand der Skulptur trat etwas von dem Licht aus und verschaffte ihr einen schwachen, roten Lichthof. Ein ähnlicher roter Streifen, etwas heller als auf der Fassade, lief rund um die Kante der tiefschwarzen Schreibtischplatte. Das Licht von Schreibtisch und Fassade tauchte Hybern in blutrote Schatten. Rote Glanzlichter leuchteten auf seinem rasierten Schädel und sein Kinnbart schien aus demselben Schatten geklöppelt wie sein Rollkragenpullover. Am linken Ringfinger trug er einen großen Rubin in einer Goldfassung. Er legte, als er mich sah, die Fingerspitzen aneinander und nickte mir zu. »Willkommen, Mr. Martel.« »Danke.« Ich trat näher und verbarg meine Überraschung, als ein Stuhl hinter der Pyramide hervorrollte und vor dem Schreibtisch anhielt. »Wer hat denn das hier dekoriert? Dracula?« Weiße Zähne leuchteten zu einem Grinsen auf, das ich für bedrohlich gehalten hätte. Aber ich fing nichts von ihm auf. »Echte Männer haben keine Angst vor der Dunkelheit.« »Echte Männer leben aber auch nicht darin.« Ich setzte mich auf den Stuhl und hängte meinen Hut an eine Ecke der Rückenlehne. »Ich möchte mit Ihnen über ein ehemaliges HOMME-Mitglied reden.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und stützte 302 das Kinn auf die rechte Hand, den Zeigefinger an der Schläfe. »Lassen Sie mich raten: Ken Cogshill?« Ich nickte. »Sehr gut. Verraten Sie mir, woher Sie das wissen?« »Nichts weiter als eine simple Schlussfolgerung. Während Sie hierher unterwegs waren, habe ich Nachforschungen über Sie angestellt.« Er klopfte auf die polarisierte Oberfläche seines Datamaster-9000Schreibtischs. »Sie haben einen Ruf unter viertrangigen Detektiven, Mr. Martel. Nur Mrs. Cogshill ist verzweifelt genug, immer noch nach jemandem zu suchen, der den Tod ihres Gatten untersucht.« »Okay Sie liegen richtig - was sie betrifft, nicht bei mir.« Ich kniff die Augen zu einem Gesichtsausdruck zusammen, der die Opfer meiner Untersuchungen normalerweise in Schweiß ausbrechen lässt. »Sie glaubt, dass Sie etwas mit seinem Tod zu tun hatten. Die Cops haben ihn als Selbstmord abgehakt, aber falls sie Recht hat, ist Ihnen das perfekte Verbrechen geglückt, nicht wahr? Warum sollte sie hinter Ihnen her sein?« »Sie sucht einen Sündenbock.« Der Mann war ein Fels. Ich hatte ihn gerade des Mordes beschuldigt, und er zeigte weniger Reaktion als ein Pizzajunge, der kein Trinkgeld bekommt. »Sie möchte ihre Schuldgefühle über Kens Selbstmord beruhigen. Sie kam zuerst zu mir und warf mir furchtbare Anschuldigungen an den Kopf. Sie behauptet, wie hätten miteinander geschlafen, und ich hätte Ihren Gatten dazu getrieben, sich umzubringen, indem ich ihm davon erzählte. Das ist Unsinn.« Im Detektivgewerbe lernt man, die Anzeichen zu erkennen, die verraten, wann jemand lügt. Sich an der 303 Nase zu kratzen ist eines. Gezwungene Heiterkeit ist ein anderes. Dem Frager nicht in die Augen sehen zu können - das steht ganz oben auf der Liste. Ich achte auf alle drei und kombiniere sie mit einem mentalen
Schnappschuss meines Gegenübers. Nun konzentrierte ich mich also auf Hybern und fragte: »Warum sollte sie das tun?« Nichts. Er lächelte. »Diese Frau ist schizophren und neigt zu Halluzinationen. Sie leidet unter Verfolgungswahn. Ihre Unfähigkeit zu akzeptieren, dass ihr Mann in ihrer Beziehung zu ersticken glaubte und sich umgebracht hat, hat sie zusätzlich destabilisiert.« Ich hätte es kommen sehen müssen, aber er täuschte mich perfekt. Ich war schon einmal im Hirn eines Schizophrenen gewesen. Es ähnelt einem mit Röntgenkameras gedrehten Film. Alles ist vor einem ausgebreitet, aber Brett Easton Ellis' The Bride Wore Black and Decker zu lesen, ist einfacher. Louise Cogshill war möglicherweise vom Tod ihres Gatten mitgenommen, aber falls sie verrückt war, dann war ich genauso gepolt wie sie. »Sie lügen!«, knurrte ich und drang in seinen Geist ein. Ich zertrümmerte seine Sperren und erkannte die Lüge. Ich sah, wie er Ken Cogshill Bilder seiner Frau zeigte, die Beine um einen anderen Mann geschlungen. Ich hörte Hybern Plattitüden über Mannesehre und Stolz murmeln. Cogshill nickte und ließ resigniert den Kopf hängen. Dann blickte ich zu Hyberns Gesicht auf und sah ihn seine Nase kratzen. Die Falle schnappte schneller zu als Platz des Himmlischen Friedens '89 - Das Musical dicht gemacht hatte. 304 Ich fühlte eine fremde Präsenz in meinem Geist. Sie war überall zugleich, ich konnte sie nicht fassen. Es schien, als würde ich mit einem Schatten ringen. Schlimmer noch - ich verlor. »Wollen Sie wirklich wissen, was mit Ken Cogshill geschehen ist, Mr. Martel? Ich zeige es Ihnen.« Hyberns Gelächter hallte in meinen Ohren, doch es klang sehr weit entfernt. »Passen Sie gut auf.« Hybern durchsuchte meinen Geist, bis er meine Kontonummer und meinen Zugangscode fand. Auf der anderen Seite des Schreibtischs sah ich ihn eine Reihe von Symbolen auf dem Desktop berühren. Er runzelte die Stirn. Ein Schraubstock quetschte meinen Kopf. »Nur dreitausend Dollar auf Ihrem Konto?« Seine Wut hämmerte auf mich ein. Ich ballte die Faust. Sie denken, das ärgert nur Sie? Das bedeutet aber: Dol hat tausend Dollar für ein Kleid ausgegeben! »Oh, bitte!« Hybern tat etwas, das sich anfühlte, als würde er mein Hirn mit Stahlwolle scheuern, dann wurde mein Blick scharf. Das Gespräch mit Louise wiederholte sich in meinen Gedanken. Hybern lauerte wie ein Perverser und beobachtete alles. Er fing meine Reaktion auf Louises Gang auf und fror das Bild ein. »Ist sie nicht ein Prachtexemplar? Sie war spitze im Bett.« Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich. Sie Schwein. Wenn ich Sie in die Finger bekomme! Plötzlich fühlte ich meine Hände am eigenen Hals. »Dann tun Sie was? Das?« Sie schlössen sich und ich krächzte. Die Daumen drückten auf meinen Kehlkopf. 305 Ich fühlte den Pulsschlag meiner Halsschlagader gegen die Finger schlagen. Ich wusste jetzt: Hybern konnte mich problemlos dazu bringen, mir selbst das Genick zu brechen. Er kam herum und setzte sich vor mir auf die Schreibtischkante, die Arme vor der Brust gekreuzt. »Ja, das könnte ich, aber das ist mir zu vulgär. Sie und Mrs. Cogshill sind ein und dasselbe Problem. Ich hätte Ken befehlen sollen, sie mit umzubringen, als er sich das Leben nahm, aber dafür war er zu schwach. Ihr Interesse an ihr bietet mir jedoch eine Lösung an.« Er berührte ein Symbol auf dem Schreibtischdesktop und ich hörte den Wählton einer Telefonleitung. »Sie werden Louise anrufen und hierher bestellen.« Niemals! »Sagen Sie niemals nie, Mr. Martel.« Er holte sich ihre Privatnummer aus meinem Hirn. Über ein anderes Symbol drehte er den Desktop um einhundertachtzig Grad, so dass ich alles beobachten konnte, dann tippte er die Nummer in das Wählfeldsymbol. Die Wähltöne spielten die ersten drei Takte eines alten Marsches, dann klingelte es. Ich hoffte, dass niemand zu Hause war. Doch sie hob ab - und der versteckte Lautsprecher des Datamasters füllte den Raum mit ihrer Stimme. »Hallo?« »Louise?«, hörte ich mich sagen. »Hier ist Harn. Ich bin bei Hybern auf der South King. Ich habe mich mit ihm unterhalten und er ist an einer gütlichen Einigung interessiert.« Ich versuchte, zu Ende zu bringen, was Hybern begonnen hatte, aber er hielt meine Hände unter seiner Kontrolle. 306 »Glauben Sie, das ist sicher?« »Ich hätte Sie nicht angerufen, wenn es das nicht wäre. Wie schnell können Sie hier sein?« »In einer Viertelstunde?« »Perfekt«, ließ Hybern mich säuseln. »Bis dann.« Er berührte einen Knopf und unterbrach die Verbindung. »Und jetzt müssen wir beide noch ein paar Vorbereitungen für ihre Ankunft und Ihren Abgang treffen. « Er ließ mich durch seine Augen sehen, was er tat. Er wählte sein Bankkonto an und veranlasste eine Überweisung auf mein Konto. »Ich würde sagen, fünfhunderttausend sieht nach einer angemessenen Erpressungssumme für jemanden wie Sie aus. Sie und Louise hatten eine wilde Affäre, und nachdem HOMME Ken stark genug gemacht hatte, ihr die Scheidung zu verweigern, die sie verlangte, haben Sie die Beweise gefälscht, um mir die Schuld an Kens Tod zuzuschieben.«
Hybern grinste mich bösartig an. »Ich werde sogar einen meiner >Erpressungscodes< benutzen, damit die Bank mir das Geld zurückholt, sobald Sie aus dem Weg sind.« Langsam fielen die Puzzlestücke an ihren Platz. »Sie sind auf die Bewegung eines Mannes angewiesen, weil Sie einzig und allein Männer lesen und beherrschen können.« Das gefiel ihm gar nicht. Er bohrte einen weiß glühenden Schürhaken in mein Hirn. »Nein, ich bin nicht so wie Sie. Sie sind ein winselnder Narr, der ein geringfügiges Talent vergeudet. Ich habe Ihre jämmerliche Anstrengung oben im Erdgeschoss bemerkt und entschieden, mir einen Spaß mit Ihnen zu gönnen. Ich 307 bin Ihnen haushoch überlegen. Ich benutze meine Gabe, um ein Imperium aufzubauen. Die Konzernherren dieser Stadt und dieses Landes holen sich bei mir Ratschläge. Ich hole mir ihre Wünsche aus ihrem Geist und präsentiere sie ihnen als Ziele. Ich schaffe mutige Strategien für sie, indem ich die Starken gegen die Schwachen ausspiele. Männer wie Cogshill sind nur ein winziger Teil meines Reiches. Seine Stellung war nützlicher als er. Er sorgte dafür, dass alle Ansprüche auf Versicherungsgelder genehmigt wurden, wenn meine nutzlosen Mitglieder verunglückten. Er hatte sich entschieden, dem Rat seiner Frau zu folgen und mit HOMME zu brechen. Aber wie ein echter Mann fand er es notwendig, hierher zu kommen und es mir von Angesicht zu Angesicht zu erklären. Ich war gezwungen, ihn Selbstmord begehen zu lassen.« Zu feige, es selbst zu erledigen, was? Sein Gesicht verzerrte sich zu einer angewiderten Maske. »Mein Wille führte seine Hände. Passen Sie auf, wie Sie selbst zum Instrument Ihres eigenen Untergangs werden!« Gegen meinen direkten Befehl ließen meine Hände meinen Hals los und sanken auf seinen Schreibtisch. Er schob die Symboltastatur unter meine Finger und zwang mich zu tippen. Ich erinnerte mich vage, dieselben Befehle schon einmal eingegeben zu haben. Der Schreibtisch war mit einer internationalen Datenbank verbunden. Ich wählte wie eine Marionette die Symbole aus. Schließlich stellte sich ein Menü aus Fluglinien vor mir dar. »Irgendwelche Vorlieben, Mr. Martel? Sind Sie und 308 Louise die Art Traditionalisten, die in Costa Rica Urlaub machen? Sie haben noch drei Monate gutes Wetter. Oder, aber ja, ich habe es: ein Monat im Club Med Antarktika. Sie werden reichlich Sonnenöl einpacken und einander warm halten. Perfekt.« Meine Hände wählten Aero Hielo und Flug 4763, nonstop nach Feuerland. Ich reservierte Plätze für mich und Louise Cogshill. Und ich bestätigte den Flug. Ich kannte noch nicht einmal den Film. Die Maschine fragte nach der bevorzugten Zahlungsweise. Meine Hand war schon halb an meiner Brieftasche, als Hybern mich stoppte. »Hübsch ausgedacht, Martel, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie die Transaktion zurückverfolgen lassen, indem Sie ihre überzogene Kreditkarte benutzen.« Meine Hände kehrten zur Tastatur zurück und gaben pflichtbewusst meine Kontonummer und den Zugriffscode ein. Der Computer verlangte, dass ich zur Bestätigung >Rosebud< eingab, und ich widersetzte mich. Nein! Alle Schmerzen dieser Welt konzentrierten sich auf die Größe eines Stecknadelkopfes. Der rammte durch meine Schädeldecke und trieb Knochensplitter in meine grauen Zellen. Er sank bis ins Zentrum meines Schädels und verwandelte sich in eine Kugel. Die Kugel dehnte sich aus und verwandelte ihre Oberfläche in ein mit Rasierklingen besetztes Drahtnetz. Sie wuchs und wuchs und zerfetzte meinen Geist. Ich widersetzte mich, solange es ging. Ich ergebe mich, ich ergebe mich! »Widerstand ist zwecklos.« Hybern streckte die 309 Hand aus und hob mein Kinn an. »Keine Fehler, oder ich zerstöre ausgewählte Teile Ihres autonomen Nervensystems, so dass Sie langsam ersticken.« Ich nickte. Mit den Zeigefingern suchte ich das Kennwort auf der Tastatur. Ich hoffte, die Maschine würde es zurückweisen und eine Warnung ausgeben. Aber das geschah nicht. >Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug<, blinkte mich unter einem Smileybild an. »Wie lasse ich Sie Louise umbringen?« Er zuckte die Achseln, als wäre dies ein unbedeutendes Detail. »Das können wir noch immer entscheiden, wenn sie erst hier ist. In der Zwischenzeit sehe ich, dass Sie im Laufe Ihrer erbärmlichen Karriere ein paar schlimme Dinge über eine Menge interessanter Leute erfahren haben.« Er fing meinen Gedanken an Louise auf. »Sie brauchen sich keine Hoffnungen zu machen, dass sie oder irgendjemand sonst Sie rettet. Sobald sie aus dem Aufzug steigen, gehören sie mir, genau wie Sie.« Er bohrte sich durch meinen Geist und suchte nach Schmutz. Ich sah Bruchstücke meines Lebens in einer wirren Abfolge vor meinen Augen passieren. Steinbergs wahnsinniges, blutverschmiertes Gesicht. Rockermecks donnerten durch Pfützen und spritzten mich nass. Ich schmeckte Blut und roch Schießpulver. Ich fühlte den kalten Kuss eines Messers und die heiße Glut einer Schusswunde. Gesichter erschienen wie Zielscheiben und sanken zurück in das Vergessen, aus dem Hybern sie gezerrt hatte. Ein teuflisches Lächeln verzerrte seinen Mund. »Und nur, damit Sie nicht denken, ich hätte Sie verges310 sen, werde ich dafür sorgen, dass der Diktameck in Ihrem Büro zu Konservendosen recycelt wird.« Nicht Doli Ich schlug mit aller Kraft zurück, die mein Geist noch aufbrachte. Er wich einen Zoll breit zurück. Ich
versuchte, ihn ganz aus meinem Kopf zu drängen, verlor dabei aber die Hälfte des eben gewonnenen Grunds wieder. Er drückte stärker. Ich spürte meinen Geist bersten. Dann sah ich es. Er sah es auch, durch meine Augen. Der rote Laserpunkt glühte unübersehbar mitten auf seiner Stirn. Wir wussten beide, was das bedeutete. »Geben Sie auf, Hybern, Sie sind umstellt.« Seine Konzentration ließ für die Sekunde nach, die er brauchte, um die Stimme in meiner Erinnerung zu suchen, aber mehr brauchte ich nicht. Ich sprang auf, um ihm die rechte Faust in den Magen zu rammen. Ich schlug vorbei, und er warf mich über den Schreibtisch. Ich drehte mich in der Luft und landete auf seinem Sessel, die Füße zur Decke. Ich fühlte mich hilflos und schleuderte ihm dieses Gefühl zu. Dol brauchte meine Unterstützung nicht. In der Vergangenheit hatte ich gelegentlich Anlass gehabt zu zweifeln, ob die Securimeck-Platinen echt waren, die das Wiesel mir für Dol verkauft hatte. Aber jetzt, von der Beleuchtung in eine kupferne Walküre verwandelt, stürzte sie sich auf ihn, als wäre er ein Wolfskrieger, der einen Trupp Pfadfinderinnen gegeißelt hatte. Ihre linke Faust landete ungefähr da, wohin meine gezielt hatte. Er klappte nach vorn und sie schickte ihn mit einer Rechten an die Schläfe zu Boden. 311 Dol sprang über den Tisch und zog mich hoch. »Bist du verletzt?« Ihr Laser tastete mich kurz ab, dann erlosch er. Ich schüttelte den Kopf, aber das schmerzte, also ließ ich es. »Er hat mir das Hirn kreuz und quer durch den Schädel gekickt, aber davon abgesehen geht es mir gut.« Ich setzte mich in den Sessel, wie es sich gehörte, und massierte mir die Schläfen. Sie legte den Kopf zur Seite und blinzelte. »Ich habe gerade die Polizei benachrichtigt. Die Feds schicken ein paar Hoovermatics, um ihn abzuholen. Einer seiner Anhänger war ein Senator.« »Wow!« Ich starrte Dol an. Sie trug eine dunkle Jacke über einer roten Bluse und einem dunklen Rock. Eine schwarze Lederhandtasche hing an einer goldenen Kette über ihrer rechten Schulter. Sie passte zu den schwarzen Schuhen. »Mir fehlen die Worte.« »Ich habe schon Hunderte Male die Cops für dich benachrichtigt.« »Nein, die Garderobe.« Ich schluckte heftig. »Wow!« »Was, das?« Sie half mir aus dem Sessel und wir machten uns auf den Weg zum Aufzug. »Du hast gesagt, ich soll mir etwas kaufen, damit wir tanzen gehen können.« Ich nickte und lächelte sie an. »Und woher wusstest du, dass ich hier in Schwierigkeiten stecke?« Ihr Kopf wackelte hin und her. Das ist ihre Entsprechung eines Achselzuckens. »Ich hatte gerade die Tasche gekauft, als du die Flugtickets bezahlt hast.« »Du hast gedacht, ich brenne mit Louise Cogshill durch.« 312 »Erst.« Sie verstummte, als die Lifttür aufglitt und FBI-Mecks an uns vorbeirollten. »Dann hast du den Prüfcode eingetippt, und ich wusste, du hast Probleme.« Wir stiegen in den Aufzug und fuhren hoch. »Aber wie? Die Bank hat ihn doch akzeptiert. Ich habe das Wort fehlerfrei eingegeben.« Sie drehte den Kopf zu mir herum. »Ich weiß. Ich kenne dich. Du hast dich kein einziges Mal vertippt.« »Oh.« Ich trat einen Schritt zurück und musterte sie noch einmal. »Das hat einen ganzen Tausender gekostet?« »Natürlich nicht, Dummkopf.« Die Aufzugtür öffnete sich wieder, und ich sah eine Anzugtasche wie eine Leichendecke über den Schläger drapiert, den sie auf dem Hinweg niedergeschlagen hatte. »Wir haben eine Verabredung zum Tanz. Wenn ich mich herausputze, musst du das auch tun. Wir haben doch eine Verabredung, oder?« Ich schaute hoch und sah Louise in die HOMME-Lobby treten. »Ist es vorbei?« Ich nickte. Ihre Erleichterung schlug wie eine Flutwelle über mir zusammen. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen jemals danken kann«, sagte ihr Mund, aber ihre Gedanken hatten ein paar sehr anziehende Vorstellungen in dieser Richtung. »Könnten wir das bei einem Abendessen besprechen? Heute Abend?« Ich sah sie an und dachte an die Flugtickets, die Hybern mich hatte buchen lassen. Ich dachte lange nach. Angestrengt. Sie hatte das Zeug, lange, kalte Winternächte kurz und heiß erscheinen zu lassen. 313 Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Louise, aber ich bin ein auf dem Schienenübergang der Liebe liegen gebliebener PKW.« Ich warf mir die Anzugtasche über die Schulter und legte den Arm um Dols Taille. »Und heute Abend tanze ich mit einer Dame auf Stahlrädern die Schienen hinab.« Asgard Unlimited war ursprünglich für eine Anthologie mit dem Titel Lord of the Fantastic gedacht: Kurzgeschichten zu Ehren von Roger Zelazny. Ich hatte schon eine Weile mit dem Gedanken gespielt, was wohl geschehen würde, wenn sich der Gott des Alten Testaments die letzten zweitausend Jahre anschauen und entscheiden sollte, seinem Sohn die Firma wieder abzunehmen und die alte Feuerund-Schwefel-Religion erneut einzuführen. Mehr oder weniger würde der spirituelle Neustartknopf alles zurück ins Erste Jahrhundert transportieren, allerdings mit der heutigen Technologie. Diese
Geschichte ist das Ergebnis solcher Überlegungen. Asgard Unlimited Abgesehen von der Rabenscheiße auf den Schultern sah Odin in seinem Armanianzug ziemlich gut aus. Das passende blaue Nadelstreifenmuster der Augenklappe gab einen netten Touch. Odin war schon immer ein scharfer Kunde gewesen, aber trotzdem beeindruckte mich, wie schnell er sich an diese neue Zeit anpasste. Er blickte von einem Kompositvideoschirm, der ihn größer machte, als er je gewesen war, auf mich herab. Er trug ein Lächeln auf den Zügen, von dem ich wusste, dass es fürs Publikum bestimmt war. Die Zuschauer in Walhalla nahmen jedoch an, es gelte ihnen. Falls ihnen dieser Gedanke behagte, sah ich keinen Anlass, sie 315 eines Besseren zu belehren. Ich war zu guter Stimmung, um mir das antun zu müssen. Ich stand in der Großen Eingangshalle Walhallas und betrachtete zufrieden mein Werk. Gewaltige Stahlspeere waren zu Pfeilern und Deckenbalken verschnürt und verliehen der Halle den retromartialischen Look, von dem sämtliche Architekturzeitschriften schwärmten. Im alten Walhalla war die Decke zwar aus Schilden geformt worden, doch ich hatte sie aus Plexiglas nachgießen lassen, damit tagsüber Licht einfiel und man nachts von den oberen Etagen aus die Sterne sah. Sorgfältig gearbeitete, schwertförmige Halter verbargen Halogenlampen, die den unteren Etagen eine konstante, zeitlose Helligkeit spendeten. Die alten, abgenutzten Holzbänke, mottenzerfressenen Wandbehänge und durchgewetzten Tierfelle hatten einer moderneren skandinavischen Einrichtung weichen müssen. Schilde, Schwerter, Speere und Rüstungen waren auch weiterhin wichtige Motive, vor allem aber, weil sie vertraut waren. Eine der Besonderheiten des neuen Walhalla gestattete jedem, in den Dekorationen etwas zu finden, das er kannte. Die Christuser redeten in Zungen, wir boten Symbole für jeden. Walhalla war ein herrlicher Ort, an dem man sich gerne eine Ewigkeit aufhalten würde. Die Walküren waren eine absolute Augenweide und eine unserer besten Attraktionen. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich Odin überzeugen konnte, dass es helfen würde, den weiblichen Markt zu erschließen, wenn wir auch Männer in ebenso knapper Kleidung anboten. Schließlich gab er nach, nachdem ich ihn überzeugt hatte, dass der 316 Name für unsere Spindbuben seine Idee war. Inzwischen gehörten die >Walhelden< zu unseren beliebtesten Angeboten. Allerdings war Odin ja auch nicht wirklich das reaktionäre Element unter den Aesir. Bei der allerersten Strategiebesprechung vor etwas über einem Jahr hatte er sich den veränderten Umständen schon angepasst. Sein Perry-Ellis-Anzug war zwar leicht überholt gewesen, aber von ausreichend konservativem Schnitt, um den patriarchalischen Adel zu unterstreichen, der seit Langem sein Markenzeichen war. Die anderen hatten größere Schwierigkeiten, sich umzustellen, aber so war es schon immer gewesen. Thor, der eine Art Stadtkommandokampfmontur trug, imitierte meisterhaft einen an Land gespülten und nach Luft schnappenden Fisch, kaum dass ich den Raum betrat. Tyr bemerkte mein Erscheinen zwar, widmete sich aber schnell wieder dem Studium der biomechanischen Prothese an Stelle seiner rechten Hand. Er öffnete und schloss die Faust im ungefähren Takt zum Öffnen und Schließen von Thors Mund. Und Heimdall ... nun ja, sein giftiger Blick warf mich um Jahrhunderte zurück. Thor schlug mit der Faust auf den Konferenztisch und pulverisierte mit einem Hieb Sperrholzplatte und Laminat. »Was macht der hier?« Holzstaub stieg in einer großen Wolke auf und setzte sich in Thors rotem Bart fest. »Es ist seine Heimtücke, die all diese Illusionen gewoben hat, die Asgards wahres Wesen verbergen.« Odin schüttelte langsam den weiß bemähnten Kopf. 317 »Nein, Loki ist der Grund für unsere Anwesenheit hier. Deshalb ist sein Platz auch hier bei uns.« Winzige Blitze spielten um Thors Augen, als er mich anstarrte. »Das ist ein Trick, Odin Walvater. Er hat Baidur getötet. Er hat Ragnarök ausgelöst, und unseren Tod ...« »Tatsächlich, Donar?« Ich lächelte und nahm am rautenförmigen Tisch Odin gegenüber Platz. »Ich habe Ragnarök ausgelöst?« »Versuch nicht, es zu leugnen.« Thor verschränkte die Arme vor der Brust und seine Muskelpakete stellten die synthetischen Fasern seiner Jacke auf eine harte Zerreißprobe. »Wir wissen, dass es so ist. Die Schlange und ich haben uns gegenseitig getötet. Odin starb in Fenris' Schlund und Tyr erschlug den Heihund Garm, wurde jedoch selbst auch zu dessen Opfer. Heimdall erschlug dich und du ihn. Das wissen wir.« Ich erlaubte mir ein kurzes Lachen, und hätte Odin nicht geschmunzelt und mir zugenickt, jeder meiner Brüder hätte mich mit Freuden zerrissen. »Woher weißt du das, Thor? Erinnerst du dich daran, mit Mjöl-nir die Schlange zerschmettert zu haben? Und du, Tyr, erinnerst du dich an Garms Biss?« Mein Lächeln verblasste etwas, als ich zu Heimdall blickte. »Und du, erinnerst du dich an die grausamen Schmerzen meines Schwertes in deinen Eingeweiden?« Heimdalls Lächeln offenbarte zwei Reihen golden glitzernder Zähne. »Ebenso wenig wie sich meine Hände daran erinnern, wie sie deinen Kopf vom Rumpf trennten.« Ich zupfte an den Manschetten meiner Hemds318 ärmel, um momentane Schluckbeschwerden zu überspielen. »Keiner von uns besitzt eine Erinnerung daran, dass
sich Ragnarök tatsächlich ereignet hat. Durch Odins Weisheit und die verschiedenen Orakel, die die Götterdämmerung vorhergesagt haben, wissen wir jedoch, was geschehen - und wie die Welt enden würde. Aber wir haben dieses vorhergesagte Ende nicht durchlebt.« Tyrs Hand schnappte zu. »Versuch nicht, mir zu erzählen, Baidur sei nicht gestorben. Ich fühle den Schmerz seines Verlustes noch immer.« »Du hast völlig Recht, Tyr, er ist gestorben. Doch die Ereignisse, die sein Tod ankündigte, haben sich nicht ereignet. Ragnarök ist nicht eingetreten.« »Unmöglich!« Wieder hob Thor die Faust, um auf den Tisch einzuschlagen, aber in seltener Zurückhaltung ließ er sie nicht fallen. »Ragnarök muss sich ereignet haben. Es war ein so langes Nichts. Ich muss gestorben sein. Ich werde nicht glauben, dass es keine Götterdämmerung gab.« Ich schenkte ihm mein entwaffnendstes Lächeln und seine Faust sank langsam tiefer. »Es gab eine Dämmerung, allerdings nicht die, die wir erwartet haben.« Thors rote Augenbrauen trafen sich, als er die Stirn verwirrt runzelte. »Gab es jetzt ein Ragnarök oder nicht?« »Unser Ragnarök, nein.« Odin legte ihm die linke Hand auf den Arm. »Lass es Loki erklären.« Mit einem missmutigen Knurren stierte Thor mich an. »Rede, Betrüger.« »Seit ewig und drei Tagen wissen wir von der Exis319 tenz anderer Götter und ihrer Reiche. Wir wissen ebenso, dass wir aus dem Glauben unserer Anhänger an uns die Lebenskraft ziehen. Ihre Gebete und Anrufungen, Opfer und Schwüre erhalten uns.« Ich breitete die Hände aus. »Wir benutzen die Macht, die sie uns geben, indem wir unseren Favoriten Gunstbeweise schenken, was andere zu größerem Glauben und Opfern inspiriert, in der Hoffnung, sich unsere Gunst ebenfalls zu erwerben.« Meine Mitgötter rutschten unbehaglich auf ihren Plätzen herum. Zwar sagte keinem von ihnen der Name B. F. Skinner etwas, aber sie hatten intuitiv begriffen, dass zufällige Bekräftigung das mächtigste Instrument war, ein Verhaltensmuster zu erzeugen und zu erhalten. Tatsächlich rechnete man uns häufig Ereignisse an, mit denen wir nichts zu tun hatten. Wenn während eines Sturms ein Baum auf ein Langhaus stürzte, brachten die Feinde des Betroffenen mir oder einem anderen Gott Dankopfer für den Untergang ihres Feindes. Es heißt zwar, nichts im Leben sei umsonst, aber wir Götter stehen glücklicherweise außerhalb des Lebens der Menschen, und da sie das wissen, sind sie mit ihrem Glauben weit großzügiger als mit materiellen Dingen. »Weit im Süden unserer Midgardgebiete, an der Wüstenkreuzung, entschied Jehova, sich zur Ruhe zu setzen.« Heimdalls goldenes Grinsen wurde breiter. »Hätte ich in sechs Tagen die Welt erschaffen, ich hätte mir auch mehr als einen Tag Ruhe gegönnt.« 320 Wir lachten alle. Es stimmte zwar, dass die meisten von uns sich nicht erinnern konnten, woher wir kamen, und wir uns deshalb ziemlich fantastische Geschichten über unsere Anfänge ausdachten. Aber nur Jehova hatte sich darauf kapriziert, dass er Anfang und Ende aller Existenz sei. Die eigenen Eltern umgebracht zu haben, das war zwar sicher nicht der attraktivste Ursprung, den wir uns hätten ausdenken können. Aber zumindest war er für Menschen leichter nachzuvollziehen als seine Behauptung, sich selbst in vollendet egomanischer Existenz gewollt zu haben. »Ich bin sicher, das hatte etwas damit zu tun, Heimdall. Jedenfalls erlaubte er sich, um diese Ruhestandspläne verwirklichen zu können, eine Affäre mit einer Menschenfrau. Sie brachte seinen Sohn Joshua zur Welt - auch wenn er jetzt unter den Namen >Jesus< oder >der Christus< weit bekannter ist. Er wirkte ein paar Wunder, ließ sein Volk von seiner Weisheit profitieren und hing dann so lange an einem Baum, bis er tot war.« Thor runzelte die Stirn. »Wie lange hat er an dem Baum gehangen?« »Einen Nachmittag.« Der Donnergott kicherte. »Einen Nachmittag? Das ist nichts verglichen mit Odins neun Tagen. Und der war dabei auf seinen eigenen Speer aufgespießt.« »Ist gut möglich, dass Joshua von der Geschichte gehört hatte, oder vielleicht seine Gläubigen, denn auch bei ihm gab es einen Speerstich. Seine Anhänger trugen ihn in eine Gruft, und nach anderthalb Tagen kehrte er ins Leben zurück.« Ich zuckte die Achseln. 321 »Auch das war eine ziemlich klägliche Leistung, aber sein Volk schien überzeugt.« Tyr strich sich die goldenen Locken aus den Augen. »Ich erinnere mich, von diesem Christus gehört zu haben, als ein paar seiner Anhänger dafür erschlagen wurden, dass sie seine Geschichte unter meinem Volk verbreiteten.« Meine Augen wurden schmal. »Hätten wir damals nur die Gefahr dieses Kultes erkannt. Dieser Christus verlangte zweierlei von seinen Gläubigen. Die erste Forderung übernahm er von seinem Vater: Sie sollten keine Götter anbeten außer ihm. Das ist ein Alleinvertretungsanspruch, nicht weiter von Belang für einen einsamen Gottling, der über ein paar Nomaden in einer Wüstenei herrscht. Es gab ohnehin keine anderen Götter, die an seinem Volk interessiert waren.« Odin runzelte die Stirn. »Als Jehovas Volk in Thothheim und Baalheim gefangen war, stellte es keine Bedrohung für die einheimischen Götter dar.« »Nein, aber die zweite Forderung des Christus an seine Gläubigen verwandelte sie in eine Seuche.« Ich legte
genügend Schärfe in meine Stimme, um selbst Thor begreifen zu lassen, dass das, was ich sagte, wichtig war. »Der Christus verlangte von ihnen, ihren Glauben zu verbreiten, so dass immer mehr Menschen zu seinen Anhängern wurden und seine Verehrung noch weiter trugen.« Thor schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht. An so etwas würde ich mich erinnern.« »Du erinnerst dich nicht daran, weil sich die Christusbewegung fast über Nacht in unserem Reich aus322 breitete. Während wir uns auf das Kommen Ragnaröks vorbereiteten, stahlen die Christuser unser Land. Die Zahl unserer Gläubigen nahm ab, dann gaben sie uns ganz auf. Wir fielen in den Schlaf des Vergessens.« Heimdall betrachtete mich mit skeptischer Miene. »Falls das zutrifft und man uns alle vergessen hat, woher weißt du dann davon?« Ich legte die Hände aufeinander, Fingerspitze gegen Fingerspitze. »In ihrem Eifer, das Christustum zu verbreiten, setzten sie mich mit Luzifer gleich, dem alten Feind Jehovas, der Joshua quälte. Es gibt immer Menschen, die sich gegen die vorherrschende Prägung einer Gesellschaft stellen - und mich anzubeten wurde zu einer Alternative für sie.« Tyr streckte die mechanische Hand aus und versuchte, eine Fliege aus der Luft zu pflücken. »Falls diese Christuser die Vorherrschaft haben, wie kommt es dann, dass wir jetzt hier sind?« Mein Lächeln wurde breiter. »Das Christustum hat sich sehr weit verbreitet und ist sicherlich die vorherrschende Religion in der Welt geworden, aber es basiert auf Toleranz und Pazifismus. Dementsprechend lässt es manchen Übeln der Welt freie Bahn. Ich glaube, was Jehova zuerst alarmierte, war das Abschlachten seiner Kerngläubigen in Mitteleuropa. Er sah sich an, was der Christus aus dem Familienunternehmen gemacht hatte, und initiierte eine feindliche Übernahme. Er vertrieb Joshua und stellte den alten Zustand wieder her. Joshua machte sich augenblicklich selbständig, aber sein Volk war bereits zersplittert und seine Grundsätze verwischt. Gleichzeitig betrachteten viele Menschen 323 das Christustum als theologischen Imperialismus, also verwarfen sie es und kehrten zum alten Glauben zurück. Zu unserem Glauben.« »Ich glaube das nicht.« Aufs Thors Stirn standen tiefe Falten. »Du behauptest, dieser Christus war ein Pazifist, der Toleranz predigte.« »Ganz genau.« »Keine Kämpfe? Keine Kriegertradition?« »Nein, er war ein Pazifist. Er lehnte jede Gewalt ab.« Thors Unterlippe bebte. »Wie konnte uns ein Pazifist besiegen?« Ich schmunzelte. »Er bot den Menschen etwas an, das sie haben wollten. Er versprach ihnen ein Leben nach dem Tod.« »Das tun wir auch.« Odin presste die Hände auf den Tisch. »Das bringt uns zum Zweck dieser Besprechung. Die Rückkehr der Menschen zu den alten Religionen bietet uns eine neue Chance, aber diese Menschen sind nicht mehr die, die wir aus früheren Zeiten kennen. Es hat sich vieles geändert, und wir müssen uns der jetzt verfügbaren Möglichkeiten bedienen, um sicherzustellen, dass wir nicht wieder verschwinden.« Thor schüttelte den Kopf. »Verstehe ich nicht. Wir sind die Götter. Wir verändern uns nicht. Die Menschen beten uns für das an, was wir sind und was wir ihnen anbieten.« »Und genau da liegt das Problem.« Ich verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt sind die Aesir ein PR-Albtraum. Wir verfügen über alle Kriegeraspekte, aber Krieg ist einfach nicht mehr en vogue.« 324 Thors Augen blitzten. »Krieg ist die edelste und erhabenste Betätigung, die sich ein Mann nur wünschen kann. Deshalb holen die Walküren die tapfersten und wagemutigsten Krieger nach ihrem Tod von den Schlachtfeldern und bringen sie nach Walhalla. Odin persönlich hat befohlen, Krieger mit Waffen und Rüstung beizusetzen, damit sie bereit sind, uns in den letzten Tagen zur Seite zu stehen und im Ragnarök gegen unsere Feinde ins Feld zu ziehen!« Ich seufzte. »Hört mal, wir müssen diese Ragnarök-Sache ernsthaft überdenken. Die Christuser haben sich die Vorstellung von einer gewaltigen Schlacht, die das Ende der Welt ankündigt, so ziemlich komplett angeeignet. Dadurch wirkt unser Ragnarök wie eine blasse Kopie ihres Armageddon. Und diese ausschließlich-KriegerSache, die muss auch weg.« Die Stimme des Donnergottes dröhnte durch den Raum. »Was? Du willst Walhalla für Nicht-Krieger öffnen?« »Thor, was du unter den Menschen als Krieger erkennen würdest, ist mit Waffen ausgerüstet, die einen Gegner aus über einer Meile Entfernung töten können. Die meisten Kriege werden inzwischen Polizeiaktionen genannt, und dabei setzen weit entfernte Personen Waffen ein, die mit Mjölnirs Gewalt die Städte ihrer Feinde zerschmettern. Das Heldentum im Kampf, an das du dich so gerne erinnerst, gibt es gar nicht mehr.« Seine geröteten Züge wurden bleich. »Es gibt keine Menschen mehr, die tapfer ausziehen und Leib und Leben riskieren, um ihre Feinde zu besiegen und Reichtümer anzuhäufen?« 325 »Doch, die gibt es schon, aber sie bekämpfen sich in Wirtschaftskriegen.«
»Händler?« »Du solltest sie als Industriekapitäne betrachten.« »Du willst Händler nach Walhalla lassen?« Thor schüttelte den Kopf. »Als Nächstes wirst du noch vorschlagen, Frauen in diesen heiligen Hallen zuzulassen !« Ich zuckte zusammen. »Ehrlich gesagt, ich wollte Frauen zulassen, aber mehrere Kulte der Muttergöttin haben sich mit den Feministinnen verbündet und uns in dieser Hinsicht einen recht effektiven Riegel vorgeschoben. Ihr müsst zugeben, so wundervoll all eure Gemahlinnen sind, mit den Göttinnen aus den Mittelmeerländern können sie sich nicht messen. Egal, die Konzentration auf die Männer bietet uns immer noch einen potenziellen Markt von grob der Hälfte der Weltbevölkerung, und diese Hälfte kontrolliert immerhin den größten Teil des Reichtums.« »Reichtum?« Tyr verzog das Gesicht. »Ich stimme Thor zu. Was wir wollen, ist Adel und Mut.« »Falsch, was wir wollen, sind Gläubige. Um sie anzulocken, müssen wir ihnen etwas bieten, das sie bei den Christusern nicht finden.« Ich grinste. »Eine der Aussagen des Christus lautet, dass es einfacher für ein Kamel ist, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, ins Paradies zu gelangen. Wir haben eine lange Tradition, Tote mit ihrer Habe zu bestatten, damit sie ihm auch im Jenseits zur Verfügung steht. Wir werden auf dieser Tradition aufbauen und die Gläubigen werden uns nur so zuströmen.« Ich beugte 326 mich vor. »Willkommen bei Asgard Unlimited. Religion ist unser Geschäft. Unser Slogan ist: Asgard Unlimited - Das letzte Hemd hat Taschen.« Heimdalls Miene verdüsterte sich. »Diese Anhänger, von denen du sprichst, klingen weniger nach Gläubigen denn nach Plünderern und Strauchdieben, die nur des Profits wegen zu uns kommen.« »Ihr alle müsst begreifen, dass der Mensch dieser Tage weniger ein Gläubiger als vielmehr ein Fan ist. Die Menschen glauben nicht mehr wirklich an irgend jemanden oder irgendetwas. Vielmehr glauben und verehren sie den Mythos, der ein Phänomen umgibt. Götter zu sein ist sicher beeindruckend, aber wir müssen zu mehr als das werden, zu etwas, das jedem erlaubt, an unserem Mythos teilzuhaben.« Ich nickte zum Kopf der Tafel. »Ihr drei formt eine Dreiheit. Die Christuser haben dieses Muster populär gemacht: und das können wir ausnutzen. Odin wird der Kopf des Ganzen und über Walhalla präsidieren. Seine Aufgabe wird es sein, Weisheit zu versprühen und unserem Volk bei seinen Anstrengungen zu helfen. Wir werden Walhalla einfach modernisieren. So wie früher schon werden wir die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten aufweichen, tote Prominente auftreten lassen. Das wird unser Versprechen, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, beweisen. Und das ist auch etwas, das die Christuser niemals tun. Außerdem wollen wir ein Walhalla, das Spaß macht. Mit Familienunterhaltung ebenso wie erwachseneren Vergnügungen.« »Erwachseneren Vergnügungen?« 327 Ich sah Tyr an. »Du hast Odins Vorliebe für fließend heiße und kalte Walküren doch wohl nicht vergessen? Einen Teil Walhallas werden wir für die Möpse der Götter reservieren. Eine andere Sektion wird sich Freizeitkriegern widmen - Leuten, die schon immer Kämpfer sein wollten, aber die Gelegenheit nicht bekamen. Dazu kommt ein Casino, ein Vergnügungspark, eine Ausstellung >Kriegsführung durch die Zeitalten, und wir sind so ziemlich komplett. Da Walhalla fünfhundertvierzig Türen hat, werden wir sie über die wichtigsten Bevölkerungszentren der Welt verteilen. Dadurch bleibt Walhalla zentralisiert, aber gleichzeitig können sich unsere Gläubigen jederzeit begegnen. Das wird unsere Geschäftskunden anziehen wie ein Magnet. Wir werden uns vor Kongressen nicht retten können.« Ich deutete auf ihn. »Deine Rolle wird die des Götterprinzen. Königshäuser haben in letzter Zeit einen schlechten Ruf entwickelt, aber Tyr, du bist der richtige Mann, um ihren Adel wiederherzustellen. Du bist jetzt schon eine Heldengestalt, tragisch verletzt bei der Rettung der anderen Götter. Außerdem bist du bei Sportlern beliebt, und Sport ist eine Riesenindustrie geworden. Du bist zum Skifahren und anderen Wintersportaktivitäten in den exklusiveren Kurorten der Welt wie geschaffen. Wenn du jetzt noch Golf, Cricket und Yachtsegeln lernst, hast du unseren Hauptmarkt abgedeckt.« Auf Tyrs Gesicht erschien ein zögerndes Lächeln. »Ich brauchte nichts weiter zu tun, als unter den Reichen und Schönen Sport zu treiben?« »So ist es.« 328 »Ich bin bereit, mir das weiter anzuhören.« Als Nächstes wendete ich mich Heimdall zu. »Ich weiß, in der Vergangenheit habe ich mich darüber lustig gemacht, dass du der Ausguck der Aesir bist, aber jetzt brauchen wir deinen wachen Blick und deine scharfen Ohren, um unser Unternehmen zu beschützen. Früher hast du nach Feinden Ausschau gehalten, die sich Bifrost nähern. Jetzt werden wir sehr viel mehr Regenbogenbrücken haben, und alle müssen sie bewacht werden.« Das Lächeln, das meine Einleitung auf Heimdalls Zügen geweckt hatte, fror ein. »Ich mag ein Gott sein, aber nicht einmal ich kann die ganze Welt allein überwachen.« »Du wirst Hilfe haben.« Ich zog eine Fernbedienung aus der Tasche und richtete sie auf die Wand zu meiner Rechten. Mit einem Knopfdruck schaltete ich ein bewegtes Bild an. »Das ist Fernsehen. In unserem Walhalla wirst du Hunderte solcher Monitore überwachen können, du wirst sehen, was sie sehen, hören, was sie hören. Es
wird keine Ecke auf Midgard geben, die du nicht beobachten kannst. Wenn du eine Gefahr siehst, greifst du zum Hörn - äh, zum Telefon, nicht zum Gjallarhorn - und warnst uns. Es ist eine gewaltige Verantwortung«, stellte ich fest und reichte ihm die Fernbedienung. »Aber niemand sonst ist ihr gewachsen.« Heimdall packte den kleinen Plastikkasten, als wäre es Hofud, sein Schwert. »Ich werde allzeit wachsam sein.« Thor schob die Unterlippe trotzig vor. »Du sagst, die Menschen verehren den Krieg nicht mehr. In deinem Asgard Unlimited gibt es also keinen Platz für mich.« 329 »O doch, den gibt es. Sogar einen ganz besonderen Platz.« Ich strahlte ihn mit einem ehrlichen Lächeln an. »Die Menschen haben Bedarf nach Idolen. Viele davon kommen aus dem Sportbereich, und den deckt Tyr ab. Andere aber kommen aus der Unterhaltungsindustrie. James Dean, Marilyn Monroe, Bruce Lee, Elvis Presley - sie alle haben dadurch nahezu göttlichen Status erreicht, wie sie die Menschen unterhalten haben.« »Aber ich bin ein Krieger! Es gibt keine Unterhaltung, für die ich geeignet wäre.« »Da irrst du dich, mein Freund. Es gibt eine Unterhaltungsform auf Midgard, die wie für dich geschaffen ist.« Ich rieb mir die Hände. »Sie nennt sich Profi - Wrestling.« Gunnar, mein Assistent, räusperte sich und holte mich in die Gegenwart zurück. »Falls Ihr einen Augenblick habt, Eure Göttlichkeit.« »Jederzeit.« Ich griff hinter mich und rieb mir die wunde Stelle am Rücken. »Was gibt es?« »Die Lieferung der neuen Augenklappen in den aktuellen Sommerfarben ist eingetroffen und kommt heute Nachmittag in unserer Boutique in den Verkauf. Einschließlich der Modelle, die eine nahtlose Bräune ermöglichen.« »Gut. Was ist mit den Odinjacken?« Gunnar schnitt eine Grimasse. »Der Lieferant sagt, der Subkontraktor für die Raben habe schlechte Arbeit geleistet. Sie können die Raben an den Jackenschultern befestigen und sie bleiben auch stehen, aber sie verlieren Federn und die Augen.« 330 »Sag ihnen, sie werden mehr als nur die Augen verlieren, wenn sie das nicht in Ordnung bringen.« Ich sah auf die Videowand hinter mir und warf dann einen Blick auf die Uhr. »Wann kommt Odin zurück?« »Erst in ein paar Stunden. Er hat gerade seinen Vortrag in Tokio begonnen und wird erst in frühestens drei Stunden durch unsere Tür dort treten.« Gunnar lächelte. »Übrigens haben wir heute Morgen das Fax bekommen: Die Geschäftsweisheiten des einäugigen Gottes führt als Nummer eins die Times-Bestsellerliste an und löst Jesus' Geschäftliche Seligkeiten: Wohltätigkeit geht vor Profit ab. Herakles' Zwölf Arbeitsmarktlektionen erscheint in zwei Wochen, aber die Vorbestellungen sind dürftig, also werden wir einige Zeit auf Platz Eins bleiben. Wir werden eine Menge Bücher verkaufen. Und Letterman fragt an, ob Odin bereit ist, ein Segment über »Dumme Halbgöttertricks< mitzupräsentieren.« »Gib Lettermans Leuten Bescheid, dass es klar geht. Aber es sind keine Fragen über CBS gestattet.« Vom Augenlogo des Networks beeindruckt, hatte Odin es gekauft, und er reagierte unangenehm auf die Kritik von Seiten seiner Angestellten. Ich seufzte und bereitete mich innerlich auf eine weitere ausgedehnte Gardinenpredigt des Walvaters über meine Anmaßung aus, eigenständig Termine für ihn zu buchen. Natürlich würde er schließlich einsehen, dass ich Recht hatte, nur - die Diskussion bis dahin würde eine Folter bedeuten. Aber es diente ja alles der guten Sache. »Noch etwas?« »Ja, Eure Göttlichkeit.« Er blickte auf seinen Palmtop und griente. »Die Kartenverkäufe für die Sympo331 siumsserie über >Die Großen Schlachten der Weltgeschichte< haben dramatisch zugenommen. Die Debatte zwischen Rommel und Patton hat uns enormen Zulauf beschert.« »Wer steht als Nächstes an?« »Hannibal und die beiden Scipios, der ältere und der jüngere. Nike sponsert einen Teil der Kosten.« »Richtig, die haben ja diese Air-Hannibal-Wanderschuhe.« Ich nickte. »Sehr schön. Sorgen Sie dafür, dass wir vor und nach der Debatte reichlich von denen in unseren Geschenkläden anbieten. Ich nehme an, Tyr ist noch vor Gericht?« Gunnar nickte. »Die Beweisaufnahme wird vermutlich auch noch zwei Wochen dauern. Wir erwarten einen Sieg. Die andere Seite hat gute Anwälte, aber unsere sind teuflisch schlau, und gegen ein Revolverblatt stünde selbst ein Troll mit einem Herz aus Granit auf Tyrs Seite.« »Gut. Behalten Sie den Prozess im Auge und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Ich klopfte Gunnar auf die Schulter. »Ich werde meine Tochter besuchen, aber in etwa einer Stunde bin ich zurück.« Ich fühlte den Schauder, der ihn durchzuckte, doch ich ignorierte ihn und bahnte mir den Weg durch die Wartenden vor der Thor-Gedenkstätte. Ich war versucht, die Gestalt meines verlorenen Kameraden für sie anzunehmen, aber die Gefahr eines Tumults war zu groß. Das war es nicht wert. Ich durchquerte die Menge unbemerkt und lächelte, als jeder dritte oder vierte Wartende bemerkte, welch eine Verschwendung sein Tod gewesen war. 332 Ich betrachtete ihn eher als Tragödie. Als eine klassische Tragödie, um genau zu sein. Thor hatte sich im
Wrestlingring so wohl gefühlt wie eine Fliege auf einem Stück Aas. Er wusste: Niemand konnte ihn im Zweikampf besiegen. Und die Zuschauer wussten es ebenfalls. Jeder Abend, jeder Kampf war ein Moralspiel. Es war die Wiederaufführung des klassischen Kampfes eines einzelnen Helden gegen die Mächte des Bösen, um die Zukunft zu sichern. Die Kämpfe begannen ausgewogen. Dann benutzte Thors Gegner irgendeinen heimtückischen Trick, um sich einen momentanen Vorteil zu verschaffen. Er schlug Thor zusammen, und während sein Gegner triumphierend durch den Ring tanzte, schleppte sich Thor in die eigene Ecke, wo er seinen Gürtel der Kraft und die Eisernen Handschuhe anlegte. Ich liebte es. Sein Gegner - irgendein mit Steroiden vollgepumpter Menschenmutant oder Halbgott aus irgendeinem aus gutem Grund in Vergessenheit geratenen Pantheon - ahnte nichts von der Gefahr, die ihm drohte. Die Menge stampfte in donnerndem Rhythmus auf und Thor zog daraus neue Kraft. Ihr Verlangen danach, ihn siegen zu sehen, ihr Glaube an seine Unbesiegbarkeit, all das trieb ihn. Er schlug die Handschuhe gegeneinander, so dass ihr Donner durch den Saal hallte, dann drehte er sich um und bezwang seinen Gegner. Das Ende kam im Kampf gegen Louis, die Schlange. Louis war nur ein weiterer in einer Serie unbedeutender Kontrahenten. Diesmal aber wurde der Kampf weltweit übertragen. Thors Ruhm und Popularität waren auf ihrem Höhepunkt - fünfundneunzig Pro333 zent der Weltbevölkerung kannten ihn. Dieser Kampf sollte seine Position in den Köpfen der Menschheit zementieren. Thor hatte vom ersten bewussten Augenblick an gewusst, dass es ihm bestimmt war, gegen eine Riesenschlange zu kämpfen. Und Louis wurde zu dieser Schlange. Und Louis brachte ihn um. Nachdem sie drei Runden aufeinander eingeprügelt hatten, packte ihn Louis mit beiden Armen, hob ihn in der Umarmung vom Boden und brach ihm das Genick. Er warf Thor beiseite und lachte seinen besiegten Gegner aus. Dann lachte er Thors Fans aus, nannte sie weich und dumm. Er erklärte sie für jämmerlich, weil sie an ihn geglaubt hatten, und zu Losern, weil ihr Gott tot war. Thors Tod war ein furchtbarer Schlag für uns, allerdings nicht lange. Nach und nach kamen Berichte in Umlauf, man habe Thor hier oder dort gesehen. Natürlich war er unmöglich zu verwechseln. Er half Leuten aus schwierigen Situationen, verhinderte Katastrophen und machte das Unmögliche möglich. Für seine Gläubigen waren diese Geschichten der Beweis dafür, dass er noch lebte und ihr Glaube berechtigt war. Tot wurde Thor größer, als er es im Leben jemals gewesen war. Mützen, T-Shirts, Craftsmans MjölnirWerkzeugserie, Comics, Videos und Actionfiguren verkauften sich wie nie zuvor. Odin machte ein hervorragendes Geschäft mit seinen Büchern und Vorträgen, und Tyr lieferte Asgard Unlimited einen respektablen Anstrich. Thor aber wurde zum Rückgrat unserer Popularität. 334 Hinter der Gedenkstätte trat ich an eine Tür, die nur wenige sehen und noch weniger öffnen konnten. Ich konnte und tat es, trat hindurch und tätschelte Garm. Der Heihund hätte mir liebend gerne den Arm abgebissen, aber dazu hatte er zu viel Angst vor meinem Sohn Fenris, deshalb war ich sicher. Ich ging an ihm vorbei und stieg die Wendeltreppe nach Niflheim hinab, ins Reich meiner Tochter Hei. Unterwegs grüßte ich kurz Baidur: Ich tat so, als wollte ich den Mistelzweig in meinem Knopfloch nach ihm werfen. Er zuckte zusammen - ich lachte. Verglichen mit Walhalla waren die nebelverhangenen Tiefen Niflheims kalt und eng, aber ich empfand sie als gleichzeitig erfrischend und gemütlich. Die Nebelschwaden dämpften Licht und Geräusche, doch ich war sicher, mein Lachen war bis in die Tiefen vorgedrungen. Das gutturale, lauter werdende Knurren zu meiner Linken bestätigte dies. Aus dem Nebel sprang mich ein riesiger Schatten an. Seine Augen loderten, die Zähne blitzten. Dann spannte sich die Kette, die ihn ans Herz der Unterwelt fesselte. Sie riss den Kragen und dessen Träger zurück. Er schlug mit einem lauten Krachen auf, der den Boden erzittern ließ, dann blieb er schluchzend liegen. Ich ging am äußersten Rand seiner Reichweite in die Hocke. »Du lernst es auch nie, Thor.« »Irgendwann wird diese Kette reißen.« Ich schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Falls du dich erinnerst, hat die Kette, die ihr habt schmieden lassen, um Fenris zu halten, den Anstrengungen aller Götter 335 widerstanden, sie zu zerreißen. Auch deinen. Diese Kette wurde aus dem Maunzen einer Katze, dem Bart einer Frau, den Wurzeln eines Berges, den Sehnen eines Bären, dem Atem eines Fisches und dem Speichel eines Vogels geschmiedet. Für dich habe ich noch ein paar andere fassbare wie unfassbare Komponenten hinzugefügt. Da war Nixons Glaube an seine Unschuld, die wahre Identität des Kennedy-Attentäters auf dem Grashügel und eine nicht unbeträchtliche Menge Kevlar. Dasselbe gilt für den Kragen. Du bleibst hier, bis ich mich entschieden habe, dich freizulassen.« Thor setzte sich auf. »Ich weiß, wie du es gemacht hast. Du hast mich vor dem Kampf zu einem Drink eingeladen, um die einmalige Gelegenheit zu begießen. Dabei hast du mich betäubt. Dann hast du meine Gestalt angenommen und dich von der Schlange töten lassen.« »Sehr gut. Ich sehe, du hast deinen Kopf doch nicht nur, damit es nicht in den Hals regnet.« »So kommst du mir nicht durch. Heimdall muss gesehen haben, was du getan hast und seitdem treibst. Er weiß, dass du dich für mich ausgibst. Er wird dich bloßstellen.«
»Ha!« Ich stand auf und schaute auf ihn hinab. »Heimdall verbringt vierundzwanzig Stunden am Tag damit, das Programm von über fünfhundert Fernsehsendern zu verfolgen. Selbst ein Gott kann eine solche Menge Fernsehen nicht überstehen, ohne zum sabbernden Idioten zu werden. Die Glotze hat ihn so in ihren Bann geschlagen, dass er sich nicht einmal mehr die Nase schnauzen kann, geschweige denn, dass er es fertig bringt, in sein Hörn zu stoßen.« 336 »Warum?« »Warum was? Warum ich deinen Tod vorgetäuscht habe?« Ich schüttelte den Kopf. »Wie oft muss ich dir das noch erklären? Jedes Idol der Menschen muss den Tod erleiden. Der Tod säubert dich von jeder Schuld und verbirgt deine Schwächen. Im Tod bist du vollkommener, als du es im Leben je sein konntest, genau wie Elvis und Marilyn, Bruce Lee und Kurt Cobain. Ich wusste von Anfang an, dass einer von euch sterben musste, und das konntest nur du sein. Odin hat es schon hinter sich, ohne dass es viel genützt hat, und für Tyr ist der Tod einfach zu vulgär. Bleibst nur du -Mr. Groß, Dumm und Verletzbar.« »Das verstehe ich.« Blaue Funken tanzten durch Thors Augen. »Was ich wissen will, ist, was sollen diese Täuschungen? Warum erscheine ich überall? Wozu baust du ein Heer aus meinen Gläubigen auf?« »Weil sie nicht deine Gläubigen sind.« Ich schnaubte verächtlich. »Würden all die Menschen, die Thor verehren, an dich glauben, wäre diese Kette für dich nicht hinderlicher als ein Spinnennetz. Du könntest sie und mich zerreißen. Aber das kannst du nicht, weil sie nicht dich anbeten. Sie beten dein Bild an - das romantisch verklärte Bild von dir, das ich ihnen anbiete.« Ich grinste. »Mein Freund Louis und ich sind von den Christusern so lange verbunden und verteufelt worden, dass es unmöglich geworden ist, uns in diese Sorte des edlen, hehren Gottling zu verwandeln, der eine Massenanhängerschaft mobilisiert. Luzifer hatte eine Gemeinde von Gläubigen Hedonisten, Anarchisten, selbstsüchtige Schurken und Entrechtete auf der Suche nach einer 337 Abkürzung an die Macht. Als Louis, die Schlange, versorgte er all ihre Fantasien nach leichter Sofortbefriedigung. Indem er seine Verachtung für deine Gläubigen zeigte, hat er sich den Respekt all derer verschafft, die dein Image hassten, und einen beträchtlichen Hass von Seiten deinen Anhänger. Das war seine Bezahlung.« Ich legte die Hände auf die Brust. »Und ich wurde der Thor, den ich durch die Medien erst erschaffen half. Was du gesät hast, das ernte ich.« Thor ließ den Kopf hängen. »Als du sagtest, wir müssen diese Ragnarök-Sache überdenken ...« »Ich wollte es überdenken, weil ich im ursprünglichen Konzept verloren habe. Aber damit ist es jetzt vorbei. Odin ist abgelenkt. Er ist vollauf damit ausgelastet, Bücher zu schreiben, Vorträge zu halten und Kontakte zu knüpfen. Tyr hat ebenfalls anderes zu tun - und diese Diana gefällt mir. Sie sieht am Arm eines Gottes großartig aus. Er verbringt die meiste Zeit damit, die Boulevardpresse wegen der Berichte über ihn zu verklagen, auf Partys zu gehen und das Footballteam zu managen, das er gekauft hat. Keiner der beiden stellt noch eine Gefahr für mich dar. Odins Stern wird bald verblassen. Geschäftsgurus halten sich selten länger als zwölf Jahre, bis sie völlig vergessen sind, und es gibt nichts Langweiligeres als ein ehemaliges Finanzgenie. Was Tyr betrifft - ein Sportlergigolo, der nur von einem Kurort zum nächsten hüpft, wird sehr schnell zur Witzfigur. Er wird eine Talkshow bekommen, die wird abgesetzt, und dann kann er George Hamilton am Strand Gesellschaft leisten.« »Und du gewinnst.« 338 »Zumindest die Vorrunde.« Thor hob den Kopf. »Was willst du noch mit mir? Ist es Mitleid oder Verachtung?« »Weder noch, mein Freund.« Ich ging wieder in die Hocke und zupfte ihn am Bart. »Vor dir habe ich den größten Respekt. Ich brauche dich.« »Was?« »Wie ich schon sagte, ich gewinne die Vorrunde, was bedeutet, dass ich mich danach mit anderen Göttern messen muss. Die Mittelamerikaner scheinen ihre Pantheone zu konsolidieren. Ich erwarte in Kürze eine Entscheidung im Krieg zwischen den Buddhisten und Maoisten in China. Jehova verfestigt seine Position und scheint Allah zu verdrängen. Der Christus ist immer noch stark. Und dann gibt es da noch die Schlange von Eden.« Wieder sah ich es in Thors Augen blitzen. »Ja, Thor, im Augenblick mag Krieg in dieser Welt nicht angesagt sein, aber ich bin ziemlich sicher, die Götter werden das bald ändern. Es wird ein neues Ragnarök geben, ein größeres, blutigeres Ragnarök, und du, mein Freund, wirst deinen Kampf gegen die Schlange bekommen.« Sein Hunger war so stark, dass ich ihn fast selbst schmecken konnte. »Versprochen?« »Ich schwöre es dir, bei allem, was mir heilig ist.« Ich lächelte, stand auf und ließ zu, dass die Nebel ihn verschluckten. »Die wahre Götterdämmerung steht kurz bevor, und diesmal habe ich vor, den neuen Morgen zu erleben.« 339 Der Hirte ist eine Tahlion-Kurzgeschichte über Nolan, den Held aus Der Weg des Richters. Ich habe diese Erzählung nach der ersten Fassung des Romans geschrieben, aber Nolan zeigt bereits eine Neigung zu der Figur hin, die dann in der überarbeiteten Fassung aus ihm wurde. (Die erste Fassung
habe ich spät nachts in einem Müllcontainer entsorgt, nachdem ich erkannt hatte, wie grausam schlecht sie war.) Der Hirte Ich schwang mich aus dem Sattel und band Wolfs Zügel um einen Ahornbaum. Dann tätschelte ich seinen Hals, hielt die Augen offen und lauschte. Wolf war ein kluges Pferd und machte kein Geräusch, während ich die Wiese vor dem Wald beobachtete. Wir waren fast allein. Silbernes Sonnenlicht glänzte auf langem, grünen Sommergras. Goldene Halme wilden Weizens wogten im Wind, Glockenblumen und Fichtenzweige tanzten nach seiner Melodie. Bienen surrten unbeirrt von einer Blüte zur nächsten, und Schmetterlinge flatterten in leuchtenden Gelb- und Orangetönen umher. Links von mir plätscherte, hinter dichtem Wollgras versteckt, ein kleiner Bach. Nur die Fliegen verhinderten, dass die Idylle vollkommen war. Schwarze Flecken, die unablässig brummten. Sie kreisten und setzten sich, winzig, und 340 doch unübersehbar. Ihre Körper hatten die Farbe von Öllachen, jene lebhafte falsche Färbung, die sich unter genauer Betrachtung zu mattem Schwarz verflüchtigt. Obwohl ich über ihre Aufgabe und Rolle im Leben Bescheid wusste, erwachte für einen kurzen Augenblick ein tiefer Hass auf die Fliegenansammlung, die über ihr in der Luft hing. Sie war jung gewesen - gerade vierzehn, allerhöchstem fünfzehn. Ihr Haar, das wenige davon, das nicht blutverkrustet war, wirkte weißblond. Ihre Augen, die jetzt blind zur Sonne hinauf starrten, waren blau. Ihr Gesicht hatte nichts mehr von der elfengleichen Schönheit der Beschreibung. Ihr Leib war zerschmettert und verkrümmt. Ich sank neben ihr auf ein Knie. Die Fliegen stiegen wütend brummend auf und landeten auf mir, bis ich sie mit einem Kopfschütteln vertrieb. Dann hingen sie über den Pflanzen in der Nähe oder landeten auf ihnen und warteten darauf, dass ich wieder verschwand. Erneut schüttelte ich den Kopf. Sie würden sich nicht weiter an ihr satt fressen. Ich konnte ihren Leichnam nur eine Minute lang betrachten, denn die Dorfbewohner aus Gryfberg folgten dicht hinter mir. Ich sah auf den ersten Blick, dass sie zu Tode geprügelt und danach verstümmelt worden war. Ihr Mörder hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, doch sie hatte kaum geblutet, also musste sie bereits tot gewesen sein. Es war kein schöner Anblick. Der Schlitzer hatte sichtlich Vergnügen an seiner Arbeit gehabt. Ich streckte die Hand aus und schloss ihr sanft die Augen. 341 Dann nickte ich und stand auf. Ich wusste, wer sie getötet hatte. Ich band Wolf los und führte den braunen Hengst von der Wiese zurück den Waldweg hinab. An der ersten Biegung begegnete ich den Dorfbewohnern. Ihre Eltern hatten die Arme umeinander gelegt und folgten drei Schritte hinter dem Dorfältesten. »Habt Ihr sie gefunden?«, fragte er. Ich nickte. Ich sah ihrer Mutter in die Augen. Sie waren von derselben Farbe wie die ihrer Tochter, und als ich in diese leuchtend blaue Tiefe schaute, verließ mich der Mut. »Kara starb ohne Schmerzen. Ich vermute, sie folgte ihrem Mörder bereitwillig aus dem Dorf und wurde dann niedergeschlagen. Sie hat nichts gespürt.« Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Ihr Gatte drückte sie und flüsterte in ihr Ohr, doch sie hörte ihn nicht. Ihre Faust verdrehte den Stoff seines Hemdes. Sie starrte mich an und die Wut brannte alle Schwäche aus ihrem Leib. »Sagt Ihr mir die Wahrheit?« Der Dorfälteste drehte sich zu ihr herum. »Still, Frau, er spricht die Wahrheit. Er ist ein Tahlion! Er kann nicht lügen!« Der Älteste wandte den weißhaarigen Kopf zu mir um und lächelte. »Sie wollte Euch nicht zu nahe treten, Edler Tahlion. Sie ist außer sich.« Niemand wagte auch nur atmen. Alle Dorfbewohner starrten mich an und flehten stumm, ich möge ihr vergeben. Ich war ein Tahlion, schlimmer noch, ein Rechtsprecher. Ich war einer aus jener einsamen Elite, die die Gesetze eines Reiches durchsetzte, das 342 vor tausend Jahren in Chaos und Bürgerkrieg untergegangen war. Mein Wort war Gesetz - und mein Urteil der Tod. Sie alle wussten das. Sie waren überzeugt, ich würde sie für Worte niederstrecken, die im Zorn gesprochen waren. Ich wusste, die Worte hatten weniger mir gegolten als den Göttern oder Dämonen, die sich verschworen hatten, ihr die Tochter zu rauben. Sie wollte mir glauben, dass Kara nichts gespürt hatte, aber alle Schmerzen, die ihre Tochter erlitten hatte, würden auch zu ihren Schmerzen werden. Kein Rechtsprecher, ganz gleich wie unmenschlich hartherzig, konnte ihren Ausbruch persönlich nehmen. Ich atmete langsam aus. »Kara hatte keine Schmerzen.« Macinne, der Dorfälteste, atmete hörbar auf. »Ihr werdet ihn verfolgen wollen, als Rechtsprecher?« »Das ist meine Absicht. Es ist überfällig, dass ihn jemand zur Verantwortung zieht.« Ich ballte die rechte Hand zur Faust. Trotz der Mittagshitze war die Handfläche eiskalt. Der Älteste warf einen Blick auf meine Faust und zitterte. Er hatte das Totenkopfmal darauf gesehen und mich sofort als Rechtsprecher erkannt. Ein paar der anderen Dörfler murrten ein wenig, doch der Älteste schüttelte den Kopf. »Nun, wir haben uns schon gedacht, dass es irgendwann so kommt. Niemand wird sich Euch in den Weg stellen. Er mag uns in der
Vergangenheit geholfen haben, aber das ist nun vorbei. Ihr findet ihn oben in den Katakomben der Burg. Zumindest sagen das die Legenden.« Ich runzelte die Stirn. »In welcher Burg? Ihr könnt 343 nicht vom Mörder des Mädchens sprechen. Hasan ra Kas hat noch nie irgendjemandem geholfen, und soweit ich es weiß, ist er noch nie zuvor in Leth gewesen.« Der Dorfälteste erwiderte mein Stirnrunzeln. »Ich kenne keinen Hasan. Wurde sie aufgeschlitzt wie ein Lamm beim Schlachter?« Als sie das hörte, brach Karas Mutter weinend zusammen, Macinne aber achtete nicht auf sie. »Es war der Herzog, der ihr das angetan hat, Tahlion. Er ist vor Kurzem wieder erwacht. Hat in Elmfurt einen Hund und ein paar Schafe getötet und in derselben Nacht, vor einer Woche vielleicht, in Klee ein Kalb. Jetzt war Gryfberg an der Reihe.« Die Nachbarn begleiteten die Eltern des Mädchens den Berg hinunter, während eine Gruppe Männer weiter hinaufstieg, um die Leiche zu holen. Ich knurrte: »Das ist unmöglich. Diese Orte liegen zwanzig Meilen auseinander. Dreißig über die Straßen. Das ist nicht zu schaffen. Kein Mann könnte in einer Nacht in beiden Orten zuschlagen, auch nicht mit einem schnellen Pferd.« Der alte Mann kniff die Augen zusammen. »Herzog Griff ra Leth kann es.« Sobald ich den Namen hörte, erkannte ich ihn. Ein anderer Tahlion, ein Elit aus Leth, erzählte gerne Geschichten aus seiner Heimat. Seine besten Geschichten in düsteren Nächten, wenn die Welt außerhalb des Lichtscheins um das Lagerfeuer zu existieren aufhört, handelten von Griff, dem Dämonenherzog von Leth. »Nolan, kennst du diese schon?«, begann er und setzte zu einer neuen Erzählung über Mord und Totenzauber an. Ich erinnerte mich nur allzu gut an seine Geschich344 ten. Der bloße Name des Herzogs ließ es mir kalt den Rücken hinunterlaufen. Der alte Mann setzte sich auf einen umgestürzten Baum. »Ja, Tahlion, Herzog Griff könnte das. Ihr kennt die Geschichten aus den alten Zeiten nicht, wie ich sie kenne. Ich habe mein ganzes Leben in Gryfberg verbracht, im Schatten von Burg Gryf. Meine Familie lebt seit zehn Generationen hier. Mein Großvater starb von Herzog Griffs Hand, und später kehrte er zurück und tötete auch noch meine Großmutter. Wir verbrannten sie schließlich beide, um uns vom Herzog zu befreien.« Meine Augen wurden schmal. Ich erinnerte mich an Bruchstücke von Erlans Geschichten. »Ich weiß von diesem Herzog. Ein Freund von mir, ein anderer Tahlion, hat mir von ihm erzählt.« Der alte Mann schnaubte. »Ja, klar, und er kennt den Herzog besser als ich? Nein, Tahlion, Ihr kennt den Herzog nicht. Ihr und Euer Freund habt nicht hier gelebt und die Tiere im Wald schreien hören, wenn er sie schlägt. Einen Einzelgängerbären, einen menschlichen Banditen - er und seine Legion von Wölfen holen sich die, wenn sie können. Wenn nicht ...« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Wiese. Ich schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht nach dem Herzog Griff, von dem ich gehört habe. Ein Edler, der sich mit Dämonen beschäftigte. Ein Mann, der seine Vasallen umbrachte, um das Elixier der Unsterblichkeit zu finden. Er starb vor dreihundert Jahren. Von ihm habt ihr nichts zu befürchten, er stammt nur aus einem Märchen, mit dem man Kinder erschreckt. Außerdem hat Hasan ra Kas das Mädchen getötet.« 345 Der alte Mann stieß einen knochigen Finger in meine Richtung. »Ihr habt Euch täuschen lassen wie alle anderen, Tahlion. Sie erinnern sich nicht an die alten Schrecken, wie sie in meiner Familie vom Vater an den Sohn weitergegeben worden sind. Er ist kein Hirngespinst, Tahlion, und es ist einer wie Ihr nötig, um ihn zu vernichten.« Er rieb sich das Kinn und blickte in eine unbestimmte Ferne. »Heute Nacht legen wir eine Hexenschnur um das Dorf, so viel steht fest«, murmelte er. Die abergläubische Furcht des Alten machte mich wütend. »Das mag helfen, einen Vampir fern zu halten, alter Mann, aber meine Mission ist es, Hasan ra Kas zu bestrafen, und eine Hexenschnur wird er nicht einmal bemerken. Er hat das Mädchen ermordet, und wahrscheinlich hat er seine Männer in derselben Nacht die Tiere in Elmfurt und Klee töten lassen, nur um euch glauben zu machen, dass der Herzog durch diese Wälder geistert. Es wäre viel vernünftiger, dafür zu sorgen, dass niemand Gryfberg verlässt, bis ich mit Hasans Kopf zurück bin!« Der alte Mann hörte meine Erklärung gar nicht. Ich konnte ihm nicht sagen, warum ich mir sicher war, dass Hasan in der Nähe lauerte. Eine Lieferung Gold war aus Menkar unterwegs, um alte Schulden in Imperiana zu begleichen, und in ein oder zwei Tagen musste sie durch dieses Gebiet kommen. Hasan hatte vor, diese Karawane auszurauben. Der Dorfälteste war von dem Glauben, dass ein seit dreihundert Jahren Toter für den Mord an dem Mädchen verantwortlich war, regelrecht besessen. Die Sicherheit der Karawane zu riskieren, hätte ihn nicht umgestimmt. 346 Er würgte und spie zur Seite aus. »Ich werde mich hüten, einen Rechtsprecher einen Narren zu schimpfen. Ich hoffe, Ihr habt Recht, Tahlion, denn nachdem Ihr auf die Jagd gegangen wart, ist ein Läufer aus Klee in Gryfberg eingetroffen. Letzte Nacht hat sich der Herzog dort ein Mädchen geholt. Sie hieß Rori.« Der Älteste sah an mir vorbei und deutete hoch zur Burgruine auf dem Greifenberg. »Dort ist Eure Antwort, Tahlion. Dort oben, da ist der Schlüssel.« Ich ließ den Dorfältesten den Weg hinabziehen, den Männern voraus, die auf einer Decke die Leiche des
Mädchens zwischen sich trugen. Eine zweite Decke lag über ihr, und einer der Männer pflückte Glockenblumen und legte sie auf ihre Brust. Ich nickte ernst, als die Träger an mir vorbeikamen, dann überquerte ich den Weg, band Wolf los und saß auf. Ich hatte bewusst gewartet, bis der alte Mann fort war, denn mein Weg führte mich hinauf zur Burg Gryf. Die Ruine hockte wie eine graue Kröte mit obszönen Ausmaßen auf dem Berggipfel. Der Schutt der eingestürzten Mauern lag in Halden um das Fundament, als wären fette Hautwülste herabgesunken, um jeden Hinweis auf die wahre Gestalt der Burg zu verbergen. Sie wirkte tatsächlich abweisend, doch ich weigerte mich zu glauben, dass Herzog Griff oder irgendetwas anderes dort umging. Obwohl der einzige Grund, dass die Ruine noch stand, darin lag, dass es niemand in dieser Gegend wagte, sich hier Steine zum Bau seines Hauses zu holen. In einem Punkt hatte der alte Mann Recht gehabt: 347 Die Burg war der Schlüssel. Von Burg Gryf aus hatte ich freie Sicht auf die gesamte Umgebung, von Elmfurt bis Klee und hinunter in das Tal, in dem die Straße durch Gryfberg verlief. Ich wusste, dass sich Hasan und seine Leute sehr vorsahen, und doch bestand eine Chance, dass sie ein kleines Feuer entzündeten, das vom Berg aus zu sehen war. Das war eine Chance, die ich nutzen musste, um die Suche einzugrenzen. Es kostete mich den größten Teil des Nachmittags, den Gipfel zu ereichen. Die höheren Berge im Westen nagten bereits am Tageslicht und tauchten die Burg in tiefe Schatten. Ich band Wolf an einen Baum und ließ ihn auf dem Sommergras weiden, während ich die letzten hundert Schritt zum geborstenen Fronttor der Burg hinaufstieg und in den Burghof trat, der von Trümmern übersät war. Beim ersten Geräusch duckte ich mich und streckte die Rechte aus, falls ich den Süntklieber beschwören musste. Andere Rechtsprecher beherrschten diesen Trick - die Fähigkeit, unser Schwert an das Totenkopfmal auf der rechten Handfläche zu rufen - viel besser als ich. Aber selbst ich wusste, dass es schneller ging, die Waffe zu beschwören, als sie von Hand zu ziehen. Meine Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch als unbegründet. Die Kreatur, die das Geräusch verursacht hatte, schob den Kopf durch eine Lücke zwischen den Steinen und blökte leise. Es war ein Schaf. Langsam, mit einem Grinsen auf dem Gesicht, stand ich wieder auf. Das Schaf zog sich zurück und drehte sich fort, als ich näher kam. Im überwucherten Burghof 348 befanden sich dreißig bis vierzig Schafe. Auf der anderen Seite erschien der Schäfer in einer Türöffnung, die tiefer in die Ruine führte. Er starrte mich kurz an, dann lächelte er und neigte den Kopf. »Willkommen. Ihr seid ein Tahlion, nicht wahr?« Seine Stimme hatte einen vollen Klang, die Worte wirkten höflich. Er sprach zögernd, als sei er es nicht gewohnt, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Ich neigte den Kopf zur Antwort und entspannte mich. »Ja, ich bin ein Tahlion. Ich hatte nicht erwartet, hier oben jemanden anzutreffen. Der Dorfälteste von Gryfberg sagte ...« Der Schäfer warf den Kopf zurück und lachte, bevor ich ganz aussprechen konnte. »Er sagte, sein Großvater hat unter dem Einfluss des Herzogs seine Großmutter erschlagen. Die Dorfältesten in Elmfurt und Klee würden Euch genau dasselbe sagen, wenn Ihr sie fragtet. Ich glaube, sie alle sind miteinander verwandt. Habt Ihr erwartet, Herzog Griff zu finden?« Ich schüttelte den Kopf und grinste. Vielleicht lag es daran, dass ich hier oben etwas Düsteres erwartet und nichts weiter als einen Schäfer getroffen hatte, aber ganz gleich, was auch immer der Grund war, ich fühlte mich wohl. Der Schäfer war etwas größer als der Durchschnitt und damit fast so groß wie ich, und dabei recht hager, mit harten Gesichtszügen. Er hatte braunes Haar, das an den Schläfen grau wurde, und Krähenfüße um die Augen. Seine Hände waren von der harten Arbeit schwielig. Er trug anständig gefertigte Kleidung aus brauner und grauer Wolle, die jedoch schon mehrmals geflickt war. 349 Ich gluckste. »Der Dorfälteste in Gryfberg will mir weismachen, der Herzog treibe sich noch immer hier herum, aber das glaube ich ihm nicht. Ehrlich gesagt habe ich schon fast erwartet, hier den Ausguck einer Räuberbande zu finden.« Ich blickte zurück durch das Tor, hinaus auf die bewaldeten Berghänge über der kaum sichtbaren Straße. »Irgendwo dort draußen versteckt sich ein Haufen Halsabschneider.« Ich drehte mich wieder um. »Sie haben schon ein Mädchen ermordet, ein anderes entführt und in zwei Dörfern Vieh getötet, damit die Dörfler glauben, der Herzog sei wieder auf der Pirsch.« Der Schäfer nickte grimmig. »Und Ihr wollt hier oben warten, bis es dunkel wird und Ihr ihr Feuer sehen könnt.« Ich nickte. Er winkte mich zu einem Steinblock und setzte sich auf einen anderen mir gegenüber. »Auch wenn die Berge die Sonne verschluckt haben, wird es noch eine Weile dauern, bis es dunkel genug ist, um ein Feuer zu erkennen. Ihr dürft gerne so lange warten. Ich habe nicht oft Gesellschaft ...« Ich setzte mich. »So. Und warum habt Ihr keine Angst vor dem Herzog?« Meine Frage überraschte ihn. Er blickte auf, runzelte für einen Augenblick die Stirn, dann zuckte er die Achseln. »Ich weiß nicht. Im Grunde ist er eine tragische Gestalt, wisst Ihr ...« Ich hob die linke Augenbraue. »Was ist so tragisch an ihm? Soweit ich es verstanden habe, hat er den Menschen, die hier leben, Furchtbares angetan. Ich 350
kann weder etwas Romantisches noch so etwas wie Tragik in seinen Verbrechen erkennen.« Der Schäfer schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ihr seid ein Rechtsprecher. Euer Leben hat einen Sinn, ein Ziel. Ihr werdet ausreiten und diese Räuber zur Strecke bringen, und dafür wird man Euer Loblied singen. Weil Ihr ein Tahlion seid, betrachtet Ihr nur das Ergebnis eines Verbrechens. Es ist nicht Eure Sache, seinen Ursachen nachzugehen.« Ich verzog das Gesicht und wischte mir mit dem linken Ärmel durchs Gesicht. »Ich bin nicht bereit, Euch diesen Punkt unwidersprochen zuzugestehen, doch ich gebe zu, zu dem Zeitpunkt, da ich auf die Spur eines Menschen angesetzt werde, hat er eine solche Liste von Verbrechen verübt, dass seine geistige Gesundheit oft zu bezweifeln ist. Doch wie könnte das Motiv des Herzogs seine Verbrechen entschuldigen?« »Ich habe nie behauptet, er sei unschuldig gewesen. Ich sagte, er war eine tragische Gestalt«, konterte der Schäfer. »Der Herzog war von solcher Angst vor dem Tod beseelt, dass er alles tat, was in seiner Macht stand, um dem Unvermeidlichen zu entgehen, auch solche Dinge, die ihn selbst entsetzten und anwiderten.« »Gut, aber soweit ich es gehört habe, ermordete er in seiner wahnsinnigen Jagd nach Unsterblichkeit selbst seinen eigenen neugeborenen Sohn.« »Sicher, Tahlion, aber könnt Ihr Euch vorstellen, wie ihn das innerlich zerrissen haben muss? Seht Ihr nicht, dass er am Ende seiner Suche schließlich um ein Ende der entsetzlichen Existenz gefleht hat, in die er sein Leben verwandelt hatte? Könnte irgendjemand wirk351 lieh ewig leben wollen, wenn dieses Leben ihn zwingt, alles und jeden zu ermorden, der ihm etwas bedeutet?« Der Schäfer verstummte, dann sprach er mit großer Anstrengung weiter. »Ein paar Barden versuchen diesen Konflikt zu lösen, indem sie andeuten, dass der Herzog jetzt erwacht, um die zu hüten, die er früher quälte. Aber niemand kümmert sich um diese Geschichten. Niemand verschwendet einen Gedanken daran, wie tief der Schmerz sein muss, der jemanden treibt, auf diese Weise seine Untaten wieder gutmachen zu wollen.« Der Schäfer schüttelte langsam den Kopf und blickte auf seine Füße. Ich sagte nichts. Ich spürte sein Bedürfnis zu reden und im Lichte dieser Diskussion über den Herzog vielleicht auch seine eigene Existenz zu rechtfertigen. Ich wusste, es gab nichts, was ich hätte sagen können, um ihm zu helfen oder ihn zu ermutigen. Schließlich blickte er mit schmerzlich verzerrten Zügen auf. »Ich weiß, was es bedeutet, ausgestoßen zu sein. Ich weiß, was es bedeutet, von allen gefürchtet und gehasst zu werden. Stellt euch eine Ewigkeit in diesem Zustand vor, Tahlion, und dann entscheidet, ob es irgendein Verbrechen gibt, das diese Strafe verdient.« Ich schürzte die Lippen und studierte die Silhouette der eingestürzten Burgmauern, bevor ich ihm antwortete. Seine Frage sagte mir mehr über ihn, als er sich hätte vorstellen können. Ihm ging es wie tausend anderen, die sich im zerbrochenen Reich versteckten. An irgendeinem Punkt seines Lebens hatte er einen Fehler begangen und war geflohen. Er war eigentlich nicht böse und konnte sich auch nicht den vogelfreien Bandi352 ten anschließen, wie Hasan und seine Leute es waren, die das Land unsicher machten. Er hatte in der Einsamkeit Trost gefunden und arbeitete daran, sich selbst verzeihen zu lernen. Es würde lange Zeit in Anspruch nehmen, aber es würde auch einen besseren Menschen aus ihm machen, als viele fahre in einem Kerker oder Arbeitslager es vermochten. Ich nickte nachdenklich. »Nein, ich glaube, Ihr habt Recht. Kein Verbrechen hat eine Ewigkeit voller Hass verdient.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, um die Anspannung zu lösen. »Wie es aussieht, seid Ihr und der Herzog zu einer Vereinbarung über die Benutzung seiner Burg gekommen?« Ich deutete mit der offenen Hand auf die Ruinen um uns herum und ließ es klingen, als handele es sich um eine prachtvolle Unterkunft. Das holte das Lächeln auf seine Züge zurück. »Nun, Tahlion, Ihr müsst verstehen, dass es heißt, der Herzog sei ein Vampir, der in den Katakomben tief unter seiner Burg haust. Falls diese Legenden stimmen, erwacht er einmal alle zwei bis drei Wochen und kommt auf der Suche nach Nahrung herauf.« Er schmunzelte und deutete auf seine Schafe. »Dann holt er sich eines meiner Tiere, dabei aber geht er sehr geschickt vor ...« »Oh«, sagte ich. »Schlau ist er, nicht wahr?« Der Schäfer nickte selbstsicher. »Er lässt es immer so aussehen, als hätte einer seiner Wölfe es gerissen.« Ich lachte laut. »Diese alten Vampire sind recht verschlagen, was?« Der Schäfer stimmte zu. »Sogar sehr verschlagen, Tahlion.« 353 In der stockfinsteren Nacht strahlte Hasans Lager wie ein Leuchtfeuer und führte mich zu ihm. Vom Berggipfel aus bemerkte ich das Feuer sofort, und der Schäfer erklärte mir den Weg zu einem Pfad, der die Strecke um mindestens eine Stunde verkürzte. Ich schnallte mir den Süntklieber auf den Rücken, steckte den dolchgroßen Rüegeer in die Scheide auf der Rückseite meines Gürtels und hängte einen Beutel mit vier vergifteten Wurfpfeilen an die rechte Hüfte. Ich schlich mich zu Fuß an das Banditenlager heran. Wolf hatte ich in der Obhut des Schäfers an der Burg gelassen. Er versprach, trotz des Namens auf mein Pferd zu achten, und Wolf freute sich, auf einem windgeschützten Platz zu stehen. Als ich die Kuppe des Hügels über dem Lager erreichte, stand der Wolfsmond groß und voll am Himmel und badete den Wald in silbernem Licht. Hasan hatte Posten aufgestellt, deren Standorte ihnen bei Tag ermöglichten, die gesamte Umgebung im Auge zu
behalten. Nachts allerdings waren sie wertlos. Der erste Posten, den ich sah, zeichnete sich deutlich vor dem Mond ab. Er war sorglos und ihm war kalt. Er stampfte so laut mit den Füßen, dass ich mich anschleichen und ihn niederschlagen konnte, bevor er Gelegenheit hatte, Alarm zu schlagen. Ich fesselte und knebelte ihn, dann schlich ich mich näher heran. Etwas weiter entfernt stellte ich fest, dass die Banditen ihr Lager auf einem Stück sandigem, ausgetrocknetem Flussbett aufgeschlagen hatten. Rundum wuchs Gebüsch, das ein lautloses Anschleichen schwierig machte. Ich hatte zwar genug Deckung, doch war es so 354 dicht und dornig, dass ich meinen ursprünglichen Plan aufgeben musste, der darin bestanden hatte, mich ins Lager zu schleichen und das Mädchen zu befreien, bevor ich mir Hasan holte. Doch bevor ich mir eine andere Vorgehensweise überlegen konnte, raubte mir Hasan jede Wahl. »Ihr könnt ruhig herkommen, Tahlion. Wir wissen, dass Ihr da draußen seid. Wir haben das Mädchen und Euren Freund.« Hasan lachte mit tiefer Bassstimme und Rori schrie auf. »Bleibt in Eurem Versteck, Tahlion. Sie wissen nicht, wo Ihr seid ...« Die Stimme des Hirten brach jäh ab, unterstrichen vom Geräusch eines Hiebes. Wieder schrie das Mädchen auf. Das reichte. »In Ordnung, Hasan, du hast gewonnen. Ich komme.« Ich trat durch das Unterholz und erreichte einen schmalen Pfad durch das Lager. Während ich ihn entlangging, überlegte ich mir einen schnellen Plan. Ob ich ihm folgen würde oder nicht, würde sich entscheiden, sobald ich die Lichtung erreichte. Ich brach durch das Gebüsch, blickte mich schnell um und traf meine Entscheidung. Rori war mit den Handgelenken an einen Holzpfahl gefesselt, der auf meiner Seite des Lagerfeuers in den Boden gerammt war. Ihre zerrissene Kleidung hing ihr offen vom Leib, und der Feuerschein spielte über die blasse Haut. Ihr braunes Haar war matt und wirr, die dunklen Augen rot vom Weinen. Sie kauerte am Fuß des Pfostens und ihre Brust hob und senkte sich in stillem Schluchzen. 355 Der Hirte lag auf dem Sand. Ein Mann, den ich bereits in Gryfberg gesehen hatte - was erklärte, woher Hasan von meiner Anwesenheit wusste - stand mit geballten Fäusten über ihm. Der Hirte blutete aus einer aufgeplatzten Lippe, wirkte sonst aber unverletzt. Zwei andere Männer standen bei Hasan auf der anderen Seite des Lagers. Einer war der Posten, den ich niedergeschlagen hatte, der andere vermutlich seine Ablösung. Entweder das, oder er war mir zur Burg Gryf gefolgt, hatte den Hirten überwältigt und mich dann zurück zum Lager verfolgt. Acht Räuber standen im Lager. Zwei richteten eine Armbrust auf mich. Die anderen waren mit Schwertern bewaffnet, aber nur zwei hatten blankgezogen. Alle hier wirkten entspannt oder betrunken. Daher meine schnelle Entscheidung. Statt stehen zu bleiben, um mich zu ergeben, wie sie es erwarteten, wurde ich schneller. Ich drehte mich, um den Armbrustschützen schräg zu begegnen. Beide lösten ihre Waffe aus, doch ist es nicht leicht, nachts ein laufendes Ziel zu treffen. Und beide Bolzen pfiffen weit vorbei - wofür ich ausgesprochen dankbar war. Meine rechte Hand zuckte in Richtung des einen Schützen und warf einen Pfeil nach ihm. Die lange Nadelspitze bohrte sich in seine linke Schulter. Es war nur eine kleine Wunde, doch der Mann fiel innerhalb von Sekunden auf die Knie und kippte rückwärts zu Boden. Ich beschwor meinen Süntklieber und hieb im selben Augenblick nach dem ersten Räuber, in dem der Schäfer austrat und seinem Angreifer das Schienbein 356 in den Unterleib rammte. Er warf seinen zu Boden sinkenden Gegner wie ein kleines Kind beiseite und rollte auf die Füße. Danach nahm mir mein Gegner die Sicht auf den Hirten. Ich parierte den hohen Schwerthieb des Räubers und peitschte den Süntklieber schräg abwärts über seine Brust. Die erste Hälfte des Hiebes konnte er mit dem linken Unterarm abfangen, den ich ihm bis zum Knochen aufschnitt, aber die zweite Hälfte traf sein Ziel. Ich trennte ihm den Leib an der rechten Seite knapp unter den Rippen auf und er taumelte blutend davon. Ein zweiter Räuber sprang mich an und zerschnitt mit mächtigen Krummsäbelhieben die Luft. Augenblicklich nahm ich seinen Rhythmus in mich auf und sprang vor, als er zu einem weiteren Schlag ausholte. Ich duckte mich unter dem Hieb weg, durchbohrte seine Brust. Er sank in den Sand. Der Schwung seines nutzlosen Hiebes verdrehte noch seinen Leichnam. Ich wechselte den Süntklieber in die linke Hand und warf einen zweiten Pfeil. Er traf den Räuber, der auf den ungeschützten Rücken des Schäfers zustürmte. Der Mann flog herum und krümmte den Rücken, während seine Hände vergeblich nach dem Pfeil griffen, der mitten in seinem Leib zitterte. Der Schäfer versetzte dem Kerl, mit dem er kämpfte, einen Rückhandschlag, der ihn zu Boden streckte. Das Geräusch des Treffers genügte mir, um zu wissen, dass ihm der Schäfer das Genick gebrochen hatte. Ich schaute auf, und die Zeit verlangsamte sich zu der nebulösen Trägheit eines Albtraums, in dem jede Sekunde eine Stunde dauert. Und obwohl ich genau 357 wusste, was geschehen würde, konnte ich nichts tun als meine Rolle zu spielen und zuzusehen, wie sich die Tragödie vor meinen Augen entfaltete.
Hasan - dunkelhaarig, mit Vollbart, gekleidet in eine nietenbesetzte Lederrüstung - deutete auf das Mädchen und gab dem zweiten Armbrustschützen, der inzwischen einen neuen Bolzen aufgelegt hatte, den Befehl, es zu erschießen. Sie schrie - und der Schäfer flog auf sie zu. Der Armbrustschütze drückte ab, ich schleuderte einen Pfeil nach ihm. Dieser traf ihn in den Hals, gerade als sein Bolzen den Schäfer traf und auf den Rücken schleuderte. Mein letzter Pfeil kam einen Augenblick zu spät und durchschnitt nur die Luft, als sich Hasan bereits in den Wald duckte. Ich rannte zu dem Schäfer hinüber, rutschte das letzte Stück auf den Knien durch den Sand. Rori schrie und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die blubbernde, blutrote Ruine seines Bauches. Der Bolzen zuckte bei jedem seiner Atemzüge und Blut quoll rund um den Schaft hervor. Ich schüttelte mich. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Das Mädchen schrie ohne Unterbrechung. Ich drehte mich herum und brüllte sie an. »Sei still, Rori!« Dann hob ich die rechte Hand und zeigte ihr den Totenkopf. Sie blickte in blindem Entsetzen von mir zu dem Schäfer und fiel in Ohnmacht. »Tahlion«, flüsterte der Schäfer, und Blut rann aus seinem Mund. »Zieht den Bolzen heraus.« Ich schüttelte den Kopf. »Es wird nichts helfen, Schäfer. Alles würde nur noch schlimmer für dich werden. Es würde noch mehr schmerzen.« 358 Er packte mit unglaublicher Kraft mein rechtes Handgelenk und zog meine Hand an den Bolzen. »Zieht ihn heraus, Tahlion.« Der Schmerz verzerrte sein Gesicht zu einer unmenschlichen Fratze. »Ich kann so nicht sterben!« Ich schloss die Hand um den Schaft des Armbrustbolzens. Ich zog, aber er saß fest. Genau konnte ich es nicht sehen, doch war ich mir sicher, dass sich die Spitze ins Rückgrat des Schäfers gebohrt hatte. »Er sitzt fest, zu fest. Es würde dich zerreißen. Das kann ich dir nicht antun!« Ich zitterte vor Wut über meine Unfähigkeit, ihm zu helfen. Wieder fühlte ich seine Hand auf meiner, schwächer jetzt. »Tahlion, ich bin schon jenseits der Schmerzen. Ich will so nicht sterben ...« Seine Stimme drang tief in mein Innerstes und machte mir klar, dass es einen Weg gab, seinen Schmerz zu lindern. Es mochte zwar mit noch größeren körperlichen Schmerzen verbunden sein - für einen Augenblick, der ein Jahrhundert zu dauern schien -, aber es würde seiner Seele Linderung verschaffen. Ich sah zu ihm hinab und nickte. Ich fasste den Bolzen mit fester Hand und riss ihn frei. Er schrie vor Schmerzen, die ich hoffe niemals selbst erleben zu müssen. Dann verstummte er. Ich stand auf, mit blutüberströmten Händen, und schrie den Wolfsmond an. »Hasan, jetzt hole ich dich!« Ich beschwor den Süntklieber und rannte in den Wald. Um mich herum hörte ich Wolfsgeheul durch den mondhellen Wald hallen. Aber ich empfand keine Angst oder Bedrohung, wie ich es erwartet hätte. Ich 359 lief ohne Anstrengung - entsprechend dem Bild eines Meilen über Meilen laufenden Wolfs, das sich in meinen Gedanken formte - und der Boden flog unter mir dahin. Obwohl es Nacht war, sah ich Hasans Weg so deutlich vor mir, als wäre er von Fackeln gesäumt. Die Bäume streckten mir Stofffetzen entgegen. Fichtennadeln und totes Laub teilten sich, um mir seine Fußstapfen zu zeigen. Zerbrochene Zweige deuteten in die Richtung seiner Flucht, und eine Schlammpfütze zeigte mir, wo er über eine Wurzel gestolpert und lang hingestürzt war. Es war, als wären sämtliche Pflanzen des Waldes über die Morde in seinen Grenzen empört und wollten mir den Mörder ausliefern. Endlich wusste ich, dass ich ihm näher kam. Hasan war rund um sein Lager gelaufen, bis er einen der Pfade gefunden hatte, die seine Posten in den Wald geschlagen hatten. Dem war er gefolgt. Es war eine Strategie, die mir die Verfolgung erleichterte, zugleich aber erlaubte sie ihm, schneller voranzukommen. Ich nahm an, er war unterwegs zu den Pferden seiner Bande. Im selben Augenblick, als mir dieser Gedanke kam, hörte ich wieder Wolfsgeheul und das verängstigte Wiehern von Pferden. Ich wandte mich den Geräuschen zu und brach durchs Unterholz. Das war ein Fehler. Es verkürzte zwar die Strecke, entfernte mich aber auch von der Sicherheit des Wegs. Dornbüsche zerkratzten mich, Äste peitschten über mein Gesicht. Trotzdem, keines dieser natürlichen Hindernisse konnte mich aufhalten. Es waren Hasans Planung und eine Falle, die seine Leute schon Tage zuvor angelegt hatten, die mein Verhängnis wurden. 360 Plötzlich schloss sich eine Schlinge um meinen rechten Fuß und riss ihn weg. Mein Körper drehte sich, ich wurde mit dem Gesicht auf den Lehmboden des Waldes geworfen. Die Schlinge zog mich in den Höhe. Ich schlug gegen einen Baum und Sterne explodierten vor meinen Augen. Schmerz durchzuckte meinen Schädel, meinen Rücken, meinen Knöchel. Dann wurde es schwarz um mich. Ich kam nur einen oder zwei Momente später wieder zu mir, aber da war es bereits zu spät. Mein Süntklieber war fort. Ich sah ihn nirgends, und die grauenhaften Schmerzen in meinem Schädel hinderten mich daran, mich zu konzentrieren und ihn zu beschwören. Ich tastete auf meinem Rücken nach dem Rüegaer, doch er war ebenfalls verschwunden, lag irgendwo unter dem dunklen Teppich aus Blättern und Farnen, also unter mir. Ich hing
kraftlos in der Falle und drehte mich langsam im Wind. Die Welt verschwamm vor meinen Augen, wurde wieder klar, verschwamm erneut. Ich fühlte Blut über meinen Hinterkopf laufen und hörte es auf die Blätter unter mir tropfen wie Wein aus einem beschädigten Zapfhahn. Rechts von mir knackte ein Zweig. Ich konnte nichts tun, als zu warten, bis ich mich in diese Richtung drehte. Ich streckte die Hand aus und konnte lange genug den Baumstamm berühren, um anzuhalten und auf diese Weise den auf dem Kopf stehenden Hasan zu erkennen. »So, du hast mich also geholt, ja, Tahlion?« Er lachte gehässig. »Ich werde dich mit deinem eigenen Schwert töten.« Hasan hob meinen Süntklieber. »Gefällt dir das?« 361 Bevor ich versuchen konnte zu antworten, zertrümmerte lautes Wolfsgeheul Hasans Selbstsicherheit. Er sah sich nervös um und hob das Schwert, als er bemerkte, wie sich die Silhouette des titanischen Wolfes, der mir gegenüber auf der Kuppe eines kleinen Hügels saß, vor der Mondscheibe abzeichnete. Langsam und beängstigend erschienen Hunderte von Wölfen zu beiden Seiten der Gestalt. Obwohl ich nur in eine Richtung blicken konnte, wusste ich, dass wir umzingelt waren. Die Legion des Herzogs hatte uns gefunden. Der erste, riesige Wolf trottete auf uns zu, doch als er am Fuß des Hügels angekommen war, hatte er sich verändert. Auf halber Höhe erhob er sich auf die Hinterbeine, und als er den Hang verließ, hatte er menschliche Gestalt angenommen. Angst ballte sich in meinem Magen wie eine Gewitterwolke. Vor mir stand Herzog Griff! Ein gewaltiger Kapuzenmantel hüllte ihn ein, so schwarz, als wäre er aus Schatten gewoben. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, seine Augen aber funkelten mit blutroten Glanzlichtern. Er hob eine Hand und deutete mit einem in Schatten gehüllten Finger auf Hasan. »Du hast in unserem Wald getötet!« Seine Stimme knisterte wie totes Laub, das der Wind über Pflastersteine treibt. »Du hast Abscheuliches getan, was uns angelastet wird. So etwas dulden wir nicht.« Der Herzog trat einen Schritt näher und alle Wölfe knurrten wie ein einziger. Hasan wich einen Schritt zurück, dann hob er meinen Süntklieber. »Sieh dich vor, Vampir. Dieses Schwert ist verzaubert. Damit kann ich dich töten.« 362 Neues Selbstvertrauen machte sich in seiner Stimme breit, als der Herzog kurz zögerte. »Verschwinde und überlass diesen Tahlion mir.« Wut durchzuckte mich, und als die Wut versiegte, nahm Entsetzen ihren Platz ein. Ich war machtlos. Solange ich hier wie eine Schweinehälfte am Marktstand eines Fleischers herumhing, konnte ich gegen keinen der beiden etwas ausrichten. Wem sollte ich den Sieg wünschen? Falls Hasan gewann - und mein Süntklieber machte diese Möglichkeit durchaus denkbar -, würde er mir die Kehle durchschneiden. Und möglicherweise reichte ihm die Zeit noch, um neue Helfer zu sammeln und die Karawane auszurauben. Gewann der Herzog, war ein menschliches Ungeheuer tot, aber ein unmenschliches auch weiterhin frei. Dass er Kara nicht getötet hatte und der Schäfer ihn für eine tragische Gestalt hielt, hieß noch lange nicht, dass ich ihn nicht für fähig erachtete, die Verbrechen zu wiederholen, die er zu Lebzeiten verübt hatte. Hasan trat einen halben Schritt vor und hielt den Süntklieber mit wachsender Selbstsicherheit. »Zurück, Vampir! Ich warne dich nicht noch einmal!« Der Herzog lachte. Seine Stimme hallte, als stünde er in einem geschlossenen Saal. »Hasan ra Kas, du kannst mir keine Angst machen. Nichts, nicht einmal ein magisches Schwert, wird mich davon abhalten, dich zu töten.« Der Vampir sprang mit wirbelndem Umhang vor und zog die rechte Hand über Hasans Brust. Ich hörte das Hemd des Banditen reißen und ihn unter dem brennenden Schmerz der Wunden aufkeuchen, die die Krallen 363 des Herzogs in seine Brust schlugen. Aber trotzdem erhob er sich auf die Zehenspitzen und beugte seinen Leib einwärts, so dass ihm der Hieb nicht den Leib aufriss. Und er schlug dem Vampir meinen Süntklieber in den Rücken. Hasan wirbelte unter der Wucht des Schlages davon und der Vampir brach zusammen. Die Wölfe heulten auf und kamen den Hang herab, doch der Vampir hob die Hand und sie blieben stehen. Er stolperte, als er die Füße unter sich zog und aufstand. Dann wankte er, und ich sah deutlich die schmerzhafte Steifheit in seiner Haltung. Hasan tastete mit der Linken nach seinen Verletzungen, und grinste, als er erkannte, wie leicht sie waren. »Komm, Vampir«, spottete er. »Du und all deine Wölfe. Heute Nacht gibt es einen neuen Herzog in diesen Wäldern!« Er baute sich breitbeinig auf und winkte den Herzog mit der linken Hand näher. »Komm und stirb, Alter. Deine Zeit ist um.« Ich sah, wie sich der Vampir duckte - und wusste, so sehr ich ihn auch fürchtete und verabscheute: Ich musste handeln. Ich zwang alle Schmerzen aus meinem Geist, konzentrierte mich und beschwor den Süntklieber. Doch noch bevor ich sein Heft sicher in meiner Hand spürte, verschwamm die Welt vor meinen Augen, und der Schmerz verschlang mich. Der Morgen kam und mit ihm kehrten meine Sinne zurück. Ich erwachte am Fuß des Baumes. Mein Knöchel steckte noch immer in einer Seilschlinge, an der mehrere Schritt Seil hingen. Das Ende war durchgebissen. Neben mir lag Rori und schlief. 364
Ich blickte auf und sah einen alten, grauen Wolf sich erheben. Er schaute mich an und ich nickte. Er hob den Kopf und heulte, dann drehte er um und trottete den Hügel hinauf davon. Rings um uns standen sechs andere Wölfe auf und folgten ihm. Ich war wach -und ihr Auftrag war erledigt. Ich entfernte die Schlinge von meinem Bein und stand auf. Mein Knöchel schmerzte noch, also hüpfte ich vom Baum fort. Etwas Rotes erregte meine Aufmerksamkeit. Ich blickte hoch, erschrak und fiel. Ich vermute, die Tatsache, dass ich noch einmal aufgewacht war, hätte mir schon sagen müssen, wer den Kampf gewonnen hatte, aber bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht daran gedacht. Als ich nach oben schaute und in Hasans tote Augen blickte, schlug der Schrecken der vergangenen Nacht wieder über mir zusammen. Der Vampir hatte Hasan den Kopf abgerissen und ihn auf einen Ast über dem gesteckt, an dem ich gehangen hatte. Ich glaube kaum, dass ich den Ausdruck auf Hasans Gesicht jemals vergessen werde. Ich weckte Rori und schickte sie nachschauen, ob die Pferde der Räuber noch in der Nähe waren, bevor ich Hasans Kopf vom Baum schlug und davonschleuderte, damit sie ihn nicht sah. Sie rief zu mir herüber, dass die Pferde noch da waren. Und ich war nur gelinde überrascht, als ich Wolf neben den Tieren der Banditen grasend fand. Ich führte die Pferde zurück nach Gryfberg und ließ vier von ihnen bei der Familie, die Kara verloren hatte. Natürlich konnten die Tiere kein Familienmitglied 365 ersetzen, und das sollten sie auch nicht. Aber ich wusste, sie konnten das Geld ersetzen, das Kara in den kommenden Jahren verdient hätte. Die anderen Pferde schickte ich den Leuten, die Vieh an Hasan und seine Bande verloren hatten. Ich blieb zwei Tage in Gryfberg, einerseits, um mich zu erholen, und zum anderen, um auf die Goldkarawane zu warten. Ein weise Frau konnte meine Kopfwunde säubern und vernähte sie so, dass sie ohne Narbe verheilte. Während ich wartete, begab ich mich noch einmal hinaus zum Räuberlager. Ich fand nichts außer einer Menge Wolfsspuren und den vier Pfeilen, die ich nach den Banditen geworfen hatte. Es gab keine Leichen. Ich verließ Gryfberg mit der Karawane. Zwei Wochen später stieg ein kalter Nebel aus einem Steinsarkophag tief in den Gewölben von Burg Gryf. Er war dünner als der weiße Rauch, den Opferweihrauch hervorbringt, aber dichter als der Nebel auf dem Meer. Er hing einen Moment lang in der Luft, wo er sich sammelte und wie eine Gewitterwolke wogte, dann trieb er abwärts in die Gestalt eines Menschen. Langsam wurde er fest und nahm Farbe an. Ich ließ die Decke von meinen Schultern gleiten und stand auf. »Ich wollte mich bei Euch dafür bedanken, Edler Herr, dass Ihr mein Leben gerettet habt, aber ich weiß nicht, wie man sich angemessen bei einem Vampir bedankt.« Der Vampir betrachtete mich aus kalten, roten Augen, dann lächelte er. »Und ich sollte Euch dafür dan366 ken, Tahlion, dass Ihr mein Leben ebenfalls gerettet habt. Zweimal sogar.« Das Lächeln brachte wieder Leben in das Gesicht des Schäfers. »Hättet Ihr den Bolzen nicht aus meiner Brust gezogen, wäre ich gestorben.« Ich verbeugte mich ein wenig in seine Richtung. »Warum habt Ihr mir nicht gesagt, wer Ihr seid, und warum Ihr wolltet, dass ich den Bolzen herausziehe? Jetzt ergibt das alles einen Sinn - Eure Kraft und die Tatsache, dass Holz Euch töten würde. Hätte ich es gewusst, ich hätte ihn sofort herausgerissen.« Der Schäfer betrachtete mich stumm. »Jetzt glaube ich, Ihr hättet mich davon befreit, doch in diesem Augenblick konnte ich es nicht riskieren. Ihr wart Euch so sicher, dass der Herzog eine Verkörperung des Bösen war, die kein Mitleid verdiente. Die Gefahr erschien mir zu groß, dass Ihr mich hättet sterben lassen, hättet Ihr denn gewusst, wer ich bin.« Ich dachte kurz nach, kaute auf meiner Unterlippe und nickte. »Ich kann nicht mit gutem Gewissen behaupten, ich hätte Euch geholfen, wenn ich die Wahrheit gewusst hätte.« Wieder lächelte der Schäfer, diesmal wärmer als zuvor. »Ihr habt mir geholfen, als Ihr die Gelegenheit hattet, Tahlion, als Ihr nämlich wusstet, wer ich war. Ich habe die Angst in Eurem Körper gesehen, als Ihr da am Baum hingt. Ihr hattet keine Angst um Euer eigenes Leben, als ich erschien. Ihr hattet Angst um das Mädchen, um Gryfberg und um den Schäfer. Und trotzdem habt Ihr mir geholfen. Ich vermute, es lag daran, dass Euch klar wurde, dass es stimmte, worüber Ihr mit dem Schäfer gesprochen hattet.« Er setzte sich 367 auf seinen Sarkophag. »Eines Nachts erwachte ich hier aus meinem Schlaf und sah die Ruine, die mich umgibt. Innerhalb eines Augenblicks wurde mir klar, dass alles, wonach ich je gestrebt habe, eben dadurch untergegangen und gestorben ist. In diesem kurzen Augenblick starb der Herzog. Seitdem gibt es nur noch den einfachen Schäfer, dem Ihr zuerst begegnet seid.« Ich schüttelte den Kopf. »Ihr solltet die Leute hier wissen lassen, wer und was aus euch geworden ist.« Der Schäfer lachte traurig. »Ihr Hass und ihre Angst sind über Jahrhunderte gewachsen. Ich habe ihnen das angetan. Es gibt keinen Weg, dies zu ändern. Ihre Angst ist meine Strafe für die Ewigkeit.« Ich blieb den Rest der Nacht und unterhielt mich mit dem Schäfer. Und dann, als die Morgensonne den Greifenberg in leuchtende Farben tauchte, ritt ich hinab nach Gryfberg. Ich zügelte Wolf vor der Kate des Dorfältesten.
Macinne trat heraus, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und hob eine von Leberflecken bedeckte Hand, um sie zu schützen. »Seid Ihr gekommen, um mich zu verspotten, Tahlion? Nur weil Ihr diesmal Recht hattet, bedeutet das nicht, dass sich der Herzog nicht ein anderes Mal jemanden holen wird.« Meine Kaumuskeln arbeiteten und meine Augen wurden schmal. Langsam versammelte sich eine Menge um uns. Sie wartete, was ich mit diesem Mann tun würde, der so frech zu mir gewesen war. Karas Mutter hatte ich nichts getan, aber Macinne fand keine Entschuldigung für sein Benehmen. Meine rechte Hand ballte sich zur Faust und Macinnes Knie bebten. 368 Ich wartete. Ich wartete, bis sich Macinnes Todesangst von ihm auf die anderen übertrug, Schweiß stand ihm auf der Stirn und lief die Schläfen hinab. Sein Mund öffnete sich, seine Unterlippe bebte. Andere Dorfbewohner beäugten ihn nervös und zogen sich zurück, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden, wenn ich ihn abschlachtete. »Nein, alter Mann, ich bin nicht gekommen, um dich zu verspotten.« Ich beugte mich im Sattel nach vorn und starrte ihm in die Augen. »Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass ich letzte Nacht die Gruft des Herzogs geöffnet und ihm einen Holzpflock durchs Herz getrieben habe.« Ich setzte mich wieder auf und ließ den Blick über die anderen schweifen. »Er wird euch nicht mehr zusetzen.« Die Meldung von Herzog Griffs Tod erreichte Elmsfurt und die Umgebung, noch bevor ich die Grafschaft verlassen hatte. Ein Jahr später hörte ich sogar einen Barden von dem Tahlion singen, der in die Höhle des Herzogs eingedrungen war und ihn getötet hatte. Und bald genug war jedoch auch dieses Lied über Herzog Griff vergessen. Und der Schäfer entdeckte, dass selbst die Ewigkeit ein Ende haben kann. 369 Das letzte Geschenk ist eine Geschichte um den vierten König aus dem Morgenland. Ich vermute, in jedem Autor, zumindest in jedem katholischen, steckt eine dieser Geschichten, genau wie in uns allen eine Vampirgeschichte und eine Werwolfgeschichte steckt. Scott Wareings Verlobte - Sabrina - hatte mich zu einer Weihnachtsfeier eingeladen. Sie war im Theater beschäftigt und teilte mir mit, dass jeder auf der Feier als Teil der Unterhaltung etwas »vorführen« sollte. Also setzte ich mich hin und schrieb diese Geschichte - die, wenn man es genau nimmt, so furchtbar weihnachtlich gar nicht ist. Trotzdem ist sie ziemlich beeindruckend. Sie wurde in Amazing Stories veröffentlicht, nachdem Dennis L McKiernan den Herausgeber überredete, mich danach zu fragen. Das letzte Geschenk Der Knabe an der Tür räusperte sich. Er hatte verstanden, dass er nicht sprechen durfte, bevor ich es ihm erlaubte. Ich verkniff mir ein Lächeln, als ich die müden, alten Augen verengte, ein letztes Mal zu den Sternen hinaufschaute und dort bestätigt fand, was ich schon zahllose Male zuvor dort gelesen hatte. Ich machte mir die letzten Notizen auf der Wachstafel, dann drehte ich mich zu ihm um. Vor dem von unten heraufdringenden Licht sah ich nichts weiter als eine gerade gewachsene Silhouette. Er wartete nervös darauf, mir sagen zu dürfen, was ich 370 schon unten im Hof gehört hatte. Er platzte förmlich vor Aufregung, hielt sich aber unter Kontrolle. Er war weitaus reifer, als man es von einem Siebenjährigen erwartet hätte. Nicht einer meiner Schüler hat eine solche Selbstbeherrschung gezeigt, nicht einmal Balthasar, dachte ich. Und keiner vor ihm hat jemals so viel nötig gehabt. Ich erlaubte einem dünnen Lächeln, meine Lippen gerade so weit zu umspielen, dass er es bemerkte, dann nickte ich. »Sie sind endlich eingetroffen?« Der Knabe nickte begeistert. »Ja, Meister, sie sind hier. Der aus dem Orient hat Euch Tee mitgebracht. Ich habe ihn schon aufgesetzt.« Er trat näher, um mir die Treppe hinab zu helfen, doch ich winkte ihn zurück. »Geh, kümmere dich um ihre Bedürfnisse. Bring ihnen den Tee, dann lass sie in Ruhe. Ich werde allein zu ihnen sprechen.« Er lächelte. »Soll ich Eure Sachen für die Reise vorbereiten?« Kluger Junge. Ich lachte innerlich. Mit einem langsamen Kopfnicken sagte ich: »Das ist nicht nötig.« Er drehte sich halb zur Treppe um, und das gelbe Talglicht warf flackernde Schatten über seine verwirrten Züge. »Doch sie haben gesagt, Ihr würdet sie begleiten.« »Geh und tu, was ich dir aufgetragen habe, und denk nicht mehr daran.« Er drehte sich um und schaute hinauf zu dem Stern, dem Stern, der wie eine Fackel in der Mitternacht loderte. So machtvoll, wie er sie anzog, bannte er mich an diesen Ort. Schrecklicher Stern!, fluchte ich. Ich wünschte, dein Licht wäre weniger hell. 371 Auch ohne die Hilfe des Knaben stieg ich ohne Unfall die Treppe hinab. Er hatte vorausgedacht und Lampen entzündet, deren Helligkeit mir gestattete, aus einem Lichtschein in den nächsten zu wechseln. Doch er hätte es besser wissen müssen, statt derart Öl zu verschwenden. Ich hatte mein ganzes Leben in diesen Mauern verbracht. Meine Sinne würden mich nicht im Stich lassen - und das Gebäude selbst mich niemals verraten. Nein, zu stürzen und sich den Hals zu brechen, das wäre ein zu leichtes Entkommen gewesen. Sie standen, als ich das Zimmer betrat, alle drei, und waren freundlich genug, mich anzulügen, wie gesund und
kräftig ich aussähe. Sie waren ein prächtiger Anblick in ihren Gewändern aus Seide und Brokat. Obwohl sie alle gealtert und groß geworden waren, sah ich noch immer die Kinder in ihnen, die ich vor so langer Zeit ausgebildet hatte. Augenblicklich sanken sie in einem Rascheln der Gewänder, das selbst ich hörte, auf die Knie. Doch ich hob eine Hand, um weiteren Widersprüchen zu meiner Verfassung oder Versuchen zuvorzukommen, an den Rest Eitelkeit zu appellieren, der mir geblieben war. »Bitte, meine Könige, kehrt auf eure Stühle zurück. Wir haben viel zu besprechen.« Ich ließ ihnen Zeit, sich zu setzen und ihre Kleidung zu ordnen. »Es ist gut, euch alle drei noch ein letztes Mal zu sehen. Ich werde euch nicht begleiten.« Überraschung weitete ihre Augen, und Gefühle zeichneten sich auf Gesichtern ab, die sonst nicht gewohnt waren, sie zu zeigen. Bei Hofe waren all diese Männer unantastbare Instrumente der Weisheit, 372 des Mitgefühls oder des Rechts, ohne denen, über die sie richteten, den geringsten Hinweis darauf zu geben. Aber hier, bei mir, wurden sie zu halb geschulten Gelehrten, die mit unbedeutenden Problemen rangen, als wären es gigantische Ungeheuer, so, wie sie es vor all den Jahren getan hatten. Kaspar, der Jüngste, der die weiteste Reise zurückgelegt hatte und aus dem fernen Tarshish hierher gekommen war, konnte sich nicht zurückhalten. »Warum nicht? Warum wollt Ihr Euch uns auf dieser Reise nicht anschließen, für die Ihr uns doch vorbereitet habt?« Das Gefühl, verraten worden zu sein, klang in seinen Worten mit und sagte mir, dass die heißblütige Leidenschaft seiner Nation an meinen Lehren genagt hatte. Noch bevor ich etwas sagte, wusste ich, dass Balthasar und Melchior meine Antwort kannten. Ich lächelte ihnen zu und beugte den Kopf in stiller Anerkennung. Kaspar, der zwar impulsiv war, aber kein Dummkopf, verstand plötzlich auch und wurde rot. »Kannst du dir vorstellen, Kaspar, dass du diese Frage gestellt hättest, als du mich vor so langer Zeit verlassen hast?« Ich schüttelte in sanftem Tadel den Kopf. »Nutze, was ich dir gegeben habe, nutze deine Ausbildung und lüfte das Geheimnis meiner Weigerung.« Ich sah die anderen an und lud sie wortlos ein, ihrem Gefährten zu helfen. »Teile Dein Wissen mit den anderen, und vielleicht wirst du erkennen, warum ich nicht mit euch gehen kann.« Kaspar schluckte, dann beugte er den Kopf und sprach. »Wie mir aufgetragen, habe ich den studiert, 373 den wir suchen, und mich seiner Herkunft gewidmet. Er ist von edlem Blut, das steht fest, denn seine Mutter entstammt dem Hause Davids, und er wird von ebenso königlichem Geblüt sein wie wir.« Der König von Tarshish schaute auf und ich erkannte den Ausdruck der Verwirrung auf seinen Zügen noch ebenso deutlich wie vor langer Zeit. Auch Melchior, der dunkelhäutige Nubier, bemerkte Kaspars Zögern. »Du erwähnst seinen Vater nicht.« Kaspar schüttelte den Kopf. »Die Sterne verwirren mich. Sie sagen mir, er habe zwei Väter. Von dem einen sehe ich nichts, so, als könnten die Sterne seine Geschichte gar nicht fassen. Der andere, den ich seine jungen Jahren leiten sehe, ist ein guter Mann, ebenfalls aus dem Hause Davids. Ich würde dies als gutes Omen deuten, eine Erfüllung der Prophezeiungen. Doch fürchte ich, dass dieser Mann nicht der wahre Vater ist.« Melchior hätte eine Lösung für dieses Geheimnis angeboten, doch ich schüttelte fast unmerklich den Kopf, und er folgte meiner unausgesprochenen Bitte. »Was hast du ihm als Geschenk mitgebracht?«, fragte ich Kaspar, um ihn sein Paradoxon vergessen zu lassen. Kaspars Züge hellten sich auf. »Ich habe ihm Gold gebracht, Meister.« »Praktisch wie immer, unser Kaspar«, lachte Balthasar. Wieder wurde Kaspar rot, doch er stellte sich der Herausforderung. »Ich habe dieses Geschenk ausgewählt, weil es für einen Säugling seines Blutes geeignet ist und weil Gold rein und unantastbar bleibt. Ich spüre, 374 dass er aus so edlen Anfängen ein ebensolcher Mann werden wird. Daher ist das Geschenk angemessen.« Er wandte sich mir zu, hoffte auf Bestätigung und Lob. Ich gewährte ihm mit einem ernsten Nicken beides, drehte mich dann jedoch zu Melchior um, um Kaspars Frage nach den Gründen für meine Weigerung, sie zu begleiten, zuvorzukommen. »Melchior, lass hören, was du in Erfahrung gebracht hast.« Der Nubier lächelte. Seine strahlenden Augen und weißen Zähne blitzten. »Wie Ihr mir aufgetragen habt, beobachtete ich die Sterne, die von seiner Kindheit erzählen.« Melchior nickte Kaspar zu. »Du hast Recht, König von Tarshish, dies wird ein bemerkenswerter Mann werden. Als Kind ist er außergewöhnlich in seiner Begabung und Hingabe an die Studien. Ich sah keine Zweiteilung, seinen Vater betreffend. Ich sah einen Knaben, der seine Eltern liebt und sich, nachdem er dem Vater und den Brüdern in der Schreinerwerkstatt geholfen hat, dem Studium alter, heiliger Schriften widmet. Bis ihn sein Volk als Mann erkennt, wird er sich die Weisheit eines Ältesten angeeignet haben. Ich vermute, aus ihm wird einmal ein großer Lehrer werden.« Melchior fixierte mich mit glutäugigem Blick, denn ich hatte das Studium seines Erwachsenenlebens übernommen. Doch ich überging seine stumme Aufforderung, diese Spekulation zu bestätigen. »Und was bringst du diesem Wunderkind als Geschenk, Melchior von Nubien?« Seine Kinnmuskeln spannten sich verärgert, doch er riss sich zusammen und erkannte mich erneut als 375 Meister an. »Ich bringe ihm Weihrauch. Es eignet sich gut für Opferzeremonien und lässt sich ebenso benutzen,
um böse Geister zu vertreiben. Außerdem fördert sein süßer Duft die Gelehrigkeit.« Der Nubier lächelte trocken und blickte Balthasar an. »Und wie der König der Chaldäer hinzufügen würde, ist er von hohem Wert, so dass er sich gegen Stoffe eintauschen lässt, die für seine Studien benötigt werden.« Balthasar nahm seinen Part im Gespräch an, ohne dass ich ihn ansprechen musste. Er war mein ältester Schüler. Haare und Bart waren fast knochenweiß, doch davon abgesehen hatte er sich nicht verändert. Er war noch immer der berechnende Praktiker, der zynischste Geist, den je eine Frau geboren hatte. Er stand auf, wie er es schon früher getan hatte, um die anderen zu belehren, und stellte das Ergebnis seiner Studie vor. »Wie der Meister es mir auftrug, habe ich sein Erbe studiert und mich der Frage gewidmet, was sein Erbe für die Welt bedeuten wird.« Er schmunzelte ironisch und drehte sich zu mir um. »Ihr habt mich daran gesetzt, die Wirkung seines Lebens zu erforschen, weil Euch bewusst war, dass ich es niemals geglaubt hätte, hätte einer der anderen berichtet, was ich jetzt sagen werde.« Ich nickte. Und er wandte sich wieder den beiden anderen zu. »Dieser Mann ist in einem Sinne sterblich - und er wird sterben. Doch er wird nicht tot bleiben, er wird aus dem Grabe auferstehen und zurückkehren, als Bestätigung der Wahrheit seiner Lehren. Das wird ihn zu einem Gott machen, und seine Jünger werden sich über die ganze Welt verteilen. Sie werden 376 alte Reiche stürzen und neue gründen. Sie werden in seinem Namen Gutes tun, und Böses zu seiner Verteidigung. Doch die, welche seinem Leben und seiner Botschaft treu bleiben, werden die Welt in ein Paradies verwandeln.« Kaspar und Melchior starrten Balthasar an. Was er sagte, entsetzte sie. Konnte dieser Mann, fragten sie sich, dieser Mensch, den wir studiert haben, den Tod bezwingen und solche Macht besitzen? Balthasar bestätigte ihre Ängste mit einem langsamen Nicken, dann drehte er sich zu mir um. »Und was habe ich ihm als Geschenk mitgebracht, Meister? Ich bringe ihm Myrrhe, damit man seinen Leib damit salben kann, wenn er stirbt.« Kaspar lachte. »Das ist wirklich kein praktisches Geschenk, Balthasar. Du sagst selbst, dass er nicht tot bleiben wird. Er kehrt als Gott zurück.« Balthasars Augen verengten sich, bis sie nur noch dünne, graue Schlitze waren. »Ich schenke ihm Myrrhe, weil deren Duft ihn ins Grab begleiten und bei seiner Rückkehr daran erinnern wird, dass er einmal ein Mensch war.« Ich hebelte mich aus dem Stuhl und lächelte meine Schüler an. »Ihr habt wahr gesehen und die Gaben gut gewählt. Nun müsst ihr eure Reise fortsetzen, damit ihr rechtzeitig eintrefft.« Kaspar stand auf, traf aber keinerlei Anstalten, sich zu entfernen. »Meister, Ihr habt uns nicht gesagt, warum Ihr uns nicht begleitet.« Balthasar verbeugte sich und ging zwischen mir und dem König von Tarshish vorbei. Sanft fasste er Kaspars 377 Arm und steuerte ihn zur Tür. »Er hat es uns gesagt, Kaspar. Du hast es nur nicht bemerkt.« Er sah sich zu mir um und schluckte. Offenbar hatte er einen Kloß im Hals, was mir zeigte, dass er mehr aus den Sternen gelesen hatte, als ich ihm aufgetragen hatte. »Er kann uns nicht begleiten, weil sein Geschenk an das Kind noch nicht bereit ist.« Kaspar wollte protestieren, doch mein knappes Nicken und Balthasars Hand an seinem Arm hielten ihn ab. Er beugte den Kopf vor mir ebenso wie Melchior es tat. Und die drei Könige verließen mich. Der Knabe fand mich wieder auf dem Dach, beim Studium der Sterne. Jedes Mal, wenn ich hinaufschaute und halb darauf hoffte, dass meine fortschreitende Erblindung einen von ihnen verschluckte und die Geschichte änderte, die sie erzählten, las ich erneut die Geschichte von Schmerz und Leid, die an meiner Kraft und meinem Willen zehrte. Doch so wie ich seine Geschichte in den Sternen gelesen hatte, hatte ich auch die meine und die meiner Schüler gelesen. Ich segne dich, Balthasar, für deinen Versuch, meine Last auf dich zu nehmen. Ich schnaubte, schüttelte mich und drehte mich zu dem Knaben um. »Ja, was gibt es?« Nebel stieg von seinen Lippen auf, als er antwortete. »Der Älteste, König Balthasar, sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen.« Das Gewicht der Ewigkeit zwang mich, mich auf den Rand des Daches zu setzen. »Ja, das stimmt. Komm her.« Ich deutete auf eine Stelle zu meinen Füßen und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, um nichts zu ver378 raten. Endlich wurde es Zeit, mein Geschenk vorzubereiten. Der Knabe schaute zu mir auf, mit unschuldigem, ehrlichem Blick. So vertrauensvoll, so klug. Mein Geschenk. Das Geschenk, das all die anderen verband. »Eines Tages wirst du von hier fortgehen und einem Mann begegnen. Und du wirst erkennen, dass er ein ganz besonderer Mann ist. Du wirst ihn deinen Freund nennen, Judas...« Kid Binary und die 2Bit-Bande ist eine Geschichte, die ich für Jennifer Robersons Anthologie Highwaymen, Robbers, and Rogues geschrieben habe. Ursprünglich hatte mich Jennifer um eine Geschichte gebeten, die in Japan spielen sollte. Etwas später jedoch bat sie einen anderen Autor um einen Beitrag, der seine Geschichte in Japan ansiedeln wollte, also fragte sie, ob ich stattdessen etwas über einen Wegelagerer an der Datenautobahn schreiben könnte. Das war die Geburt von Kid Binary und einer Menge weiterer Ideen für Geschichten, die ich nur noch nicht zu Papier gebracht
habe. Kid Binary und die 2Bit-Bande Ich brach durch eine Hintertür in seine Domain und sah, dass ich dabei Daten blutete. Hastig knallte ich einen Patch auf das Loch in meiner Seite. Das änderte aber nichts an den Buchstaben und Symbolen, die golden leuchtend in der Luft hingen. Mit einem schnellen Blick vergewisserte ich mich, dass sie ASCII und nicht Hex waren. Soweit ich das feststellen konnte, hatte ich einen Treffer in einen Textpuffer eingesteckt. Irgendwann später würde ich wieder raus müssen und die Daten einsammeln. Aber es war nicht wirklich von Bedeutung und der Schaden nicht weiter schlimm. Langsam stand ich auf und klopfte meinen Avatar ab. Wäre ich in der realen Welt in den Bitter Root Saloon gekommen, hätte ich ihn zwielichtig genannt. Hier in den OutLAW-Territorien bedeutete der Mief 380 jedoch nur, dass der Besitzer die Grafiksoftware eine Weile nicht aktualisiert hatte. Aber es ging noch, wahrscheinlich hinkte sie nur ein paar Updates hinterher. Ich sah den Mann hinter der Bar an und tippte an meinen Hut. »Howdy Partner. Tut mir Leid, dass ich so reingehackt komme, aber ich hatte es ziemlich eilig.« Ich schnippte ihm ein goldenes Ike rüber und er holte das Icon mit der rechten Hand aus der Luft. Es stand für den Schlüsselcode zu einer diskreten Einzahlung auf einer Schweizer Cyberbank, die den Schaden an seiner Domain mehr als abdeckte. »Danke.« Sein Avatar hatte goldene Augen. Die ersten paar hundert Mal, die ich sie gesehen hatte, waren sie noch interessant gewesen. Seine standen allerdings etwas dicht zusammen. »Auf der Jagd oder auf der Flucht?« »Ursprünglich Ersteres, inzwischen Letzteres, schätze ich.« Ich sah mich in seiner Domain um. Sie wirkte recht klein, besaß aber eine Treppe, die zu einem Korridor mit mehreren Türen führte, hinter denen ich versteckte Räume vermutete. Durch die Fenster sah ich weitere Gebäude, aber auf der Straße waren keine anderen Avatare unterwegs. Wäre die Grafik nicht so alt gewesen, ich hätte seine Domain für eben erst aufgebaut gehalten gerade erst aufgebaut und ohne große Lebenserwartung. »Gibt es hier viel Verkehr?« »Eigentlich nicht.« Er ließ mein Ike blitzen. »Es braucht nicht viel, wenn die Leute gut genug bezahlen.« Ich fischte noch ein Münzenicon aus der Tasche. »Ich zahle gut. Einen Drink.« 381 »Bourbon oder Bier?« »Bourbon. Ich brauch was Hartes.« Der Barkeeper-Avatar zog eine Augenbraue hoch. »Ihnen muss ein starker Typ auf den Fersen sein.« »Ja. Kid Binary und die 2Bit-Bande.« »Oh«, sagte er. »Dann nehmen Sie besser einen Doppelten.« Es hatte mal eine Zeit gegeben, als noch keine Stärkung nötig war, um sich auf die Datenautobahn zu begeben, aber das war in den Anfangstagen gewesen, bevor die Regierungen entschieden hatten, dass die Netze reguliert gehörten. Auf der ganzen Welt wurden Nutzervorschriften erlassen und lizenzierte Zugangsbereiche aufgebaut so genannte Licensed Access Wards, kurz LAWs - in denen genau festgelegt war, was man tun und lassen durfte, und wo der durchschnittliche Nutzer gut geschützt war. Viele der frühen LAWs wurden von Firmen gesponsert, Bereiche wie DisneyLAW oder PhantasiaLAW waren immer noch populär. Um die Vorschriften durchzusetzen, beauftragten die Regierungen Softwarefirmen, Systeme zu entwickeln, die sich überwachen ließen. Microsoft veröffentlichte augenblicklich seine Iconographic-Domain-Format-Pro-dukte und setzte den Industriestandard für LAWs damit fest. Mit IDF-Software konnte jeder Nutzer einen Grafikavatar erzeugen, mit dessen Hilfe es möglich war, sich in der LAW-Umgebung zu bewegen. Microsofts erste IDFVersion enthielt ein Wildwest-Paket, das in einem großen Teil der westlichen Welt schnell zum Standard wurde. Einige Konzerne und Nationen entwickelten zwar eigene Bilderwelten, aber so ziemlich 382 jeder baute auf der IDF-Architektur auf, damit MS-Icons in jedem LAW funktionierten. Das Hauptproblem der LAWs war, dass ihre absolute Sicherheit auf der Allgegenwart offizieller E-Ranger beruhte, die jede Aktion beobachteten. Wollte ein Konzern ein Geschäft von fragwürdiger Legalität abschließen oder vertrauliche Daten zwischen verschiedenen Standorten austauschen, war eine derart einsehbare Umgebung dafür nicht gerade empfehlenswert. So entstanden die OutLAW-Territorien. Jeder, der Zugriff auf ein IDF-Paket, einen Computer und eine Festoder Mobilnetzverbindung besaß, konnte seinen eigenen privaten Zugangsbereich aufbauen. Die Private Access Domains, kurz PADs, verdrängten ziemlich schnell die alten Websites. Viele Leute unterhielten sie als Hobby. Es war etwa so, als hätte man ein Aquarium, durch das alles Mögliche schwamm. Wenn man Zugriff auf interessante Daten oder Abkürzungen zu anderen PADs oder LAWs anbot oder kons schnell modifizieren konnte, konnte man seine PAD schnell zu einem beliebten Besucherziel entwickeln. Manche PADs wurden so beliebt, dass der Besitzer genügend Ikes einnahm, um den Betrieb der Domain zu finanzieren. Die PÄD, in die ich eingedrungen war, unterschied sich eigentlich nur dadurch von den meisten anderen, dass sie weit ruhiger war. Tatsächlich war mir das sogar sehr recht. Vor Kurzem hatte Microsoft Circus Maxx 3.2 herausgebracht, ein zirkusbasiertes IDF, und ich hatte es von Herzen satt, auf Schritt und Tritt Clowns zu begegnen. Dass diese Domain kaum Verkehr sah, obwohl der Besitzer sie als Unternehmen
383 betrieb, bedeutete allerdings, dass er etwas anbieten musste, wofür die Leute zu bezahlen bereit waren. Mein Avatar trank den Bourbon. Ich konnte ihn natürlich nicht schmecken, und er hatte auch keine berauschende Wirkung - obwohl es Softwarepatches gab, mit denen sich der desorientierende Effekt simulieren ließ. Der Bourbon hier diente als zeitweiliger Schutz gegen Angriffe. Jede Unze Bourbon formte einen Datenpuffer, durch den sich die Hunter-Killer-Programme eines anderen Avatars erst hindurchfressen mussten, um wichtige Daten zu erreichen. Die meisten lernten schnell, dass man für Streifzüge durch die OutLAW-Territorien vorzugsweise eine für diesen Zweck reservierte Maschine benutzte und auch, nichts darauf zu speichern, das man nicht zu verlieren bereit war. Duelle im Cyberwesten wurden mit modifizierten Virusprogrammen ausgetragen, um das System des gegnerischen Avatars zum Absturz zu bringen. Mit dem Wildwest-IDF hatte Microsoft auch Revolver und Patronen eingeführt. Letztere waren Viren, die einen Nutzer ausloggten, wenn er zu viele Treffer kassierte. Die Revolver waren Virusschleudern und begrenzten die Stärke und Anzahl der Kugeln, die einem Nutzer zur Verfügung standen. Natürlich funktionierte dieses zivilisierte Duellsystem genau so lange, bis der erste Hacker die IDF-Software als Raubkopie in Umlauf brachte. Inzwischen gab es Patronen von unterschiedlichstem Kaliber und Effekt. Ein Derringer feuerte vielleicht Kugeln, die einen Nutzer ausloggten oder seinem Avatar Eselsohren bescherten, während eine Sharps-5.6-Büffelflinte die Festplatte 384 abstürzen ließ oder den Laser in einem CD-ROM-Laufwerk mit einem Stromstoß ausbrannte. Der Barmann betrachtete nachdenklich meinen Avatar. »Sie sind schon eine Weile im Geschäft. Sie sollten eigentlich schlau genug sein, sich nicht mit Kid Binary anzulegen.« »Ach ja?« Ich grinste. »Wissen Sie was über ihn?« »Könnte sein.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, warum man ihn Kid Binary nennt.« Er ahmte das Ziehen einer Kanone nach. »Wenn er an ist, sind Sie aus.« Ich lachte. »Kenn ich schon, aber ich finde es immer noch lustig. Was wissen Sie sonst noch?« »So manches.« »Erzählen Sie's mir oder verkaufen Sie nur?« Der Barmann zwinkerte mir zu. »Was man so erzählt, das erzählt man nur so, aber was man verkauft, das enthält doch Fakten.« Ich steckte die Hand in die Tasche und holte ein großes goldenes Ike mit einem Adler auf beiden Seiten heraus, eine Sonderanfertigung meiner Bank. Der Barkeeper erkannte sofort, wie selten es war. Ich schob es ihm über die Theke und es verschwand. »Lassen Sie hören, die ganze Vita.« Er schenkte mir noch einen Bourbon ein. »Kid Binary ist ein Kutschenräuber aus den BADlands. Ich habe hier wenig Newsgroups als Kundschaft, aber man erzählt sich, er soll ursprünglich ein E-Ranger aus den Staaten gewesen sein, der herausfand, dass ein paar der Alphabetagenturen schwarze Daten durch 385 geheime Kanäle schleusten, die in LAWs eingebettet waren. Er zapfte einige ihrer Nullen und Einsen als Beweismittel ab, und sie versuchten, seine Wetware zu löschen. Er hat es überlebt, und seitdem arbeitet er aus den Breaks heraus daran, sie und ihre Kumpel im militärisch-industriellen Komplex daran zu hindern, weltweit die Macht zu übernehmen.« »Ich verstehe.« Er hatte mir nichts erzählt, was ich nicht in etwas anderer Form schon gehört hatte. Die BADlands waren das Reich der Business Access Domains (Local Area Networks, Downloads und Sicherheit), die sich nicht großartig von PADs unterschieden -bis auf die Tatsache, dass sie über ausgesprochen häss-liche Softwarepakete verfügten, die unbefugte Eindringlinge böse zurichten konnten. Um Daten zwischen BADs auszutauschen, bauten die Konzerne >Kutschen<: Sie hüllten sie in Schutzprogramme, die sie ungefähr so kuschelig machten wie eine Kreuzung zwischen einem bengalischen Tiger und einem Stachelschwein. Sie auszurauben war alles anderes als leicht. Und so las sich die Liste der Opfer von Kid Binarys Beutezügen wie die Fortune 500. Dass Kid Binary aus den Breaks heraus operierte, erklärte, wie er es geschafft hatte, so lange durchzuhalten, und war auch eine mögliche Bestätigung für den Mordversuch in der realen Welt. Programme konnten zwar einen Nutzer blenden oder ein System zertrümmern, aber im Netz erbeutete Daten hatten in der wirklichen Welt Wert. Und manche Organisationen waren durchaus bereit, einen Nutzer, dessen wahre Identität sie herausfanden, aus dem Leben zu stöpseln, 386 was in aller Regel äußerst schmerzhaft und nicht minder schmutzig war. Breaks waren Risse im System, die ein unidentifiziertes Eindringen erlaubten. Alle LAWs und PADs benötigten eine Nutzeradresse - wenigstens die Telefonnummer, über die sie mit dem Server in Verbindung standen, der sie ins Netz speiste. Wenn er durch einen Break eindrang, bedeutete dies, dass Kid Binary entweder einen fest mit dem Netz verdrahteten Zugang besaß oder sich bei der Telefongesellschaft eingehackt hatte und sich temporäre
Zugangsadressen über Nummern verschaffte, die dank seiner Vorarbeit nirgends aufgeführt und nicht zurückverfolgbar waren. »Und was ist mit der 2Bit-Bande?« »Hauptsächliche Schmalspurdatensieber und Codebastler.« Der Barmann zuckte die Achseln. »Sie nehmen hauptsächlich Newbies aus, die sich zum ersten Mal aus ihrem LAW in die weite Welt trauen. Zwei von ihnen Doc und Hurrikane - sind Veteranen der Samurai-Invasion. Der Rest aber sind eher lausige Codehelden.« Ich warf noch einen Blick auf den Saloon. »Haben Sie in der Invasion auch was abbekommen?« »Nicht der Rede wert. Ich hatte Schutz.« »Korrekt. Doc und Hurrikane?« »Korrekt.« Ich verzog das Gesicht. »Ich glaube, es war Doc, der mich erwischt hat.« Der Barmann nickte. »Wird wohl so gewesen sein. Der hat bei der Invasion einiges gelernt.« Daran hegte ich keinen Zweifel. Vor etwa fünf Updates hatten sich Manager im Tokioter Hauptquar387 tier von Kotei Software entschlossen, Microsofts Führungsposition im Netz anzugreifen. Sie führten ihr ShogunIDF mit einer Invasion ein. Ninja-Hacker infiltrierten PADs und setzten Viren frei, die die kons der IDFSoftware umgestalteten. Aus Anzügen wurden Kimonos, aus Cowboyhüten Helme und aus Bourbon Sake. Das LAW des Chicagoer Viehmarktes verwandelte sich in Nanosekunden in einen Fischmarkt. Der Angriff kam völlig überraschend, ebenso wie die Gewalt, mit der man in den Staaten darauf reagierte. Die meisten Amerikaner kümmerte es einen Dreck, dass Microsoft den IDF-Markt beherrschte, aber damit, dass Kotei seine Invasion am Jahrestag des Angriffs auf Pearl Harbor startete, brachte es die ganze Nation gegen sich auf. Newbies und Veteranen fluteten in die Out-LAW-Territorien und machten durch Begeisterung wett, was ihnen an Können und Software fehlte. Das Welt-Telefonnetz war hoffnungslos überlastet und wäre kollabiert, hätte nicht ein Cybergenie einen Virus namens Tat Man< auf den Kotei-Mainframe angesetzt. Der Gestank von schmelzendem Silizium war noch auf der anderen Seite des Ozeans wahrzunehmen. Ich hob die Hände. »Ich will niemandem Ärger machen, aber die 2Bit-Bande hat sich da was herausgenommen, was sie besser hätte sein lassen.« »Überrascht mich nicht. Sie benutzen meine PÄD nur als toten Briefkasten, also lege ich keinen übergroßen Wert auf sie. Der gute Wille, den sie sich damit verdient haben, dass sie die Samurai von hier verscheucht haben, ist längst verbraucht.« Der Barmann 388 lächelte wissend und beugte sich vor. »Wenn Sie Interesse haben - ich habe ein paar Ares über sie. Die bekommen Sie zum Sonderpreis.« Fast hätte ich das Angebot angenommen, denn Archivdateien über die 2Bit-Bande versprachen, nützlich zu sein. Außerdem konnten mir Daten über Kid Binary helfen, Tatsachen von Gerüchten zu trennen, um eine Ahnung zu bekommen, was da draußen auf mich wartete. Es gab nur ein Problem: Um die Dateien herunterzuladen, musste ich meine Abwehr senken und Daten in mein System lassen. Das hätte mich für einen Virusangriff oder einen Hinterhalt verwundbar gemacht. »Ein verführerisches Angebot, mein Freund, aber ich verzichte lieber doch.« »Ich verstehe.« Der Barkeeper nickte und schenkte mir noch einen Bourbon ein. »Was sind Sie eigentlich, ein ERanger oder so was?« »Könnte sein.« Ich kniff die grünen Augen meines Avatars zusammen. »Haben Sie was darüber aufgeschnappt, dass sie eine Kutsche überfallen haben, die einen Schlüsselcode enthielt?« »Könnte sein.« Er wich meinem Blick aus. »Wofür war er?« »Wissenschaftler in einem Forschungslabor in Kolwezi haben die DNA-Sequenz des Ebola-Zaire-B-Virus abgeschlossen. Sie haben den genetischen Code verschlüsselt und an AMRID geschickt, und den Schlüsselcode später separat. Ohne den Schlüssel ist die Sequenz nutzlos.« Der Barmann schüttelte den Kopf. »Die Forscher können ihn doch noch mal schicken.« 389 »Nein, können sie nicht. Katanganische Guerilleros haben das Labor angegriffen, weil sie glaubten, die Forscher wären Teil eines Regierungsprogramms zur Verbreitung der Seuche. Sie glauben, die kongolesische Regierung habe sie benutzt, um ihr Volk auszurotten. Die Lasterbombe hat das Labor und die beiden benachbarten Häuserblocks geplättet.« Der Barkeeper nahm sich auch ein Glas Bourbon und kippte es. »Klingt, als wäre dieser Codeschlüssel richtig wertvoll.« »Eine vernünftige Belohnung für seine Wiederbeschaffung ist denkbar.« »Wenn man ihn mit der Virussequenz zusammenbrächte, wäre das ein beachtliches Paket.« Mein Avatar nickte. Die DNS-Sequenz eines Krankheitserregers war eine große Hilfe bei der Suche nach einem Gegenmittel, aber die Fortschritte in der Gensequenztechnologie hatten dafür gesorgt, dass Terroristen nahezu kostenlos eine Ampulle voller Seuchenerreger fabrizieren und in das Trinkwasser einer Großstadt schleusen konnten. Gerüchteweise hatten Tschetschenen im Winter 2007 genau das getan und das Moskauer Winterfieber ausgelöst, dem 250 000 Menschen zum Opfer fielen. Das war eine genetisch veränderte Version des Marburgvirus gewesen, und der harte Winter hatte dafür gesorgt, dass die Menschen nicht vor die Tür gingen,
solange es sich vermeiden ließ. Im Sommer oder in einem milderen Winter hätte Tschetschenien seine Unabhängigkeit bekommen. »Das kann ich nicht zulassen.« Ich schüttelte den Kopf. »Und nach allem, was ich über Kid Binary gehört 390 habe, glaube ich auch nicht, dass er so was durchzöge. Ich dachte immer, er wäre so eine Art Robin Hood.« Der Barmann zuckte die Achseln. »Vielleicht wussten sie nicht, was sie da mitgehen lassen, oder vielleicht hat Kid Binary sich auch entschlossen, zuerst mal an sich selbst zu denken. Soll vorkommen, dass ein Mann irgendwann einfach die Schnauze voll hat.« »Möglich ist alles.« Er nickte in Richtung der Flügeltüren am Eingang des Saloons. »Sie kommen. Doc lässt möglicherweise mit sich reden. Aber passen Sie auf Tenniel auf. Der hat was von einem tollwütigen Hund.« »Danke.« Ich überprüfte die Revolver in den Holstern, die ich links und rechts an der Hüfte trug. In der Tasche und am Gürtel hatte ich zusätzliche Patronen. Allmählich wünschte ich mir, ich hätte die Winchester .44 mitgebracht, weil die auf Distanz treffsicherer war. Aber so war ich schneller. Das war eben der Punkt bei Avataren: Je mehr Software-Optionen und Schutzprogramme man einpackte, desto mehr Prozessorzeit kostete jede Bewegung. Zugegeben, es konnte einen Vorteil bringen, wenn man ein schnelles System hatte, aber hier in den Territorien bemerkte man einen erwähnenswerten Unterschied nur gegen einen Nintendo-Cowboy der sich einbildete, im Gott-Modus zu doomen. Meine Colts würden genügen. Ich ging zum Eingang und stellte fest, dass der Fußboden knirschte und die Flügeltüren Öl brauchten. Es knisterte sogar ein Steppenläufer über den Gehsteig, und ein Staubteufel zischte, als er Sand gegen die Saloonfenster schleuder391 te. Ich grinste. Was dieser Domain an Grafik fehlte, machte sie mit Geräuschen mehr als wett. Am entfernten Ende der Kleinstadtumgebung, die den Rest der Domain definierte, hatte sich die 2Bit-Bande aufgestellt und wartete. Doc war reiner MSWestern: groß, schlank, schwarze Jeans, bodenlanger Mantel, Hut mit gerader Krempe, Schnurrbart, spitze Stiefel. Einen Revolver an der rechten Hüfte und eine Schrotflinte in den Armen. Die einzige Variation, die ihn von jedem x-beliebigen Newbie unterschied, waren die beiden Samuraischwerter, deren Griffe ihm über die linke Schulter ragten. Die Schwerter waren im Cyberspace keine sonderlich gefährlichen Waffen, aber sie offen zu tragen, bedeutete ein Todesurteil, denn eine Menge Japaner war darauf aus, sie zurückzugewinnen. Dass er sie hatte, bedeutete, dass er seine Sache verstand. Neben ihm stand Hurrikane. Der Grundavatar stammte aus einem der Fantasy-IDF, die besonders bei Kids beliebt waren. Hurrikane hatte einen riesigen, muskelbepackten Troll in eine Samurairüstung gepackt, was bedeutete, dass er meterdick gepanzert war. Mit Sicherheit war er langsam, aber eine Menge Codebrecher wären nötig, ihn auszuwerfen. Als Waffe trug er einen Flammenwerfer. Der machte an Schlagkraft wett, was ihm an Treffsicherheit und Eleganz fehlte. Wenn er erst einmal anfing, Code abzufackeln, verlor man schnell reichlich Schutz. Der Nächste in der Reihe war vermutlich Tenniel. Er war ziemlich vollständig MSWestern-Standard, drahtig und ausreichend von sich eingenommen, um 392 nur eine einzige Knarre zu tragen. Stiefel, Jeans, ein rot kariertes Hemd, Wildlederjacke und ein brauner Hut vervollständigten das Bild. Wie es aussah, trug er kaum mehr Schutz als ich, also verließ er sich zu seinem Schutz auch auf Schnelligkeit. Der Kerl neben ihm sah wie ein Kartenhai aus. Ich nahm an, dass es sich um Webster handelte. Er sorgte in der Regel für Unruhe, indem er in PADs, die Glücksspiel erlaubten, Newbies ihre Ikes abgaunerte. Er hatte bestenfalls einen Derringer dabei. Vermutlich brauchte ich mir um ihn die wenigsten Sorgen zu machen, aber ich war nicht so dumm, ihn zu ignorieren. Das letzte Mitglied der Bande wirkte von den Mokassins und dem glasperlenbesetzten Lendenschurz bis zu den Federn im Haar wie eine indianische Prinzessin. Betty Drivekiller hatte als Ausgangsmodell einen DisneyLAWPocahontas-Avatar benutzt, Anstand gegen Sexappeal getauscht und digitalisierte Schmetterlinge auf das Oberteil platziert, das Mühe hatte, ihren Sexappeal zu bändigen. In ihrem Gürtel steckten ein Messer und ein Tomahawk, sie hatte eine Winchester in der Hand und über der rechten Schulter hing ein Gürtel mit Gewehrpatronen. Ich wäre beeindruckt und sogar interessiert gewesen, aber die Art, wie Betty ihr Spiegelbild im Fenster des General Store ständig anstarrte, legte nahe, dass hinter diesem Avatar irgendein pubertierender Jüngling saß, der zu Recht annahm, dass er wahrscheinlich nie näher an ein Paar Titten herankommen würde. Möglicherweise verfügte er über schnelle Reflexe, aber seine Ausrüstung war auf Show getrimmt. Mir kam 393 der Gedanke, dass Betty ein schlaues Newbie war, das sie sich gekrallt hatten, damit er ihnen half, die Kutsche zu knacken. Ich nickte ihnen zu und schob die Jacke nach hinten, um beide Pistolen zu zeigen. »Wo ist Kid Binary?« Doc trat einen halben Schritt vor. »Ich bin hier. Reden Sie mit mir.« »In Ordnung. Sie haben etwas, das ich brauche -und das Sie eigentlich nicht behalten wollten. Händigen Sie es
aus, und ich werde dafür sorgen, dass niemand Sie behelligt.« »Sehe ich aus, als wäre ich im letzten Update digitalisiert worden? Ich kenn mich aus.« Er deutete mit dem Daumen auf die Schwerter. »Ich weiß, dass Information Macht ist, und wenn es um Macht geht, setzt der Verkäufer den Preis fest. Sie wollen den Codeschlüssel? Eine Million Doppeladler-Ikes, und Sie bekommen ihn.« »Eine Million für jeden von uns«, fügte Betty hinzu. Doc warf Betty einen bösen Blick zu, dann wandte er sich wieder zu mir um. »Sie geben uns das Geld, und Kid Binary gibt Ihnen den Code.« Ich schüttelte den Kopf. »Seien Sie vernünftig. Wenn dieser Codeschlüssel in die falschen Hände gerät, kostet das eine Menge Menschen das Leben - und zwar das echte Leben, nicht nur das Bitleben.« »Dann sammeln Sie bei ihnen und bezahlen Sie uns.« »Dafür reicht die Zeit nicht.« Ich grinste. »Schätze, dass ein paar Bits kippen werden, bevor wir zu einer Lösung kommen.« 394 Doc schaute an der Reihe seiner Kameraden entlang. »Sie wollen es ernsthaft mit uns allen aufnehmen?« »So viele Ziele, da kann ich kaum vorbeischießen.« Meine Hände fielen auf die Waffen und Docs Schrotflinte hob sich. Ich zog und feuerte die ersten drei Schuss auf ihn ab. Die erste Kugel in beiden Revolvern war ein Dumdum-Geschoss - mit maximaler Durchschlagskraft. Die generelle Wirkung bestand darin, dass sie Docs Panzerung angriffen und Prozessorzeit fraßen, während seine Software versuchte, den Schaden zu begrenzen. Die dritte Kugel war eine Stinger. Sie schlug durch die berstende Panzerung und explodierte in einem Hagel winziger Virenprogramme, die sich auf Docs Gesicht stürzten. Die überraschte Miene seines Avatars löste sich in einer Wolke goldener Hexdaten auf, dann platschte er mit einem köstlich satten Geräusch in den Dreck. Diese Domain hatte wirklich gute Sounddateien. Und der Rest der 2Bit-Bande nahm sie gehörig in Anspruch. Hurrikanes Flammenwerfer fauchte, als eine Fontäne brennender Flüssigkeit auf mich zuschoss. Ich warf mich nach rechts, weg vom Saloon, unter einen vor dem Eisenwarenladen abgestellten Wagen. Ein Ziehen an der linken Hüfte spornte mich zusätzlich an, doch ich hatte keine Zeit, die Wunde in Augenschein zu nehmen, denn Hurrikane fackelte den Wagen ab. In der Hoffnung, dass mich das Feuer und eine schwarze Datenwolke verbargen, rollte ich auf die Füße und sprintete so gut es ging über den Gehsteig, durch das Schaufenster des Eisenwarengeschäfts. Es klang besser, als es aussah. Das Fenster explodierte, 395 und glücklicherweise war es als Sicherheitsglas kodiert, so dass es mich nicht in Stücke schnitt. Ich kam hoch und machte mich auf den Weg ans hintere Ende des Ladens. Das Humpeln aber bremste mich. Hinter dem Tresen ging ich in die Hocke und nahm mir einen Moment Zeit, um nachzusehen, wo ich verletzt war. Ich blutete hauptsächlich ASCII, aber ich konnte auch ein paar Hexstrings sehen. Es gelang mir, die Wunde provisorisch zu verarzten. Was ich jedoch gesehen hatte, genügte, um zu erkennen, wer mich getroffen hatte und was ihn so selbstsicher machte. Tenniel benutzte Viperpatronen. Der Name war eine Abkürzung für Virtual Intelligence Program Eraser. Die Vl-Programmlöscher suchen gezielt nach den winzigen Stücken virtuell intelligenten Codes, die es Ava-tars gestatten, Außergewöhnliches zu leisten. Viper-Munition wurde sehr populär, nachdem der erste Comic-Book-Verlag ein auf seinem Superheldenuniversum basierendes IDF veröffentlichte. In den Territorien waren verschiedene VIP-Codepakete populär, und ich hatte den starken Verdacht, dass Tenniel mit Codes voll gestopft war, die ihn mindestens schneller und zielsicherer machten. Das Innere des Eisenwarenladens wurde heller, als das bellende Fauchen von Hurrikanes Flammenwerfer lauter wurde. Mit einem Zucken des Zeigefingers konnte er das Gebäude in ein Flammenmeer verwandeln. Eine Viperkugel hätte mir helfen können, Hurrikane auszuschalten, aber da ich nicht erwartet hatte, auf Jagd nach Übermenschen zu gehen, hatte ich kein Code-Kryptonit dabei. Also drehte ich stattdessen die 396 Trommel meines rechten Colts bis zur vierten Kammer, sprang auf, als Hurrikane vor dem geborstenen Fenster auftauchte, und erwischte ihn voll mit einer Parvokugel. Parvo gehört zu den übleren Anti-Avatar-Viren und ist so groß, dass ich nie mehr als eine Patrone gleichzeitig mit mir herumtrage. Der Name ist natürlich ein Akronym: programmierte Asymmetrische Rekursion/ VariablenOperation. Man nennt sie auch Schüttellähmungskugel, weil sie Zufallswerte in die Variablenpaare speist, die einen Avatar steuern und ihn eine Serie von Aktionen im Schnellfeuertakt wiederholen lässt. Es bringt ihn nicht um, aber es wirft ihn eine Weile aus dem Gefecht. Während Hurrikane draußen auf der Straße einen flammenden Macarena tanzte, rannte ich im Eisenwarenladen nach hinten und riss die Tür auf. Ich blickte hinaus, bemerkte nichts und rannte los. Ein Stück weiter die Gasse hinter den Gebäuden hinab sah ich Webster. Ich hob die Waffe und zielte, da schleuderte mich eine Kugel in den Staub und zwang mich, in die Deckung ein paar leerer Kisten und eines Wassertrogs hinter dem Gefängnis zu kriechen. Die Kugel war in meinen Rücken eingeschlagen und durch die Seite wieder ausgetreten. Es war nur eine ASCIIWunde und die Kugel war ein einfacher Ripper gewesen. Etwas subtiler als eine Dumdum, aber nicht so elegant wie eine Stinger. Ich wusste, dass sie von Betty Drivekiller stammen musste, aber ich hatte keine Ahnung, wo
sie steckte - und das bedeutete Ärger. 397 Die Kisten und der Wassertrog boten eine ausgesprochen spärliche Deckung. Im Grunde waren sie nichts als kons - weniger komplex als ein Avatar, aber aus denselben Nullen und Einsen gebaut. Ein Virus musste sich erst durch sie hindurchfressen, um mich zu erreichen, aber die meisten Kulissenicons in einer Domain können die Sorte Virus, mit der wir um uns warfen, nicht einmal bremsen. Sie eignen sich zu nichts anderem als dazu, ein Ziel zu verstecken. Und genau daran hatte ich kein Interesse. Ich warf einen Blick an den Kisten vorbei, um zu sehen, ob ich Webster entdecken konnte, doch er war weniger Spieler, als ich dachte und blieb in Deckung. Ich fluchte und entschied mich nachzuladen, als ich schwere Schritte hinter mir hörte. Ich drehte mich herum und richtete beide Revolver auf den Avatar hinter mir, feuerte aber nicht. Ein kleines blondes Mädchen mit goldenen Locken, die über die Schultern des roten Kleidchens fielen, sah mich besorgt an. »Sind Sie verletzt, Mister?« »Verschwinde von hier, kleines Mädchen. Das ist kein Ort für dich.« Sie streckte die Hand aus und kam näher. »Ich kann Ihnen helfen.« »Hör mal, ich will nicht unhöflich sein, aber hau lieber ab.« Ich steckte den linken Colt ein und griff in die Jackentasche. »Lässt du mich allein, wenn ich dir etwas schenke? Magst du Süßigkeiten, Kleine?« Ihre Augen leuchteten auf, als meine linke Hand mit einem roten Gummibärchen wieder auftauchte. Es war ein Icon, genau wie die Münzen, die ich dem Bar398 mann gegeben hatte, und ließ sich in der realen Welt gegen einen Gutschein eintauschen, mit dem ein Nutzer die Süßigkeiten kaufen konnte, die er im Netz bekommen hatte. Diese Sorte kons hatten die Süßwarenkonzerne eingeführt, und ich hatte immer ein paar dabei, weil sich manche Netheads treu bleiben, wo immer sie sind. »Kirsche. Meine Lieblingssorte«, kicherte die Kleine. »Heut ist dein Glückstag.« Ich schnippte ihr das Gummibärchen zu und sie schnappte es mit einem gewissen Elan aus der Luft. Ihr stolzes Lächeln löste sich in Entsetzen auf, als der Oberkörper des Gummibären auf Lebensgröße anschwoll. Er streckte die Arme aus, zog sie an sich und riss ihr mit einem Biss den Kopf ab. Ich zwinkerte ihr zu, als ihr Kopf durch den Geleekörper des Bären sank. »Du hättest auf deine Eltern hören sollen, Tenniel. Nimm von Fremden niemals Süßigkeiten an.« Der Körper des kleinen Mädchens brach zusammen und der Gummibär zerschmolz über ihm. Tenniel hatte ein Proteus-VIP gefahren, das ihm gestattete, das Aussehen seines Avatars zu verändern. Hätte ich der kleinen Alice gestattet, meine Verletzung zu behandeln, hätte ich ihr erlaubt, meine Abwehr zu umgehen und meinen Kerncode zu manipulieren. Sie hatte genau den Fehler begangen, den ich, als sie die Süßigkeit angenommen hatte, hatte vermeiden wollen - und hatte selbst den Preis bezahlt, den sie von mir kassieren wollte. Aber Tenniel hatte seine Sache nicht schlecht gemacht. Sein einziger Fehler war gewesen, zu faul zu sein. Sein Proteus-Programm hatte die Bitmaps aus399 getauscht, aber die Geräuschdateien nicht angerührt. Dadurch hatte er zwar süß und unschuldig ausgesehen, war aber weiter mit dem schweren Tritt eines gestiefelten Codehelden durch die Gegend getrampelt. Ich brauchte einen Moment, um meine Waffen nachzuladen und schob Stinger in die leeren Kammern. Momentan stellte Betty.Drivekiller die größte Bedrohung dar. Sie war mit einer Winchester bewaffnet. Das war eine gute Waffe, vor allem für Nutzer, die Abstand zum Ziel wahren wollten - die Größe der Virenschleuder entsprach der Komplexität des Codes, die nötig war, um das Ziel zu erfassen. Der Knabe hinter dem Avatar benutzte Neuchen-Munition, also entschied ich mich, davon auszugehen, dass er auch eine typische NewbieStrategie benutzen würde. In dem Fall saß sie auf dem Dach des General Store und nutzte den Überhang des Dachs als Deckung. Ich rollte auf die Füße und stand auf. »Du gehörst mir, Webster«, brüllte ich und feuerte einen Schuss auf einen Stapel Kisten hinter dem Store ab. Dann ereignete sich zweierlei gleichzeitig. Webster tanzte hinter der Kiste hervor, auf die ich geschossen hatte, und feuerte seinen Derringer ab. Die Kugel traf mich in die linke Schulter und zog Hex. Sein Treffer verriss meine zweiten in seine Richtung, aber mit dem dritten hatte ich das korrigiert und setzte ihm eine Stinger genau übers Herz. Er fiel nach hinten und Hexstrings schössen in die Luft, als ob das Herz des Avatars Buchstabensuppe pumpte. Betty.Drivekiller erhob sich auf dem Dach des Geschäfts und gab einen Schuss auf mich ab. Eine der 400 Kisten neben mir explodierte mit goldenen Zeichen. Mein erster Antwortschuss traf zu hoch und Betty duckte sich zurück in Deckung. Sie bildete sich ein, außer Sicht wäre gleichbedeutend mit außer Gefahr. Großer Fehler. Ich feuerte die Colts abwechselnd und spickte das Dach mit Stingern. Sie rissen riesige Löcher in das Bretterdach und tödliche Datensplitter flogen nach allen Seiten durch die Luft. Betty sprang auf und versuchte, aus der Gefahrenlinie zu entkommen, doch eine Stinger erwischte sie am linken Bein. Der Avatar drehte sich um, dann stürzte er vom Dach und schlug hart auf, begleitet von einer Kakophonie berstender Knochen.
Ich joggte zu ihr hinüber und trat ihr die Winchester aus der Hand. »Nicht schlecht, Kid, aber auch nicht gut genug. Du brauchst Erfahrung.« »Ich habe reichlich Erfahrung«, knurrte sie mich an. »Okay, mein Fehler. War nicht bös gemeint.« Ich griff in die Tasche. »Hier hast du was Süßes gegen den Schmerz.« Betty lächelte mich an. Sie fing das Gummibärchen mit der Linken auf, während sie mit der Rechten das Messer zog. Es half ihr nichts. Ich vermute, das war eine Erfahrung, die sie noch nicht gemacht hatte. Ich humpelte zum Eisenwarenladen zurück und lud unterwegs nach. Ich musste mich immer noch um Hurrikane kümmern, also schob ich die übelste Kugel, die ich hatte, in meine linke Revolvertrommel. Dann drehte ich das Magazin, so dass die Aphid-Patrone als nächste vor dem Hammer lag. Genau wie die Parvoku401 gel, die ich ihm vorher verpasst hatte, war sie nicht wirklich als Killer konzipiert. Aber Hurrikane war damit besonders verwundbar. Dutzende kleine Freudenfeuer loderten auf der Straße vor dem Geschäft. Das Hotel und Restaurant neben dem Saloon standen in hellen Flammen. Goldene Symbole trieben durch den Äther der Domain und landeten auf den Dächern von Schmiede und Mietstall, die ebenfalls Feuer fingen. Die ganze Domain drohte in kürzester Zeit in Flammen aufzugehen -und die Grafikdateien zu ersetzen, würde jemanden Geld oder reichlich Zeit kosten. Als guter Bürger entschied ich mich, das Feuer zu bekämpfen. Mit Feuer. Hurrikane hatte die Parvo endlich besiegt. Der Avatar hockte auf einem Knie am hinteren Ende der Straße, während sein hektischer Nutzer ohne Zweifel die Variablen neu initiierte. Ich schloss das rechte Auge, zielte, zog den Hammer zurück und drückte ab. Aphid steht für Armor-Piercing, Heuristic Interface Disrupter, also Panzer brechender HeuristikKupplungsstörer. Bei jeder Aktion, die ein Avatar ausführt, sammeln die VIP, die ihn steuern, Erfahrung. Um genau zu sein, häufen sie einen Berg von Erfolgs- und Misserfolgsdaten an, die mit den Eingaben des Nutzers korelliert werden, um die bestmögliche Funktion des Avatars zu garantieren. Durch diese begrenzte Lernfähigkeit kann ein erfahrener Avatar selbst in den Händen eines Newbies sehr effektiv sein. Die Aphidkugel trennt die Verbindung zwischen dem Avatar und seiner gesammelten Erfahrung und schleu402 dert die Heuristik des Programms in Problemlösungsüberlastung. Das Programm probiert im Schnelldurchlauf sämtliche Aktionsmuster durch, selbstzerstörerische Aktionen ausgenommen. Diese Selbsterhaltungscodierung besitzen alle Avatare. Hurrikanes Flammenwerfer besaß sie jedoch nicht. Die Aphidkugel schlug in die Waffe ein und augenblicklich arbeitete sein winziges Vl-Programm alle Aktionsmuster durch. Es dauerte gar nicht lange, bis es nachsah, welche Konsequenzen eine gleichzeitige Detonation des gesamten verbliebenen Brennstoffs in seinen beiden Tanks hatte. Die daraus resultierende Supernova verwandelte das südliche Ende der Domain im Handumdrehen in Ziffern und Buchstaben, die wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte tanzten. Von der 2Bit-Bande und allem anderen vom General Store abwärts war nichts mehr übrig. Im Nachhall des gewaltigen Donners, mit dem der Flammenwerfer in die Luft geflogen war, hörte ich das harte Knacken der beiden Hämmer einer doppelläufigen Schrotflinte. Ich ließ die Colts fallen und hob langsam die Hände. »Kid Binary, nehme ich an?« »Beim ersten Mal ins Schwarze.« Die Stimme klang kräftig und voll. »Langsam umdrehen.« Ich humpelte herum und sah mich einem Avatar gegenüber, den ich schon unzählige Male gesehen hatte. Es war eine MSWestern-Standardfigur, der Namenlose Avatar. Vom Zigarrenstummel bis zu den typischen verkniffenen Augen und dem Poncho war er einer der beliebtesten Avatare überhaupt. Die Schrotflinte gehörte nicht zur Standardausstattung, aber sie 403 wog nur ein paar Gigs, und es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich einen NA damit sah. »Das ist also dein Geheimnis, Kid? Du benutzt einen Allerweltsavatar, damit du schwerer zu finden bist?« Kid Binary nickte. »Falsche Antwort.« »Was?« »Ich kenne Kid Binary.« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist kein Kid Binary.« »Ach ja?« Die Schrotflinte richtete sich auf mein Gesicht. »Verarbeite das.« Er drückte ab - und die Hämmer fielen herab. Zwei Fahnen flogen aus den Läufen und entrollten die Botschaft: »Peng!« Die dazugehörige Geräuschdatei war ein Furz, was irgendwie passend wirkte. Ich schob die Stiefelspitze unter eine meiner Pistolen und trat sie hoch, um sie mit der linken Hand aus der Luft zu greifen. »Wie ich schon sagte, du bist kein Kid Binary.« NAs Züge wurden schlaff und die Zigarre fiel zu Boden. »Sie kennen Kid Binary wirklich?« »Jep. Mein ganzes Leben.« Ich grinste. »Und das Geheimnis meines Erfolgs ist nicht, dass ich einen Allerweltsavatar benutze, sondern, dass ich die Avatare wechsle wie andere Leute das Hemd.« Ich winkte mit dem Revolver. »Und ich habe den Eindruck, du trägst eines meiner alten Kostüme.«
Der Avatar schnippte mit den Fingern und die NA-Fassade sank wie ein Seidenkleid zu Boden. »Ich habe es gefunden. Ich hatte keine Ahnung, was es war, oder wie ich es einsetzen sollte, bis sich Betty.Drivekiller 404 den Kutschenknackercode vornahm, den Sie hier drin zurückgelassen hatten.« »So ähnlich hatte ich mir das auch gedacht.« Vor ein paar Updates hatte ich mir beim Abfangen einer Datenkutsche eine Leuchtspurkugel eingefangen. Ich blieb lange genug online, um die Daten der Kutsche auf eine Disk zu ziehen, dann improvisierte ich ein Flucht-VIP für meinen Avatar und ließ ihn los, während ich hart ausstieg - ich riss buchstäblich das Kabel aus der Wand -, bevor mich die Agenturaffen aufspüren und wie eine Banane schälen konnten. Der Barmann behielt die Hände oben. »Wie haben Sie die Schrotflinte entschärft? Sie haben sie doch nicht einmal berührt.« »Nein, aber du hast einen Doppeladler von mir angenommen. Ich sorge grundsätzlich dafür, dass niemand, der Geld von mir annimmt, auf mich schießen kann.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung zum Saloon. »Ich dachte mir, dass du derjenige bist, der meinen alten Avatar benutzt, als du angefangen hast zu trinken. Und Doc hat es bestätigt, als er Doppeladler-Ikes verlangte. Er hätte nicht wissen dürfen, dass ich die habe. Wenn du das nächste Mal heimlich mit ihm kommunizierst, denk daran: Er kann nichts für sich behalten.« »In Ordnung.« »Also, wo hast du das Ding gefunden?« Ich trat den abgestreiften Avatar auf die brennenden Überreste des Wagens und sah zu, wie er schmolz. »Er kam hierher«, erklärte der Barmann und ging voraus, zurück in den Saloon. »Ich war eine Weile 405 nicht online, also habe ich einen Haufen Wächterprogramme installiert, um Hacker draußen zu halten. Als ich wiederkam, stellte ich fest, dass es eine Menge Einbruchsversuche gegeben hatte, aber nur einer war gelungen. Es war Ihr Avatar. Er saß am Tresen und kippte einen Bourbon nach dem anderen.« »Überrascht mich nicht. Das Selbsterhaltungsprogramm hatte die Kontrolle übernommen.« »Das ist ein heißer Code, den Sie da haben, wenn er einen ungesteuerten Avatar eine Hetzjagd überleben lässt.« »Ich bin auch ganz zufrieden.« Ich runzelte die Stirn. »Was mich aber beunruhigt, ist, dass der Avatar einen Selbstzerstörungstimer hatte. Er hätte tot sein müssen, als du ihn gefunden hast.« Der Barmann grinste und lehnte sich an die Theke, einen Fuß auf der Stange. »Ich habe die Wächter an den Außenrand und auf die Straße gesetzt, aber im Innern der Gebäude die Zeit abgeschaltet, um nach meiner Rückkehr keinen Verfall aufräumen zu müssen.« »Dann war es das wohl.« Der Mann winkte. »Sie sind jederzeit willkommen.« »Ich glaube, du vergisst da was.« Ich streckte die Hand aus. »Den Codeschlüssel.« Als er hinter die Theke ging, setzte ich hinzu: »Leg ihn einfach auf die Bar und dann halt Abstand.« Das Gesicht des Barkeepers verzog sich mit Bedauern, als er den leuchtenden grünen Zylinder neben die Bourbonflasche stellte. »Hören Sie, geben Sie mir wenigstens etwas von dem Geld, das Sie dafür bekommen. Sagen wir zehn Prozent?« 406 »Die hast du schon.« »Wie das?« Ich zuckte die Achseln und griff nach dem Schlüssel. »Zehn Prozent von nichts sind nichts.« »Aber es wird ewig dauern, den Schaden da draußen zu reparieren.« Der Barmann schüttelte den Kopf. »Mit Geld könnte ich mir ein neues IDF-Paket leisten.« »Es waren deine Leute, die deine Bits abgefackelt haben, nicht ich.« Ich runzelte die Stirn. »Lässt du sie weiter hier einloggen, wenn du den Schaden repariert hast?« »Es sind meine Freunde.« Er zuckte die Achseln. »Was kann ich tun?« »Gib ihnen eine Umgebung, in die sie passen.« Es war nicht weiter schwierig, eine Circus-Maxx-3.2-Demokutsche abzufangen. Und sie mit den Überresten von Bitter Root zusammenzuschustern funktionierte ganz gut. Es dauerte eine Weile, die Bugs auszubügeln, aber ziemlich schnell entwickelte sich die 2Bit-Zirkus-und-Wild-West-Extravaganza zu einer populären PÄD. Ich fand es putzig, der Besitzer freute sich über die Einnahmen, und die 2Bit-Bande ... am Anfang protestierten sie, aber nach ein paar Updates fühlten sich diese Clowns wie zu Hause. 407 Das Greenhorn ist eine Cowboyballade. Ich kann die Frage förmlich hören: Wie kommt jemand, der in Vermont aufgewachsen ist, dazu, eine Cowboyballade zu schreiben? Es hat nichts damit zu tun, dass ich jetzt in Arizona wohne. Eine gute Bekannte, Kassie Klaybourne, las mir ein paar ihrer liebsten Cowboyballaden vor, darunter großartige Texte von Baxter Black. Das hat mich inspiriert. Also schrieb ich Das Greenhorn. Dann habe ich es, auf Kassies Drängen hin, zur Veröffentlichung angeboten. The Tucum-cari Review war der erste Empfänger, an den die Ballade rausging. Und sehr zu meiner Überraschung wurde sie abgedruckt. Das Greenhorn
Auf seinem Pferd das Greenhorn saß, in seiner ganzen Pracht. Gestiefelt, gespornt, zehn Gallonen der Hut, ganz wie man sich das so gedacht. Was hätte nur der alte Pete gelacht, fast müsste er ersticken gar. Nie zuvor sah er 'nen Menschen, der so fehl am Platze war. Zum Viehtrieb war er gekommen, weit vom Osten her, aus Mary's Land. Der kläglichste Anblick, den der alte Pete je gekannt. 408 Vielleicht war er dort Lehrer, ein Bürohengst schien er alle Mal. Sein Bruder war des Bosses Vetter, das war das Einzige, was ihn empfahl. Das kurze Ende hatte Pete erwischt, sein Glück war längst geflohen. Das Greenhorn begleitete ihn nun, was Schlimm'res konnte auch nicht dröhn. Was ist dies und was ist das? Fragen ohne Ende. Das Greenhorn fragte Pete nun pausenlos, die Fragen sprachen Bände. Pete ertrugs geduldig wie ein Mann, quatschte sich den Hals wund. Dann verpflegte er den Burschen, brachte ihn zu Bett, - der schnarchte wie ein Höllenhund. Aus dem Lager lief dann Pete, nach Stille ihm der Sinn stand. Das Greenhorn zu hüten, war 'ne Qual, die härteste, die er je gekannt. Hinaus in die Nacht trug den Cowboy der Weg, in die Dunkelheit und immer weiter. Weit und weiter, bis das Schnarchen verklang, und Kojoten war'n seine Begleiter. 409 Ein wildes Rudel verfolgte ihn über einen Hang. Knurrte, bellte, schnappte, jaulte, drohte mit geblecktem Fang. Pete war nun kein Feigling, Sondern ein Westmann - und von Rang. Und wusste wohl: Niemand lebt ewig! Jetzt aber wurd' ihm Angst und Bang. Seine Waffe - lag noch im Lager, hier fand er nur 'nen Stein. Er knurrte auch und droht' den Hunden: sterben würde er hier nicht allein. Den Ersten, der da kam, schlug Pete gleich nieder, der Nächste sprang - Pete trat ihm in den Bauch und biss und schlug und riss, bald fürchteten die Köter ihn nun auch. Doch ein Rudel Hunde gegen einen allein, selbst wenn er sich müht, ein fairer Kampf kann das nicht sein. Fluchend, betend, kämpfend, verlor der alte Pete, und reißende, beißende, zerfetzende Mäuler sangen schon ein Totenlied. 410 Doch ein Wunder geschah gerade jetzt, der alte Pete war längst verlorn: Hoch auf dem Hang und vor dem Sternenzelt stand plötzlich sein Greenhorn. In den Kampf ohne Zaudern und Zögern warf sich der Mann aus dem Osten. Schrie und zischte, selbst auf des Greenhorns eig'ne Kosten. Pete wusste, nun war'n sie beide tot, ein Festmahl für die Meute. Trotz allen Muts, das Greenhorn schien auch wohl des Wahnsinns fette Beute. Dann flohn die Hunde, jaulend suchten sie das Weite, machten sich davon, winselnd statt knurrend vor dem Schwächling an seiner Seite. Wortlos half er Pete vom Boden und zurück zum Lager und Feuer. Pete erzählte ihm ehrlich, wie es geschehn, doch erschien es ihm nicht geheuer. Er sah hoch zum Greenhorn, das ihn gerettet vom Ritt zu den Toten. »Ich wüsst schon gerne, Partner, wie du das geschafft hast da hinten bei den Coyoten.« 411 Das Greenhorn lächelte ihn milde an, seine brandneuen Sporen blitzten. »Das liegt an meiner Arbeit zu Haus, dass ich im Umgang mit Hunden gewitzt bin. Jeden Tag reitest du übers Land, so weit und offen und frei. Meine Arbeit aber hält mich in den Schluchten der Stadt - und ist öde dabei. Doch sie hat ihre Gefahren, nicht viel anders als hier. Denn als Postbote geh ich meine Route, und begegne oft beißend Getier.« Und so hatte er sich gestürzt ins Gefecht bewaffnet mit Pfefferspray. Es stammte zwar nicht von Colonel Colt, doch um Coyoten zu vertreiben, war's okay. Pete musste lachen, die andern auch. Diese Geschichte war 'ne starke. Und bis heute erinnern sich alle daran, jedes Mal, wenn sie lecken - an einer Marke. 412 Anhörung ist eine Superhelden-Geschichte. Den Protagonisten, Revenant, habe ich als eine Kreuzung zwischen Batman® und The Shadow® angelegt, allerdings eine Spur härter als beide. Diese Erzählung war der dritte Versuch, eine Geschichte für die Sivperfreroes-Anthologie von John Varley
und Ricia Mainhardt zu schreiben. Die ersten beiden waren missglückt. Ich hatte versucht, diese Geschichten düster, hart und böse zu schreiben. Um für diesen Versuch einen völlig neuen Blickwinkel zu finden, kehrte ich alle Elemente, die ich in einer Revenant-Handlung für entscheidend hielt, von innen nach außen und von oben nach unten. Ich tauschte schwarz gegen weiß und eine sehr unterhaltsame Geschichte kam zu Stande. 2003 hat mein Freund Aaron Williams in seinem Comic-Book PS 238 Revenant als Figur eingeführt. Er ist der Mentor eines der Kinder in PS (Public School) 238. Anhörung Dan Rather lächelte kurz, bevor er seine Züge zu der ernsten Maske formte, die er immer aufsetzte, wenn er den Bewohnern Amerikas schlechte Nachrichten überbringen musste. »In dem Aufsehen erregenden Raub- und Entführungsfall um Maria Hopkins, die tödlich erkrankte junge Frau, ihren kleinen Bruder Nathan und den selbst ernannten Rächer Revenant kam es heute zu mehreren bemerkenswerten Ereignissen. Nachdem das American Justice Committee - eine 413 Gruppe von Superhelden, die sich mit dem Ziel zusammengeschlossen haben, die Gesetze der Vereinigten Staaten durchzusetzen - bekannt gab, eine Anhörung zu Revenants Taten abzuhalten, legten mehrere Nachrichtenorganisationen bei Bundesgerichten Klage ein. Diese hat das Ziel, die AJC-Anhörung öffentlich zu machen. Anwälte der Sender wiesen darauf hin, dass die Staatsanwälte des Bundes und der Bundesstaaten Vermont und New Hampshire eine etwaige Anklage gegen Revenant vom Ausgang der AJC-Anhörung abhängig gemacht haben. Advocate, Gründungsmitglied und Rechtsberaterin des AJC, wandte ein, dass das Committee als ein nach den Gesetzen des Staates Delaware legal etabliertes Unternehmen in Privatbesitz - nicht verpflichtet ist, seine Sitzungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bundesrichterin Elizabeth Kerin stimmte ihr zu und lehnte es ab, die Anhörung per Einstweiliger Verfügung öffentlich zu machen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof eine Berufung dieses Urteils ablehnen wird.« Dan gestattete sich einen Anflug von Überraschung. »Die erstaunlichste Wendung in diesem Fall trat ein, als sich Revenant -von dem bisher angenommen wurde, er halte sich außerhalb der Vereinigten Staaten versteckt bereit erklärte, an der AJC-Anhörung teilzunehmen, obwohl er selbst kein Mitglied der Organisation ist. In Anbetracht der Verwicklungen des AJC in den Fall und des aktiven Widerstands der Gruppe gegen seine Aktionen galt ein solches Erscheinen bisher als unwahrscheinlich. Nemesis, Gründer und derzeitiger Vorsit414 zender des AJC, gab Revenant eine persönliche Garantie für dessen Sicherheit und eine faire Anhörung. Revenant, eine zwielichtige Gestalt und der einzige >Superheld<, der es je auf die Liste der zehn meistgesuchten Personen des FBI geschafft hat, gab diese Garantie als Hauptgrund für seine Entscheidung an. In klassischen Zeiten hatten die Römer gefragt: Quis custodiet ipsos custodies - Wer bewacht die Wächter? Heute müssen wir uns fragen: Wer bewacht die Wächter, während sie einander bewachen?« Die erdrückende Wüstenhitze kapitulierte nur widerwillig, als Revenant die Rampe zum Eingang des Hauptquartiers des American Justice Committees hinab ging. Das Hauptquartier der Superheldengruppe lag unter dem Arizona Center, in einer Höhle, die Nemesis und Gletscher persönlich aus dem Natronsalpeter gesprengt hatten. Die Marmorwände erinnerten ihn jedoch eher an ein Mausoleum, und nicht an einen Ort, der als Zentrale für den Kampf gegen das Böse gedacht war. Die in die Wände eingelassenen Hologramme im Kampf gefallener AJC-Mitglieder halfen allerdings auch nicht gerade, diesen Eindruck zu verwischen. Die Rampe führte in eine kleine Eingangshalle, doch der Informations- und Kartenschalter auf der linken Seite war dunkel, man hatte einen großen ABGESAGT-Schriftzug quer über die Liste der Führungstermine geklebt. Revenant ging weiter und trat zwischen zwei sechs Meter hohen Bronzestatuen Justitias hindurch in einen engen Korridor, dessen Decke sich wieder zur 415 Oberfläche hob. Am Ende des Korridors erreichte er einen riesigen Saal mit einem Boden aus rotem Fels und reichlich Kupferverzierungen. Sieben Mitglieder des AJC warteten hier, um ein Urteil über seine Handlungen zu fällen. Hoch hinter der erhöhten Richterbank saß Nemesis an zentraler Position. Zu seiner Rechten hatten Aranatrix, der Kolibri und Hammersnake Platz genommen, zu seiner Linken Gletscher, Karakal und Beutelwolf. Alle trugen Kostüme, keiner der sieben zeigte sein unverhülltes Gesicht. Da er ebenso wenig die Absicht hatte, hier seine Maske abzulegen, betrachtete er dies nicht als Beleidigung. Seine mitternachtsblaue Kapuze verbarg das Gesicht bis auf die Augen vollständig - und den Rest des Körpers verhüllte sein Umhang. Auf dem Weg zum Tisch der Verteidigung an der linken Seite des Mittelgangs verzichtete er bewusst darauf, das Cape mit schneller Geste zu öffnen. Er wusste, dass Gletscher, Hammersnake und Colonel Constitution nur auf eine Entschuldigung warteten, sich auf ihn zu stürzen. Erst als er den Tisch erreicht hatte, schob er den Mantel langsam über die Schultern zurück, bevor er seine Pfeilpistole und den Schockstab vorsichtig zog und vor sich auf den Tisch legte. Er blieb stehen, weil es Advocate und Colonel Constitution am Tisch der Anklage ebenfalls taten, und neigte vor Nemesis den Kopf. »Ich entschuldige mich für die Verspätung. Es war kein Parkplatz zu finden.« Er warf dem Superhelden in Rot, Weiß und Blau einen Blick zu. »Ich hoffe, ihr stempelt meinen Parkschein.«
416 Colonel Constitution fauchte zurück. »Ich werd dir deinen hässlichen kleinen ...« »Genug.« Nemesis erhob sich von seinem Platz. Obwohl er auf einem Planeten tief in einer fernen Galaxis geboren worden war, machte der muskelbepackte Vorsitzende des AJC keinen sonderlich fremden Eindruck auf Nemesis. Seine Uniform hatte grüne Ärmel und Beine mit weißen Streifen an den Schultern und um die Taille. Das Blau des Torsos passte zur Farbe der schmalen Augenmaske und war kaum heller als Revenants Kostüm. Im Gegensatz zum Albtraumdetektiv trug Nemesis jedoch weder Handschuhe noch einen Umhang. Das lange blonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern. »Ich möchte mich bei dir dafür bedanken, dass du an dieser Anhörung teilnimmst, Revenant. Sie soll weniger Schuld oder Unschuld feststellen, als uns vielmehr bei der Entscheidung helfen, wie wir uns dir gegenüber in Zukunft verhalten sollen. Deine Rolle in der Hopkins-Entführung war hier Thema einiger Gespräche.« Aus der Art, wie sich Nemesis umschaute und verschiedene Gruppenmitglieder nickten, schloss Revenant, dass die Debatte durchaus hitzig gewesen sein musste. »Ich hoffe, dass wir diese Situation klären können. Einverstanden?« Revenant nickte. »Einverstanden, auch wenn ich gleich zu Protokoll geben möchte, dass ich keinerlei Autorität eurer Gruppe über mich anerkenne und mich auch nicht an irgendein hier beschlossenes Urteil gebunden fühle.« Ein unterdrücktes Knurren von Colonel Constitution 417 hallte durch den riesigen Saal. Advocate in ihrer gewohnten Uniform aus zweireihigem schwarzen Anzug, schwarzem Filzhut, schwarzer Maske und schwarzen Handschuhen hielt ihn zurück, schleuderte Revenant aber einen giftigen Blick zu. Nemesis nickte bestätigend und nahm wieder Platz. »Das versteht sich.« Der AJCVorsitzende sah Advocate an. »Bitte.« »Wenn es dem ... äh, euch, meinen geschätzten Kollegen, gefällt, möchte ich zunächst an die Situation vor zwei Wochen erinnern, die zu dem gegen Revenant anhängigen Anklagekatalog geführt hat. Aus Angst um die Sicherheit ihres sechs Jahre alten Sohnes Nathan suchte Jeanette Hopkins - im Widerspruch zu einem Vormundschaftsurteil, das gegen sie ausgefallen war -in der Nähe von Groveton Springs, New Hampshire, Sicherheit. Sie behauptete, ihr Gatte und ihre Tochter seien Mitglieder in einem Satanskult, der Nathan als Teil einer widerlichen Zeremonie als Menschenopfer darbringen wolle. Der Reverend Bert Sunnington nahm sie auf und brachte sie in seinem Blessed-Haven-Landgut nahe Groverton Springs unter, bevor er ihr einen Anwalt besorgte und Widerspruch gegen die Scheidungs- und Vormundschaftsurteile des Vermonter Gerichts einlegte. Ihr frührer Gatte Martin wurde gerichtlich aufgefordert, nichts gegen den zeitweiligen Verbleib Nathans bei seiner Mutter zu unternehmen. Und auf eine entsprechende Bitte des Richters, der diesen Beschluss erlassen hatte, brachte Colonel Constitution Einsatzgruppe Alpha nach New Hampshire, um dessen Einhaltung sicherzustellen. Trotz dieses Gerichtsbeschlusses verschwor sich Revenant mit Martin 418 Hopkins, diesen Richterspruch zu verletzen und eine Serie von Verbrechen zu verüben.« Martin Hopkins hätte sich selbst nicht als tapferen Mann bezeichnet. Ein tapferer Mann, so sagte er sich, schlug seine Schlachten selbst. Er konnte das nicht; eine Tatsache, die er ebenso anerkannte wie sein Versagen auf den verschiedensten anderen Gebieten. Selbst seine Berufung lief Gefahr zu scheitern, doch war er verzweifelt genug, alles zu tun, um Maria zu retten. So verzweifelt, dass er sogar seine Angst vor allem überwunden hatte, was auch nur entfernt den Anschein von Illegalität erweckte, und erst recht vor allem, was mit Revenant zu tun hatte. Martin Hopkins wirkte ganz und gar nicht wie ein Held. Er fühlte sich auch nicht so, obwohl ein Freund, dem er von diesem Treffen erzählt hatte, ihm daraufhin erklärt hatte, er müsse Klöten so groß wie Planeten haben, um Revenant ernsthaft begegnen zu wollen. Und trotzdem schlich sich der kleine, dickliche Martin mit dem bleistiftdünnen Schnurrbart und seinem auf der Tonnenbrust aufliegenden Doppelkinn jetzt in die Lagerhalle, die Revenant als Treffpunkt festgesetzt hatte. Er sah wie der Hauptdarsteller in einem abgrundtief schlechten Spionagefilm aus. Sein Gürtel hatte große Mühe, den alten Trenchcoat geschlossen zu halten, und an Stelle des eigentlich obligatorischen weichen Filzhuts musste eine Yankees-Baseballmütze herhalten. Revenant räusperte sich, und Martin drehte sich um und riss die Hand an die Brust. »Sie wollten mich sprechen?« 419 Martin keuchte. »Mann, oh, Himmel, tun Sie das ja nicht nochmal.« Er zog sich die Mütze vom Kopf und wischte sich mit dem Mantelärmel den Schweiß ab. »Tut mir Leid, Sir, ich meine ...« Wut und Erschöpfung durchzogen die Stimme des Mannes und brachten sie fast zum Versagen. »Hören Sie, ich habe kein Geld. Das steckt alles in der Operation.« Revenant glitt aus den Schatten, die ihn verborgen hatten. »Immer mit der Ruhe. Sie sind Martin Hopkins, einundvierzig, geschieden, zwei Kinder. Maria ist neunzehn und Nathan ist sechs. Sie sind Geschäftsführer von Northwood Lumber.« Revenants ruhige, gelassene Stimme löste die Panik, die Martins Herz wie einen Presslufthammer schlagen ließ, ein wenig. »Ihre Exfrau hat Ihren Sohn in eine religiöse Kommune nach New Hampshire gebracht.« Martins braune Augen wurden groß. »Gut, das ist gut. Ich meine, dass Sie sich auskennen. Das ist gut.« Revenant neigte den Kopf. »Und warum ist das gut?«
Martin hatte Mühe zu schlucken. Seine Zunge lag ihm bleischwer im Mund. »Hören Sie, meine Tochter, sie liegt im Medical Center Hospital of Vermont in Burlington. Sie hat Blutkrebs und wird sterben. Die Ärzte sagen, nur eine Knochenmarktransplantation kann sie noch retten. Ich aber eigne mich nicht als Spender. Nathan eignet sich, Jeanette dagegen ...« Ein Kloß verschloss ihm den Hals und erstickte den Rest seiner Worte. Er breitete die Hände aus und schniefte. Revenant hob den Kopf und Hopkins spürte, wie ihm die grünen Augen des Maskierten bis in die Seele 420 blickten. »Ihre Frau weiß von Marias Zustand und stimmt der Knochenmarkspende nicht zu?« Martin nickte. »Ich weiß, dass Nathan dazu bereit wäre. Er liebt seine Schwester.« Er wischte sich mit dem Ärmel die Nase. »Reverend Sunnington. Ich habe ihn angerufen, habe gebettelt, wirklich. Er behauptet, Marias Krankheit sei die Strafe Gottes für ihre Sünden.« Revenant verschränkte die Arme und seine Augen wurden schmal. Martin lief es eiskalt den Rücken hinunter. Jetzt verstand er, wie sich der Mann vor ihm den Beinamen >der Albtraumdetektiv< erworben hatte. Wäre er nur um seiner selbst willen hier gewesen, Martin hätte beim ersten Blick auf Revenant die Beine in die Hand genommen. Und er war sicher, sollte der Maskierte ihn jemals jagen, er würde gewiss sterben. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Mr. Hopkins. Ich kann Ihre Lage zwar verstehen, aber ich bin nur ein ganz normaler Mensch mit ein paar Tricks und einem Umhang.« Revenant zuckte unbehaglich die Achseln. »Das ist ein Fall, der sich besser für Helden wie das American Justice Committee eignet.« Martin sank auf die Knie. »Bei denen habe ich es ja versucht. Colonel Constitution sagt, der Gerichtsbeschluss sei legal und hier ginge es um den zweiten Verfassungszusatz. Ich komme nicht gegen sie an.« Er öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. Er schluckte mühsam, darauf krächzte er: »Bitte?« Der Albtraumdetektiv stand stumm und regungslos vor Martin, für den Stunden zu vergehen schienen, bis 421 der Superheld endlich nickte. »Wie lange hat Ihre Tochter noch?« »Vielleicht einen Monat. Je eher, desto besser.« »Gut. Ich werde Ihnen die Einzelheiten für Ihren Part in dieser Angelegenheit mitteilen. Sie bekommen Ihren Sohn so schnell es geht.« Eine Hand in einem anthrazitgrauen Handschuh tauchte unter dem blauen Umhang auf. Martin schüttelte Revenant die Hand. Der Held versuchte nicht, seine Hand zu zerquetschen, und sein fester Händedruck machte ihm Mut. »Noch etwas, Mr. Revenant, Sir.« Martin zog seine Hand zurück und klopfte die Taschen des Regenmantels ab, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er zog eine Hasenpfote aus der Tasche und reichte sie dem großen Mann. Revenant nahm sie, betrachtete sie und schüttelte den Kopf. »Ich weiß diese Geste zu würdigen, Mr. Hopkins, aber ich bezweifle, dass mir das hilft.« Revenant wollte den Glücksbringer zurückgeben, aber Martin winkte ab. »Nein, das haben Sie falsch verstanden. Hören Sie, Martin ist ein kluger Junge, er würde nicht mit Ihnen gehen, wenn Sie ihm nicht beweisen können, dass Sie ihn zu mir bringen. Das gehört ihm - Jeanette hat es satanisch genannt und liegen lassen, als sie mit ihm davon ist. Geben Sie es ihm. Er wird es erkennen.« Der Albtraumdetektiv nickte und steckte die Hasenpfote in eine Tasche an seinem Gürtel. Martin lächelte und setzte die Mütze wieder auf. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.« »Das mag stimmen, Mr. Hopkins. Wir werden 422 sehen.« Revenant zog sich zurück, dann blieb er doch noch einmal stehen. »Sie können jetzt gleich damit anfangen.« Martin erstarrte. »Ja?« »Sie gehören nicht zu den Leuten, die wissen, wie man mit mir in Verbindung tritt - oder die Personen kennen, die das wissen. Woher hatten Sie die Nummer, unter der Sie Ihre Nachricht hinterließen?« Martin blinzelte überrascht, dann dachte er kurz nach. »Im Krankenhaus hat jemand einen Zettel in eine Karte mit Wünschen zur Guten Besserung gesteckt. Anonym. Die Nummer darauf habe ich angerufen.« »Anonym? Interessant.« Revenant trat in die Schatten und verschwand. Advocate drehte sich um und zeigte auf Revenant. »Ungeachtet des scheinbar humanitären Motivs, das für eine Transplantation benötigte Knochenmark zu beschaffen, hat Revenant das amerikanische Rechtssystem verspottet, indem er eine Serie von Verbrechen geplant und ...« Revenant hob die Hand. »Angebliche Verbrechen.« Colonel Constitution blickte zu ihm hinüber und grub die Finger in die Kante des kupferbeschlagenen Tischs der Anklage. Advocate beugte den Kopf und ihre kurzen, kastanienbraunen Locken fielen nach vorn und verdeckten halb das Gesicht. »... angeblichen Verbrechen geplant und ausgeführt hat. Revenant ist in die Blessed-Haven-Anlage eingebrochen ...« »Ich habe sie zwar betreten, aber ich habe nichts aufgebrochen.« 423 Der Kolibri, der hinter dem Mikrofon kaum zu erkennen war, weil es ebenso groß war wie er, huschte innerhalb von zwei Sekunden bis auf fünfzehn Zentimeter vor Nemesis' Gesicht, hinüber zu Revenant und zurück hinter das Mikrofon. »Herr Vorsitzender, ich habe eine Frage.«
»Bitte.« »Wie kannst du behaupten, du wärst nicht eingebrochen, wenn das ganze Gelände mit einem drei Meter hohen Zaun umgeben war, dessen Oberkante man zusätzlich mit NATO-Draht gesichert hatte ? Gletscher und ich haben ihn selbst installiert, drei Tage bevor du ... angeblich in Blessed Haven eingebrochen bist.« Mit brummenden Flügeln und verschränkten Armen erhob er sich über das Mikrofon. »Fliegen kannst du nicht, also wie bist du hineingekommen?« »Bäume.« Advocate runzelte die Stirn. »Bäume?« Revenant nickte. »Ich bin auf einen Baum geklettert, auf einen Ast gestiegen und über den Zaun gesprungen. Später hat Mr. Naturgewalt den Zaun eingerissen.« Advocate hatte Mühe, sich über Gletschers Knurren hinweg verständlich zu machen. »Das ändert jedoch nichts daran, dass du einen verängstigten kleinen Jungen aus den Armen seiner Mutter entführt, ihn zu einer kriminellen Handlung gezwungen und Gesetzeshüter bei der Ausübung ihrer Pflicht angegriffen hast.« Als er die Blessed-Haven-Anlage erreichte, gestand sich Revenant ein, dass die organisierte Religion ihren Sinn hatte. Er hatte den Mittwochabend für das Ein424 dringen in die Kommune gewählt, weil er wusste, dass alle Erwachsenen an diesem Abend in der Kirche waren. Aus den wenigen Zeitungsberichten, die es über Reverend Sunnington und Blessed Haven gab, wusste er auch, dass sich alle Kinder in ihren Zimmern befanden und beteten oder lernten, bis um 20 Uhr 30 das Licht gelöscht wurde. Die Kommune hatte eine eigene Schule, und der Unterricht begann jeden Morgen pünktlich um halb sieben. Herauszubekommen, wo genau im Innern des vierzig Hektar großen Geländes sich Nathan Hopkins befand, war zwar schwieriger gewesen, doch Revenant war es gelungen, die möglichen Aufenthaltsorte einzugrenzen. Eine alte Karte der Anlage aus dem Manchester Union Leader hatte eine Karte im Bau befindlicher Gebäude gezeigt, und ein Foto im selben Artikel stellte alle Sanitär- und Elektroanschlüsse dar, die man für einfache Wohneinheiten benötigte. Eine neuere Karte behauptete, dieselben Gebäude würden als >Warenlager< genutzt, aber der Artikel erwähnte Sunningtons >Satanistenopferhilfe<-Programm. Daraus schloss Revenant, dass sich Jeanette Hopkins und ihr Sohn vermutlich in einem dieser Häuser aufhielten. Die Kennzeichnung als >Warenlager< schien ein durchsichtiger Täuschungsversuch zu sein. Ihm kam der Gedanke, dass es sich bei der neuen Karte, die erst zwei Wochen zuvor im Boston Herald erschienen war, um den einen Teil einer ausgeklügelten Falle des AJC handeln könnte, verwarf ihn aber wieder, denn Colonel Constitution leitete die AJC-Operation, und wann immer er ins Spiel kam, wurde >ausgeklü425 gelt< zu einer Umschreibung für >konfus<. Der neue Zaun war klassischer Conny, aber Revenant blieb trotzdem auf der Hut, nur für den Fall, dass Constitution doch einmal einen originellen Einfall gehabt hatte. Hätte Blessed Haven eine Datenbank über die Einwohner der Kommune unterhalten und Revenant davon gewusst, so hätte er das Problem, in welcher der zwei Dutzend Wohnungen im neuen Komplex die Hopkins wohnten, schneller lösen können. So schloss er auf dem Weg durch den dicht besetzten Kirchenparkplatz erst einmal alle Wohnungen aus, die an Veranden oder Baikonen lagen, auf denen er Spielzeug sah, das nicht zu einem Jungen von Nathans Alter passte. Im Schatten des BMWs, der dem Richter gehörte, der Nathans Vater den Kontakt zu seinem Sohn untersagt hatte, entschied er sich auch gegen die dunklen Wohnungen, deren Fenster nicht zugezogen waren. Denn vermutlich standen sie leer. Während er weiterschlich, nur für den Fall, dass das Zischen des Autoreifens, der schnell die Luft verlor, Aufmerksamkeit erregte, schob Revenant das Messer zurück in den Stiefelschaft und arbeitete sich auf die andere Seite des Apartmentblocks vor. Wohnung Nummer 14 schien Erfolg versprechend. Es brannte zwar Licht, auf der Veranda lag jedoch kein Spielzeug. Er sonnte sich einen Augenblick im Glanz seiner detektivischen Fähigkeiten, bis er nahe genug kam, um knapp über der Klingel am Türrahmen ein kleines Schild zu sehen, auf dem in winziger, aber sauberer Handschrift >Hopkins, Jeanette< stand. Revenant verarbeitete seine Verärgerung, indem er 426 das Schloss in weniger als fünf Sekunden öffnete und in die schwach beleuchtete Wohnung trat. Er schloss die Tür hinter sich, dann legte er den Riegel um, um sich ein oder zwei zusätzliche Sekunden Zeit zur Flucht zu verschaffen, sollte jemand versuchen, die Wohnung zu betreten. Er stellte den schweren Rucksack, den er mitgebracht hatte, in der Mitte des Wohnzimmers ab, dann ging er in die Hocke und lauschte. Wohnzimmer und Küchenbereich waren durch eine Halbwand getrennt. Nach rechts führte ein kurzer Korridor an einem Wandschrank vorbei zum Badezimmer aus dem das Licht in der Wohnung drang - und weiter zu den zwei Schlafzimmern. Revenant vermutete, Nathan in einem der beiden zu finden, aber irgendetwas behagte ihm nicht. Er konnte nicht genau sagen, was es war, bis er unter der Tür des Wandschranks ein Licht aufblitzen sah und ein leises Summen aufschnappte. Nach einem Blick zurück aus dem Fenster, wo er niemanden sehen konnte, trat Revenant zur Schranktür. Er bewegte den Türknauf, dann öffnete er die Tür. Das Licht im Innern erlosch und er erkannte das Geräusch eines hastig zugeklappten Comichefts. Im schummrigen Licht, das aus dem Badezimmer fiel, sah er das Heft und eine
Taschenlampe in einem Stiefel verschwinden, dann blickte ein kleiner Junge zu ihm hoch. »Wer bist du?« Revenant hockte sich hin. »Ich bin gekommen, um dich zu deiner Schwester zu bringen.« Der Junge riss die blauen Augen auf. »Bist du ein Engel?« 427 Revenant konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Das war das erste Mal, dass ihn jemand mit einem Himmelsboten verwechselte, und vermutlich würde es auch das letzte Mal bleiben. »Wie kommst du darauf?« Der Junge lächelte unschuldig. »Ich habe Reverend Sunnington gebeten, dass ich Maria helfen gehen darf. Er sagte, wenn Jesus möchte, dass ich meiner Schwester helfe, dann schickt er einen Engel.« Er streckte die Hand aus und zeichnete das R auf der Brust von Revenants Kostüm nach. »Du musst Raphael sein, der Helferengel.« »Etwas in der Art.« Wie durch Zauberei zog er die Hasenpfote hinter Nathans linkem Ohr hervor. »Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Er bat mich, dir das zu geben.« Nathans Gesicht leuchtete auf, als Revenant seinen Vater erwähnte, dann nahm er den Glücksbringer und rieb ihn zwischen den Händen. »Wenn mir ein Engel den gibt, kann er nicht so böse sein, wie Mami gesagt hat.« »Stimmt. Bist du fertig? Es ist ziemlich weit, und wir müssen leise sein.« Nathan nickte ernst und hängte die Hasenpfote an eine der Gürtelschlaufen seiner kurzen Hose. Er stand auf, kam aus dem Schrank und schloss ihn sehr leise. Auf Zehenspitzen schlich er ins Wohnzimmer und blieb neben dem Rucksack stehen. »Ich habe auch so einen. Ich sollte ihn packen, für den Fall, dass wir hier fortgehen müssen, hat Mami gesagt. Soll ich ihn holen?« Revenant nickte, und Nathan lief zurück in sein Zimmer. Der Albtraumdetektiv kniete sich neben sei428 nen Rucksack und öffnete eine der Taschen. Er zog zwei kleine, flaschenförmige Plastikgegenstände heraus, nicht größer als die Hasenpfote, und legte sie auf den Boden. Nathan kam mit einem Rucksack zurück, der aussah wie ein Teddybär, und Revenant deutete auf die Plastikgegenstände. »Weißt du, was das ist?« Nathan nickte. »Partyknaller. Wenn du an der Kordel ziehst, machen sie Peng.« »Richtig. Die sind für dich. Aber zieh nur daran, wenn ich es dir sage, okay?« »Okay.« Revenant schulterte seinen Rucksack, dann ging er zur Tür. Er blinzelte durch den Spion und aus dem Fenster, aber niemand war zu sehen. »Nathan, wenn wir draußen sind, halten wir uns im Schatten, okay? Bleib in meiner Nähe, und wir sind im Handumdrehen bei deinem Vater.« »Okay, Mr. Raphael.« Revenant öffnete die Tür und Nathan folgte ihm in die Nacht hinaus. Der kleine Junge ging so schnell er konnte, was für Revenants Geschmack zwar nicht schnell genug war, aber er beschwerte sich nicht, und damit machte er einiges wett. Sie überquerten das freie Gelände vor dem Apartmentblock und kamen bis zum Parkplatz an der Kirche. Dort hielten sie an und duckten sich in den Schatten der abgestellten Wagen. Nathan summte »Näher, mein Gott, zu dir« mit. »Hör mal kurz auf, Nathan. Ich muss lauschen.« Der Junge schlug sich die Hände vor den Mund, dann lächelte er. Revenant schaute sich um, sah aber nichts 429 Ungewöhnliches. Das beruhigte ihn allerdings kein bisschen. Er wusste, dass eine Uniform wie seine ihn nachts nahezu unsichtbar machen konnte, und ohne Sternenlicht oder Infrarotsichtgerät waren seine Chancen, jemanden zu entdecken, gering. Außerdem wusste er aus Erfahrung, dass Geräusche nachts eine sehr viel größere Chance hatten, einen Gegner zu verraten. Aber diese verdammte Singerei hätte den Anmarsch Hannibals mitsamt seiner Elefanten übertönt. Nathan zupfte an seinem Cape. »Der Wagen da vorn hat einen Platten.« Revenant lachte leise. »Ja, das hat er.« Rechts von ihnen flammte ein Motorradscheinwerfer auf. »Das ist nicht das Einzige, was hier gleich platt ist.« Colonel Constitution schlug mit der rechten Faust gegen den Ritterschild an seinem linken Arm. »Ich fange mit deinem Kopf an und arbeitete mich nach unten vor.« Nemesis nickte, nachdem Colonel Constitution den Eid geleistet hatte. »Dein Zeuge, Advocate.« Advocate trat hinter dem Tisch der Anklage vor und nickte Colonel Constitution zu. »Du warst mit Genehmigung des Reverend Sunnington in Blessed Haven anwesend, um den Gerichtsbeschluss zum Schutz Nathan Hopkins' durchzusetzen. Ist das korrekt?« Constitution nickte, und die roten Fangschnüre an seinen Schulterstücken bewegten sich im Takt. »Ich bin an diesem Abend in Groveton Springs zugegen gewesen. Nemesis hatte meiner Bitte entsprochen, mich mit Einsatzgruppe Alpha um die Hopkins-Situation kümmern zu dürfen. Ich hatte Hammersnake, Kolibri und 430 Gletscher auf Streifgang geschickt. Ich selbst bewachte in der Kirche Jeanette Hopkins, um ihre Entführung zu verhindern. Ich hatte eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte, deshalb verließ ich die Kirche und entdeckte den Angeklagten bei dem Versuch, das Kind zu entfernen. Ich betätigte das Alarmsignal, um die anderen zu rufen. Dann gab ich mich dem Verdächtigen zu erkennen und forderte ihn auf, das Gesetz zu achten.«
»Und wie hat er darauf reagiert?« Colonel Constitution schüttelte erneut den Kopf. Sein Dreispitz verrutschte etwas. »Er reagierte, indem er meine Bürgerrechte verletzte.« Revenant hob Nathan auf und setzte ihn auf das Dach des Wagens, der dem Richter gehörte. Dann streifte er den Rucksack ab und stellte ihn daneben. »Zeit für eine Party, Nathan, du weißt, was das bedeutet. Halt dich bereit.« Der kleine Junge umklammerte seine Partyknaller und lachte. »Ich bin bereit.« Revenant trat von dem Fahrzeug weg in die Mitte des Parkplatzes. »Du bekommst einen Versuch, Colonel. Tu dein Bestes.« Constitution grinste kalt. »Ich trete deinen Arsch von hier bis nach Kanada und zurück, Revenant. Du hast nicht den Geist einer Chance.« »Deine Wortspiele sind noch tragischer als du.« Der Albtraumdetektiv zog ein dreißig Zentimeter langes, silbriges Rohr aus der Scheide am rechten Unterarm und wechselte es in die rechte Hand. »Ich wette, du nennst dich Colonel Constitution, weil du mit deinem wahren Namen Bill Wright heißt.« 431 »Woher ...?« Constitution knurrte wütend und trat das Motorrad an. Weiße Kiesel spritzten hinter der Maschine hoch, als er den Motor aufheulen ließ und sich auf das Hinterrad stellte. Der Vorfrontpatriot rang die Maschine wieder zu Boden und hielt geradewegs auf Revenant zu. Mit donnerndem Motor schoss die schwere Harley auf ihn zu. Constitution duckte sich hinter seinen Schild, und Revenant beobachtete, wie er sich auf den Hieb vorbereitete, mit dem er den Albtraumdetektiv zu Boden strecken wollte. Im letzten Augenblick, das Cape glich einer wirbelnden Satinwolke, drehte sich Revenant auf dem linken Absatz wie ein Matador, der einem angreifenden Stier auswich. Er stieß den Schockstab zwischen die Speichen des Vorderrads, dann stürmte er davon, und der Schild streifte ihn nur an der rechten Schulter. Er bewegte sich mit dem Schlag und landete flach auf dem Rücken, gerade als der Schockstab gegen die Gabel des Vorderrads schlug. Das Motorrad bockte und schleuderte Constitution durch die Luft. Der Vorfrontpatriot sauste wie eine Rakete durch die Nacht und knallte mit dem Kopf voraus gegen den Kühlergrill eines Ford Taurus. Kühlerflüssigkeit spritzte hoch, als die Motorhaube nachgab. Und im Innenraum öffneten sich beide Airbags. Das Motorrad flog hinter Constitution her, überschlug sich dabei und prallte nach dem ersten Salto mit den Reifen vom Boden ab. Eine Sekunde lang hing es im Gleichgewicht, dann kippte es auf Constitutions Beine. 432 Constitution schnaufte, als er zu Revenant hinüberstarrte. »Wäre es ein Importauto gewesen, ich hätte erst dies zertrümmert und dann ihn. Aber es war ein solider amerikanischer Wagen, dadurch war ich für einen Moment außer Gefecht gesetzt und habe nicht gesehen, was danach geschah.« Nemesis blickte Revenant an. »Hast du Fragen an den Zeugen?« Der Albtraumdetektiv schüttelte den Kopf. »Keine, die er ohne Zähneknirschen beantworten könnte.« »Dann darfst du den Zeugenstand verlassen, Colonel.« Nemesis zwang den Mann mit Blicken zurück an seinen Platz am Tisch der Anklage, dann drehte er sich zum Kolibri um. »Ich vermute, Advocate, dass du als Nächstes Kolibri befragen willst?« »Ja, Euer Ehren.« Kolibri huschte von seinem Platz in den Zeugenstand, dann hing er vor dem Mikrofon in der Luft. Seine Flügel schlugen so schnell, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. »Ich schwöre bei meiner Ehre als Mitglied des American Justice Committee, die ganze Wahrheit zu sagen und nicht zu ruhen, bis dem Recht Genüge getan ist.« Advocate blätterte durch ein paar Notizen auf ihrem Tisch, dann blickte sie auf. »Du hast den Schauplatz als Nächster erreicht, richtig?« »So ist es.« »Kannst du uns beschreiben, was dann geschah?« Der Geflügelte Krieger nickte fast unerkennbar. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er hat mich reingelegt.« 433 Der erste Angriff des Kolibri, der wie eine wütende Grille brummte, warf Revenant zu Boden. Der Schlag hatte ihn voll auf den Rücken getroffen, dadurch absorbierte seine Kevlarrüstung einen Teil der Wucht. Die kinetische Energie aber, die Kolibri aufgebaut hatte, genügte trotzdem, um ihn auf den Kies zu schleudern. Revenant griff sich den Schockstab, der aus dem Harleyrad gefallen war, während er sich in die Hocke begab, dann schaute er hoch und sah Kolibri zwischen ihm und Nathan Hopkins in der Luft stehen. »Wenn du das Kind willst, musst du erst mich erledigen, Schurke.« »Wenn du darauf bestehst.« Revenant stand langsam auf. »Jetzt, Nathan.« Gehorsam zog der kleine Junge an der Kordel, die den ersten Partyknaller auslöste. Mit einem hellen Lichtblitz und einem lauten Knall schössen silbern glitzernde Girlanden in den Himmel. Die von Kolibris Flügelschlägen erzeugten Wirbel zogen sie an, und sie fesselten den Geflügelten Krieger, bevor ihm der Angriff überhaupt bewusst wurde. Die Girlanden verhedderten sich in seinen Schwingen, und die heftigen Flügelschläge wurden langsamer, hörten schließlich ganz auf. Doch bevor er zu Boden stürzen konnte, sprang Revenant vor und zog seinen Schockstab durch die Metallfäden. Sein Daumen drückte kurz auf den Kontrollknopf des Stabs, und der Kolibri zuckte wie eine wild tanzende
Marionette, bis er kraftlos in den Girlanden hängen blieb. Revenant trug ihn zum Wagen und legte ihn ab, dann zupfte er die Girlanden fort und drehte den fünfzehn Zentimeter großen Mann auf den Bauch. 434 »Siehst du, Nathan? Das ist ein kleiner Mann in einem mechanischen Anzug.« Er zog das Messer aus dem Stiefel und hebelte mit der Spitze den Deckel von dem kleinen quadratischen Kasten zwischen Kolibris Flügeln. »Das sind die Batterien, mit denen er seine Flügel antreibt. Wenn wir sie rausnehmen, so, dann kann er nicht mehr in Schwierigkeiten kommen.« »Wenn er versucht, dich aufzuhalten, Raphael, muss er ein Teufel sein.« Revenant schüttelte den Kopf. »Nein, kein Teufel, nur ein verwirrter Mensch. Es dauert vielleicht eine Weile, bist du es verstehst, aber es gibt einen Unterschied.« Nemesis starrte auf Kolibri hinab. »Du sagst, du bist im Handschuhfach eines Mercedes-Benz wieder aufgewacht?« Der winzige Superheld bebte vor Empörung. »Er hatte mich in eine Socke gestopft und auf ein Kissen aus Papiertaschentüchern gelegt.« »Das war Nathans Idee«, unterbrach Revenant hastig. »Er hatte auf dem Gelände Katzen gesehen und dachte, die Socke würde einen guten Schlafsack für dich abgeben. Ich habe nur mitgespielt und mir gedacht: wenn schon, dann wäre ein Zimmer im Mercedes-Hotel sicher die angemessenste Unterkunft.« Der Extraterrestrische Titan nickte salomonisch. »Ich verstehe. Danke, Kolibri. Falls Revenant keine Fragen an dich hat, darfst du den Zeugenstand verlassen.« 435 Der Albtraumdetektiv schüttelte den Kopf, dann sah er aber auf, als Hammersnake in den Zeugenstand trat. Der Elastische Rächer hob das rechte Bein über die Richterbank und pflanzte es fest im Zeugenstand auf, dann floss der Rest seines Körpers wie ein menschliches Slinky hinterdrein. Seine rechte Hand zuckte wie eine Kobra nach oben und er schwor, die Wahrheit zu sagen, wie es schon seine beiden Vorgänger getan hatten. Advocate warf Revenant einen Blick zu, dann lächelte sie und drehte sich zu ihrem neuen Zeugen um. »Bei deiner Begegnung mit Revenant an jenem Abend hast du ein ähnliches Schicksal erlitten wie die anderen Mitglieder der Einsatzgruppe Alpha, nicht wahr?« »Ja.« »Aber bei dieser Begegnung hast du etwas erfahren, das einen Bezug zu den Beweggründen für seine Anwesenheit dort und auch zu seinen Methoden hat, richtig?« »Ja.« Hammersnake strich sich mit gummiartigen Fingern durch das gummiartige schwarze Haar, und die verhedderte Mähne knallte hörbar, als er die Finger wieder befreite. »Soll ich es gleich sagen?« Advocate nickte. »Ich bitte darum.« »Ja, okay. Ich habe erfahren, dass Revenant mit der Unrecht-Kabale zusammenarbeitet ...« Revenant und Nathan hasteten durch die Nacht. Der Albtraumdetektiv wusste, dass irgendwo dort draußen noch zwei Mitglieder von Einsatzgruppe Alpha lauerten. Und seine einzige reale Chance, sie zu besiegen, 436 lag darin, sie einzeln zu überwältigen. »Wenn Hammersnake und Gletscher uns gemeinsam angreifen ...« »Keine Sorge, Raphael, wir haben die Hasenpfote.« Revenant lächelte und hob Nathan auf den Arm. »Dann wollen wir uns beeilen wie die Hasen und zusehen, dass wir hier wegkommen. Kletter mir auf den Rücken, ich trage dich.« »Aber so was machen Hasen nicht.« »Für Engelshasen gelten besondere Regeln.« Revenant streifte den Rucksack ab und wartete, bis Nathan es sich bequem gemacht hatte. »Nicht so fest, Nathan. Du schnürst mir die Luft ab.« »Ja, Nathan, überlass das mir.« Revenant wandte sich schnell um und sah die Umrisse einer unmöglich großen und hageren Gestalt. Der Mann stand vor ihnen, die Fäuste auf die Hüften gestützt, das in die Länge gezogene Kinn vorgereckt. Er wiegte sich leicht hin und her wie hohes Gras im Wind. »Er sieht wie eine aufgeweichte Brezel aus«, flüsterte Nathan Revenant ins Ohr. Und der musste lachen. »Ja, lach ruhig, Casper, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nichts mehr zu lachen haben.« Hammersnake deutete mit dem Daumen auf sich selbst - ohne die Faust von der Hüfte zu nehmen. »Ich bin Hammersnake, und wenn du schon jemals von mir gehört hast, dann dürfte dir klar sein, dass du besser sofort aufgibst. Keine Bange, Kleiner, ich hab dich im Handumdrehen befreit, dann besorgen wir dir einen Aufnahmeantrag für meinen Fanclub und ein paar Actionfiguren und all das andere Zeug.« Revenant ließ die Hand auf das Holster an seiner 437 rechten Hüfte fallen und zog die Pistole. Nach einem Blick auf den Wahlhebel schob er ihn auf die zweite Position, dann spannte er den Hahn. Er hob die Waffe auf Schulterhöhe, den Lauf zum Himmel gerichtet. »Stoß mal mit dem Fuß dagegen, Nathan.« Als das Kind freudig gehorchte und Revenant zielte, lachte Hammersnake laut. »Du hättest dir meine Pressemappe durchlesen sollen, Irrelevant. Ich bin aus Gummi. Kugeln prallen einfach ab ... AUTSCH!« Hammersnake sah nach unten und zog einen silbrigen Pfeil aus seiner Brust. »Ein Pfeil. Ha! Ich habe einen so
außergewöhnlichen Metabolismus, dass mir nichts, womit du den bestrichen haben könntest, etwas ausmachen kann. Tatsächlich hat nur das Gift ...« »Das Gift der haitianischen Solenodon hat allerdings eine Wirkung auf dich.« Revenant pumpte zwei weitere Pfeile in den Elastischen Rächer, und der Superheld brach in einem Gewirr gartenschlauchlanger Gliedmaßen zusammen. »Woher weißt du das? Das ist geheim!« »Seit du von einer gebissen wurdest, als du bei Port-au-Prince gegen Crimson Carnage gekämpft hast, ist dein Geheimnis keines mehr. Die Solenodons werden bis zur Ausrottung gejagt, und die Computer der UnrechtKabale listen Dutzende von Quellen für das Zeug auf.« Nathan rutschte von Revenants Rücken, als sich der Albtraumdetektiv hinhockte und Hammersnakes Arme und Beine zu Schleifen band. Revenant sah zu dem Jungen hoch. »Und, Nathan, du findest doch sicher, dass Hammersnake ein richtig cooler Held ist.« 438 »Nö.« Falls ich je einen Assistenten brauche, Nathan, stehst du ganz oben auf der Anwärterliste. Revenant nahm Nathan an der Hand, holte sich seinen Rucksack und dann verschwanden die beiden in der Dunkelheit, noch bevor Hammersnakes Stöhnen verklungen war. »Ich möchte etwas klarstellen, Herr Vorsitzender.« Nemesis nickte der Frau rechts neben sich zu. »Ja, Aranatrix?« Die Herrin der Netze lächelte, und ihr silbriges Kostüm glitzerte im gedämpften Licht des Saals. »Während ich mein Netz durch die Computersysteme der Nation verbreitet habe, bin ich wiederholt auf geisterhafte Spuren von Aktivität getroffen, die ich Revenant zuordnen konnte - auch wenn er erstaunlich wenige Hinweise hinterlässt.« Sie neigte den Kopf in die Richtung des Albtraumdetektivs - und Revenant erwiderte das Nicken respektvoll. »Ich möchte feststellen, dass die Informationen über Bezugsquellen des Nervengifts der Solenodon paradoxus geändert wurden und jetzt, soweit ich das feststellen konnte, alle Anfragen danach gesammelt und je nach Herkunft den Bundes- oder örtlichen Polizeibehörden übergeben werden.« Am Ende der Bank grinste Beutelwolf unter seiner wolfsähnlichen Halbmaske. »Herr Vorsitzender, wie du weißt, achten Karakal und ich besonders auf Vergehen gegen das Artenschutzgesetz. In Haiti, dem einzigen Ort, wo Solenodon paradoxus bisher zu finden war, ist die Jagd auf diese Schlangenart in den letzten zwei Wochen praktisch zum Erliegen gekom439 men. Bisher habe ich das nicht weiter beachtet, vor allem, weil es sich um Haiti handelt und es dort reichlich Voodoogeschichten gibt. Aber es waren Gerüchte, dass >der Unheilige Geist< die Wilddieberei und den Handel mit Wilddieben verboten hat, die diesen Handel stoppten.« Colonel Constitution deutete mit ausgestrecktem Finger auf Revenant. »Kommen jetzt auch noch Computerverbrechen und Terroraktionen gegen Ausländer auf die Liste deiner Untaten?« »Meiner angeblichen Untaten.« Revenant lachte, als Constitutions Nackenmuskeln anschwollen. »Außerdem befinden sich solche Fragen doch wohl außerhalb dieser Anhörung.« Nemesis stimmte mit einem Nicken zu. »Gletscher, du bist der Nächste, glaube ich. Danke, Hammersnake.« Revenant fühlte, wie der Saal kälter wurde, als Gletscher hinter der Richterbank vortrat und zum Zeugenstand ging. Der von Kopf bis Fuß weiß gekleidete Superheld bewegte sich betont langsam. Seine kurzärmelige Uniform gab Arme frei, die ebenso muskelbepackt waren wie der übrige Körper. Vereiste Metallschienen bedeckten seine Unterarme. Die Haut hatte eine bläuliche Färbung, mehrere Schattierungen heller als das >G< auf seiner Brust, aber nicht kräftig genug, um ihn als Außerirdischen zu kennzeichnen. Nachdem er den Eid abgelegt hatte, starrte er Revenant mit eisblauen Augen an. »Ja, ich war das letzte Mitglied unseres Teams, das Revenant bei unserer ersten Konfrontation begegnete. Ich war entschlossen, ihn 440 aufzuhalten, fand mich aber als Ziel eines ungewöhnlichen Angriffs ...« Ohne weitere Unterbrechung - wohl aber mit ein paar Scherzen - erreichten Revenant und Nathan den Zaun, den das AJC errichtet hatte. Revenant legte den Rucksack ab, dann schüttete er ihn aus. Eine zu einem Bündel geschnürte gepolsterte Kettenleiter fiel heraus. Revenant löste die Schnüre, die sie zusammenhielten, dann warf er sie über den Zaun. Die dicke Tuchpolsterung legte sich über den NATO-Draht, während die Aluminiumsprossen einen leichten Auf- und Abstieg ermöglichten. »Okay, Nathan, du zuerst. Lass dir Zeit, und wenn du oben irgendwas Scharfes siehst, pass auf, dass du es nicht berührst.« Der Junge nickte, und Revenant stopfte die einzelne Socke, die aus seinem Bärenrucksack hing, wieder hinein. »Los. Ich komme gleich nach.« »Halt!« Der Ruf hallte wie das herausfordernde Röhren eines Elchbullen, der einen Rivalen sah, durch den Wald. »In Namen des American Justice Committee, du bist verhaftet.« »Mist.« Revenant griff in seinen Rucksack und zog einen Metallgegenstand heraus, der wie der große Bruder von Nathans Partyknallern aussah. Er blickte zu dem Hünen auf der Kuppe des Hügels hinauf, den sie überquert hatten, um den Zaun zu erreichen. »Das ist Gletscher.«
Der Knabe zog seinen verbliebenen Knaller aus der Tasche und grinste. »Steigt wieder eine Party?« 441 Revenant zerzauste ihm das dunkelblonde Haar. »Ja, aber heb dir den für später auf, vielleicht, wenn du deine Schwester siehst, okay? Schnell über den Zaun mit dir. Warte an dem großen Baum da drüben auf mich, okay?« »Okay.« Während Nathan die Leiter hinaufhuschte, stand Revenant auf und breitete die Arme aus. »Ich mache es dir einfach, Schneemann: Ich widersetze mich der Verhaftung.« »Das ist aber unüberlegt.« Gletscher ließ die Muskeln spielen und verdeckte den hinter ihm aufgehenden Mond. »Ich bin autorisiert, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um dich festzunehmen.« »Ja, ja, du wirst mich auf Eis legen. Die Hölle friert zu, bevor ich wieder ein freier Mann bin. Ich kenne die Sprüche.« Revenant winkte Gletscher näher. »Tu, was du nicht lassen kannst, aber mach ein bisschen voran, okay, Flutschfinger?« »Erzittere, Gesetzesbrecher!« Gletscher schüttelte die Faust, während er langsam näher stampfte. »Du sollst den unaufhaltsamen Zorn des Gletschers spüren!« Revenant stieß ein übertrieben grölendes Lachen aus. »Das ist schon herb! Und so was von einem Kerl, der beim Nacktbaden die Titanic versenkt hat.« »Aaargh!« Der Fürst des Frostes senkte den Kopf und pumpte mit den Armen, als er den Hang herabstürmte. Mit den weiten Schritten seiner Beine, die wegen des enormen Umfangs kürzer wirkten als sie waren, verschlang er die hundert Meter Entfernung zwischen den beiden Superhelden mit erstaunlicher 442 Schnelligkeit. Gletschers Körper richtete sich auf, als er seine Höchstgeschwindigkeit erreichte, und seine Fäuste öffneten und schlössen sich, als übe er schon, was er mit Revenant vorhatte. Der Albtraumdetektiv blieb, wo er war, und duckte sich nur leicht, als der Riese auf ihn zu donnerte. Er fühlte, wie die schweren Schritte den Boden erzittern ließen. Gletschers schwerer Atem hallte wie das Fauchen eines Schmelzofens durch die Nacht. Die pumpenden Arme erinnerten ihn an die Zylinder einer Dampflok. Kondensierte Atemluft zog sich in zwei Nebelstreifen links und rechts von Gletschers Kopf hinter ihm her, und die bis ins Mark gehende Kälte eines arktischen Schneesturms lag in der Luft. Revenant atmete tief ein und hielt die Luft an. Er wartete, bis Gletscher nur noch drei Meter entfernt war. Dann hob er den Metallzylinder und riss an der Kordel. Die Schrotflintenplatzpatrone im schmalen Teil des Geräts explodierte und drückte den gesamten restlichen Inhalt aus der Öffnung des weiten Teils. Als Erstes flog der Stopfen aus gewachster Pappe raus und traf Gletscher mitten im Gesicht, so dass er die Wolke aus anderthalb Pfund schwarzem Pfeffer nicht sah, die sich dahinter formte. Gletscher saugte den Pfeffer ein wie ein auf maximale Leistung gestellter Staubsauger, und würgte und hustete augenblicklich so viel wie möglich davon wieder aus. Dann setzte der krampfartige Niesanfall ein, und mit jedem Atemzug sog er nach jedem Nieser mehr und immer noch mehr Pfeffer in Nase und Lunge. Die Tränen, die ihm aus den Augen strömten, ge443 froren und formten lange Eiszapfen an seinem Kinn -wie ein Fu-Manchu-Bart - , bis ein besonders heftiger Nieser sie abbrach und sie ihm auf die Brust schlugen. Revenant, der der Wolke seitlich ausgewichen war, senkte das vors Gesicht geschlagene Cape und sah Gletscher blind umherstolpern. Er wollte nach der Pfeilpistole greifen, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen ging er zu dem kampfunfähigen Helden, drehte den Mann, so dass er mit dem Rücken zum Zaun stand, und pflanzte mit einem kräftigen Tritt seinen Absatz auf Gletschers Kinn. Mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen flog Gletscher die verbliebenen zwei Meter bis zum Zaun und fiel dagegen wie ein Trapezkünstler ins Netz. Mit einer Reihe jaulender Knalle gab der Drahtzaun jeden Versuch auf, Gletscher zu halten. Er riss sich zuerst vom nächsten Pfosten ab und zog Gletscher nach links weg. Nathan lugte hinter dem Baum vor und stieß einen Pfiff aus, als Revenant zu ihm gehumpelt kam. »Den hast du kalt abserviert.« Der Albtraumdetektiv lachte und verzichtete darauf, es drohend ausklingen zu lassen, wie er es Verbrechern gegenüber zu tun pflegte. »Das ist gut, Nathan. Du bist ein schlauer Bursche. Was willst du mal werden, wenn du groß bist?« Nathan nahm Revenants rechte Hand und sie gingen in den Wald. »Ich will ein Held werden. Aber nicht so wie die, sondern ein richtiger Held.« »Ich denke, da hast du gute Chancen, Nathan.« Revenant drückte die Hand des Jungen. 444 »Wirklich?« »Wirklich. Ein flottes Mundwerk hast du schon.« Das Eis auf dem Geländer des Zeugenstands brach, als Gletscher losließ. »Soweit erinnere ich mich.« Advocate nickte, entließ Gletscher und wandte sich zu Revenant um. »An diesem Punkt hast du dich der Verhaftung und Verurteilung entzogen. Du hast das Kind auch über eine Staatsgrenze gebracht und die Entführung damit zu einem Fall für die Bundesbehörden gemacht. Colonel Constitution, wenn du so freundlich wärst ...«
Nemesis verzog das Gesicht. »Colonel, du kannst sitzen bleiben. Du stehst noch unter Eid. Ich weiß, worauf das hinausläuft, aber du kannst die anderen auf den aktuellen Stand bringen.« Constitution ließ die Knöchel knacken. »Mit Vergnügen.« Nathan blieb stehen, als er die schlanke Corvette sah, die im Wald auf sie wartete. Der Wagen war dunkelblau, mit grauen Rallyestreifen an den Seiten. Seine Nase deutete auf eine schmale Straße, die durch den Wald nach Osten führte. »Wow, Gott lässt seine Engel richtig coole Wagen fahren.« Revenant zwinkerte ihm zu, während er das Abwehrsystem deaktivierte. »Ich habe ihn gegen meine Harfe und tausend Jahre Ratenzahlung bekommen. Steig ein.« Nathan kletterte auf den Beifahrersitz, und Revenant schloss die Tür, bevor er über die Motorhaube 445 sprang und auf der anderen Seite einstieg. Nathan hatte den Rucksack schon über den Kopf ausgezogen und schnallte sich an. Revenant half ihm, verstaute den Rucksack unter dem Armaturenbrett und nickte zufrieden. »Nächster Halt: das Krankenhaus, in dem deine Schwester liegt. Okay?« »Okay.« Revenant legte den eigenen Gurtharnisch an, dessen Edelstahlschloss auf seiner Brust lag, dann zog er den unteren Gurt stramm. Er tippte den Zündcode ein und der Motor erwachte schnurrend zum Leben. Nathan durfte die Scheinwerfer einschalten, dann fuhr Revenant den Steuercomputer aus. »Der Punkt da, das sind wir. Wir fahren über die alte Verlängerung von Route 110 zu einer überdachten Brücke über den Connecticut nach Vermont.« »Ich mag überdachte Brücken. Maria auch.« »Gut, dann kannst du ihr von der erzählen.« Die Corvette donnerte die unbefestigte Waldstraße hinab und erreichte etwa eine Meile später eine asphaltierte Straße. Revenant war unbehaglich zu Mute, als er auf die New Hampshire State Route einbog. Mit dem Wagen war dies jedoch der schnellste Weg an ihr Ziel. Er hätte einen direkteren Weg durch den Wald nehmen können, aber die Corvette hätte an mehreren Stellen der Strecke Bodenkontakt gehabt, und falls in den sechsunddreißig Stunden, seit er diesen Weg zuletzt abgefahren war, ein Baum umgestürzt war, hätte es den Wagen außer Gefecht setzen können. Seine Zuversicht nahm zu, als sie durch Groveton bretterten und links einbogen. Die verlängerte 110 446 war planiert, wurde aber nur noch für die Nutzung durch Anwohner unterhalten. Der dunkle Wagen glitt wie ein Panther durch die wogende Hügellandschaft Neuenglands, und ein Lächeln trat auf Revenants Züge, als sich der Punkt auf dem Computerschirm dem Brückensymbol näherte. »Was ist das?« Er blickte in die Richtung, in die Nathan deutete, und knurrte. »Das ist Ärger.« Ein flackerndes, hüpfendes Licht bewegte sich schnell durch den Wald. Hinter einem kleinen Hügel verlor es Revenant kurz aus den Augen, dann sah er es über eine Wiese jagen, als er die Hügelkuppe erreichte und die Brücke in Sicht kam. Er schaltete das Fernlicht ein, als das Licht langsamer wurde. Es hielt zur selben Zeit an wie die Corvette. Colonel Constitution klappte den Ständer des Motorrads aus. Der Vorderreifen schälte sich ab wie ein runderneuerter Pneu, dem die Außenhaut abfiel, und ließ nur eine zu einem D verformte Felge an der Maschine zurück. Revenant blinzelte, als der Reifen Kies spuckte, und versuchte, sich aufzurichten. Hammersnakes Beine aber versagten ihm den Dienst und er setzte sich hart hin. Colonel Constitution ignorierte seinen zerschlagenen Begleiter. »Es ist vorbei, Revenant. Zeit für deine Medizin.« Constitution drückte einen Knopf auf den Kontrollen seiner Maschine: Zwei rote Raketen glitten aus den Abschussrohren links und rechts der hohen Sitzbank. Sie stiegen hoch in den Himmel, dann senkten sie sich und krachten in die überdachte Brücke. 447 Die alte Holzbrücke hatte zu ihrer Zeit Stürmen und Überschwemmungen widerstanden, aber eine doppelte Ladung Sprengstoff war viel zu viel für sie. Die beiden Feuerbälle zerbliesen die Mitte der Brücke in brennende Splitter. Zedernholzpfannen flogen wie Herbstlaub durch die Luft und lodernde Holzbretter segelten in die dunklen Fluten des Connecticut hinaus. Ausgefranste Balken brannten mit hellen Flammen und markierten die Stelle, wo das Straßenbett gewesen war - Gedenkfeuer, die die Lücke betrauerten, die sie voneinander trennte. Constitution rieb sich die behandschuhten Hände und presste mit theatralischer Geste einen Knopf auf seiner Gürtelschnalle. »So, ich habe sogar den Großen gerufen, damit er mit seinem Röntgenblick über deine Knochen Buch führen kann, während ich sie dir breche. Steig aus dem Wagen, und ich verpass dir einen Albtraum, für dessen Deutung kein Detektiv nötig ist.« Revenant blickte sich zu Nathan um. »Angeschnallt?« Der Junge nickte. »Check.« »Hasenpfote einsatzbereit?« Nathan rieb seinen Glücksbringer. »Check.« »Dann los!« Revenant trat das Gaspedal durch und schaltete mit flüssiger Bewegung höher. Er legte gerade den letzten Gang ein, als der überraschte Colonel Constitution aus dem Weg hechtete. Beide Hände fest am Steuer, bog Revenant
um die letzte Biegung und auf die leichte Steigung zur Brücke hinauf. Er beobachtete, wie die digitale Geschwindigkeitsanzeige immer höher kletterte, blieb aber bis zum letzten Augenblick angespannt. 448 »Es ist so weit, festhalten!« Die Corvette schoss durch die Flammen am Ende der Brücke, und der Motor heulte auf, als die Räder auf keinen Widerstand mehr trafen. Revenant sah die Nase des Wagens Jupiter berühren, hielt den Atem an und betete, dass er noch eine Sekunde länger in diese Richtung zeigte. Und dann noch eine Sekunde mehr. Danach neigte sich das Frontende langsam abwärts, und sein erster Blick auf die Flammen, die auf der anderen Seite loderten, zeigte sie einen Hauch weiter entfernt, als er es gehofft hatte. Nathan jauchzte vor Freude. »Wir fliegen!« »Sieht so aus. Halt dich fest.« Revenant schnitt eine Grimasse. »Wir landen.« Der Wagen schlug hart auf. Funken sprühten, als er mit der Unterseite auf den Asphalt schlug. Der Aufprall rammte Revenant in die Sitzpolster, er zog den Kopf ein, um sich nicht am Wagendach den Schädel einzuschlagen, wenn er zurückprallte. Er hörte Metall kreischen und spürte einen Schlag, als ein Teil des Auspuffs abriss, dann folgte ein zweiter, härterer Schlag vom Heck. Der Wagen brach augenblicklich auseinander. Revenant sah einen der Hinterreifen den Wagen überholen und in der Dunkelheit verschwinden, zwischen zwei Autos, die auf der Vermontseite der verlängerten Route 110 parkten. Revenant aber beachtete sie gar nicht. Er war vollauf damit beschäftigt, die Corvette anzuhalten, drehte das Lenkrad nach links, um gegenzusteuern, aber der Wagen drehte sich um seine Mittelachse und landete mit einem dumpfen Schlag rückwärts im Straßengraben. 449 Der Navigationscomputer verabschiedete sich mit einem Kurzschluss und einer Qualmwolke. Nathans Airbag füllte sich, aber selbst das konnte das begeisterte Lachen des Jungen nicht dämpfen. »Das war toll, noch mal!« »Nicht jetzt sofort. Wir müssen der Hasenpfote Zeit geben, sich auszuruhen.« Revenant löste seine Gurte, dann befreite er Nathan. Als die beiden aus dem ruinierten Wagen stiegen, schalteten die wartenden Fahrzeuge die Scheinwerfer ein, und ein korpulenter Mann stieg aus dem Kombi. »Paps!« Nathan rannte mit dem Bärenrucksack, der in der rechten Hand wild tanzte, zu seinem Vater und umarmte dessen Beine. Revenant zeigte Martin den erhobenen Daumen, dann schaute er hinüber zu der züchtig gekleideten Frau, die aus dem Infiniti Q45 stieg. Sie hatte einen Lederkoffer in der Hand und wollte ihn gerade öffnen, erstarrte aber, als Nathan schrie: »Vorsicht!« Ein rot-weiß-blauer Meteor schoss durch die Flammen, die am Flussufer loderten. Wie ein Kiesel von einer Steinschleuder von Hammersnake am anderen Ufer abgefeuert, rammte Colonel Constitution seinen Schild in Revenants Rücken, dann rollte er über die Straße ab, bis er genug Schwung verbraucht hatte, um aufzustehen. Nathans Warnung hatte Revenant erlaubt, sich aus der Bahn des Angriffs zu drehen, aber selbst so traf ihn der Schild hart und schleuderte ihn gegen den Infiniti. Als er vom Wagenrumpf zurückprallte, landete der Albtraumdetektiv auf dem Rücken und konnte sich 450 nicht bewegen. Langsam kehrte jedoch das Gefühl in seine Glieder zurück - hauptsächlich als Schmerz. Die bewusste Kontrolle über sie blieb ihm allerdings weiter versagt. Colonel Constitution wankte auf Höhe seiner Füße ins Blickfeld. »Gewöhn dich daran, auf dem Rücken zu liegen. Du wirst eine lange Zeit im Streckverband verbringen.« Er lachte kalt. »Partyzeit!« Er hob den Schild, um damit auf Nathan einzuschlagen, doch eine explodierende Girlandenkugel aus Nathans letztem Partyknaller traf ihn im Gesicht und blendete ihn. Revenant wälzte sich nach rechts, als Constitutions Schild auf den Asphalt schlug, dann trat er mit bleiernem Bein aus und erwischte den Colonel in den Rippen. Der Vorfrontpatriot stürmte davon und riss sich die Silbergirlanden aus dem Gesicht. »Du hast diesen Minderjährigen korrumpiert!« Unsicher stand Revenant auf. »Besser so, als dass er wird wie du.« Wieder hob Constitution den Schild und rückte vor, aber eine andere Gestalt senkte sich aus dem Himmel und hielt ihn mitten im Angriff mit einer festen Hand auf der Brust auf. »Halt, Colonel.« Nemesis sah zu Revenant hinüber und streckte die andere Hand aus, um sie zu trennen. »Falls du nichts dagegen hast, Revenant, denke ich, es wäre wohl das Beste für den Jungen, die Gewaltanwendung auf ein Minimum zu reduzieren.« Der Albtraumdetektiv nickte. »Sag das lieber Captain Begleitschaden.« »Ich reiß dir den Arsch auf!« Constitutions wilde 45i Gesten hörten auch nicht auf, als ihn Nemesis vom Boden hob. »Du gehörst mir. Du bist verhaftet!« Die Frau, die bis jetzt die Delle in ihrem Wagen begutachtet hatte, drehte sich um und zog einen Bogen Papier aus dem Aktenkoffer. »Und Sie sind ebenfalls verhaftet, falls Sie Revenant, Mr. Hopkins oder dessen Sohn nicht augenblicklich in Ruhe lassen.« Sie knallte Constitution das Papier auf den Bauch. »Das ist eine Einstweilige Verfügung, die Ihnen und der Einsatzgruppe Alpha verbietet, sich Revenant oder der Hopkins-Familie auf mehr als tausend Meter zu nähern.« Nemesis ließ Constitution los. Der Vorfrontpatriot entfaltete das Dokument, überflog und zerknüllte es. »Was für
ein Schlappschwanz von Richter würde so eine Verfügung unterzeichnen?« Die Frau krallte die Hand in seine dreifarbige Uniform, drehte die Faust und zog ihn zu sich herab. »Ich habe sie unterschrieben, Sie Clown. Sie hat dieselbe Rechtskraft wie die Verfügung, die Sie da drüben in New Hampshire durchgesetzt haben, und ich empfehle Ihnen noch, sich das gut zu überlegen. Und dann empfehle ich Ihnen noch, eintausend Meter nach Osten abzuschreiten, und vergessen Sie das Atmen nicht, während sie durch den Fluss schwimmen.« Colonel Constitution machte ein niedergeschlagenes Gesicht. »Nemesis?« Der AJC-Vorsitzende zuckte die Achseln. »Wir setzen das Gesetz durch, Colonel. Befolge die Verfügung.« Revenant zwinkerte dem abziehenden Helden zu. »Denk an die Sache mit dem Atmen. Was für ein Pech, dass die Brücke beschädigt ist.« 452 Nemesis ging in die Hocke und lächelte Nathan an. »Und du bist also der junge Mann, der seiner Schwester helfen wird, wieder gesund zu werden?« Revenant warf einen Blick über die Schulter auf seinen Wagen und stöhnte. »Richterin, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir Ihren Wagen für eine kurze Fahrt zum Krankenhaus ausleihe?« Sie spießte ihn mit einem strengen Blick auf. »Nachdem ich gesehen habe, was Sie mit der 'vette angestellt haben? Sie haben Mr. Hopkins zu mir geschickt, weil ich Verstand habe, erinnern Sie sich?« Nemesis richtete sich auf. »Ich denke, dieses Problem kann ich lösen. Mit Ihrer Erlaubnis, Mr. Hopkins, fliege ich Ihren Sohn ins Krankenhaus.« Nathan schüttelte den Kopf. »Der Engel soll mich hinfliegen.« Nemesis zog eine Augenbraue in die Höhe und starrte Revenant an. »Engel?« »Er glaubt, das R steht für Raphael. Hätte schlimmer kommen können. Er hätte mich für eine Schildkröte halten können.« Revenant sah Nathan an und schüttelte den Kopf. »Ach nein, geh mit Nemesis. Wenn wir Engel alles erledigen, gibt es für Helden wie ihn ja gar keinen Bedarf mehr.« Advocate breitete die Hände aus. »Ich denke, damit ist fast alles gesagt. Aranatrix hat mir mitgeteilt, dass jemand das Bankkonto von Reverend Sunnington manipuliert und knapp über $ 467 353 abgebucht hat. Diese Summe ist nur insofern erwähnenswert, als sie grob dem Betrag entspricht, den die Familie Hopkins 453 über Marias Krankheit an Krankenhaus- und Anwaltskosten ausgegeben hat. Es ist nur ein weiterer Punkt auf der Liste der Computerstraftaten - der angeblichen Computerstraftaten - Revenants. Mit Eurer Erlaubnis, Euer Ehren, beschließt dies den Fall für die Anklage.« Nemesis schaute auf Revenant herab. »Du hast keinen der Zeugen gegen dich befragt. Hast du Zeugen für die Verteidigung? Vielleicht die Familie Hopkins?« »Nein, ich habe keine Zeugen.« Revenant stand auf. »Die Hopkins haben Wichtigeres zu tun, als heute hier auszusagen.« »Hast du irgendetwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?« Revenant schüttelte den Kopf. »Mein Handeln benötigt keine Verteidigung.« »Den Teufel benötigst du!« Colonel Constitution schoss aus seinem Stuhl wie eine Rakete. »Es sitzen Leute in Todeszellen, die weniger Gesetze gebrochen haben als du. Du hast die Verfassung, die ich zu verteidigen geschworen habe, mit Füßen getreten. Du bist ein Verbrecher - nein, noch schlimmer, weil du dir einbildest, für dich würden die Gesetze nicht gelten. Du hast nichts zu deiner Verteidigung vorzubringen, weil es keine Verteidigung für das gibt, was du getan hast!« »Falsch.« Revenant trat hinter seinem Tisch vor und schüttelte den Kopf. »Du siehst nur den Buchstaben des Gesetzes. Du behandelst die Verfassung und die Gesetzestexte dieses Landes wie eine Mauer, die Gut von Böse scheidet. Du denkst und handelst in Absolutheiten und verteidigst starr das Ergebnis eines 454 Prozesses, den selbst du völlig ignorierst. Denk nach.« Der Albtraumdetektiv klopfte sich an die Stirn. »Benutz dein Hirn, verdammt. Diese Nation, die Gesetzestradition, die du verteidigst, hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert. Und warum? Weil das, was zuvor als gerecht und richtig galt, nun mit allgemeiner Zustimmung als falsch erkannt wurde. Vor tausend Jahren war es das Recht, nein, die Pflicht eines Mannes, seine Frau zu verprügeln. In den Südstaaten war es ein Verbrechen, Schwarzen das Lesen beizubringen. Vor fünfzig Jahren haben wir amerikanische Bürger nur ihrer Herkunft und Hautfarbe wegen eingesperrt. Das war ein Verbrechen, aber wärst du dabei gewesen, du hättest am Eingang der Internierungslager gestanden und die Japaner festgehalten.« Advocate zog die Nase hoch. »Der oberste Gerichtshof hat den Internierungsbefehl bestätigt. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.« »Exakt!« Revenant ballte die rechte Hand zur Faust. »Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und trotzdem wurde den Überlebenden der Internierung fünfzig Jahre später Schmerzensgeld zugesprochen. Wir haben das Unrecht erkannt und versucht, es wieder gutzumachen. Nichts anderes habe ich getan.« »Aber der Ort für den Streit zwischen Mr. und Mrs. Hopkins war vor Gericht.« »Nein! Das war kein annehmbarer Austragungsort, weil es Zeit gekostet hätte, dort zu einer Entscheidung
455 zu kommen. Und zwar Zeit, die Maria nicht hatte.« Revenant hob den Kopf. »Hier ist ein Unrecht geschehen, und es war meine Pflicht - die Pflicht jedes Menschen, der es als Unrecht erkennen konnte -, etwas dagegen zu unternehmen.« Der Albtraumdetektiv sah nacheinander jedem Mitglied des AJC in die Augen, während er weitersprach. »Ich verstehe, warum ihr die Gesetze als Grenze eures Handelns absteckt, denn wenn man über sie hinausgeht, gerät man in einen Bereich, in dem es keine Beschränkungen mehr gibt, keine Sicherheiten. Ich habe mich im Gegensatz zu euch dafür entschieden, in dieser Region außerhalb der Gesetze zu agieren. Und zwar deshalb, weil es notwendig ist, um diejenigen zu treffen, die es darauf anlegen, die von den Gesetzen verfasste Welt zu zerstören.« »Also gibst du zu, dass du ein Verbrecher bist«, höhnte Constitution. »Nein, ich gebe zu, dass ich ein Gesetzloser bin. Da besteht ein Unterschied. Ich habe dort draußen eine Richtschnur: die Gerechtigkeit. Reverend Sunnington das Geld für die Operation abzunehmen, die er mit allen Mitteln zu verhindern versucht hat, war gerecht. Charles Keating zu zwingen, eine seiner Ferienanlagen für die Leute zu betreiben, die er ausgenommen hat, und als ihr Butler zu arbeiten, wäre gerecht - vielleicht nicht rechtmäßig, aber nichtsdestoweniger gerecht.« Revenants Faust öffnete sich und verschwand unter seinem Cape. »Ich verachte dich für die Wahl, die du getroffen hast, zwar nicht, aber ich sehe auch keinen Anlass, meine Wahl zu verteidigen.« 456 Nemesis lächelte. »Deine Nicht-Verteidigung war wortgewaltig.« Der Albtraumdetektiv nickte. »Colonel Constitution ist mir eine Inspiration.« Der Extraterrestrische Titan schmunzelte. »Dann nehme ich an, wir haben genug gehört, um zu einem Urteil zu kommen. Ich bitte zur Abstimmung.« Nemesis wartete, bis der Letzte seiner AJC-Kameraden den Saal verlassen hatte, bevor er Revenant zum Freispruch gratulierte. Er reichte dem Albtraumdetektiv die Hand. »Ich weiß, du hältst es nicht für wichtig, aber ich möchte dir für deine Teilnahme heute danken. Gelegentlich braucht das American Justice Committee eine Erinnerung, dass wir zwar hier sind, um das Gesetz durchzusetzen, dass aber auch Ermessen, Spielraum und sogar Widerspruch ihren Platz in unserem System haben. Ich habe Versicherungen vom Bundesstaatsanwalt und den Staatsanwaltschaften in Vermont und New Hampshire erhalten, dass die Anklagen gegen dich nicht weiterverfolgt werden.« Revenant zuckte die Achseln. »Besser, die Anklagen landen gar nicht erst im NCIC-Computer, als dass ich reingehen und sie löschen muss.« Er schüttelte Nemesis die Hand, dann blickte er dem größeren Mann in die Augen. »Eine knappe Abstimmung.« Nemesis nickte. »Das war nicht überraschend, nachdem wir uns um das Gesetz kümmern, nicht um die Gerechtigkeit. Dass die drei Mitglieder von Einsatzgruppe Alpha gegen dich stimmen, habe ich erwartet. 457 Deine Arbeit an den Computern und in Haiti hat die drei anderen auf deine Seite gezogen.« Revenant nickte. »Und du hast die entscheidende Stimme abgegeben - die auf jeden Fall zu meinen Gunsten ausfallen musste, nachdem du mich überhaupt erst in diese Sache hineingezogen hast.« Der Hüne lächelte. »Seit wann weißt du von meiner Rolle?« »Ich habe es vermutet, als Martin mir sagte, dass er die Telefonnummer von einer anonymen Gute-BesserungKarte hatte. Ich habe diese spezielle Nummer nur zwölf Leuten verraten, unter anderem dir, und die meisten davon hätten versucht, sich eine Belohnung dafür zu sichern, dass sie den Kontakt herstellen, statt die Information anonym weiterzugeben.« Revenant zuckte die Achseln. »Aber gewusst...« »Am Fluss, nicht wahr? Als ich unter den Wagen geflogen bin und dir den Schwung geliefert habe, den du für den Sprung brauchtest.« »Als Nathan rief, dass wir fliegen, war das ein gewaltiger Hinweis, ja.« Revenant verschränkte die Arme vor der Brust. »Du solltest dich vorsehen, Nemesis. Das war aktive Fluchthilfe.« »Aber nicht doch.« Er legte Revenant die Hand auf die Schulter. »Ich habe dich daran gehindert, deinen Wagen ungesetzlich im Fluss zu versenken.« Revenant lachte. »Wenn man nach den Regeln spielt, sollte man sie auch kennen.« »Ebenso, wenn man sie ignoriert.« »Die Geschichte meines Lebens.« Nemesis begleitete Revenant zum Ausgang. »So, 458 nachdem sich die Situation in Haiti beruhigt hat und die Krise vorbei ist, gönnst du dir einen Urlaub?« »Würde ich gerne, aber es gibt immer etwas zu tun.« Der Albtraumdetektiv schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade ein paar IRS-Agenten entdeckt, die ihre Statistik mit Betrug aufbessern. Sie haben ein Computerprogramm geschrieben, das Rückzahlungen an Bürger überwacht, die nicht gegen eine Steuerprüfung vorgehen können oder wollen. Da schlagen sie zu, das Opfer willigt in ein Bußgeld ein und sie kassieren schließlich die Belobigung.« Nemesis nickte nachdenklich. »Du könntest die Beweise, die du gesammelt hast, ohne Probleme ihrem
Vorgesetzten übergeben und es der Finanzbehörde überlassen, sie zu bestrafen.« »Stimmt, aber dann würde ich nach deren Regeln spielen.« Revenant schüttelte den Kopf. »Wenn ich das täte, bekämen sie von der IRS einen Tadel, möglicherweise auch einen Vermerk in der Personalakte, und -eine entsetzliche Vorstellung - sie würden nach Fairbanks ins Alaskabüro versetzt. Das reicht nicht mal als Strafe für eine dieser Steuerprüfungen.« »Ich verstehe.« Nemesis runzelte die Stirn. »Und wie sähe nach Revenants Regeln die gerechte Strafe für sie aus?« »Oh, ich habe etwas ganz Besonderes für sie geplant. Es ist garantiert gerecht und dient vor allem als Abschreckung gegen spätere Vergehen. Ich habe mich in ihren Computer eingeschlichen und ihr Programm etwas abgeändert, um ihr nächstes Opfer festzulegen.« »Und dieses Opfer bist vermutlich du?« 459 »Ich? Nein, das wäre zu einfach.« Revenants düsteres Lachen hallte durch den dunklen Marmorkorridor. »Die nächste Steuerprüfung auf ihrer Liste findet bei einem gewissen Bill Wright statt.«