George Friedman ist Gründer und Leiter des weltweit führenden privaten Informationsdienstes Stratfor. Er hat zahlreiche...
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George Friedman ist Gründer und Leiter des weltweit führenden privaten Informationsdienstes Stratfor. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel zu den Themen Sicherheitspolitik, Nachrichtenwesen und Technologie veröffentlicht. Als renommierter Experte für Geopolitik ist er regelmäßig in führenden US-Medien wie auch international präsent, unter anderem im Fernsehen, in Time Magazine, Wall Street Journal und New York Times Magazine.
George Friedman
Die nächsten hundert Jahre Die Weltordnung der Zukunft Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Campus Verlag Frankfurt / New York
Die amerikanische Originalausgabe The Next 100 Years erschien 2009 bei Doubleday, Random House Inc. This translation published by arrangement with Doubleday part of The Doubleday Publishing Group, a division of Random House, Inc. Copyright © 2009 by George Friedman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: // dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38930-1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg Satz: Campus Verlag, Frankfurt am Main Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Für Meredith, Muse und Lehrmeisterin
»Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Inhalt
Verzeichnis der Karten Ein Wort vorab
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8
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9
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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10
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26
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
1. Das Amerikanische Zeitalter 2. Das islamische Beben
3. Kulturkampf und Technologie 4. Die neuen Gräben
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66
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
5. China: Der Papiertiger
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6. Russland: Die Revanche
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Die Wirtschaft in der Krise
146
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164
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
10. Am Vorabend des Kriegs
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11. Der neue Weltkrieg: Ein Szenario 12. Ein goldenes Nachkriegsjahrzehnt
Dank
203
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
13. Der Kampf um das Zentrum der Welt Epilog
125
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8. Eine neue Weltordnung 9. Der Aufmarsch
110
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258
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Verzeichnis der Karten
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.
Die europäischen Atlantikstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Balkan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erdbebengebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die moderne islamische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das nordamerikanische Flusssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Südamerika: Räumliche Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handelsrouten im Pazifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die strategische Bedeutung der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vier Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Türkei heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Osmanische Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mexiko vor der texanischen Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . China: Räumliche Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . China: Bevölkerungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Seidenstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kaukasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentralasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Paradies für Wilderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schifffahrtsrouten im Nahen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polen im Jahr 1660 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Skagerrak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Türkei im Jahr 2050 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung der hispanischstämmigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ( 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung weltweit . . . . 28. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Mexiko . . .
32 37 47 48 49 55 57 86 90 91 95 101 102 106 111 111 114 132 134 165 168 186 189 190 237 261 268 269
Ein Wort vorab
Ich habe keine Kristallkugel. Was ich habe, ist eine Methode, die mir – trotz aller Unvollkommenheit – beim Verständnis der Vergangenheit und beim Blick in die Zukunft gute Dienste geleistet hat. Ich sehe meine Aufgabe darin, hinter der scheinbaren Unordnung der Geschichte eine Ordnung zu erkennen und zu prognostizieren, welche konkreten Ereignisse, Tendenzen und Technologien diese Ordnung hervorbringen wird. Eine Vorhersage für die nächsten hundert Jahre treffen zu wollen, mag manchem leichtfertig erscheinen, doch ich hoffe, Ihnen demonstrieren zu können, dass es sich um einen vollkommen rationalen Prozess und eine machbare Aufgabe handelt. In nicht allzu ferner Zukunft werde ich Enkelkinder haben, von denen einige das 22. Jahrhundert erleben werden. Dieser Gedanke lässt mein Unterfangen sehr real erscheinen. In diesem Buch möchte ich Ihnen ein Gefühl für die Zukunft vermitteln. Natürlich werde ich mich in zahlreichen Details irren. Mir geht es jedoch darum, die geopolitische, technologische, demografische, kulturelle und militärische Entwicklung in ihren großen Zügen zu umreißen und die wichtigsten Ereignisse zu skizzieren. Ich bin zufrieden, wenn ich einige der wichtigsten Tendenzen der Gegenwart benennen und daraus glaubwürdig ableiten kann, wie sich die Zukunft entwickelt. Und ich würde mich freuen, wenn meine Enkel dieses Buch im Jahr 2100 in die Hand nehmen und sagen: »Das war gar nicht so schlecht.«
Prolog
Der Anbruch einer neuen Ära
Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 1900 und Sie befinden sich in London, der wichtigsten Metropole der damaligen Welt. Europa beherrscht die gesamte östliche Hemisphäre. Es gibt kaum einen Ort, der nicht von einer europäischen Hauptstadt aus direkt beherrscht oder zumindest indirekt kontrolliert wird. Der Kontinent lebt in Frieden und beispiellosem Wohlstand. Die europäischen Nationen sind so stark durch Handel und Finanzwirtschaft miteinander verwoben, dass Beobachter die Auffassung vertreten, ein Krieg sei unmöglich geworden, und wenn es tatsächlich dazu käme, dann könne dieser nur wenige Wochen dauern, da die internationalen Finanzmärkte dem Druck nicht standhielten. Die Zukunft scheint sicher: Ein friedliches, wohlhabendes Europa wird die Welt regieren. Machen wir nun einen Sprung in das Jahr 1920. Nach einem schier endlosen Krieg liegt Europa in Trümmern. Das deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich sind von der Landkarte verschwunden, der jahrelange Krieg hat Millionen von Opfern gefordert. Er endete erst mit der Intervention einer eine Million Mann starken US-amerikanischen Armee, die so schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war. In Russland haben die Kommunisten die Herrschaft an sich gerissen, doch es ist noch nicht sicher, ob sie diese auch halten können. Länder wie die Vereinigten Staaten und Japan, die einst am Rand der europäischen Machtsphäre lagen, sind plötzlich zu wichtigen Mächten aufgestiegen. Eines ist jedoch ganz sicher: Der Friedensvertrag von Versailles, der Deutschland aufgezwungen wurde, wird dafür sorgen, dass das Land nicht so schnell wieder aufstehen wird.
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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Versetzen Sie sich nun in das Jahr 1940. Deutschland ist nicht nur wieder aufgestanden, sondern es hat Frankreich erobert und beherrscht Europa. Der Kommunismus hat überlebt, und die Sowjetunion ist ein Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschland. Großbritannien steht Deutschland allein gegenüber, und aus Sicht vieler Beobachter ist der Krieg zu Ende. Es mag kein Tausendjähriges Reich geben, doch zumindest für das kommende Jahrhundert scheint das Schicksal Europas besiegelt: Deutschland ist die beherrschende Macht und tritt die Nachfolge der großen europäischen Reiche an. Machen wir einen weiteren Sprung in das Jahr 1960. Fünfzehn Jahre zuvor war Deutschland im Krieg zerstört worden, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion hatten Europa besetzt und in der Mitte geteilt. Die europäischen Kolonialreiche sind in Auflösung begriffen, und die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion streiten sich um das Erbe. Die Vereinigten Staaten haben die Sowjetunion eingekreist und könnten sie mit ihrem gewaltigen Arsenal an Nuklearwaffen binnen weniger Stunden auslöschen. Sie sind zu einer Supermacht aufgestiegen, beherrschen die Weltmeere und könnten dank ihrer atomaren Streitkräfte in aller Welt die Bedingungen diktieren. Die Sowjetunion kann bestenfalls auf ein Patt hoffen, es sei denn, sie würde in Deutschland einmarschieren und den Rest Europas besetzen. Als weitere Gefahr sehen viele Beobachter das maoistische und als fanatisch geltende China am Horizont auftauchen. Versetzen wir uns jetzt in das Jahr 1980. Kurz zuvor waren die Vereinigten Staaten in einem sieben Jahre dauernden Krieg besiegt worden – aber nicht etwa von der Sowjetunion, sondern von Nordvietnam. Außenstehende und Amerikaner sehen das Land gleichermaßen auf dem Rückzug. Auf die Niederlage in Vietnam folgt das Debakel im Iran, die persischen Ölfelder entgleiten der amerikanischen Kontrolle und drohen in sowjetische Hände zu fallen. Um die Sowjetunion in Schach zu halten, gehen die Vereinigten Staaten ein Bündnis mit den Chinesen ein, der amerikanische Präsident und der Vorsitzende der chinesischen Kommunistischen Partei treffen sich in Peking zu einem freundschaftlichen Gespräch. Allein dieses Bündnis scheint in der Lage, den Aufstieg der mächtigen Sowjetunion zu verhindern.
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Die nächsten hundert Jahre
Machen wir schließlich einen Sprung ins Jahr 2000. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. China ist der Theorie nach noch eine kommunistische, aber in der Praxis bereits eine kapitalistische Nation. Die NATO hat sich nach Osteuropa und selbst auf Teile der früheren Sowjetunion ausgedehnt. Die Welt lebt in Frieden und Wohlstand. Die Geopolitik ist hinter die Wirtschaft zurückgetreten, einzig in Problemregionen wie Haiti oder dem Kosovo halten sich kleinere regionale Konflikte. Doch dann kommt der 11. September 2001, und die Welt wird ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt. Bei der Vorhersage der künftigen Ereignisse können wir nur eines mit Sicherheit sagen: Der gesunde Menschenverstand irrt. Es gibt keinen magischen Zwanzig-Jahres-Zyklus und keinen einfachen, alles lenkenden Geist der Geschichte. Was zu einem beliebigen Zeitpunkt unveränderlich erscheint, kann sich erstaunlich schnell ändern. Epochen kommen und gehen. Das internationale Beziehungssystem von heute wird bereits in zwanzig oder weniger Jahren ganz anders aussehen. In den 1980er Jahren war der Zerfall der Sowjetunion völlig unvorstellbar, und genau das ist der Punkt. Konventionelle geopolitische Analysen leiden oft unter einem schwerwiegenden Mangel an Fantasie. Sie halten vorüberziehende Wolken für dauerhafte Einrichtungen und übersehen die langfristigen Veränderungen, obwohl diese für jedermann sichtbar sind. Wenn wir noch am Anfang des 20. Jahrhunderts stünden, wären wir nicht in der Lage, die eben geschilderten Ereignisse im Detail zu prognostizieren. Doch einige Entwicklungen waren abzusehen. So war es zum Beispiel offensichtlich, dass sich das Deutsche Reich, das erst im Jahr 1871 gegründet worden war, als Großmacht zwischen Frankreich und Russland in einer unsicheren Lage befand und die europäischen und globalen Machtverhältnisse neu definieren wollte. In den beiden großen Konflikten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es um den Status Deutschlands in Europa. Auch wenn niemand Ort und Zeitpunkt vorhersehen konnte, sahen viele Europäer einen Krieg am Horizont aufziehen. Da war es schon schwerer abzusehen, wie verheerend diese Kriege
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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verlaufen würden, und dass die europäischen Nationen nach dem Ende der beiden Weltkriege ihre Kolonialreiche verloren haben würden. Doch vor allem nach der Erfindung des Dynamits gab es durchaus Stimmen, die warnten, dass Kriege von nun an katastrophale Ausmaße haben würden. Mit einer Kombination aus geostrategischen und technologischen Prognosen hätte man den Niedergang Europas sehr wohl vorhersehen können. Auch der Aufstieg der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wurde bereits im 19. Jahrhundert vorhergesagt. Alexis de Tocqueville und Friedrich Nietzsche hatten die kommende Vormachtstellung dieser beiden Nationen prognostiziert. Mit Disziplin und etwas Glück wäre es also durchaus möglich gewesen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Entwicklungen der folgenden hundert Jahre in groben Zügen zu skizzieren.
Das 21. Jahrhundert Um etwas über den Verlauf des 21. Jahrhunderts aussagen zu können, müssen wir nun also ein zentrales Ereignis finden, das die kommenden hundert Jahre so prägen wird wie die Gründung des Deutschen Reichs das 20. Jahrhundert. Nachdem die Trümmer der europäischen Kolonialreiche und die Überreste der sowjetischen Supermacht beiseite geräumt wurden, ist nur eine dominierende Weltmacht übrig geblieben: die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese machen zwar heute – wie so oft – den Eindruck, als würden sie mit allem scheitern, was sie anfassen. Doch wir sollten uns durch dieses vorübergehende Chaos nicht täuschen lassen. Wirtschaftlich, militärisch und politisch sind die Vereinigten Staaten die mächtigste Nation der Welt. Trotz der heutigen Stimmungslage wird sich in hundert Jahren genausowenig noch jemand an den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und den radikalen Islamisten erinnern, wie sich heute jemand an den Spanisch-Amerikanischen Krieg vor hundert Jahren erinnert. Seit dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs im Jahr 1865 erleben die Vereinigten Staaten einen noch nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufschwung. Das einstmals marginale Entwicklungsland ver-
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Die nächsten hundert Jahre
fügt heute über eine Volkswirtschaft, die größer ist als die nächsten vier Volkswirtschaften zusammengenommen. Militärisch sind die Vereinigten Staaten von einer unbedeutenden regionalen Größe zu einer Supermacht aufgestiegen. Wenn Ihnen dieses Buch ausgesprochen amerikalastig vorkommt, dann haben Sie damit vermutlich Recht. Der Grund ist jedoch ganz einfach, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert tatsächlich um die Vereinigten Staaten dreht. Das liegt allerdings nicht allein an der Machtposition der Vereinigten Staaten selbst, sondern an einer grundsätzlichen geopolitischen Verschiebung. In den letzten 500 Jahren war Europa das Zentrum des internationalen Gefüges und schuf mit seinen Kolonialreichen das erste globale Systeme der Menschheitsgeschichte. Das Tor zu Europa war der Nordatlantik. Wer diesen kontrollierte, der kontrollierte den Zugang zu Europa und Europas Zugang zur Welt. Anfang der 1980er Jahre setzte jedoch eine bemerkenswerte Entwicklung ein. Erstmals erreichte der transpazifische Handel die Dimensionen des transatlantischen Handels. Nach dem politischen Niedergang Europas in der Folge des Zweiten Weltkriegs und der Verschiebung der Handelsmuster war der Nordatlantik nicht mehr das alleinige Tor zur Welt. Wer heute den Nordatlantik und den Pazifik kontrolliert, kann das gesamte Welthandelssystem und damit die Weltwirtschaft beherrschen. Ein Land mit Zugang zu beiden Weltmeeren hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen entscheidenden Vorteil. Der Aufbau und weltweite Einsatz von Seestreitkräften bringt natürlich immense Kosten mit sich. Das Land, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts diese beiden Ozeane beherrscht, wurde daher aus demselben Grund zur weltweit führenden Seemacht wie Großbritannien im 19. Jahrhundert: Es grenzt an die Gewässer, die es kontrollieren muss. Daher verschob sich das Machtzentrum der Welt von Europa nach Nordamerika. Wer den nordamerikanischen Kontinent beherrscht, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die weltweit dominierende Macht. Zumindest im kommenden Jahrhundert sind dies die Vereinigten Staaten. Dank ihrer Macht und ihrer geostrategisch hervorragenden Lage sind die Vereinigten Staaten die Schlüsselfigur des 21. Jahrhunderts.
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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Das macht sie nicht unbedingt beliebt. Im Gegenteil, ihre Macht erzeugt Angst. Vor allem die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts wird daher von zwei gegenläufigen Bestrebungen bestimmt. Zum einen werden nachgeordnete Regionalmächte versuchen, Bündnisse einzugehen, um die Macht der Vereinigten Staaten einzudämmen. Zum anderen werden die Vereinigten Staaten Präventivmaßnahmen ergreifen, um die Entstehung solcher Bündnisse schon im Vorfeld zu unterbinden. Das Amerikanische Zeitalter, das mit dem Ende des Europäischen Zeitalters angebrochen ist, begann mit einer Gruppe von Muslimen, die versuchten, das Kalifat wiederherzustellen – das islamische Reich, das einst vom Atlantik bis zum Pazifik reichte. Es war unvermeidlich, dass diese Gruppierung sich gegen die vorherrschende Macht wenden und diese in einen Krieg ziehen würde, um deren Schwäche bloßzustellen und eine islamistische Revolte zu provozieren. Die Vereinigten Staaten reagierten mit einem Einmarsch in die islamische Welt. Das Ziel war kein militärischer Sieg – es war nicht einmal klar, wie ein militärischer Sieg überhaupt aussehen könnte. Das Ziel war lediglich, die islamische Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen, sie zu spalten und auf diese Weise die Entstehung eines islamischen Reichs zu verhindern. Die Vereinigten Staaten müssen keine Kriege gewinnen. Es reicht aus, wenn sie die andere Seite aus dem Gleichgewicht bringen und daran hindert, so stark zu werden, dass sie eine Gefahr darstellt. Daher kommt es im 21. Jahrhundert zu einer Reihe von Konfrontationen verschiedener Regionalmächte, die den Einfluss der Weltmacht mit Hilfe von Bündnissen eindämmen wollen, mit den Vereinigten Staaten, die diese Bündnisse schon im Aufbau stören. Im 21. Jahrhundert wird es noch mehr Kriege geben als im 20., doch aufgrund der technologischen Veränderungen und der Art der geopolitischen Herausforderungen werden diese weit weniger katastrophal verlaufen. Wie wir gesehen haben, sind die Veränderungen, die eine neue Epoche einleiten, immer überraschender und sogar schockierender Natur, und die ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts stellen keine Ausnahme dar. Kaum geht der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und den Islamisten zu Ende, zeichnet sich bereits ein neuer
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Die nächsten hundert Jahre
Konflikt ab. Russland ist im Begriff, seine alte Einflusssphäre wieder herzustellen, und gerät damit automatisch in Konflikt mit den Vereinigten Staaten. Russland wird versuchen, entlang der großen nordeuropäischen Tiefebene in Richtung Westen zu expandieren und trifft dabei in den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen auf die NATO. Das wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht der einzige Konflikt sein, doch nach dem Ende des Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten und den Islamisten wird dieser neue Kalte Krieg zwischen Russland und dem Westen der wichtigste Krisenherd. Russland bleibt kaum etwas anderes übrig, als zu versuchen, seine Macht wiederherzustellen und den Vereinigten Staaten bleibt nichts anders übrig, als sich dem entgegenzustellen. Doch Russland kann nicht gewinnen. Aufgrund seiner gravierenden innenpolitischen Probleme, seines massiven Bevölkerungsverlusts und seiner schwachen Infrastruktur hat das Land langfristig schlechte Überlebensaussichten. Daher wird der zweite Kalte Krieg zwar weniger bedrohlich und global verlaufen als der erste, doch er wird genauso enden: mit einer Niederlage Russlands. Viele Beobachter sind der Ansicht, dass China, nicht Russland der nächste große Herausforderer der Vereinigten Staaten sein wird. Ich sehe das anders, und zwar aus drei Gründen. Erstens zeigt ein genauerer Blick auf die Weltkarte, wie isoliert China ist. Da es im Norden an Sibirien und im Süden an das Himalaja und die tropischen Urwälder grenzt, und da sich die Bevölkerung vor allem auf den Osten des Lands konzentriert, hat China kaum Expansionsmöglichkeiten. Dazu kommt, dass China schon seit Jahrhunderten keine Seemacht mehr ist; der Aufbau einer Flotte erfordert Generationen nicht nur des Schiffbaus, sondern der Ausbildung von Mannschaften und der Entwicklung einer Seefahrtskultur. Doch China wird auch noch aus einem dritten Grund geopolitisch keine Rolle spielen. Das Land ist in sich instabil. Wann immer es in der Geschichte seine Grenzen geöffnet hat, profitierten die Küstenregionen, während die große Mehrheit der Chinesen im Landesinnern arm blieb. Dies führt einerseits zu inneren Spannungen und Konflikten,
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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und andererseits dazu, dass aus politischen Gründen wirtschaftliche Entscheidungen getroffen werden, die Ineffizienz und Korruption zur Folge haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich China dem Handel mit dem Ausland geöffnet hat und aus diesem Grund seine innere Stabilität verliert. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass eine Führergestalt wie Mao auf den Plan tritt, um das Land gegen das Ausland abzuschotten, den Wohlstand – beziehungsweise die Armut – zu verteilen und den Kreislauf von vorn zu beginnen. Manche Beobachter sind der Ansicht, die Entwicklung der letzten dreißig Jahre könne sich endlos fortsetzen. Ich bin dagegen der Auffassung, dass der chinesische Zyklus im kommenden Jahrzehnt unvermeidlich in seine nächste Phase eintritt. China ist kein Gegner, sondern eher ein Puffer, den die Vereinigten Staaten unterstützen, um Russland einzudämmen. Die gegenwärtige chinesische Wirtschaftsdynamik hat langfristig keine Aussicht auf Erfolg. Um die Jahrhundertmitte werden neue Mächte auf den Plan treten, denen heute noch keine große Bedeutung beigemessen wird, die jedoch in den kommenden Jahrzehnten immer einflussreicher und selbstbewusster werden. Ich möchte insbesondere drei Länder hervorheben. Das erste ist Japan. Der Inselstaat verfügt heute nicht nur über die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, sondern auch über die verwundbarste, da er kaum über eigene Rohstoffe verfügt und fast ausschließlich auf Importe angewiesen ist. Japan hat eine lange Geschichte des Militarismus und wird kaum die friedliche Wirtschaftsmacht bleiben, die wir heute kennen. Aufgrund seiner gravierenden Bevölkerungsproblematik und seiner Abneigung gegen Einwanderung in großem Umfang wird Japan gar nichts anderes übrig bleiben, als im Ausland nach neuen Arbeitskräften zu suchen. Die Verwundbarkeit Japans wird einen Politikwechsel unumgänglich machen. Das zweite Land ist die Türkei, das heute auf Rang 17 der größten Volkswirtschaften der Welt steht. Wann immer in der Vergangenheit ein bedeutendes islamisches Reich entstand, wurde es von den Türken beherrscht. In der Folge des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand die moderne Türkei. Diese erweist sich heute als Insel der Stabilität inmitten des
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Die nächsten hundert Jahre
Chaos. Der Balkan, der Kaukasus und die arabische Welt sind sämtlich Krisengebiete. Schon heute verfügt die Türkei in der Region über eine wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung, und mit der weiteren Zunahme ihrer Macht wird auch ihr Einfluss größer. Das dritte Land ist schließlich Polen. Obwohl Polen seit dem sechzehnten Jahrhundert keine Macht mehr war, wird es das meiner Ansicht nach wieder werden, und zwar aus zwei Gründen. Der eine ist der Niedergang Deutschlands. Die deutsche Wirtschaft ist zwar groß und wird auch in Zukunft weiter wachsen, doch sie verfügt nicht mehr über die Dynamik, die sie in den vergangenen beiden Jahrhunderten hatte. Dazu kommt der dramatische Bevölkerungsverlust, der die Wirtschaftskraft Deutschlands in den kommenden fünfzig Jahren weiter aushöhlen wird. Der zweite Grund ist, dass Deutschland wenig geneigt sein wird, Polen gegen russische Interessen zu verteidigen und sich womöglich auf einen dritten Krieg mit Russland einzulassen. Die Vereinigten Staaten werden Polen im Gegensatz dazu sehr wohl unterstützen und dem Land massive technische und wirtschaftliche Hilfe zukommen lassen. Krieg fördert das Wirtschaftswachstum (immer vorausgesetzt, dass er ein Land nicht zerstört), weshalb Polen die führende Macht in einem gegen Russland gerichteten Staatenbündnis wird. Japan, die Türkei und Polen bekommen es mit einer amerikanischen Nation zu tun, die noch selbstbewusster auftritt als nach dem Ende der Sowjetunion. Daraus ergibt sich eine explosive Situation. Wie wir im weiteren Verlauf des Buchs noch sehen werden, wird die Beziehung dieser vier Länder das 21. Jahrhundert weitgehend bestimmen und schließlich in den nächsten Weltkrieg münden. Dieser Krieg unterscheidet sich in seinem Verlauf von allen anderen in der bisherigen Geschichte der Menschheit, und er wird mit Waffen geführt werden, die heute noch der Welt der Science-Fiction angehören. Doch wie ich zeigen werde, ist dieser Krieg das langfristige Resultat von Dynamiken, die bereits zu Beginn des neuen Jahrhunderts entstehen. Genau wie der Zweite Weltkrieg wird auch dieser Krieg massive technische Fortschritte anstoßen. Entscheidend wird dabei die Ener-
Prolog: Der Anbruch einer neuen Ära
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gieerzeugung mit nicht-fossilen Brennstoffen sein. Theoretisch ist die Sonnenenergie die effizienteste aller Energiequellen, doch ihr Einsatz setzt den Bau gewaltiger Solaranlagen voraus, die große Flächen benötigen und negative Auswirkungen auf die Umwelt haben, ganz zu schweigen davon, dass sie dem Wechsel von Tag und Nacht unterliegen. Während dieses Kriegs werden jedoch Systeme entwickelt werden, mit deren Hilfe Energie im Weltall erzeugt und in Form von Mikrowellen auf die Erde gesandt wird. Wie das Internet und die Eisenbahnen wird auch diese neue Technologie aus dem Verteidigungshaushalt bestritten werden und einen massiven wirtschaftlichen Aufschwung bewirken. Hintergrund ist jedoch die wichtigste Entwicklung des 21. Jahrhunderts: das Ende der Bevölkerungsexplosion. Im Jahr 2050 erleben die heutigen Industrienationen einen drastischen Bevölkerungsrückgang, und bis zum Jahr 2100 verzeichnen selbst die am wenigsten entwickelten Länder stabile Einwohnerzahlen. Seit 1750 basieren Wirtschaft und Politik auf kontinuierlichem Bevölkerungswachstum. Mehr Arbeiter, mehr Konsumenten, mehr Soldaten – so lautete die Erwartung. Im 21. Jahrhundert geht diese Rechnung nicht mehr auf. Das gesamte Produktionssystem wird sich verändern. Die Folge ist eine immer stärkere Technologieabhängigkeit: erstens von Robotern, die menschliche Tätigkeiten übernehmen, und zweitens von der Gentechnik, die dafür sorgt, dass Menschen nicht nur länger leben, sondern vor allem länger produktiv bleiben. Die unmittelbare Folge des Bevölkerungsrückgangs in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ist ein erheblicher Arbeitskräftemangel in den führenden Industrienationen. Heute sehen die reichen Länder der Welt das Problem zumeist darin, Zuwanderung zu verhindern. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird das Problem zunehmend darin bestehen, Einwanderer zu rekrutieren. Industrienationen werden so weit gehen, Einwanderer mit Geld anzulocken. Das trifft auch auf die Vereinigten Staaten zu, die im internationalen Wettbewerb um die zunehmend knappen Arbeitskräfte alles tun werden, um Mexikaner zum Kommen zu bewegen – eine ironische, aber unvermeidliche Wende.
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Die nächsten hundert Jahre
Diese Veränderungen sind schließlich Auslöser für die letzte große Krise des 21. Jahrhunderts. Heute befindet sich Mexiko auf Rang 15 der größten Volkswirtschaften der Welt. Wie die Türkei wird Mexiko seine Platzierung durch den Niedergang der Europäer weiter verbessern und gegen Ende des Jahrhunderts zu den führenden Industrienationen der Welt gehören. Während der großen, von den Vereinigten Staaten geförderten Auswanderungswelle verschieben sich die Bevölkerungsverhältnisse im amerikanischen Südwesten, den die Vereinigten Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts von Mexiko erobert haben, bis diese Region überwiegend von mexikanischen Staatsbürgern bewohnt ist. Die mexikanische Regierung wird diese gesellschaftliche Realität lediglich als eine Korrektur der historischen Niederlagen betrachten. Spätestens für das Jahr 2080 erwarte ich eine ernsthafte Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und einem zunehmend selbstbewussten Mexiko. Diese Konfrontation wird unvorhergesehene Konsequenzen für die Vereinigten Staaten haben und bis 2100 nicht beigelegt sein. Was ich hier beschrieben habe, ist vermutlich nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Die Vorstellung, dass das 21. Jahrhundert mit einer Auseinandersetzung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten enden könnte, ist im Jahr 2009 genausowenig vorstellbar wie eine mächtige Türkei. Doch sehen Sie sich noch einmal den Beginn dieses Kapitels und die prognostizierte Abfolge der Ereignisse des 20. Jahrhunderts an, und Sie werden verstehen, worauf ich hinaus will: Wenn etwas bei einer Vorhersage für das 21. Jahrhundert nicht weiterhilft, dann ist es der gesunde Menschenverstand. Je weiter die Beschreibung ins Detail geht, desto unzuverlässiger ist sie natürlich. Es ist vollkommen unmöglich, das kommende Jahrhundert bis in die Einzelheiten hinein vorherzusagen, ganz abgesehen davon, dass ich bis dahin längst tot sein und nie herausfinden werde, wo ich mich geirrt habe. Doch ich behaupte, dass wir den groben Rahmen der Ereignisse sehr wohl vorhersehen können. Deshalb versuche ich, einen solchen Rahmen zu skizzieren, so spekulativ das in vieler Hinsicht sein mag. Davon handelt dieses Buch.
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Die Vorhersage eines Jahrhunderts Ehe ich ins Detail gehe und die künftigen Kriege sowie demografische und technologische Entwicklungen beschreibe, möchte ich etwas zu meiner Methode sagen und die Frage beantworten, wie ich all diese Entwicklungen vorhersagen kann. Ich erwarte nicht, dass Sie die Einzelheiten des Kriegs wörtlich nehmen, den ich für die Jahrhundertmitte vorhersehe. Ich hoffe jedoch sehr wohl, dass Sie einige andere Prognosen ernst nehmen – etwa hinsichtlich der generellen Art der Kriegsführung; der Vormachtstellung der Vereinigten Staaten; der Konfrontation mit Ländern, die diese Machtposition in Frage stellen; sowie hinsichtlich der Länder, die als mögliche Herausforderer in Frage kommen. Die Vorstellung einer Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko wird bei den meisten Lesern Zweifel aufkommen lassen, doch ich will erklären, warum und wie ich diese Behauptungen aufstellen kann. Wie bereits erwähnt, hilft der gesunde Menschenverstand in der Regel nicht weiter, wenn es darum geht, Prognosen über die Zukunft zu treffen. Stattdessen muss das alte Motto der Linken »sei praktisch, verlange das Unmögliche« abgewandelt werden in »sei praktisch, erwarte das Unmögliche«. Genau darauf basiert meine Methode. Ein anderer, etwas anspruchsvollerer Terminus für diese Methode ist »Geopolitik«. Geopolitik ist mehr als ein vollmundig klingender Begriff für »internationale Beziehungen«. Es handelt sich um eine Methode, die es uns erlaubt, gegenwärtige Ereignisse zu beschreiben und Prognosen über die Zukunft zu treffen. Wirtschaftswissenschaftler verwenden das Schlagwort der »unsichtbaren Hand« und meinen damit die eigennützigen und kurzfristigen Handlungen der Menschen, die schließlich das hervorbringen, was Adam Smith den »Wohlstand der Nationen« nannte. Geopolitik überträgt die Vorstellung der unsichtbaren Hand auf das Verhalten von Nationen und anderen internationalen Akteuren. Wenn Nationen und ihre politischen Führer eigennützige und kurzfristige Ziele verfolgen, dann ist das Resultat zwar nicht unbedingt der Wohlstand der Nationen, doch zumindest ein vorherseh-
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bares Verhalten. Dies wiederum ermöglicht es, auch zukünftige Entwicklungen des internationalen Gefüges vorherzusehen. Die Geopolitik und die Wirtschaftswissenschaften gehen davon aus, dass die Akteure rational, will sagen, ihrem kurzfristigen Eigeninteresse gemäß handeln. Da es sich um rationale Akteure handelt, lässt ihnen die Wirklichkeit verhältnismäßig geringe Entscheidungsspielräume. Menschen und Nationen verfolgen ihr Eigeninteresse zwar nicht unbedingt, ohne dabei Fehler zu begehen, doch man kann davon ausgehen, dass sie nicht willkürlich handeln. Ihr Verhalten lässt sich mit einem Schachspiel vergleichen. Rein theoretisch hat jeder Spieler die Wahl zwischen zwanzig möglichen Eröffnungszügen. In der Praxis sind es jedoch erheblich weniger, denn die meisten dieser Züge sind so schlecht, dass sie schnell zur Niederlage führen. Je besser ein Schachspieler, desto klarer sieht er seine Optionen und desto weniger Eröffnungszüge stehen ihm zur Verfügung. Je besser ein Schachspieler, desto vorhersagbarer sind also seine Züge. Ein Großmeister spielt mit absolut vorhersehbarer Präzision – bis zu dem einen, brillanten und unerwarteten Schlag. Nationen verhalten sich nicht anders. Die Möglichkeiten der Millionen von Einwohnern einer Nation werden von der Wirklichkeit vorgegeben. Sie bringen Führungspersönlichkeiten hervor, die nie dorthin kämen, wo sie sind, wenn sie sich irrational verhielten. Es kommt selten vor, dass sich Narren an die Spitze eines Staats setzen. Führungspersönlichkeiten verstehen, welche Züge ihnen zur Verfügung stehen, und sie führen sie, wenn nicht fehlerfrei, so doch ganz ordentlich aus. Gelegentlich wird ein genialer Politiker einen brillanten Schachzug durchführen, doch meistens besteht die Regierungskunst ganz einfach darin, den nächsten logischen Schritt zu gehen. Das gilt für Innen- wie für Außenpolitiker. Stirbt ein politischer Führer oder wird er abgewählt, rückt ein anderer nach und setzt mit großer Wahrscheinlichkeit die Politik seines Vorgängers fort. Ich behaupte nicht, dass Politiker Genies, Gelehrte oder auch nur anständige Leute sind. Sie verstehen vielmehr zu führen, sonst wären sie keine Politiker geworden. In jeder Gesellschaft sind Politiker Zielscheibe des Spotts, und natürlich machen sie ihre Fehler. Doch
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bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass diese Fehler selten das Ergebnis ihrer Dummheit sind. Meistens wurden sie ihnen durch die Umstände aufgezwungen. Wir glauben gern, dass wir beziehungsweise unser Kandidat niemals derart dumm gehandelt hätten. Doch das stimmt nur in den seltensten Fällen. Die Geopolitik interessiert sich daher genauso wenig für einzelne Politiker, wie sich die Wirtschaftswissenschaften für einzelne Unternehmer interessieren. Beide sind Akteure, die es verstehen, die Abläufe ihres jeweiligen Spiels zu lenken, die aber nicht in der Lage sind, dessen strikte Regeln zu sprengen. Politiker sind also in den seltensten Fällen freie Akteure. Ihre Entscheidungen werden ihnen durch die jeweiligen Umstände vorgegeben. Politik ist ein Resultat der Wirklichkeit, nicht des politischen Willens. Im Kleinen können einzelne Entscheidungen natürlich sehr wohl etwas bewirken. Doch selbst der brillanteste isländische Politiker wird es nicht schaffen, sein Land in eine Supermacht zu verwandeln, während selbst der dümmste Politiker des antiken Rom nicht in der Lage gewesen wäre, die Macht des Römischen Reichs in ihrem Fundament zu beschädigen. Geopolitik beschäftigt sich also nicht damit, ob eine bestimmte politische Entscheidung richtig oder falsch ist, oder ob Politiker ehrenhaft oder unehrenhaft handeln, und sie interessiert sich nicht für weltpolitische Debatten. Geopolitik beschäftigt sich mit den großen, überpersönlichen Kräften, die Nationen und Menschen einen Handlungsrahmen vorgeben und sie zwingen, in der einen oder anderen Weise zu handeln. Um die Wirtschaft verstehen zu können, muss man wissen, dass jede Handlung ungeplante Folgen hat. Maßnahmen, die Menschen in ihrem eigenen Interesse ergreifen, haben Auswirkungen, die sie weder absehen können noch intendieren. Das ist in der Geopolitik nicht anders. Es ist kaum anzunehmen, dass die Bewohner des kleinen Dorfes Rom zu Beginn ihrer Expansion im siebten vorchristlichen Jahrhundert bereits die Blaupausen für die Eroberung des Mittelmeerraums fünf Jahrhunderte später in der Tasche hatten. Doch die ersten Maßnahmen, die sie gegen die Nachbardörfer ergriffen, setzten einen Prozess in Gang, der durch die Wirklichkeit vorgegeben und von un-
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geplanten Folgen begleitet wurde. Das Römische Reich war nicht geplant, doch es war keineswegs ein Zufallsprodukt. Die geopolitische Analyse basiert auf zwei Annahmen: Erstens, dass sich Menschen zu größeren Gruppen zusammenschließen und daher politisch tätig werden müssen. Menschen empfinden eine natürliche Loyalität für Strukturen, in die sie hineingeboren werden, etwa für ihre Heimatregion oder ihre Nation. Die nationale Zugehörigkeit spielt nach wie vor eine wichtige Rolle. Die Geopolitik lehrt uns, dass das Verhältnis zwischen Nationen eine entscheidende Dimension im menschlichen Leben darstellt, was wiederum zur Folge hat, dass Kriege allgegenwärtig sind. Zweitens geht die geopolitische Analyse davon aus, dass der Charakter einer Nation und das Verhältnis zwischen Nationen zu einem guten Teil durch die Geografie vorgegeben werden. Der Begriff Geografie wird dabei weit gefasst und beinhaltet nicht nur die physischen Eigenschaften einer Region, sondern auch die Auswirkungen einer bestimmten Örtlichkeit auf Menschen und Gesellschaften. So waren beispielsweise die Differenzen zwischen den antiken Stadtstaaten Sparta und Athen in der Hauptsache auf die Unterschiede zwischen einer Stadt im Binnenland und einer Seemacht zurückzuführen. Athen war reich und weltoffen, Sparta arm, provinzlerisch und zäh. Zwischen Spartanern und Athenern lagen politisch und kulturell Welten. Ausgehend von diesen Prinzipien können wir uns große Bevölkerungen vorstellen, die durch menschliche Bande zusammengehalten werden und sich innerhalb fester geografischer Räume in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten. Die Vereinigten Staaten sind die Vereinigten Staaten und müssen sich daher in einer klar definierten Art und Weise verhalten. Dasselbe gilt für Japan, die Türkei und Mexiko. Wenn wir uns diejenigen Kräfte genauer ansehen, die eine Nation formen, dann stellen wir fest, dass jede nur eine eng begrenzte Auswahl von Spielzügen zur Verfügung hat. ⋆
Das 21. Jahrhundert unterscheidet sich nicht von allen vorangegangenen. Es wird Kriege und Armut, Siege und Niederlagen, Tragödien
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und glückliche Entwicklungen geben. Die Menschen werden arbeiten, Geld verdienen, Kinder bekommen, sich verlieben und hassen. Das sind die unabänderlichen Bedingungen des Menschseins. Doch das 21. Jahrhundert wird sich in zweierlei Hinsicht von der Vergangenheit unterscheiden: Erstens stehen wir am Beginn eines neuen Zeitalters, und zweitens erleben wir die Herrschaft einer neuen Weltmacht. Das kommt nicht allzu oft vor. Wir leben heute im Amerikanischen Zeitalter. Um dieses Zeitalter zu verstehen, müssen wir die Vereinigten Staaten verstehen, nicht nur, weil sie die mächtigste Nation sind, sondern auch, weil ihre Kultur die Welt durchdringen und prägen wird. So wie Franzosen und Briten zur Zeit ihrer Vorherrschaft die Welt mit ihrer Kultur definiert haben, wird nun die amerikanische Kultur, so jung und barbarisch sie ist, der Welt vorgeben, wie sie zu denken und zu leben hat. Wer sich mit dem 21. Jahrhundert beschäftigt, muss sich damit zwangsläufig auch mit den Vereinigten Staaten auseinandersetzen. Wenn ich das 21. Jahrhundert in einer Aussage zusammenfassen sollte, dann würde ich sagen, das Europäische Zeitalter ist zu Ende, das Amerikanische Zeitalter hat begonnen, und der nordamerikanische Kontinent wird für die nächsten hundert Jahre von den Vereinigten Staaten dominiert werden. Die Ereignisse des 21. Jahrhunderts drehen sich um die Vereinigten Staaten. Das bedeutet nicht, dass diese notwendig gerecht und moralisch handeln werden. Und es bedeutet schon gar nicht, dass sie eine reife Zivilisation sind. Es bedeutet nur, dass die Geschichte des 21. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht die Geschichte der Vereinigten Staaten sein wird.
Kapitel 1
Das Amerikanische Zeitalter
Die Vereinigten Staaten leiden unter der tief sitzenden Angst, dass der Untergang ihres Lands unmittelbar bevorsteht. In Leserbriefen, Internetseiten und öffentlichen Debatten geht es um schreckliche Kriege, ein unkontrollierbares Haushaltsdefizit, hohe Benzinpreise, Schießereien an Universitäten und eine endlose Litanei weiterer Probleme, die sämtlich nicht von der Hand zu weisen sind und die das Gefühl erzeugen, der Amerikanische Traum sei ausgeträumt und Amerika habe seinen Zenit überschritten. Wenn Sie das nicht überzeugt, fragen Sie die Europäer – diese werden Ihnen bereitwillig erklären, warum die Vereinigten Staaten ihre besten Tage hinter sich haben. Das Merkwürdige ist nur, dass diese Vorahnungen bereits zu Zeiten von Präsident Nixon durch das Land spukten – die Themen waren weitgehend dieselben. Die Amerikaner werden von der Angst umgetrieben, die Macht und der Wohlstand der Vereinigten Staaten seien nur eingebildet und der Absturz stehe unmittelbar bevor. Dieser Eindruck herrscht über alle Partei- und Ideologiegrenzen hinweg. Umweltschützer und bibeltreue Christen verkünden dieselbe Botschaft: Wenn wir nicht Reue zeigen und umkehren, werden wir bestraft werden – aber vielleicht ist es bereits zu spät. Es ist eine interessante Feststellung, dass ein Land, das an seine göttliche Bestimmung glaubt, in der Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe lebt oder zumindest von der Furcht umgetrieben wird, es könne möglicherweise nicht mehr das sein, was es einmal war. Amerikaner hegen nostalgische Gefühle für die 1950er, als alles »so viel einfacher« war. Das ist allerdings eine merkwürdige Sicht, denn die Goldenen Fünfziger waren mit dem Koreakrieg, den
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Kommunistenverfolgungen durch McCarthy, den Rassenunruhen von Little Rock, dem Sputnikschock, der Berlinkrise und der anhaltenden nuklearen Bedrohung eine Zeit der Angst und der bösen Vorahnungen. Ein Bestseller von W. H. Auden trug den Titel The Age of Anxiety – »Das Zeitalter der Angst«. Damals erinnerte man sich ebenfalls voller Nostalgie an ein längst vergangenes Amerika, genau wie wir heute auf die Fünfziger zurückblicken. Die Kultur der Vereinigten Staaten ist eine manische Mischung aus arroganter Selbstüberschätzung und tiefer Niedergeschlagenheit. Das heißt, das amerikanische Selbstbewusstsein wird immerfort ausgehöhlt durch die Angst, das Land könne in der Flut der schmelzenden Polkappen untergehen, oder ein zorniger Gott könne es für die Einführung der Schwulenehe zerschmettern, beides durch eigenes Verschulden. Diese Stimmungsumschwünge machen es schwer, das Land zu Beginn des 21. Jahrhunderts einzuschätzen. Tatsache ist jedoch, dass die Vereinigten Staaten über eine gewaltige Macht verfügen. Es kann durchaus sein, dass viele Amerikaner das Gefühl haben, auf eine Katastrophe zuzusteuern, doch wenn man sich die Tatsachen ansieht, fällt es schwer, sich vorzustellen, worin diese Katastrophe bestehen könnte. Sehen wir uns einige aufschlussreiche Zahlen an. In den Vereinigten Staaten leben nur rund 4 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, doch sie produzieren etwa 26 Prozent aller weltweiten Güter und Dienstleistungen: Im Jahr 2007 betrug ihr Bruttoinlandsprodukt rund 14 Billionen US-Dollar, verglichen mit dem Weltinlandsprodukt von 54 Billionen. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist Japan mit einem Bruttoinlandsprodukt von 4,4 Billionen US-Dollar. Die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten ist größer als die nächsten vier Volkswirtschaften Japan, Deutschland, China und Großbritannien zusammengenommen. Viele Beobachter nennen den Niedergang der Auto- und Stahlbranche, die vor einer Generation noch der Stützpfeiler der US-Wirtschaft waren, als Beispiele für die Deindustrialisierung der Vereinigten Staaten. Tatsächlich werden große Teile dieser Branchen ins Ausland verlagert, weshalb die Industrie im Jahr 2006 nur noch einen Umsatz
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von 2,8 Billionen US-Dollar erzielte. Damit ist sie allerdings noch immer die größte der Welt und rund doppelt so groß wie die Japans, der nächstgrößten Industrienation, und größer als die Japans und Chinas zusammengenommen. Immer wieder ist die Rede von der Rohstoffknappheit. Diese ist eine Realität, und sie wird vermutlich noch ernstere Formen annehmen. Doch wir sollten uns daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten im Jahr 2006 pro Tag rund 8,3 Millionen Barrel Rohöl produzierten. Zum Vergleich: Russland förderte im selben Jahr 9,7 Millionen Barrel pro Tag und Saudi-Arabien 10,7 Millionen. Damit erzielen die Vereinigten Staaten 87 Prozent der saudischen Fördermenge und erzeugen mehr Rohöl als der Iran, Kuwait oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Natürlich importieren die Vereinigten Staaten zusätzlich gewaltige Mengen von Öl, doch angesichts der industriellen Produktion ist dies nur verständlich. Ein Vergleich der Gasproduktion zeigt, dass Russland im Jahr 2006 mit einer Fördermenge von rund 630 Milliarden Kubikmetern den ersten Platz belegte – vor den Vereinigten Staaten mit rund 530 Milliarden Kubikmetern auf Platz zwei. Allerdings erzeugen die Vereinigten Staaten mehr Erdgas als die folgenden fünf Förderländer zusammen. Mit anderen Worten, obwohl beständig die Sorge geäußert wird, die Vereinigten Staaten könnten von ausländischen Energielieferanten abhängig werden, ist das Land selbst einer der größten Energieproduzenten. Angesichts der gewaltigen Produktion der US-Wirtschaft ist es interessant festzustellen, dass die Vereinigten Staaten im internationalen Vergleich unterbevölkert sind. Weltweit kommen im Durchschnitt 49 Menschen auf jeden Quadratkilometer, in Japan sind es 338 und in Deutschland 230. In den Vereinigten Staaten beträgt die Bevölkerungsdichte dagegen nur 31 Einwohner pro Quadratkilometer, und wenn wir den kaum bewohnbaren Bundesstaat Alaska ausnehmen, sind es immer noch 34. Selbst wenn wir die Gesamtbevölkerung auf die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Nutzfläche umlegen, kommt in den Vereinigten Staaten fünf Mal so viel Land auf jeden Einwohner wie in Asien, fast doppelt so viel wie in Europa und drei-
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mal so viel wie im weltweiten Durchschnitt. Eine Volkswirtschaft basiert auf Land, Arbeit und Kapital. Die Zahlen zeigen, dass die Vereinigten Staaten in allen drei Bereichen noch erhebliches Wachstumspotenzial haben. Es gibt viele Gründe, warum die Wirtschaft der Vereinigten Staaten derart stark ist, doch der einfachste ist ihre militärische Macht. Die Vereinigten Staaten beherrschen einen gesamten Kontinent, der gegenüber jeder Invasion unverwundbar ist. Nahezu jede andere Industrienation der Welt hat im 20. Jahrhundert mindestens einen verheerenden Krieg erlebt. Die Vereinigten Staaten haben zwar Kriege geführt, aber nie selbst welche erlebt. Militärische Macht und Geografie haben eine wirtschaftliche Realität geschaffen. Andere Länder haben Zeit verloren, weil sie sich von Kriegen erholen mussten. Anders die Vereinigten Staaten: Sie sind aufgrund der Kriege sogar gewachsen. Sehen wir uns eine weitere Tatsache an, auf die ich im Verlaufe dieses Buches noch öfter zurückkommen werde. Die Marine der Vereinigten Staaten kontrolliert die Ozeane der gesamten Welt. Ob eine Dschunke im Südchinesischen Meer, ein Kreuzfahrtschiff in der Karibik, eine Dhau vor der afrikanischen Küste, ein Tanker im Persischen Golf – jedes Schiff wird von den Satelliten der Marine erfasst, welche die Weiterfahrt zulässt oder eben nicht. Die Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten sind größer als die aller übrigen Nationen der Welt zusammengenommen. Dies ist ein historisch völlig einmaliger Vorgang. Zu allen Zeiten gab es regional dominierende Seestreitkräfte, doch noch nie konnte eine Seemacht, selbst nicht die britische Navy, weltweit eine derartige Vorherrschaft ausüben. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Vereinigten Staaten zwar andere Länder erobern, aber nie selbst erobert werden können. Es bedeutet jedoch auch, dass die Vereinigten Staaten effektiv den Welthandel kontrollieren. Diese Stärke ist die Grundlage ihrer Sicherheit und ihres Wohlstandes. Die Vorherrschaft auf den Weltmeeren begann nach dem Zweiten Weltkrieg, sie festigte sich gegen Ende des Europäischen Zeitalters und ist heute die Basis ihrer wirtschaftlichen und militärischen Macht.
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Welche vorübergehenden Schwierigkeiten die Vereinigten Staaten auch immer haben mögen, das weltweit wichtigste Problem ist die enorme Ungleichverteilung wirtschaftlicher, militärischer und politischer Macht. Jeder Versuch einer Prognose über die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts, der nicht bei dieser immensen Macht der Vereinigten Staaten beginnt, ginge an der Realität vorbei. Doch ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass die Vereinigten Staaten heute erst am Beginn ihrer Macht stehen. Das 21. Jahrhundert wird das Amerikanische Jahrhundert. Lassen Sie mich diese These ein wenig weiter ausführen. In den vergangenen fünf Jahrhunderten wurde das Gefüge der internationalen Beziehungen von den europäischen Anrainerstaaten des Nordatlantik beherrscht: von Portugal, Spanien, Frankreich, England und in geringerem Umfang den Niederlanden. Diese Länder veränderten die Welt und schufen das erste globale wirtschaftliche und politische System der Geschichte. Wie wir wissen, verlor Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts seine Macht und mit ihr seine Kolonialreiche. In dieses Vakuum stießen die Vereinigten Staaten, die dominierende Macht im Nordatlantik und die einzige Macht, die an den Atlantik und den Pazifik grenzt. Der nordamerikanische Kontinent hat die Position eingenommen, die Europa zwischen der Entdeckungsfahrt von Christoph Columbus im Jahr 1492 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 innehatte, und ist zum Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems geworden. Um das 21. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir uns diese grundlegende strukturelle Verschiebung näher ansehen, die sich Ende des 20. Jahrhunderts ergeben und den Boden für ein Jahrhundert bereitet hat, das sich radikal von den vorhergehenden unterscheiden wird, so wie sich die Vereinigten Staaten von Europa unterscheiden. Ich behaupte nicht nur, dass sich etwas Außergewöhnliches ereignet hat, sondern auch, dass die Vereinigten Staaten wenig dafür konnten. Diese Entwicklung ist keine Folge von politischen Entscheidungen, sondern ist auf die Wirkungsweise von geopolitischen Kräften zurückzuführen.
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Europa Bis ins 15. Jahrhundert lebten die Menschen in hermetisch abgeschlossenen Welten. Die Menschheit begriff sich nicht als eine Einheit. Die Chinesen wussten nichts von der Existenz der Azteken, die Mayas hatten keine Ahnung von der Existenz der Zulus. Die Europäer hatten zwar von den Japanern gehört, doch sie wussten nichts über sie und hatten keinerlei Kontakt zu ihnen. Die babylonische Sprachverwirrung erschwerte die Kommunikation zwischen den Völkern. Ganze Zivilisationen lebten nebeneinander her, ohne einander wahrzunehmen. Die Nationen an der Ostküste des Nordatlantik überwanden die Grenzen zwischen diesen abgeschotteten Regionen und fügten die Welt zu einer einzigen Einheit zusammen, deren Teile miteinander interagierten. Das Schicksal der australischen Ureinwohner war plötzlich verknüpft mit dem Verhältnis zwischen England und Irland sowie dem britischen Bedarf an überseeischen Strafkolonien. Das Schicksal der Inkas hing auf einmal zusammen mit dem Verhältnis von Spanien und Portugal. Der europäische Imperialismus schuf eine globalisierte Welt. Die europäischen Atlantikanrainer waren der Dreh- und Angelpunkt des globalen Systems. Europa gab weitgehend vor, was im Rest der Welt passierte. Andere Nationen und Regionen handelten immer mit Blick auf Europa. Zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert gab es kaum ein Fleckchen Erde, das dem europäischen Einfluss entgangen wäre. Im Guten wie im Bösen drehte sich alles um Europa. Die europäische Drehscheibe war der Nordatlantik. Wer dieses Meer beherrschte, besaß den Schlüssel für das Tor zur Welt. Europa war weder die zivilisierteste noch die fortschrittlichste Region des Planeten. Warum also wurde es das Zentrum der Welt? Verglichen mit China und der islamischen Welt war das Europa des fünfzehnten Jahrhunderts technisch und intellektuell rückschrittlich. Warum ausgerechnet diese kleinen und abseits gelegenen Nationen? Und warum zu diesem Zeitpunkt, und nicht fünfhundert Jahre früher oder später?
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Die nächsten hundert Jahre
IRLAND GROSSBRITANNIEN
NIEDERLANDE BELGIEN
Atlantis he Atlantischer Ozean FRANKREICH
PORTUGAL SPANIEN
Die europäischen Atlantikstaaten
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Der europäische Aufstieg hatte zwei Ursachen: Geld und Geografie. Europa war von Importen aus Asien abhängig, vor allem aus Indien. Der importierte Pfeffer wurde beispielsweise nicht nur als Gewürz verwendet, sondern auch zur Konservierung von Fleisch und war daher ein wichtiger Faktor der europäischen Wirtschaft. Asien war die Schatzkammer der Luxusgüter, die in Europa stark nachgefragt wurden. Die Importe wurden traditionell über die legendäre Seidenstraße und andere Handelsrouten in den Mittelmeerraum geliefert. Mit dem Aufstieg der Türkei, auf den wir später noch näher eingehen werden, kam es zur Sperrung dieser Handelswege, wodurch sich die Importe verteuerten. Verzweifelt suchten europäische Händler nach Möglichkeiten, das Osmanische Reich zu umgehen. Spanier und Portugiesen – die Iberer – suchten nach einem nicht-militärischen Ausweg: einer alternativen Handelsroute nach Indien. Nach Ansicht der Iberer gab es nur einen einzigen Weg nach Indien, der nicht durch das Osmanische Reich führte: den Seeweg um das Horn von Afrika in den Indischen Ozean. Sie spekulierten über die Möglichkeit einer Alternativroute, die darauf basierte, dass die Erde eine Kugel war, und die sie auf dem westlichen Seeweg nach Indien bringen würde. Dies war ein historisch einmaliger und entscheidender Moment. Zu einem anderen Zeitpunkt wären die Anrainerstaaten des Atlantik möglicherweise in Armut und Provinzialität zurückgefallen. Doch die wirtschaftlichen Zwänge waren real, die Türken stellten eine echte Gefahr dar – es bestand dringender Handlungsbedarf. Die Spanier, die gerade die Muslime von der Iberischen Halbinsel vertrieben hatten, standen auf dem Höhepunkt ihrer barbarischen Überheblichkeit. Außerdem verfügten sie endlich über die technischen Mittel, eine solche Entdeckungsfahrt durchzuführen. Mit der Karavelle hatten die Iberer ein hochseetaugliches Schiff. Dazu kam eine Vielzahl von Navigationsinstrumenten wie der Kompass und das Astrolabium. Schließlich verfügten sie über Feuerwaffen, insbesondere Kanonen. Sämtliche dieser Technologien hatten die Iberer von anderen Kulturen übernommen, doch erst sie waren es, die daraus ein effektives wirtschaftliches und militärisches System schufen, das sie in die Lage ver-
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setzte, weit entfernte Länder zu erreichen, dort Kriege zu führen und diese zu gewinnen. Völker, die den Schuss einer Kanone hörten und sahen, wie ein Gebäude in die Luft flog, zeigten tendenziell größere Verhandlungsbereitschaft. Bei der Ankunft am Zielort konnten die Iberer gewissermaßen die Tür eintreten und das Kommando übernehmen. Während der nächsten Jahrhunderte beherrschten die Europäer mit ihren Schiffen, ihren Kanonen und ihrem Geld die Welt und errichteten das erste globale System, das Europäische Zeitalter. Europa beherrschte zwar die Welt, doch nicht sich selbst. Über fünf Jahrhunderte hinweg zerriss sich der Kontinent in endlosen Kriegen. Daher gab es nie ein geeintes Europäisches Reich, sondern ein britisches, ein spanisches, ein portugiesisches, ein französisches, und so weiter. Während die Europäer Länder besetzten, Völker unterwarfen und schließlich weite Teile der Welt beherrschten, zehrten sie ihre Kräfte in endlosen Bruderkriegen auf. Es gibt viele Gründe, weshalb die Europäer außerstande waren, sich zusammenzuschließen, doch der entscheidende ist ein einfaches geografisches Merkmal: der Ärmelkanal. Spanier, Franzosen und schließlich auch Deutsche beherrschten zu einem bestimmten Zeitpunkt das Festland, doch keinem gelang es, den Ärmelkanal zu überqueren. Und weil niemand Großbritannien unterwerfen konnte, gab es auch keinen Eroberer, der je die Kontrolle über ganz Europa gewonnen hätte. Frieden war nie mehr als ein vorübergehender Waffenstillstand. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem zehn Millionen junge Männer ums Leben kamen, war Europa müde. Nach dem Krieg war das europäische Selbstbewusstsein gebrochen, und die Wirtschaft lag am Boden. Demografisch, wirtschaftlich und kulturell war Europa nur noch ein Schatten seiner selbst. Doch das war erst der Anfang.
Das Ende der alten Ordnung Die Vereinigten Staaten gingen aus dem Ersten Weltkrieg als neue Weltmacht hervor. Diese Macht steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. Geopolitisch war Europa noch längst nicht am Ende, und
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psychologisch waren die Vereinigten Staaten noch nicht bereit, auf der Bühne des Weltgeschehens dauerhaft eine Rolle einzunehmen. Doch es waren zwei Dinge passiert. Erstens hatten die Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkriegs eine eindrucksvolle Demonstration ihrer Macht abgeliefert. Und zweitens hatten sie in Europa eine Zeitbombe zurückgelassen, die ihre Macht in der Zeit nach dem nächsten Krieg sicherstellte. Diese Zeitbombe war der Friedensvertrag von Versailles, der den Ersten Weltkrieg beendete, aber viele der Konflikte, die den Krieg verursacht hatten, nicht lösen konnte. Aufgrund dieses Vertrags waren neue Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Tatsächlich flammte der Krieg zwanzig Jahre später wieder auf. Innerhalb von nur sechs Wochen eroberte Deutschland das benachbarte Frankreich. Die Vereinigten Staaten hielten sich zunächst heraus, doch sie stellten sicher, dass der Krieg nicht mit einem deutschen Sieg endete. Großbritannien erhielt den Widerstand aufrecht, unterstützt durch die Vereinigten Staaten und den sogenannten LendLease-Act. Die meisten erinnern sich an den »Lend«-Teil und daran, dass die Vereinigten Staaten Großbritannien Kriegsmaterial zur Verfügung stellten. Doch der »Lease«-Teil wird meist vergessen: Im Gegenzug übergaben die Briten fast sämtliche ihrer Marinestützpunkte in der westlichen Hemisphäre an die Vereinigten Staaten. Damit erhielten die Vereinigten Staaten den Schlüssel zum Nordatlantik – im Klartext: zum europäischen Tor zur Welt. Schätzungen zufolge kamen im Zweiten Weltkrieg 55 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – ums Leben. Der Krieg hinterließ ein Trümmerfeld, ganze Nationen waren verwüstet. Die Vereinigten Staaten hatten dagegen nur 500 000 gefallene Soldaten und kaum zivile Opfer zu beklagen – weniger als ein Prozent aller Kriegsopfer. Im Gegensatz zu allen anderen Kriegsteilnehmern verfügten sie nach Kriegsende über eine erheblich stärkere Industrie als zu Beginn. Keine amerikanischen Städte wurden bombardiert (mit Ausnahme von Pearl Harbor), kein amerikanisches Territorium besetzt (mit Ausnahme zweier kleiner Inseln in den Aleuten). Dafür kontrollierten die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur den Nordatlantik, sondern sämtliche Weltmeere.
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Sie hatten mehr oder weniger ganz Westeuropa besetzt und lenkten die Geschicke Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Italiens und sogar Großbritanniens. Im fernen Asien hatten sie die vollständige Kontrolle über Japan. So verloren die Europäer ihre Kolonialreiche – zum Teil aus Erschöpfung, zum Teil aus Kostengründen und zum Teil, weil deren Fortbestand nicht im Interesse der Vereinigten Staaten lag. Im Laufe der kommenden zwanzig Jahre schmolz das europäische Weltreich dahin, ohne dass die alten Kolonialherren ernsthaften Widerstand geleistet hätten. Die geopolitische Realität (die schon Jahrhunderte zuvor in Spaniens Dilemma sichtbar geworden war) kam in einer Katastrophe an ihr logisches Ende. Die entscheidende Frage lautet nun: War der Aufstieg der Vereinigten Staaten nach 1945 das Ergebnis einer brillanten machiavellistischen Politik? In einem Krieg, der 55 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, erlangten die Vereinigten Staaten die Vorherrschaft über die Welt um den Preis von 500 000 Opfern. War Franklin Delano Roosevelt ein genialer und skrupelloser Politiker, oder wurden die Vereinigten Staaten eher nebenbei zur Supermacht, während sie die »vier Freiheiten« und die Charta der Vereinten Nationen verfolgten? Unterm Strich spielt das keine Rolle. In der Geopolitik sind die ungeplanten Folgen die eigentlich wichtigen. Die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der sogenannte Kalte Krieg, war ein globaler Konflikt. Gegenstand der Auseinandersetzungen war letztlich die Frage, wer das zerfallende Weltreich der Europäer erben würde. Obwohl beide Seiten über erhebliche militärische Mittel verfügten, waren die Vereinigten Staaten im Vorteil. Die Sowjetunion hatte zwar ein riesiges Staatsgebiet, doch sie war im Grunde ein Binnenland. Die deutlich kleineren Vereinigten Staaten hatten hingegen Zugang zu sämtlichen Weltmeeren. Die Sowjets waren nicht in der Lage, die Vereinigten Staaten einzukreisen – umgekehrt waren es diese sehr wohl. Von Norwegen über die Türkei bis zu den Aleuten schufen die Vereinigten Staaten einen Gürtel von Verbündeten rund um die Sowjetunion. Ab 1970 gehörte sogar China dazu. Wo immer die Sowjets einen Hafen hatten, wurde
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Ostblockstaaten
SOWJETUNION
Die Sowjetunion
dieser durch die geografischen Gegebenheiten oder die amerikanischen Seestreitkräfte blockiert. In der Geopolitik herrschen zwei widersprüchliche Auffassungen vom Zusammenhang von Geografie und Macht vor. Eine geht auf einen Engländer namens Halford John Mackinder zurück, der die Ansicht vertritt, wer Eurasien kontrolliere, der kontrolliere die Welt: »Wer Osteuropa [das russische Europa] beherrscht, beherrscht das Zentrum. Wer das Zentrum beherrscht, beherrscht die Weltinsel [Eurasien]. Wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.« Diese Denkweise liegt der britischen Strategie zugrunde und bestimmte die amerikanische Außenpolitik während des Kalten Kriegs, in dem es darum ging, das europäische Russland einzukreisen und abzuschnüren. Dem steht jedoch die Auffassung eines amerikanischen Admirals namens Alfred Thayer Mahan, einem weiteren geopolitischen Vordenker, gegenüber. In seinem Buch The Influence of Sea Power on His-
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tory widerspricht Mahan seinem britischen Kollegen Mackinder und behauptet, die Kontrolle über die Weltmeere sei der Schlüssel zur Kontrolle über die Welt. In gewisser Hinsicht bestätigt die Geschichte beide Sichtweisen. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur alleinigen Weltmacht wurden, bestätigt Mackinders Theorie. Doch Mahan verstand zwei entscheidende Faktoren: Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist auf die amerikanische Seemacht zurückzuführen und verlieh seinerseits den Seestreitkräften der Vereinigten Staaten die Hoheit über die Weltmeere. Mahan führt aus, es sei immer günstiger, Güter auf dem See- als auf dem Luft- oder Landweg zu transportieren. Schon im fünften vorchristlichen Jahrhundert war Athen wohlhabender als Sparta, denn Athen verfügte über einen Hafen, eine Handelsflotte und Kriegsschiffe, die diese schützten. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen sind Seemächte immer wohlhabender als ihre im Binnenland gelegenen Nachbarn. Mit dem Beginn der Globalisierung im 15. Jahrhundert wurde diese Tatsache zu einer geopolitischen Konstante. Die Kontrolle über die Weltmeere bedeutete zum einen, dass die Vereinigten Staaten nicht selbst nur Seehandel betreiben, sondern die Bedingungen des gesamten Seehandels vorschreiben konnten. Sie konnten die Regeln aufstellen oder die Regeln anderer Staaten aushebeln und ihnen den Zugang zu den Welthandelsrouten verwehren. Allerdings üben die Vereinigten Staaten ihren Einfluss auf das Welthandelssystem meist subtiler aus und benutzen den Zugang zum großen amerikanischen Markt als Hebel, um auf das Verhalten anderer Nationen einzuwirken. Es ist also kein Wunder, dass die Vereinigten Staaten großen Wohlstand erlangten, und dass die Sowjetunion als Binnenland nicht in der Lage war, mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Zum anderen verschaffte die Kontrolle über die Weltmeere den Vereinigten Staaten einen entscheidenden militärischen Vorteil. Sie selbst konnten nicht erobert werden, doch sie konnten andere Länder erobern, wann immer sie wollten. Nach 1945 konnten sie Kriege führen, ohne je eine Unterbrechung ihres Nachschubs befürchten zu müssen. Gleichzeitig konnte kein anderes Land ohne ihre Zustim-
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mung einen Seekrieg beginnen. Die Briten konnten 1982 nur deshalb den Falklandkrieg gegen Argentinien beginnen, weil die Vereinigten Staaten dies nicht verhinderten. Und als die Briten, Franzosen und Israelis 1956 gegen den Willen der Vereinigten Staaten Ägypten besetzten, mussten sie auf deren Druck schließlich wieder abziehen. Während des Kalten Kriegs war ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten immer profitabler als ein Bündnis mit der Sowjetunion. Die Sowjets hatten Waffen, politische Unterstützung, Technologie und vieles mehr zu bieten. Doch die Vereinigten Staaten boten Zugang zu ihrem internationalen Handelssystem und das Recht, auf dem amerikanischen Markt tätig zu werden. Das stellte jede andere Form der Unterstützung weit in den Schatten. Aus dem Handelssystem ausgeschlossen zu sein, bedeutete Armut, Teil des Handelssystems zu sein dagegen Wohlstand. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist die unterschiedliche Entwicklung von Nord- und Südkorea sowie von Ost- und Westdeutschland. Interessanterweise waren die Vereinigten Staaten während des Kalten Kriegs psychologisch immer in der Defensive. Der Koreakrieg, McCarthys Kommunistenjagd, der Sputnikschock, die Kubakrise, der Vietnamkrieg, der linke Terrorismus der 1970er und 80er Jahre, die Kritik der europäischen Verbündeten an Präsident Ronald Reagan – das alles hinterließ ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Verunsicherung. Aufgrund der negativen Stimmungslage lebten die Amerikaner immer unter dem Eindruck, der Vorsprung gegenüber der Sowjetunion schmelze dahin. Doch angesichts der objektiven Machtverhältnisse hatten die Sowjets nie eine Chance. Dieser Widerspruch zwischen der amerikanischen Selbstwahrnehmung und der geopolitischen Realität ist nicht unwichtig, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wird hier deutlich, wie unreif die amerikanische Macht ist, zum anderen zeigt sich genau hier ihre immense Stärke. Diese Unsicherheit veranlasste die Vereinigten Staaten zu einem überwältigendem Aufwand und setzte große Energien frei. Während des Kalten Kriegs überließen die Amerikaner – von den politischen Führern über Ingenieure bis zu Militär- und Geheimdienstoffizieren – nichts dem Zufall.
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Aus diesem Grund traf sie das Ende des Kalten Kriegs vollkommen unvorbereitet. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten die Sowjetunion eingekreist. Die Sowjets konnten es sich nicht leisten, sich den Amerikanern auf dem Meer entgegenzustellen, und mussten daher ihr Budget auf die Landstreitkräfte und den Bau von Raketen verwenden. Gleichzeitig kamen sie nie an das Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten heran und konnten ihre Verbündeten nicht mit vergleichbaren wirtschaftlichen Geschenken an sich binden. Die Sowjetunion fiel immer weiter zurück, bis sie schließlich zusammenbrach. Mit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991, beinahe auf das Jahr genau fünf Jahrhunderte nach der Entdeckungsfahrt von Christoph Columbus, ging ein Zeitalter zu Ende. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrtausend befand sich das Machtzentrum nicht mehr in Europa, und Europa war nicht mehr der Mittelpunkt der internationalen Auseinandersetzungen. Seit 1991 sind die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht und das Zentrum des internationalen Beziehungsgefüges. ⋆
Auf den vorangegangenen Seiten haben wir den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht verfolgt. Ich möchte noch einmal auf eine wenig beachtete Tatsache zurückkommen, die ich bereits erwähnt habe und die Bände spricht. Im Jahr 1980, dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, erreichte der transpazifische Handel erstmals die Größenordnungen des transatlantischen Handels. Nun zehn Jahre später, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, lag der transpazifische Handel bereits 50 Prozent über dem transatlantischen Handel. Das Gleichgewicht des Welthandels und damit des weltpolitischen Systems hatte sich in noch nie dagewesener Art und Weise verschoben. Dies hat konkrete Auswirkungen auf den Rest der Welt. Die Kontrolle der Schifffahrtsrouten ist eine kostspielige Angelegenheit. Die meisten Handelsnationen sind nicht in der Lage, diese Kosten zu übernehmen, und sind von Ländern abhängig, die dies können. Auf
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diese Weise erlangen Seemächte erhebliche politische Macht. Die Kontrolle eines angrenzenden Gewässers ist teuer. Die Kontrolle eines Tausende Kilometer entfernten Meeres ist extrem teuer. In der Vergangenheit war nur eine Handvoll von Ländern in der Lage, diese Kosten zu tragen, und die Aufgabe ist seither weder einfacher noch billiger geworden. Ein Blick in den Verteidigungshaushalt der Vereinigten Staaten bestätigt dies. Die Marine des Lands gibt mehr Geld für den Unterhalt eines einzigen Flugzeugträgers samt Begleitflotte im Persischen Golf aus als die meisten Länder für ihr gesamtes Verteidigungsbudget. Den Atlantik und den Pazifik kontrollieren zu wollen, ohne direkt an beide Ozeane zu grenzen, würde die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines jeden Lands sprengen. Nur eine Nation auf dem nordamerikanischen Kontinent ist imstande, den Atlantik und den Pazifik gleichzeitig zu kontrollieren. Aus diesem Grund ist Nordamerika heute der Dreh- und Angelpunkt des internationalen Machtgefüges. Und ich nehme an, dass Nordamerika über die nächsten Jahrhunderte das Machtzentrum der Welt bleiben wird und dass die Vereinigten Staaten zumindest im kommenden Jahrhundert ihre Vormachtstellung auf dem Kontinent behalten. Doch die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten heute die dominierende Nation des Kontinents sind, bedeutet nicht, dass sie dies auch bleiben müssen, wie das Beispiel Spaniens eindrucksvoll belegt, das einst das Europäische Zeitalter einläutete. Es ist vieles denkbar, von einem Bürgerkrieg über die Niederlage in einem Krieg bis zum Aufstieg eines anderen Staats auf dem Kontinent selbst. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Vereinigten Staaten mittelfristig – also für die nächsten hundert Jahre – militärisch, wirtschaftlich und technologisch derart übermächtig sein werden, dass ihr weiterer Aufstieg trotz aller Krisen und Kriege nicht aufzuhalten sein wird. Diese Sicht ist durchaus vereinbar mit den amerikanischen Ängsten. Die Psyche der Vereinigten Staaten ist eine sonderbare Mischung aus arroganter Selbstüberschätzung und tiefen Selbstzweifeln. Interessanterweise trifft eine solche Beschreibung auch auf das Gemüt eines Heranwachsenden zu – und genau das sind die Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert. Die Supermacht befindet sich in einer
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anhaltenden, pubertären Identitätskrise, die von dem neu entdeckten Gefühl der Stärke und irrationalen Stimmungsumschwüngen begleitet wird. Historisch gesehen sind die Vereinigten Staaten eine ausgesprochen junge Nation und eine unreife Gesellschaft. Daher gehören Angeberei und Verunsicherung zu dem, was wir heute von Amerika erwarten können – so fühlt sich eben ein Jugendlicher, der seinen Platz in der Welt sucht. Doch wenn wir die Vereinigten Staaten als eine heranwachsende Nation begreifen, dann wissen wir auch, dass das Land trotz seines Selbstbildes irgendwann das Erwachsenenalter erreichen wird. Erwachsene sind in der Regel psychisch gefestigter und körperlich stärker als Jugendliche. Daher ist es stimmig, wenn wir davon ausgehen, dass sich die Vereinigten Staaten heute erst in der Frühphase ihrer Macht befinden. Es ist noch kein zivilisiertes Land. Wie das Europa das 16. Jahrhunderts sind die Vereinigten Staaten eine barbarische Nation (das ist lediglich eine Beschreibung, keine Wertung). Sie verfügen nicht über eine fertige Kultur. Sie haben jedoch einen starken Willen, und ihre Gefühle ziehen sie in unterschiedliche und widersprüchliche Richtungen. Jede Kultur durchläuft drei Phasen. Die erste ist die der Barbarei. Barbaren halten die Gepflogenheiten ihres Dorfes für Naturgesetze und meinen, wer anders lebe als sie, sei verachtenswert und müsse entweder bekehrt oder zerstört werden. Die dritte Phase ist die Dekadenz, in der eine zynische Haltung vorherrscht: Nichts ist besser als irgendetwas anderes. Wenn Zyniker jemanden verachten, dann Menschen, die an etwas glauben. Es gibt nichts, für das es sich zu kämpfen lohnt. Die zweite und seltenste Phase ist die Zivilisation. Zivilisierte Völker sind in der Lage, widersprüchliche Auffassungen nebeneinander zu dulden. Sie sind der Ansicht, dass es Wahrheiten gibt und dass sich ihre Kultur diesen Wahrheiten annähert. Gleichzeitig lassen sie die Möglichkeit zu, dass sie sich im Irrtum befinden könnten. Diese Mischung aus Skepsis und Glaube ist in sich instabil. Kulturen gehen schließlich von der Zivilisation in die Dekadenz über, da die Selbstgewissheit durch die Skepsis ausgehöhlt wird. In jeder Kultur leben bar-
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barische, zivilisierte und dekadente Menschen nebeneinander, doch nur eines dieser Prinzipien ist jeweils vorherrschend. Im 16. Jahrhundert war Europa ein barbarischer Kontinent, die Selbstgewissheit des Christentums beflügelte seine Eroberungen. Im 18. und 19. Jahrhundert trat Europa in die Phase der Zivilisation ein und verfiel im Laufe des 20. Jahrhunderts in die der Dekadenz. Die Vereinigten Staaten stehen dagegen erst am Anfang ihrer Geschichte. Als einzige verbleibende Weltmacht entwickeln sie eine Kultur, die notwendig barbarisch ist. Die Vereinigten Staaten sind ein Land, in dem Rechte die Muslime wegen ihres Glaubens hassen, während Linke sie aufgrund ihrer Haltung gegenüber Frauen verachten. Diese beiden scheinbar unterschiedlichen Sichtweisen haben eines gemeinsam: die Gewissheit, dass die eigenen Werte die besten sind. Und wie jede barbarische Kultur sind auch die Amerikaner bereit, für ihre vermeintlichen Wahrheiten in den Krieg zu ziehen. Das soll keine Wertung darstellen – man kann schließlich auch einen Jugendlichen nicht dafür verurteilen, dass er ein Jugendlicher ist. Es handelt sich um eine notwendige und unvermeidliche Entwicklungsphase. Die Vereinigten Staaten sind eine junge Nation, die scheinbar unbeholfen, plump, direkt und manchmal brutal vorgeht und oft von inneren Streitigkeiten zerrissen ist. Doch ähnlich wie Europa im 16. Jahrhundert werden sie trotz ihrer scheinbaren Unbeholfenheit bemerkenswert effektiv sein.
Kapitel 2
Das islamische Beben
Das Amerikanische Zeitalter begann im Dezember 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der die Vereinigten Staaten zur einzigen verbleibenden Supermacht der Welt machte. Doch das 21. Jahrhundert begann eigentlich erst zehn Jahre später mit dem 11. September 2001, als radikale Islamisten die von ihnen entführten Passagierflugzeuge in das World Trade Centre in New York und das Pentagon in Washington lenkten. Es war die erste Bewährungsprobe für das Amerikanische Zeitalter. Es ist durchaus zu bezweifeln, ob die Vereinigten Staaten den nachfolgenden Krieg gewonnen haben, doch es ist unbestreitbar, dass sie ihre strategischen Ziele erreicht haben. Ebenfalls unbestreitbar ist, dass sich dieser Krieg allmählich seinem Ende zuneigt. Viele Beobachter sprechen von einem »langen Krieg«, den die Vereinigten Staaten und die Muslime im kommenden Jahrhundert austragen werden. Doch wie so oft ist das, was uns dauerhaft erscheint, nichts als eine vorübergehende Etappe. Nehmen wir einmal die Zwanzig-Jahres-Perspektive ein, die ich im ersten Kapitel auf das 20. Jahrhundert angewendet habe. Der Konflikt mag sich fortsetzen, doch die strategische Herausforderung für die Macht der Vereinigten Staaten ist überwunden. Die Terrororganisation al-Qaida hat ihre Ziele nicht erreicht. Die Vereinigten Staaten haben gewonnen, und zwar weniger, weil sie als Sieger aus einem Krieg hervorgegangen sind, sondern weil sie einen Sieg der Islamisten verhindert haben. Aus geopolitischer Sicht ist das ein zufriedenstellendes Ergebnis. Das 21. Jahrhundert hat folglich mit einem Erfolg der Vereinigten Staaten begonnen, der oberflächlich betrachtet nicht nur aussieht wie eine Niederlage, sondern wie eine politische und moralische Schande.
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Im Jahr 2001 ging es al-Qaida nicht nur um einen beliebigen Angriff. Ihr Ziel bestand vielmehr darin, die Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten und die Stärke ihrer eigenen Organisation zu demonstrieren. Al-Qaida ging davon aus, dass sie auf diese Weise diejenigen Regierungen in der islamischen Welt schwächen könnte, die sich vor allem dank ihrer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hielten, etwa in Ägypten, Saudi-Arabien, Pakistan und Indonesien. Al-Qaida wollte diese Regierungen stürzen, denn sie wusste, dass sie ihre Ziele nicht verwirklichen konnte, solange sie nur in Afghanistan eine Machtbasis hatte, da dieses Land zu schwach und isoliert ist, um mehr als einen vorübergehenden Stützpunkt abzugeben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ganz offensichtlich massive Auswirkungen auf das internationale Beziehungsgefüge. Eine war besonders überraschend. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten hatten das System stabilisiert und ein Gleichgewicht zwischen den beiden Supermächten hergestellt. Das traf vor allem auf die Grenzregion des Sowjetreichs zu, in der sich beide Seiten bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. So war Europa durch den Kalten Krieg regelrecht eingefroren. Da die geringste Bewegung einen Krieg zur Folge gehabt hätte, ließen weder die Amerikaner noch die Sowjets eine solche Bewegung zu. Das Interessanteste am Kalten Krieg sind vielleicht all die Kriege, die nicht geführt wurden. Die Sowjets marschierten nicht in Westdeutschland ein und stießen nicht an den Persischen Golf vor. Vor allem kam es nicht zu einem nuklearen Holocaust. ⋆
Da die letzten zwanzig Jahre die Ausgangslage dessen darstellen, was in den kommenden hundert Jahren passieren wird, werde ich sie in diesem Kapitel genauer analysieren und mich mehr mit der Vergangenheit als der Zukunft beschäftigen. Stellen Sie sich den Zusammenbruch der Sowjetunion als ein gigantisches Tauziehen vor, in dessen Verlauf eine Seite plötzlich schwächelt und das Tau loslässt. Die Seite, die ihr Ende des Taus noch in der Hand hielt, hatte zwar gewonnen, doch auch sie geriet ins Straucheln, und ihr Triumph ging einher mit
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Verwirrung und Chaos. Das Seil, das zwischen beiden Seiten gespannt war, peitschte plötzlich völlig unberechenbar durch die Luft. Dies betraf vor allem die Grenzregionen zwischen den beiden Blöcken. Einige Veränderungen verliefen friedlich. In Deutschland kam es zur Wiedervereinigung, und die baltischen Staaten wurden genauso wie die Ukraine und Weißrussland unabhängig. Die Tschechoslowakei hatte ihre samtene Revolution und teilte sich in Tschechien und die Slowakei. Andere Veränderungen verliefen weniger friedlich. Rumänien erlebte eine turbulente Revolution, und Jugoslawien zerbrach vollständig. Von allen Ländern im Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion war Jugoslawien das künstlichste Gebilde. Es handelte sich nicht um einen Nationalstaat, sondern einen Zusammenschluss von einander feindlich gesinnten Völkern, Ethnien und Religionen. Jugoslawien war eine Erfindung der Sieger des Ersten Weltkriegs und ein Käfig, in dem die erbittertsten Feinde in ganz Europa zusammengesperrt worden waren. Theoretisch war die Idee sehr hübsch, doch Jugoslawien war ein Beinhaus versteinerter Nationen, die von alten Reichen übrig geblieben waren und sich an ihre unterschiedlichen Identitäten klammerten. Historisch gesehen war der Balkan immer schon ein Krisenherd. Für die Römer war er die Durchgangsstraße zum Nahen Osten, für die Türken das Tor zu Europa. Hier begann der Erste Weltkrieg. Jeder Eroberer hinterließ eine Nation oder eine Religion, von denen jede die anderen hasste. In den zahlreichen Kriegen hatte jede der Gruppen Grausamkeiten monumentalen Ausmaßes an den anderen verübt, und jede dieser Gräueltaten war im Gedächtnis der Betroffenen so lebendig, als wäre sie erst gestern geschehen. Es war keine Region, in der Menschen vergeben und vergessen. Jugoslawien zerbrach während des Zweiten Weltkriegs, als die Kroaten auf Seiten der Deutschen kämpften und die Serben auf Seiten der Sowjets. Nach dem Krieg einte Joseph Broz Tito das Land unter sozialistischer Herrschaft. Jugoslawien war ein marxistisches, aber antisowjetisches Land. Es wollte kein Satellit der Sowjetunion werden und kooperierte sogar mit den Vereinigten Staaten. Im Spannungs-
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ÖSTERREICH
POLEN
SLOWENIEN
RUMÄNIEN
KROATIEN
JUGOSLAWIEN
BOSNIEN UND HERZEGOWINA ITALIEN
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MONTENEGRO
SERBIEN
Kosovo
BULGARIEN
MAZEDONIEN ALBANIEN GRIECHENLAND
TÜRKEI
Der Balkan
feld zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt erhielt sich Jugoslawien seine staatliche Einheit, wie labil auch immer sie war. Als dieses Spannungsfeld 1991 wegfiel, implodierte Jugoslawien. Es war, als hätte sich an der Verwerfung zweier tektonischer Platten ein gewaltiges Erdbeben ereignet. Längst vergessen geglaubte Nationalitäten erwachten plötzlich wieder zum Leben. Namen, die seit dem Ersten Weltkrieg niemand mehr gehört hatte, waren mit einem Mal wieder in aller Munde: Serbien, Kroatien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Slowenien. Und innerhalb jeder dieser Nationen regten sich die ethnische Minderheiten aus den jeweiligen Nachbarnationen und verlangten ihre Eigenständigkeit. Im ganzen Land tobte der Bürgerkrieg. Dies ist ein entscheidender Moment für unser Verständnis des 21. Jahrhunderts. Der Jugoslawische Bürgerkrieg wurde vielfach als rein regionales Phänomen und Einzelfall missverstanden, doch seine Bedeutung geht weit darüber hinaus. Es war in erster Linie eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Hass, der mehr als fünfzig Jahre lang unterdrückt worden war, brach mit einem Mal wieder hervor. Es handelte sich um ein regionales Phänomen, das durch eine globale Verschiebung möglich – und unvermeidlich – wurde. Vor allem war der Jugoslawische Bürgerkrieg jedoch kein Einzelfall.
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Es war lediglich die erste Stelle in der Verwerfung, die unter dem neuen Druck nachgab – und diese Verwerfung setzte sich bis in den afghanischen Hindukusch fort. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien war nur ein Vorspiel für das sehr viel heftigere Erdbeben, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzte.
Das islamische Beben Die Konfrontation zwischen Amerikanern und Sowjets erfasste die gesamte Peripherie der Sowjetunion. Am Ende des Kalten Kriegs ließ sich diese Front in drei Abschnitte unterteilen. Der erste Frontabschnitt verlief durch Europa, von Norwegen bis zur deutsch-tschechischen Grenze, der zweite in Asien von den Aleuten über Japan bis nach China und der dritte vom Norden Afghanistans bis nach Jugoslawien. Dieser dritte Abschnitt wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion am stärksten betroffen. Die Konflikte begannen in Jugoslawien, doch das Chaos erfasste schließlich die gesamte Region und erreichte sogar Länder, die nicht direkt an der Grenze gelegen hatten. Die Region zwischen Jugoslawien und Pakistan war durch den Kalten Krieg weitgehend befriedet gewesen. Es gab zwar vereinzelt regionale Unruhen, etwa den Sturz des pro-westlichen Schahs im Iran und die Errichtung eines anti-amerikanischen und anti-sowjetischen Re-
BOSNIEN UND HERZEGOWINA KR ATIEN KROATIEN
ALBANIEN
TSCHETSCHENIEN KASACHSTAN SERBIEN ASERBAIDMONTENEGRO GEORGIEN USBEKISTAN SCHAN BULGARIEN KIRGISISTAN TURKMENISTAN ARMENIEN TADSCHIKISTAN MAZE- TÜRKEI DONIEN SYRIEN IRAN AFGHANISTAN LIBANON IRAK PAKISTAN
Das Erdbebengebiet
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EUROPA EURO ASIEN
NAHER UND MITTLERER OSTEN
Pazifischer zifischer Ozean
AFRIKA
Atlant scher Atlantischer Ozean
Indischer Ozean AUSTRALIEN
Die moderne islamische Welt
gimes, den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan oder den iranisch-irakischen Krieg. Doch im Allgemeinen wirkte der Kalte Krieg stabilisierend auf diese Region. Die zahlreichen internen Konflikte wuchsen nie zu grenzüberschreitenden Krisen aus. Mit dem Wegfall der Sowjetunion verwandelte sich die Region jedoch in ein Pulverfass. Der Gürtel zwischen Jugoslawien und Pakistan, der hinunterreicht bis zur Arabischen Halbinsel, wird überwiegend von Muslimen bewohnt und ist neben Nordafrika und Südostasien eine der drei großen islamischen Regionen der Welt. Es handelt sich dabei um alles andere als einen geografisch oder kulturell in sich geschlossenen Raum, doch wir behandeln ihn als solchen, da er sich an der Südfront der sowjetischen Einkreisung befand. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Front des Kalten Kriegs mitten durch diese muslimische Region verlief. Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Kasachstan waren überwiegend muslimische Teilrepubliken innerhalb der Sowjetunion. Auch in Russland selbst gab es stark muslimisch geprägte Teilgebiete wie etwa Tschetschenien. Historisch gesehen handelt es sich um eine äußerst instabile Re-
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gion. Seit der Zeit Alexanders des Großen bis zum Britischen Weltreich führten die großen Handels- und Heeresstraßen durch diese Region. Sie war ein geopolitischer Brennpunkt, der sich mit Ende des Kalten Kriegs in ein Pulverfass verwandelte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion waren die sechs muslimischen Teilrepubliken mit einem Mal unabhängig. Arabische Nationen weiter im Süden verloren ihre Schutzmacht (Irak und Syrien) oder ihren Feind (Saudi-Arabien und andere Golfstaaten). Indien verlor seinen Wirtschaftspartner, und Pakistan hatte sich plötzlich seiner Bedrohung durch Indien entledigt – zumindest für kurze Zeit. Das gesamte internationale Beziehungssystem hatte sich in Luft aufgelöst. Die russische Zentralmacht der ehemaligen Sowjetunion zog sich im Laufe des Jahrs 1992 aus dem Kaukasus und Zentralasien zurück. Die neu entstandenen Staaten waren seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr politisch unabhängig gewesen, sie hatten keine Erfahrung mit politischer Selbstverwaltung und verfügten in einigen Fällen nicht über eine funktionierende Wirtschaft. Gleichzeitig verlor die Region für die Vereinigten Staaten an Bedeutung. Nach dem Kalten Krieg schienen ihre Interessen nicht mehr bedroht zu sein, und die Region konnte sich selbst überlassen werden. Eine detaillierte Darstellung der Destabilisierung der Region und insbesondere Afghanistans würde genausowenig zur Erhellung der Situation beitragen wie eine chronologische Schilderung der Ereignisse in Jugoslawien. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zwischen dem Ende der siebziger Jahre und dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterstützten die Vereinigten Staaten diejenigen Kräfte in Afghanistan, die Widerstand gegen die Sowjets leisteten, und in dem Moment, in dem die Sowjets als Gegner wegfielen, wendeten sich diese Kräfte gegen die Vereinigten Staaten. Diese Männer waren im Untergrundkrieg geschult, sie kannten die Arbeitsweise der USGeheimdienste und konnten so die Operationen vorbereiten, die im 11. September kulminierten. Die Vereinigten Staaten reagierten, indem sie Truppen entsandten, zuerst nach Afghanistan und dann in den Irak. Es dauerte nicht lange, bis die gesamte Region zerfiel. So wie die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion
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für ihre Zwecke benutzt hatten, hatten sie die islamistischen Glaubenskrieger vor ihren Karren gespannt und mussten nun mit den Geistern umgehen, die sie selbst gerufen hatten. Doch das war noch das geringere Problem. Eine sehr viel größere Gefahr ging von der Tatsache aus, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Beziehungssystem verschwunden war, das in der Region für Ordnung gesorgt hatte. Mit oder ohne al-Qaida erwiesen sich die muslimischen Republiken innerhalb und südlich der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion als instabil, und wie in Jugoslawien zwang die Instabilität die Vereinigten Staaten, für die eine oder andere Seite Stellung zu beziehen. Von der österreichischen Grenze bis zum Hindukusch bebte die Erde, und die Vereinigten Staaten wurden aktiv, um die Region in ihrem Sinne zu befrieden, wenngleich mit durchaus gemischten Ergebnissen. Ein weiterer Aspekt verdient unsere Aufmerksamkeit, insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklungen, die wir im nächsten Kapitel erörtern werden. Die islamische Welt wurde nämlich durch schwere interne Auseinandersetzungen erschüttert. Einer der Gründe für die Instabilität war der Widerstand der Traditionalisten gegen die zum Teil demografisch bedingten Veränderungen der Lebensgewohnheiten, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Frauen. Die Auseinandersetzung zwischen Säkularisierern und Traditionalisten spaltete die islamischen Gesellschaften, und die Vereinigten Staaten mussten als Sündenbock für die zunehmende Verweltlichung herhalten. So offensichtlich und oberflächlich diese Interpretation klingen mag, sie kommt dem Kern der Sache näher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Veränderungen in der Familienstruktur und der Widerstand gegen diese Veränderungen hängen eng mit den Anschlägen des 11. September 2001 zusammen. Aus einer geopolitischen Sicht endete mit dem 11. September 2001 ein Interregnum zwischen dem Kalten Krieg und der nächsten Epoche: dem amerikanisch-dschihadistischen Krieg. Die Glaubenskrieger konnten in dieser Auseinandersetzung keinen Sieg erringen, wenn mit dem Wort Sieg die Errichtung eines neuen islamischen Reichs gemeint ist. Zu unüberwindlich waren die Widersprüche in der islamischen Welt und zu übermächtig die Vereinigten Staaten.
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Diese Epoche stellt weniger eine kohärente Entwicklung als ein regionales Phänomen dar, das sich nach dem Wegfall eines Spannungsfeldes einstellte. Aufgrund der ethnischen und religiösen Differenzen innerhalb der islamischen Gesellschaften könnten die Islamisten selbst nach einem militärischen Sieg über die Vereinigten Staaten keine stabile Machtbasis errichten. Die islamische Welt ist seit mehr als einem Jahrtausend zerstritten und instabil, und es sieht nicht so aus, als könnte sie diese Differenzen in naher Zukunft beilegen. Doch selbst eine Niederlage der Vereinigten Staaten würde deren Weltmachtstellung nicht gefährden. Wie der Vietnamkrieg ist der Krieg gegen den Islamismus nur eine vorübergehende Erscheinung. Heute scheint der amerikanisch-dschihadistische Krieg derart zentral, dass wir uns kaum vorstellen können, er könnte einfach an Bedeutung verlieren. Seriöse Beobachter erklären, der Konflikt werde das kommende Jahrhundert beherrschen, doch aus Sicht der Zwanzig-Jahres-Perspektive ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er die Welt noch bis ins Jahr 2020 beschäftigen könnte. Im Gegenteil, die weiteren Entwicklungen in der islamischen Welt werden letztlich keine große Rolle spielen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Machtzuwachs der Vereinigten Staaten weiter anhält, dann wird das Jahr 2020 von ganz anderen Herausforderungen bestimmt werden.
Die amerikanische Strategie Bleibt ein Element der gegenwärtigen Dynamik, das wir uns ansehen müssen: die übergreifende Strategie hinter der amerikanischen Außenpolitik. Die Reaktionen auf die Anschläge des 11. September 2001 schienen keinen Sinn zu ergeben, sie wirkten ziellos und willkürlich. Doch sie waren zu erwarten. Wenn wir einen Schritt zurücktreten und die Lage analysieren, ergeben diese vermeintlich planlosen Reaktionen nämlich sehr wohl einen Sinn. Die Strategie beginnt, wo die Politik endet. Nehmen wir an, Roosevelt hätte im Jahr 1940 nicht für eine dritte Amtszeit kandidiert. Hätten sich Japan und Deutschland anders verhalten? Hätten sich die
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Vereinigten Staaten einfach mit der japanischen Vorherrschaft im Pazifik abgefunden? Hätten sie die britische Kapitulation zugelassen und die Hände in den Schoß gelegt, während ihre Flotte in deutsche Hände fiel? Vielleicht wäre der Krieg im Detail anders verlaufen, doch es ist kaum vorstellbar, dass sich die Vereinigten Staaten nicht früher oder später eingeschaltet und den Krieg mit einem alliierten Sieg beendet hätten. Die grobe Linie, die durch die übergreifende Strategie vorgegeben wurde, wäre dieselbe geblieben. Wäre im Kalten Krieg eine amerikanische Strategie ohne die Eindämmung der Sowjetunion denkbar gewesen? Die Vereinigten Staaten konnten nicht in Osteuropa einmarschieren, da die sowjetische Armee zu stark war. Andererseits konnten sie nicht zulassen, dass die Sowjetunion Westeuropa eroberte, denn mit Hilfe der westeuropäischen Industrie wäre diese als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen. Die Eindämmung war nicht die Strategie der Wahl, es war die einzig mögliche Reaktion. Jede Nation verfolgt ihre übergreifenden Strategien, was nicht bedeutet, dass sie diese auch durchsetzen kann. Das strategische Ziel Litauens ist es beispielsweise, sich seine Unabhängigkeit von ausländischen Nationen, insbesondere von Russland, zu bewahren. Doch die litauische Wirtschaft, Bevölkerungssituation und Geografie machen es unwahrscheinlich, dass das Land dieses Ziel dauerhaft erreichen kann. Anders als die meisten anderen Nationen der Welt haben die Vereinigten Staaten ihre strategischen Ziele weitgehend erreicht, wie ich gleich noch zeigen werde. Oft sind sich Politiker und Militärs der übergreifenden Strategie ihrer Nation nicht einmal bewusst. Ihr Denken wird derart durch diese Strategie bestimmt, dass sie beinahe zu einer unbewussten Realität wird. Doch aus einer geopolitischen Perspektive wird die Logik hinter den Handlungen der politischen Führer sichtbar. Strategie beinhaltet nicht notwendigerweise Kriege. Sie beinhaltet vielmehr alles, was die Position einer Nation erhält und festigt. Doch im Falle der Vereinigten Staaten beinhaltet die übergreifende Strategie – mehr als bei anderen Ländern – sehr wohl Krieg, beziehungsweise eine Wechselwirkung von Krieg und Wirtschaft.
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Die Vereinigten Staaten sind, historisch gesehen, eine kriegerische Nation. Sie haben sich seit ihrer Gründung während rund 10 Prozent ihrer Geschichte im Krieg befunden. Diese statistische Angabe beinhaltet lediglich größere Auseinandersetzungen – den Britisch-Amerikanischen Krieg des Jahrs 1812, den amerikanisch-mexikanischen Krieg, den Amerikanischen Bürgerkrieg, die beiden Weltkriege, den Koreakrieg und den Vietnamkrieg. Nicht darin enthalten sind kleinere Konflikte wie der Spanisch-Amerikanische Krieg oder der erste Irakkrieg. Im 20. Jahrhundert waren es rund 15 Prozent, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar 22 Prozent. Und wenn das 21. Jahrhundert im Jahr 2001 beginnt, dann haben sie sich in diesem Jahrhundert ununterbrochen im Krieg befunden. Krieg ist eine zentrale amerikanische Erfahrung, und zwar in zunehmendem Maße. Er ist fester Bestandteil der amerikanischen Kultur und tief in der Geostrategie des Lands verwurzelt. Daher müssen wir sehr genau verstehen, welchem Zweck er dient. Die strategischen Ziele der Vereinigten Staaten entspringen der Angst. Das trifft auf viele Nationen zu. Rom hatte nie vor, die Welt zu erobern. Zu Anfang verteidigten sich die Römer lediglich, und aus diesen Anstrengungen entstand ihr Weltreich. Die Vereinigten Staaten wollten nicht mehr von den Briten angegriffen und besiegt werden, wie dies im Jahr 1812 geschah. Jede Angst, die überwunden wird, ist jedoch Auslöser für ein neues Gefühl der Verwundbarkeit und neue Angst. Nationen, die von Angst angetrieben werden, befürchten, alles zu verlieren. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden fünf übergreifenden geostrategischen Ziele der Vereinigten Staaten zu verstehen. Beachten Sie, dass jedes dieser Ziele umfassender, ehrgeiziger und schwerer zu erreichen ist als das jeweils vorangegangene.
1. Vollständige Kontrolle über den nordamerikanischen Kontinent durch die eigene Armee Wären die Vereinigten Staaten ein loses Bündnis kleiner Einzelstaaten zwischen der Atlantikküste und den Appalachen geblieben, dann
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hätten sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überlebt. Sie mussten sich nicht nur zusammenschließen, sondern sich auch auf das riesige Territorium zwischen den Appalachen und den Rocky Mountains ausdehnen. Damit erhielt das Land nicht nur die notwendige strategische Tiefe, sondern erschloss sich auch eine der landwirtschaftlich ertragreichsten Regionen der Welt. Außerdem gewann es auf diese Weise ein ausgezeichnetes System von schiffbaren Flüssen, die es ihm erlaubten, die überschüssigen landwirtschaftlichen Erträge auf den Weltmarkt zu bringen. So entstand eine in der Geschichte einmalige Klasse von landwirtschaftlichen Unternehmern. Im sogenannten Louisiana Purchase des Jahrs 1803 erwarben die Vereinigten Staaten ein riesiges Gebiet westlich des Mississippi, mit dem sie ihr damaliges Territorium verdoppelten, doch erst in der Schlacht von New Orleans im Jahr 1814, in der Andrew Jackson die britische Armee zurückschlug, gewannen sie tatsächlich die Kontrolle
KANADA
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Ohio
New Orleans Orlean Pazifischer Ozean
MEXIKO
Golf von Mexiko
tlantischer Atlantischer Ozean
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über die Region, denn New Orleans war das schmale Zugangstor zum gesamten Flusssystem des Mittleren Westens. Wenn in der Schlacht von Yorktown die Nation gegründet wurde, dann wurde in der Schlacht von New Orleans deren Wirtschaft begründet. Gesichert wurde dieser Landgewinn schließlich im Jahr 1836 durch die Schlacht von San Jacinto, einige hundert Kilometer westlich von New Orleans, als die mexikanische Armee geschlagen wurde und so keine Bedrohung mehr für das Mississippi-Delta darstellte. Die mexikanische Niederlage war keineswegs unvermeidlich, denn Mexiko war zu diesem Zeitpunkt in vieler Hinsicht eine höher entwickelte und mächtigere Nation als die Vereinigten Staaten. Doch mit diesem Sieg hatten sich die Vereinigten Staaten die Vormachtstellung auf dem nordamerikanischen Kontinent gesichert und waren so groß und reich geworden, dass sie niemanden mehr zu fürchten hatten.
2. Beseitigung jeder Bedrohung durch andere Mächte der westlichen Hemisphäre Nachdem sich die Vereinigten Staaten den nordamerikanischen Kontinent gesichert hatten, kam die nächste unmittelbare Bedrohung aus Südamerika. In Wirklichkeit sind Nord- und Südamerika voneinander getrennte Inseln: Panama und Zentralamerika sind für größere Armeen nicht passierbar. Auch ist kaum vorstellbar, dass sich die südamerikanischen Länder zu einem großen Staatenverbund zusammenschließen. Wenn wir uns die Karte von Südamerika ansehen und sämtliche nicht passierbaren Regionen auslassen, dann wird deutlich, dass der Kontinent durch Gebirge und Urwälder in zwei Teile geteilt wird, weshalb ihn keine Macht in seiner Gesamtheit einnehmen kann. Aus den Ländern Südamerikas selbst drohte den Vereinigten Staaten also keine Gefahr. Die größte Gefahr stellten die europäischen Mächte mit ihren Flottenstützpunkten in Süd- und Zentralamerika und der Karibik sowie die mexikanischen Landstreitkräfte dar. Genau darum ging es in der Monroe-Doktrin: Lange bevor die Vereinigten Staaten in der Lage
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GUYANA SURINAM FRANZÖSISCH-GUYANA
VENEZUELA KOLUMBIEN ECUADOR
BRASILIEN PERU
BOLIVIEN Südpazifik
PARAGUAY
URUGUAY
ARGENTINIEN
Südatlantik
Südamerika: Räumliche Barrieren
waren, die Europäer an der Einrichtung von Flottenstützpunkten auf dem Kontinent zu hindern, erklärten sie deren Verdrängung zur Maxime. Die Vereinigten Staaten interessieren sich immer nur dann für Lateinamerika, wenn ausländische Mächte dort ihre Stützpunkte errichten.
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3. Vollständige Kontrolle der Küstengewässer durch die eigenen Seestreitkräfte, um jede Möglichkeit einer Invasion auszuschließen Im Jahr 1812 segelten britische Kriegsschiffe die Chesapeake Bay hinauf und zerstörten die neue Hauptstadt Washington. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch lebten die Vereinigten Staaten in der ständigen Furcht, die Briten könnten ihre Vormachtstellung im Nordatlantik verwenden, um eine Seeblockade zu verhängen und das Land von seinen Märkten abzuschneiden. Daher rührt auch der amerikanische Kubawahn, der im Spanisch-Amerikanischen Krieg begann und sich durch den Kalten Krieg bis heute erhalten hat. Nachdem sie sich Ende des 19. Jahrhunderts die Hemisphäre gesichert hatten, ging es den Vereinigten Staaten darum, fremde Mächte von den Schifffahrtswegen zu ihren Häfen fernzuhalten. Zunächst sicherten sie die Seewege im Pazifik. Während des Bürgerkrieges erwarben sie Alaska, und im Jahr 1898 besetzten sie Hawaii. Indem sie mögliche Ankerplätze und Versorgungsstützpunkte in ihren Besitz brachten, verhinderten sie, dass sich eine feindliche Flotte von Westen her dem Kontinent nähern konnte. Während des Zweiten Weltkriegs nutzten die Vereinigten Staaten schließlich die Schwäche der Briten, um diese von der amerikanischen Küste fernzuhalten und sich den Atlantik zu sichern. Bei Kriegsende verfügten sie über eine derart mächtige Flotte, dass die Briten nur noch mit ihrer Zustimmung im Atlantik operieren konnten. Damit hatten sich die Vereinigten Staaten vor jeder Invasion geschützt.
4. Vollständige Beherrschung der Weltmeere zur Sicherung des eigenen Territoriums und zur Kontrolle des internationalen Handelssystems Da die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur über die stärkste Seestreitmacht verfügten, sondern auch über Flottenstützpunkte in aller Welt, konnten sie die Spielregeln ändern. Wie
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bereits erwähnt, ist die US-Marine in der Lage, jedes Schiff, ob militärisch oder zivil, vom Persischen Golf bis zum Südchinesischen Meer zu beobachten, anzuhalten oder zu versenken. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind sämtliche Seestreitkräfte der Welt zusammengenommen unbedeutend im Vergleich mit der Flotte der Vereinigten Staaten. Dies unterstreicht die vielleicht wichtigste geopolitische Tatsache: Die Vereinigten Staaten beherrschen sämtliche Weltmeere. Dies ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte. Auf diese Weise sind sie nicht nur in der Lage, ihre eigene nationale Sicherheit zu garantieren, sondern auch das Welthandelssystem zu kontrollieren. Daher ist die Kontrolle über die Weltmeere heute das wichtigste strategische Ziel der Vereinigten Staaten.
5. Sicherung der weltweiten Seemacht gegen mögliche Konkurrenten Um diese historisch einmalige Position zu halten, besteht die einfachste Lösung darin, andere Nationen am Aufbau einer eigenen Flotte zu hindern. Dazu wandten die Vereinigten Staaten die klassische Strategie von Zuckerbrot und Peitsche an. Zuckerbrot bedeutete, jedem den freien Zugang zu den Schifffahrtswegen zu gewähren, ohne Seestreitkräfte zum Schutz der eigenen Flotte unterhalten zu müssen. Peitsche bedeutet, mögliche Feinde in Konfrontationen im Binnenland zu binden und sie auf diese Weise zu zwingen, ihren Verteidigungshaushalt auf Landstreitkräfte statt auf den Aufbau einer Flotte zu verwenden. Die Interessen und die Strategie der Vereinigten Staaten sind nach dem Kalten Krieg im Grunde dieselben geblieben. Sie wollen nach wie vor verhindern, dass eine eurasische Macht stark genug wird, um eine Flotte aufzubauen. Nachdem die Bedrohung durch eine eurasische Zentralmacht überwunden ist, konzentrieren sich die Vereinigten Staaten auf regionale Hegemonialmächte, die stark genug werden könnten, um ihre Fühler in Richtung Meer auszustrecken. Daher ha-
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ben sie ein System ständig wechselnder Bündnisse geschaffen, mit dem sie den Aufstieg von potenziellen Regionalmächten verhindern wollen. Die Vereinigten Staaten mussten sich darauf einstellen, regelmäßig und in unvorhergesehener Weise in Eurasien aktiv zu werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führten sie verschiedene Operationen durch, die darauf abzielten, das Gleichgewicht in der jeweiligen Region aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass eine regionale Hegemonialmacht entstand. Der erste größere Einsatz fand in Kuwait statt, wo die Vereinigten Staaten den irakischen Ambitionen ein Ende setzten. Der nächste Schauplatz war Jugoslawien, wo die Entstehung einer serbischen Vormachtstellung auf dem Balkan verhindert werden sollte. Der dritte Einsatz galt schließlich der islamischen Welt und zielte darauf ab, al-Qaida (oder wen auch immer) daran zu hindern, ein islamistisches Reich zu errichten. Die Kriege in Afghanistan und im Irak sind als Teil dieses Projekts zu verstehen. Bei aller Aufregung waren sämtliche dieser Einsätze kleinere Angelegenheiten. Im Irak, dem Schauplatz der größten Militäroperation, kamen weniger als 200 000 Soldaten zum Einsatz, und weniger als 5 000 kamen dabei ums Leben. Das sind 6 bis 8 Prozent der Opfer des Vietnamkriegs und ein Prozent der Opfer des Zweiten Weltkriegs. Für ein Land mit mehr als einer Viertel Milliarde Einwohnern ist eine Besatzungstruppe dieser Größenordnung nichts. Die Neigung, kleinere Interventionen überzubewerten, hängt mit der relativen Unreife der Vereinigten Staaten als Nation zusammen. Ein Verständnis der übergreifenden Strategie der Vereinigten Staaten hilft uns, deren Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 und andere Ereignisse einzuordnen. Nachdem sie ihre strategischen Ziele erreicht hatten, ging es ihnen darum, den Aufstieg einer Macht in Eurasien zu verhindern, welche die eigenen Interessen gefährden konnte. Trotz aller politischen Rhetorik ging es bei den Militärinterventionen nie darum, etwas zu erreichen, sondern stets darum, etwas zu verhindern. Es sollte verhindert werden, dass sich Regionen stabilisierten, in denen eine potenzielle Hegemonialmacht aufsteigen
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konnte. Das Ziel war also die Destabilisierung, nicht die Stabilisierung. Dies erklärt die amerikanische Reaktion auf das islamistische Erdbeben: Sie sollte die Entstehung eines starken islamischen Staats unterbinden. Trotz aller Rhetorik haben die Vereinigten Staaten wenig Interesse an Frieden in Eurasien. Genausowenig haben sie ein Interesse an einem militärischen Sieg. Wie in Vietnam und Korea geht es lediglich darum, eine mögliche Hegemonialmacht einzudämmen oder eine Region zu destabilisieren, und nicht darum, Ordnung herzustellen. Selbst eine militärische Niederlage wäre hinnehmbar. Dieses Prinzip, wann immer nötig mit minimalem Einsatz das Machtgleichgewicht in Eurasien zu erhalten, wird die US-Außenpolitik das gesamte 21. Jahrhundert hindurch bestimmen. Es wird noch zahlreiche Einsätze wie die im Kosovo und dem Irak geben. Wenn man davon ausgeht, dass das Ziel in der Stabilisierung einer bestimmten Region besteht, wird die Reaktion der Vereinigten Staaten immer irrational erscheinen. Doch da es in Wirklichkeit darum geht, die Vormachtstellung einer anderen Nation oder Organisation zu verhindern, sind diese Einsätze in Wirklichkeit vollkommen rational. Sie werden immer den Anschein erwecken, keines der bestehenden Probleme zu lösen, und sie werden immer mit unzureichenden Streitkräften durchgeführt werden, die nicht im Stande sind, eine Entscheidung herbeizuführen.
Nachbeben Das internationale System ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Vereinigten Staaten sind heute derart mächtig, dass sie von keinem anderen Land kontrolliert werden können. Das internationale Beziehungsgefüge neigt naturgemäß zum Gleichgewicht. In einer Welt, die aus dem Lot geraten ist, sind kleinere Mächte durch größere, unkontrollierte Mächte gefährdet. Daher neigen sie dazu, Bündnisse einzugehen, um der größeren Macht etwas entgegensetzen zu können. Daher schlossen die Vereinigten Staaten nach der Niederlage im Viet-
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namkrieg ein Bündnis mit China, um die Sowjets kontrollieren zu können, die übermächtig zu werden drohten. Im 21. Jahrhundert wird es schwer werden, Koalitionen zur Eindämmung der Vereinigten Staaten zu bilden. Schwächeren Nationen werden es vorziehen, sich mit ihnen zu arrangieren, statt sich gegen sie zu verbünden – Bündnisse zu schließen und aufrecht zu erhalten, ist eine mühsame Angelegenheit. Und wenn Bündnisse schließlich auseinanderbrechen, wie sie das in der Regel tun, können die Vereinigten Staaten äußerst nachtragend sein. Daher werden die Vereinigten Staaten im kommenden Jahrhundert zwar einerseits gefürchtet und gehasst werden. Andererseits werden sich die meisten Nationen jedoch um ein gutes Verhältnis zu ihnen bemühen. Dieses Ungleichgewicht wird das 21. Jahrhundert genauso beherrschen wie Versuche, die Macht der Vereinigten Staaten einzudämmen. Es wird ein gefährliches Jahrhundert, vor allem für den Rest der Welt. In der Geopolitik gibt es eine entscheidende Größe namens »Fehlertoleranz«. Diese gibt an, wie viel Spielraum eine Nation hat, Irrtümer zu begehen, und hängt von zwei weiteren Größen ab: der Gefahr, in der sich eine Nation befindet und der Macht, die sie besitzt. Einige Nationen haben sehr wenig Spielraum; für sie werfen noch die kleinsten Details ihrer Außenpolitik Probleme auf, da sie wissen, dass selbst ein winziger Fehltritt eine Katastrophe zur Folge haben kann. Aufgrund ihrer Größe und der Region, in der sie sich befinden, haben Israel und die Palästinensergebiete eine minimale Fehlertoleranz. Island dagegen kann sich Fehltritte erlauben; es ist zwar ebenfalls klein, doch der nächste Nachbar ist weit weg. Die Vereinigten Staaten hingegen haben eine gewaltige Fehlertoleranz. Sie sitzen sicher auf dem nordamerikanischen Kontinent und verfügen über gewaltige Macht. Sie können es sich erlauben, diese Macht achtlos einzusetzen. Das heißt nicht, dass sie dumm sind. Sie haben es nur nicht nötig, vorsichtiger zu handeln – im Gegenteil, ein sorgfältigeres Vorgehen könnte ihre Effizienz gefährden. Genau wie Banken bereit sind, schlechte Kredite zu vergeben, weil sie sich langfristige Gewinne erhoffen, handeln die Vereinigten Staaten in einer
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Weise, die anderen Ländern leichtsinnig erscheinen mag. Diese Länder würden vermutlich erheblichen Schaden nehmen, wenn sie so handelten. Die Vereinigten Staaten dagegen haben Erfolg damit. Dies war in Vietnam genauso zu beobachten wie im Irak. In der Geschichte der Vereinigten Staaten sind beide Kriege nichts als kurze Episoden, die langfristig keinerlei Bedeutung haben. Anders für Vietnam und den Irak. Die Vereinigten Staaten sind, wie bereits ausgeführt, eine junge und barbarische Nation. Sie handeln emotional und haben kein Gespür für historische Dimensionen. Dies macht sie sogar noch stärker und gibt dem Land die emotionalen Ressourcen, die nötig sind, um Hindernisse zu überwinden. Die Vereinigten Staaten werden immer überreagieren. Was momentan als kolossale Katastrophe erscheint, motiviert die Amerikaner, Probleme mit Entschiedenheit anzupacken. Eine aufsteigende Macht reagiert immer heftig. Eine reife Macht befindet sich im Gleichgewicht. Eine dekadente Macht hat die Kraft verloren, ihr Gleichgewicht zu halten. Die Vereinigten Staaten sind als sehr junge Nation eine noch sehr viel jüngere Weltmacht. Wie ein Halbstarker neigen sie zu heftigen emotionalen Reaktionen auf Ereignisse, die wenig später schon wieder vergessen sind. Libanon, Panama, Kuwait, Somalia, Haiti, Bosnien und Kosovo schienen im jeweiligen Moment wichtig und sogar entscheidend. Heute erinnert sich kaum jemand an diese Ereignisse, und wenn, dann ist es schwer zu sagen, was die Vereinigten Staaten in diesen Konflikt getrieben hat. Die Emotionen des jeweiligen Augenblicks verpuffen schnell. Die Menschen im Libanon, in Panama, Kuwait, Somalia, Haiti, Bosnien und im Kosovo erinnern sich dagegen sehr gut an ihre Auseinandersetzungen mit der amerikanischen Macht. Was für die Vereinigten Staaten ein schnell vergessenes Ereignis darstellt, ist in der Geschichte ihrer Länder möglicherweise ein entscheidender Wendepunkt. Hier begegnen wir der ersten und entscheidenden Asymmetrie des 21. Jahrhunderts. Die Vereinigten Staaten verfolgen ihre globalen Interessen und werden in einer Vielzahl von Konflikten aktiv. Keine ihrer Interventionen ist entscheidend. Doch für die Nationen, die das amerikanische Interesse erwecken, ist deren Eingreifen eine
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einschneidende Erfahrung. Oft muss diese Nation die amerikanischen Aktionen hilflos über sich ergehen lassen und entwickelt ein Gefühl des Hasses. Dieser Hass wird umso größer, als Amerika unverwundbar und gleichgültig ist. Diese Gleichgültigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber den Folgen ihrer Handlungen sowie der Widerstand gegen und der Hass auf die Vereinigten Staaten im Rest der Welt werden Leitmotive des 21. Jahrhunderts sein.
Zusammenfassung Während der amerikanisch-dschihadistische Krieg seinem Ende entgegen stolpert, verläuft die Front durch die muslimischen Staaten selbst. Sie sind das eigentliche Ziel von al-Qaida, doch was immer westliche Beobachter über den Islam denken mögen, diese Staaten haben kein Interesse daran, die Macht an die islamistischen Terroristen abzutreten. Im Gegenteil, sie werden alle zur Verfügung stehenden Mittel – Sicherheitsdienste, Polizei und Militär – aufbieten, um al-Qaida zu vernichten. Solange al-Qaida verliert, gewinnen die Vereinigten Staaten. Solange die islamische Welt zerrissen bleibt und sich in Aufruhr befindet, haben die Vereinigten Staaten ihr strategisches Ziel erreicht. Wenn sie seit 2001 eines bewirkt haben, dann Chaos und Amerikafeindlichkeit in der islamischen Welt. Vielleicht haben sie auch zur Entstehung neuer terroristischer Vereinigungen beigetragen, die in Zukunft aktiv werden. Doch das Erdbeben in dieser Region hat nicht zur Entstehung einer regionalen Hegemonialmacht geführt. Im Gegenteil, die Region ist heute zerstrittener denn je, und damit hat sich dieses Thema vermutlich erledigt. Das wahrscheinlichste Resultat der Kriege im Irak und Afghanistan ist eine militärische Niederlage der Vereinigten Staaten oder ein Patt, und es wird nach außen hin den Anschein haben, als hätten beide Kriege mit einer amerikanischen Niederlage geendet. Keine Frage, die amerikanische Kriegsführung im Irak war in vieler Hinsicht ungeschickt und stümperhaft. In ihrer extrem vereinfachten Sichtweise der Sachverhalte und ihrem Machtgebrauch ha-
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ben sich die Vereinigten Staaten in der Tat verhalten wie ein Halbstarker. Doch aus strategischer Sicht spielt dies keine Rolle. Solange die Muslime sich gegenseitig bekämpfen, haben die Vereinigten Staaten den Krieg gewonnen. Das heißt nicht, dass in der islamischen Welt nicht früher oder später ein Staat zu einer regionalen Hegemonialmacht aufsteigen und die amerikanischen Interessen bedrohen kann. Historisch gesehen ist die Türkei eine muslimische Macht, die heute erneut im Aufstieg begriffen ist, wie wir in den kommenden Kapiteln sehen werden. Ihr Machtzuwachs ist keine Folge des Zerfalls der Sowjetunion, sondern ist einer neuen Dynamik geschuldet. Zorn schreibt keine Geschichte. Macht dagegen sehr wohl. Macht kann durch Zorn ergänzt werden, doch sie stützt sich auf grundlegendere Faktoren: Geografie, Demografie, Technologie und Kultur. So wie diese vier Faktoren die Macht der Vereinigten Staaten ausmachen, bestimmt die Macht der Vereinigten Staaten das 21. Jahrhundert.
Kapitel 3
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Im Jahr 2002 schrieb Osama bin Laden in seinem »Brief an Amerika«: »Ihr beutet Frauen als Objekte des Konsums und der Werbung aus und bietet sie Kunden zum Kauf feil. Ihr benutzt Frauen, um Reisende, Besucher und Fremde zu bedienen und so euren Gewinn zu mehren. Und dann behauptet ihr, dass ihr die Befreiung der Frau unterstützt.« Dieses Zitat belegt, dass sich al-Qaida als Verteidiger der traditionellen Form der Familie versteht. Das ist keineswegs ein nebensächlicher Bestandteil ihres Programms – im Gegenteil, es ist dessen Kernaussage. Die traditionelle Familie basiert auf einigen klaren Prinzipien. Erstens ist das Haus die Domäne der Frau und die Öffentlichkeit die Domäne des Mannes. Zweitens ist Sexualität auf die Familie und das Zuhause beschränkt, außereheliche und außerfamiliäre Sexualität ist nicht akzeptabel. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, provozieren durch ihre schiere Anwesenheit die außerfamiliäre Sexualität. Drittens besteht die Aufgabe der Frau in erster Linie in der Geburt und der Erziehung der kommenden Generation. Daher müssen der Frau strenge Regeln auferlegt werden, um die Integrität der Familie und der gesamten Gesellschaft zu wahren. Wie der »Brief an Amerika« unterstreicht, dreht sich im islamischen Fundamentalismus interessanterweise alles um die Frau. Bin Laden hasst Amerika, weil es für ein vollständig anderes Frauen- und Familienbild steht. Nicht nur radikale Vertreter des Islam wie Osama bin Laden äußern Auffassungen wie diese. Die meisten Religionen beschäftigen sich mit der Rolle der Frau und der Familie: Traditionelle Katholiken, bibeltreue Protestanten und orthodoxe Juden vertreten ganz ähnliche Positionen. Die religiösen Gruppierungen sind sich allerdings,
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genau wie der Rest der Gesellschaft, in diesen Fragen keineswegs einig. In den Vereinigten Staaten wurde der Begriff »Kulturkampf« geprägt, um diese Auseinandersetzungen um familiäre Werte zu beschreiben. In den meisten Gesellschaften besteht heute ein Konflikt zwischen Traditionalisten und Reformern, die Familie, Frauenbild und Sexualität neu definieren wollen. Dieser Kulturkampf wird sich im 21. Jahrhundert weiter verschärfen, doch letztlich können ihn die Traditionalisten nicht gewinnen. Grund sind die immensen Veränderungen, die unser Leben – insbesondere das Leben der Frauen und damit auch der Familien – im zurückliegenden Jahrhundert erfahren hat. Was in Europa, den Vereinigten Staaten und Japan längst Wirklichkeit ist, breitet sich nun auch auf den Rest der Welt aus. Letztlich wird sich der Wandel der Familie nicht aufhalten lassen. Das soll keine Bewertung dieser Veränderungen darstellen. Dieser Trend ist vielmehr nicht aufzuhalten, weil sich die demografischen Gegebenheiten verändern. Die wichtigste Entwicklung ist dabei der dramatische Rückgang der Geburtenraten in aller Welt. Frauen bekommen Jahr für Jahr weniger Kinder. Das bedeutet einerseits, dass die Bevölkerungsexplosion der letzten beiden Jahrhunderte sich ihrem Ende zuneigt, und andererseits, dass Frauen weniger Lebenszeit auf Geburten und Kindererziehung verwenden, während ihre Lebenserwartung gleichzeitig rasant zunimmt. Wie ich im Folgenden zeigen werde, provoziert dieser scheinbar einfache Sachverhalt die Gründung von Gruppen wie al-Qaida und anderen. Er erklärt auch, warum das Europäische Zeitalter, das auf einer stetigen Bevölkerungsexpansion (durch Eroberungen oder durch Geburten) beruhte, durch das Amerikanische Zeitalter ersetzt wird. Beginnen wir jedoch mit dem Ende der Bevölkerungsexplosion.
Der Bevölkerungsschwund In den letzten Jahrzehnten war die fortschreitende Bevölkerungsexplosion eines der beherrschenden Themen. Unkontrolliertes Bevölke-
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rungswachstum führe zu Ressourcenverknappung und Umweltzerstörung, hieß es. Mehr Menschen bedeuteten automatisch einen erhöhten Konsum von Nahrungsmitteln, Energie und anderen Gütern, was wiederum Erderwärmung und andere ökologische Katastrophen zur Folge habe. Dieses Modell lässt sich jedoch in dieser Form nicht mehr aufrecht erhalten. In den Industrienationen ist bereits ein Wandel zu beobachten. Die Lebenserwartung steigt, und da gleichzeitig die Geburtenraten sinken, stehen immer weniger junge Arbeitnehmer immer mehr Rentnern gegenüber. Europa und Japan müssen sich bereits mit diesem Problem auseinandersetzen, die Vereinigten Staaten folgen in Kürze. Doch die Alterung der Gesellschaft ist lediglich die Spitze des Eisbergs und nur das erste Problem des bevorstehenden Bevölkerungsschwunds. Einige Beobachter gehen davon aus, dass trotz des Bevölkerungsrückgangs in Europa die Weltbevölkerung als Ganze weiter wachsen werde, da die Geburtenraten in den Entwicklungsländern unvermindert hoch blieben. Das Gegenteil ist der Fall: Die Geburtenraten sind in aller Welt im Rückgang begriffen. Die Industrienationen sind lediglich die Vorreiter, doch die Entwicklungsländer folgen auf dem Fuße. Dieser demografische Wandel wird das 21. Jahrhundert prägen. Einige der wichtigsten Industrienationen der Welt, allen voran Russland und Deutschland, werden einen verhältnismäßig hohen Prozentanteil ihrer Bevölkerung verlieren. Europa hat heute 728 Millionen Einwohner. Für das Jahr 2050 erwarten die Vereinten Nationen einen Rückgang auf 557 bis 653 Millionen Einwohner – das ist ein bemerkenswerter Bevölkerungsverlust. Die niedrigere der beiden Zahlen geht von einer Geburtenrate von 1,6 Kindern pro Frau aus, die höhere von 2,1. Da die Geburtenrate in Europa heute bei 1,4 Kindern liegt, gehe ich in der Folge davon aus, dass mit größerer Wahrscheinlichkeit die niedrigere Prognose eintreffen wird. In der Vergangenheit war Bevölkerungsverlust in der Regel gleichbedeutend mit Machtverlust. Dies wird auch auf Europa zutreffen. Für andere Nationen wie etwa die Vereinigten Staaten wird es im kommenden Jahrhundert entscheidend sein, ihre Bevölkerungszah-
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len zu halten oder technologische Mittel zum Ausgleich des Bevölkerungsverlusts zu entwickeln, um auf diese Weise ihre Machtposition zu erhalten. Eine derart weitreichende Behauptung muss natürlich untermauert werden. Deshalb beschäftigen wir uns an dieser Stelle ein wenig näher mit den Zahlen, ehe wir deren Konsequenzen erörtern. Es handelt sich um einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, den wir sehr genau verstehen sollten. Von 1750 bis 1950 wuchs die Weltbevölkerung von einer Milliarde auf drei Milliarden an. Zwischen 1950 und 2000 verdoppelte sie sich von drei auf sechs Milliarden. Die Weltbevölkerung wuchs nicht nur, das Wachstum beschleunigte sich zudem dramatisch. Würde sich diese Entwicklung so fortsetzen, wäre das Resultat eine globale Katastrophe. Doch das Wachstum hat sich nicht weiter beschleunigt, sondern es hat sich im Gegenteil erheblich verlangsamt. Die Vereinten Nationen gehen zwar davon aus, dass die Weltbevölkerung zwischen 2000 und 2050 weiter wachsen wird, doch nur noch um 50 Prozent, womit sich die Wachstumsrate gegenüber dem vergangenen halben Jahrhundert halbiert hätte. Noch interessanter wird die Entwicklung jedoch in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Die Weltbevölkerung wird zwar nach wie vor wachsen, doch nur noch um 10 Prozent. Einige Prognosen, die nicht von den Vereinten Nationen stammen, gehen sogar davon aus, dass die Weltbevölkerung im Jahr 2100 rückläufig sein wird. Am dramatischsten wird die Entwicklung in den Industrienationen ausfallen, die zum Teil erhebliche Bevölkerungsverluste hinnehmen müssen. In Schwellenländern wie Brasilien und Südkorea stabilisieren sich die Bevölkerungszahlen um die Jahrhundertmitte und nehmen um 2100 allmählich ab. In den am wenigsten entwickelten Ländern wie dem Kongo und Bangladesh wird die Bevölkerung bis 2100 weiter wachsen, doch nicht annähernd in dem Maße wie in den vergangenen hundert Jahren. Wie man es dreht und wendet, die Zeit der Bevölkerungsexplosion geht zu Ende. Eine kritische Zahl ist die 2,1. So viele Kinder muss eine Frau zur Welt bringen, damit die Weltbevölkerung stabil bleibt. Liegt die Zahl
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darüber, wächst die Bevölkerung, liegt sie darunter, schrumpft sie. Nach Angaben der Vereinten Nationen lag die Geburtenrate pro Frau im Jahr 1970 bei 4,5. Bis zum Jahr 2000 war diese Zahl im weltweiten Durchschnitt auf 2,7 gesunken. Das ist ein dramatischer Rückgang, der erklärt, warum die Weltbevölkerung zwar weiterhin zunimmt, aber langsamer als zuvor. In den 44 am weitesten entwickelten Nationen der Welt stellt sich die Situation etwas anders dar. Diese Nationen haben heute eine durchschnittliche Geburtenrate von 1,6; das heißt, dort gehen die Bevölkerungszahlen schon jetzt zurück. In den Schwellenländern liegt sie bei 2,9 Tendenz weiter fallend. Selbst in den am wenigsten entwickelten Ländern ist sie von 6,6 auf 5,0 gefallen und wird im Jahr 2050 bei schätzungsweise 3,0 liegen. Es besteht kein Zweifel, dass die Geburtenraten sinken. Es fragt sich nur, warum. Doch die Antwort ist bereits in den Ursachen der Bevölkerungsexplosion angelegt – in gewisser Hinsicht hat sich das Bevölkerungswachstum selbst gestoppt. Die rasante Bevölkerungsentwicklung der letzten beiden Jahrhunderte hatte zwei Ursachen: erstens den Rückgang der Kindersterblichkeit und zweitens den Anstieg der Lebenserwartung. Beide sind das Resultat medizinischer Fortschritte, einer besseren Nahrungsmittelversorgung und einer staatlichen Gesundheitspolitik, die Ende des 18. Jahrhunderts allmählich eingeführt wurde. Für das Jahr 1800 liegen keine verlässlichen Statistiken vor, doch Schätzungen gehen von einer Geburtenrate zwischen 6,5 und 8,0 aus. Damit brachten Frauen in Europa damals so viele Kinder zur Welt wie Frauen in Bangladesh heute, doch die Bevölkerungszahlen blieben weitgehend konstant. Die meisten Kinder, die im Jahr 1800 zur Welt kamen, lebten nicht lange genug, um ins reproduktionsfähige Alter zu kommen. Von acht Kindern starben sechs schon vor Erreichen der Pubertät. Medizinische Versorgung, ausreichende Nahrungsmittel und zunehmende Hygiene sorgten für einen dramatischen Rückgang der Kindersterblichkeit, was zur Folge hatte, dass im Jahr 1900 die meisten Menschen alt genug wurden, um selbst Kinder zu bekommen. Doch obwohl die Kindersterblichkeit abnahm, blieb das Reproduk-
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tionsverhalten unverändert: Eltern bekamen genauso viele Kinder wie zuvor. Der Grund ist nicht schwer zu erraten. Menschen lieben Sex, und ohne Verhütungsmittel führt Sex zur Geburt von Kindern. Doch die Eltern hatten nichts dagegen, viele Kinder zu bekommen, denn Kinder waren die Grundlage des Wohlstands. In einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft bedeuten mehr Kinder mehr Arbeitskräfte und damit mehr Wohlstand. Kinder sicherten die Altersversorgung, wenn die Eltern denn so alt wurden. Es gab keine Sozialversicherungen, doch die Eltern konnten sich darauf verlassen, dass ihre Kinder sich im Alter um sie kümmern würden. Das gründete zum einen auf den vorherrschenden Gepflogenheiten, zum anderen auf rationalem wirtschaftlichen Denken. Der Vater war Besitzer oder Pächter des Ackerlands, und da die Kinder auf dieses Land angewiesen waren, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, konnte der Vater die Bedingungen diktieren. Da Kinder Wohlstand und Alterssicherung bedeuteten, waren die Frauen dafür verantwortlich, so viel Nachwuchs wie möglich zu bekommen. Wenn Frauen Kinder bekamen und Mutter und Kind die Geburt überlebten, dann war das ein Gewinn für die ganze Familie. Es war Glück im Spiel, doch aus Sicht der Familie und der männlichen Familienoberhäupter war es das Risiko wert. Da es Lust und Wohlstand bedeutete, gab es keinen Grund, nicht mehr Kinder in die Welt zu setzen. Gewohnheiten halten sich hartnäckig. Als die Familien in die Städte zogen, blieben Kinder nach wie vor ein wertvolles Gut. Sobald sie sechs Jahre alt waren, konnten die Eltern sie zur Arbeit in die Fabriken schicken und den Lohn kassieren. Zu Beginn der Industriellen Revolution mussten Fabrikarbeiter ebenso wenige Fähigkeiten mitbringen wie Erntehelfer. Doch je komplexer die Produktion wurde, desto weniger konnten Fabriken mit Sechsjährigen anfangen. Schon bald benötigten sie qualifizierte Arbeitskräfte und später Manager mit einem Studium in Betriebswirtschaft. Je komplexer die Arbeit in den Fabriken wurde, umso geringer war der ökonomische Nutzen der Kinder. Um wirtschaftlich aktiv werden
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zu können, mussten die Kinder nun zur Schule gehen. Statt zum Familieneinkommen beizutragen, waren sie plötzlich ein Kostenfaktor. Sie benötigten Kleidung, Essen und Unterbringung. Im Laufe der Zeit nahm die Ausbildungsdauer immer weiter zu: Heute studieren viele »Kinder«, bis sie Mitte 20 sind, ohne bis dahin auch nur einen Pfennig verdient zu haben. Nach Angaben der Vereinten Nationen beträgt die Ausbildungsdauer in den 25 reichsten Ländern der Welt heute im Durchschnitt zwischen 15 und 17 Jahren. In den Industrienationen hielt sich die Neigung, so viele Kinder wie möglich zu bekommen, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Viele unserer Groß- und Urgroßeltern stammen noch aus Familien mit zehn Kindern. Zwei Generationen zuvor hätten davon vermutlich bestenfalls drei das Erwachsenenalter erreicht, jetzt überlebten plötzlich alle, konnten als Jugendliche das Haus verlassen und sich auf Arbeitssuche machen. Im Europa des 18. Jahrhunderts waren zehn Kinder ein Geschenk Gottes. Im Europa des späten 19. Jahrhunderts waren zehn Kinder eine Bürde. Und im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts waren zehn Kinder eine Katastrophe. Es dauerte eine Weile, ehe sich diese Erkenntnis durchsetzte, doch allmählich erkannten die Menschen, dass ihre Kinder überleben würden und dass ihre Erziehung extrem kostspielig war. Also zeugten Eltern immer weniger Kinder, und sie bekamen sie nicht aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen, sondern aufgrund eines persönlichen Kinderwunsches. Dies wurde zwar unter anderem auch durch medizinische Fortschritte wie die Geburtenkontrolle möglich, doch es waren vor allem die Kosten der Kindererziehung, die für den Rückgang der Geburtenzahlen verantwortlich waren. Kinder brachten keinen Wohlstand mehr, sie waren vielmehr selbst eine Art Luxusgut. Eltern befriedigten ihren Kinderwunsch nicht mehr mit zehn Kindern, sondern mit einem. Sehen wir uns nun die Entwicklung der Lebenserwartung an. Je länger die Menschen leben, desto mehr Menschen gibt es zu einem beliebigen Zeitpunkt. Die Lebenserwartung stieg gleichzeitig mit dem Rückgang der Kindersterblichkeit. Im Jahr 1800 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten und in Europa bei
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geschätzten vierzig Jahren. Im Jahr 2000 betrug sie beinahe achtzig Jahre. Das heißt, dass sich die Lebenserwartung im Laufe der vergangenen beiden Jahrhunderte verdoppelt hat. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird vermutlich weiter zunehmen, wenngleich sich gewiss nicht abermals verdoppeln. Die Vereinten Nationen erwarten vielmehr, dass die Lebenserwartung in den führenden Industrienationen von 76 Jahren im Jahr 2000 auf 82 Jahre im Jahr 2050 steigt und in den ärmsten Ländern von 51 auf 66 Jahre. Auch diese vergleichsweise geringe Zunahme der Lebenserwartung trägt zu einer Verlangsamung des Bevölkerungswachstums bei. In den Industrienationen begann diese Entwicklung bereits vor Jahrzehnten, doch inzwischen hat sie auch die ärmsten Länder erreicht. Heute sind selbst im brasilianischen São Paolo zehn Kinder wirtschaftlicher Selbstmord. Auch wenn noch einige Generationen erforderlich sind, um die hartnäckigen Vorstellungen vom Kinderreichtum loszuwerden – irgendwann sind sie überwunden. Und sie werden nicht wiederkehren, solange die Kindererziehung immer teurer wird und immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Der Rückgang der Geburtenraten und der verlangsamte Anstieg der Lebenserwartung läuten das Ende des Bevölkerungswachstums ein.
Bevölkerungsrückgang und Lebenszyklus Dieser absehbare Bevölkerungsrückgang hat Auswirkungen auf den Lebenszyklus der Menschen und damit zugleich auch auf das Verhalten der jeweiligen Länder. Beginnen wir mit drei entscheidenden Fakten. In den Industrienationen liegt die durchschnittliche Lebenserwartung heute bei achtzig Jahren, die Geburtenrate sinkt, und die Ausbildung nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Hier gilt heute ein Studium als Voraussetzung für gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg. Studierende erhalten ihren Bachelorabschluss in der Regel im Alter von 22 Jahren. Setzen sie ihr Studium fort und studieren danach Jura oder Medizin, treten sie mit Mitte oder Ende zwanzig ins Arbeitsleben ein. Ein beträchtli-
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cher Teil der Bevölkerung schlägt diesen Ausbildungsweg ein, darunter die politische und wirtschaftliche Elite. Die Folge ist eine dramatische Veränderung im Heiratsverhalten. Paare verheiraten sich heute immer später und schieben die Geburt des ersten Kindes immer weiter auf. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die gesellschaftliche Rolle der Frau. Vor 200 Jahren bekamen die Frauen ihr erstes Kind im Jugendlichenalter – und dann eines nach dem anderen. Sie zogen einige Kinder groß und begruben andere, bis sie selbst starben. Das war die Voraussetzung für den Wohlstand der Familie und der Gesellschaft. Das Leben einer Frau bestand vor allem darin, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Dieses Muster ändert sich im 21. Jahrhundert. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Frau achtzig Jahre alt wird, mit dreizehn in die Pubertät und mit fünfzig in die Menopause kommt, dann lebt sie heute nicht nur doppelt so lange wie ihre Vorfahren, sondern ist auch mehr als die Hälfte ihres Lebens nicht reproduktionsfähig. Nehmen wir an, eine Frau bekommt zwei Kinder. Damit verbringt sie achtzehn Monate oder 2 Prozent ihres gesamten Lebens mit der Schwangerschaft. Nehmen wir weiter an, dass sie diese Kinder im Abstand von drei Jahren bekommt, wie es in vielen Familien üblich ist, dass die Kinder im Alter von fünf Jahren eingeschult werden und dass sie mit der Einschulung des ältesten Kindes ins Berufsleben zurückkehrt. Das würde bedeuten, dass Schwangerschaft und ganztägige Kindererziehung acht Jahre ihres Lebens einnehmen – das sind bei einer Lebenserwartung von achtzig Jahren gerade einmal zehn Prozent ihres Lebens. Damit ist die Kindererziehung nicht mehr die Hauptbeschäftigung einer Frau, sondern nur noch eine von vielen. Wenn wir weiter bedenken, dass viele Frauen nur noch ein Kind bekommen und dies lange vor der Einschulung in Kindertagesstätten und Vorschulen geben, wird deutlich, dass sich das Leben der Frauen von Grund auf verändert hat. Hier liegen die demografischen Wurzeln des Feminismus. Da Frauen immer weniger Zeit mit Schwangerschaft und Kindererziehung verbringen, sind sie heute weit weniger von Männern abhängig als noch vor fünfzig Jahren. In der Vergangenheit hätte es für eine Frau eine
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wirtschaftliche Katastrophe bedeutet, allein ein Kind erziehen zu müssen. Das ist heute anders, vor allem für qualifizierte Frauen. Die Ehe ist keine wirtschaftliche Notwendigkeit mehr. Das heißt auch, dass Ehen heute nicht mehr durch wirtschaftliche Notwendigkeit zusammengehalten werden, sondern durch Liebe. Doch die Liebe ist launisch. Wenn Menschen ihre Partnerschaft aus rein emotionalen Gründen eingehen, nimmt die Scheidungsrate automatisch zu. Mit dem Wegfall der ökonomischen Motivation fehlt ein wichtiges stabilisierendes Element in der Ehe. Die Liebe kann zwar durchaus von Dauer sein, doch für sich genommen ist sie ein weitaus schwächeres Bindemittel als im Zusammenspiel mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit. Früher hielten Ehen »bis dass der Tod uns scheide«. In der Vergangenheit kam der Tod früh und häufig. In einer Übergangsphase, in der viele Paare zehn und mehr Kinder hatten, feierten viele ihre goldene Hochzeit. Davor endeten die meisten Ehen mit dem frühzeitigen Tod eines der beiden; der überlebende Partner heiratete erneut, um den wirtschaftlichen Ruin abzuwenden. Diese serielle Polygamie war in Europa gang und gäbe, die Witwer (es waren zumeist Männer, da die Frauen oftmals im Kindbett starben) heirateten im Laufe ihres Lebens mehrmals. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Lebenserwartung schon gestiegen war, sorgte die Tradition dafür, dass die Ehen außergewöhnlich lang hielten. Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts kehrte die serielle Polygamie zurück, diesmal bedingt durch Scheidung, nicht durch den Tod. Ein weiteres Muster ist auffällig. Während früher mindestens einer der Partner, wenn nicht beide, bei der Hochzeit fünfzehn Jahre alt oder jünger waren, heiraten die meisten Menschen heute mit Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Früher waren Männer und Frauen vor der Ehe im Alter von fünfzehn Jahren kaum sexuell aktiv, doch heute wäre es mehr als unrealistisch zu erwarten, dass die Partner sexuell enthaltsam bleiben, bis sie im Alter von dreißig Jahren vor den Traualtar treten. Das heißt, dass es heute eine neue Lebensphase gibt, in der Menschen sexuell aktiv sind, während sie noch in finanzieller Abhängig-
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keit von ihren Eltern leben. In einer weiteren neuen Lebensphase sind sie finanziell unabhängig und sexuell aktiv, ohne jedoch Kinder bekommen zu wollen. Der traditionelle Lebenslauf hat ausgedient, ohne dass es bislang klare Alternativmuster gäbe. Früher ging das Zusammenleben eines Paares mit einer förmlichen Eheschließung einher, doch beides ist heute vollständig entkoppelt. Selbst Reproduktion ist heute weder an eheliche noch an nicht-eheliche Partnerschaft gebunden. Gestiegene Lebenserwartung, gesunkene Geburtenraten und längere Ausbildungszeiten haben zu einer Auflösung der traditionellen biographischen und gesellschaftlichen Muster geführt. Diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar. Frauen haben weniger Kinder, da der Unterhalt einer großen Familie in einer industrialisierten und urbanen Gesellschaft wirtschaftlicher Selbstmord wäre. Weder wird die Kindererziehung billiger werden noch werden sich Möglichkeiten ergeben, Sechsjährige zur Arbeit zu schicken. Auch die Kindersterblichkeit wird nicht wieder steigen. Das heißt, im 21. Jahrhundert wird sich der bestehende Trend zu weniger Kindern weiter fortsetzen.
Politik und gesellschaftlicher Wandel In den gebildeteren Schichten der Bevölkerung haben sich die Lebensmuster am stärksten verändert. Die ärmsten leben dagegen seit Beginn der Industriellen Revolution in einer Welt der dysfunktionalen Familien, für sie waren chaotische Reproduktionsmuster immer die Regel. Die breite Bevölkerungsmehrheit zwischen der gebildeten Oberschicht und der Unterschicht hat die demografischen Veränderungen dagegen nur zum Teil nachvollzogen. Bei den Arbeitern und einfachen Angestellten haben sich andere Entwicklungen bemerkbar gemacht, unter anderem eine relative Verkürzung der Ausbildungszeiten. Daher folgen in dieser Schicht Pubertät und Reproduktion nach wie vor dichter aufeinander. Angehörige dieser Schicht gründen ihre Familie früher, und aufgrund der stärkeren wirtschaftlichen Abhängigkeit kann eine Scheidung gravierendere
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Folgen haben. Hier werden Ehen nach wie vor auch durch nicht-emotionale Erwägungen zusammengehalten, Scheidung sowie vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr haben in der Wahrnehmung der Beteiligten schwerwiegendere Folgen. In dieser Mittelschicht sind auch viele Wertkonservative zuhause – eine kleine, aber mächtige Gruppe. Mächtig ist diese Gruppe deshalb, weil sie traditionelle Werte vertritt. Das Chaos der gebildeten Schichten lässt sich bislang kaum als Wertesystem bezeichnen – es könnte noch ein ganzes Jahrhundert vergehen, ehe sich ihr Lebensstil zu einem moralischen System verfestigt. Aus diesem Grund haben Wertkonservative einen Vorteil, da sie von der Warte einer anerkannten Tradition aus sprechen. Doch, wie wir gesehen haben, verschwinden die althergebrachten Unterschiede zwischen Männern und Frauen über kurz oder lang. Da Frauen heute länger leben und weniger Kinder bekommen, werden sie nicht mehr durch die Umstände in Rollen gezwungen, die sie vor der Zeit der Urbanisierung und Industrialisierung einnehmen mussten. Die Familie ist nicht mehr die zentrale Wirtschaftsgemeinschaft, die sie früher war. Scheidung stellt keine finanzielle Katastrophe mehr dar, und vorehelicher Sex ist unvermeidlich. Gleichgeschlechtliche und kinderlose Beziehungen werden zu einer vertretbaren Alternative. Wenn Gefühl die Grundlage einer Eheschließung ist, warum sollte dann eine Schwulenehe weniger akzeptabel sein als eine Ehe zwischen Heterosexuellen? Sobald die Partnerschaft von der Reproduktion entkoppelt wird, ist die Schwulenehe eine logische Konsequenz. Dies sind lediglich die notwendigen Konsequenzen der radikalen Veränderungen unserer Lebensumstände, die mit dem Ende der Bevölkerungsexplosion einhergehen. Es ist daher kein Zufall, dass konservative Christen, Juden, Muslime und Angehörige anderer Religionen eine Rückkehr zu althergebrachten Formen der Reproduktion fordern. Viele treten für die Großfamilie ein. Wenn das Ziel einer Familiengründung darin besteht, möglichst viele Kinder zu bekommen, erscheinen traditionelle Frauenrollen, frühe Heirat, sexuelle Enthaltsamkeit und die Unantastbarkeit der Ehe durchaus als sinnvoll.
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Dieser Konflikt entsteht jedoch nicht nur in den wohlhabenden Industrienationen. Einer der Eckpfeiler des Anti-Amerikanismus ist beispielsweise das Argument, die amerikanische Gesellschaft fördere den moralischen Verfall, sie belohne das unzüchtige Verhalten von Frauen und zerstöre die Familie. Dies ist ein durchgängiges Thema in den Ansprachen von Osama bin Laden. Er behauptet, die Welt wende sich von den Verhaltensweisen ab, die traditionell als moralisch galten, und er setzt es sich zum Ziel, diesen Prozess aufzuhalten. Die Familie ist weltweit zum Streitfall geworden. In den Industrienationen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, ist sie ein politisches Minenfeld. Auf der einen Seite stehen politische Gruppierungen mit überwiegend religiösem Hintergrund. Auf der anderen Seite stehen weniger politische Kräfte als vielmehr ein überwältigendes Verhaltensmuster, das sich aus der demografischen Situation ergibt und politischen Folgen und Parolen gegenüber gleichgültig ist. Natürlich gibt es auch auf dieser Seite politische Gruppierungen wie etwa die Schwulenbewegung, doch die gesellschaftlichen Umwälzungen verlaufen ungeplant.
Der Computer und die amerikanische Kultur Zu Beginn des Amerikanischen Zeitalters haben die Vereinigten Staaten großes Interesse daran, traditionelle Gesellschaftsmuster aufzubrechen. Dies erzeugt den Grad an Instabilität, der ihnen den größtmöglichen Spielraum verschafft. Die amerikanische Kultur ist eine widersprüchliche Mischung aus Bibel und Computer, aus traditionellen Werten und radikaler Erneuerung. Neben der Demografie ist es vor allem der Computer, der die amerikanische Kultur verändert und die eigentliche Grundlage der amerikanischen Vormachtstellung verkörpert. Dies wird im kommenden Jahrhundert außerordentlich wichtig werden. Der Computer stellt eine radikale Abkehr von früheren Technologien und eine neue Auffassung der menschlichen Vernunft dar. Sein Zweck besteht in der Verarbeitung quantitativer Daten, sprich: Zah-
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len. Eine Maschine, deren einziger Sinn in der Verarbeitung von Zahlen besteht, ist eine einmalige technologische Entwicklung. Und da diese Maschine jegliche Information – Musik, Bilder und das geschriebene Wort – in Zahlen verwandelt, handelt es sich zugleich um eine einmalige Auffassung der menschlichen Vernunft. Der Computer basiert auf der binären Logik. Das heißt, er registriert elektrische Ladungen, die entweder positiv oder negativ sind, und behandelt sie als 0 und 1. Dinge, die wir für ganz einfach halten, stellt er mit Hilfe langer binärer Zahlenketten dar. So wird beispielsweise der Großbuchstabe »A« durch die Zahlenfolge 0000001 repräsentiert und das kleine »a« durch die Zahlenfolge 0100001. Diese Zahlenstrings werden von Programmen verarbeitet, die wiederum in Computersprachen wie Basic, C++ oder Java geschrieben sind. Vereinfacht gesagt, übersetzt der Computer alles in Zahlen, von einem Buchstaben auf dem Bildschirm bis hin zu einer Sinfonie. Alles wird auf Nullen und Einsen reduziert. Zur Arbeit mit Computern wurden diverse künstliche Sprachen erfunden, deren Zweck nur darin besteht, die Daten zu verarbeiten, mit denen der Computer gefüttert wird. Der Computer kann nur mit Dingen umgehen, die sich in der Form von Nullen und Einsen ausdrücken lassen. Er kann Musik abspielen, aber er kann sie weder komponieren (zumindest nicht sonderlich gut) noch ihre Schönheit erklären. Er kann Gedichte abspeichern, doch er kann sie nicht interpretieren. Er ermöglicht es Ihnen, jedes jemals veröffentlichte Buch zu durchsuchen, doch er ist nicht imstande, zwischen einem grammatikalisch richtigen und einem grammatikalisch falschen Satz zu unterscheiden. Was er macht, das macht er ausgezeichnet, doch er schließt eine Vielzahl von Dingen aus, zu denen der menschliche Verstand fähig ist. Er ist nicht mehr als ein Werkzeug. Er ist sogar ein mächtiges und verführerisches Werkzeug. Doch er funktioniert unter Verwendung einer Logik, die weitergehende, komplexere Funktionen des menschlichen Verstandes ausschließt. Er verbannt gnadenlos alles, was sich nicht in Form von Zahlen darstellen lässt. Auf diese Weise macht er viele Menschen glauben, dass diese anderen Aspekte des menschlichen Verstandes entweder gar nicht
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existieren oder irrelevant sind. Für den Computer ist der Verstand nichts als ein Instrument, andere Funktionen wie etwa das Nachdenken lässt er nicht zu. Das ist eine dramatische Einschränkung dessen, was wir unter dem menschlichen Verstand verstehen. Innerhalb dieses reduzierten Rahmens vollbringt der Computer erstaunliche Leistungen. Wer je eine Programmiersprache gelernt hat, weiß, wie logisch streng und künstlich diese sind. Mit natürlichen Sprachen haben sie rein gar nichts zu tun, sie sind vielmehr eher so etwas wie ihr Gegenteil. Natürliche Sprachen leben von ihren Andeutungen, Nuancen und komplexen Bedeutungsebenen, die sich nur im Kontext und durch die aktive Interpretation des Zuhörers erschließen. Eine Computersprache muss dagegen vollkommen eindeutig sein, da die binäre Logik nicht in der Lage ist, Mehrdeutigkeiten zu verarbeiten. Der Computer ist ein typisches Produkt der amerikanischen Kultur. Deren Denkweise kommt in Aussagen wie der folgenden von Charles Peirce, dem Begründer des Pragmatismus, zum Ausdruck: »Überlege, welche denkbaren Wirkungen, die denkbarerweise auch praktische Auswirkungen haben können, der Gegenstand unseres Begriffes hat. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.« Mit anderen Worten liegt die Bedeutung eines Gedankens allein in seiner praktischen Konsequenz. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass ein Gedanke ohne praktische Konsequenz keine Bedeutung hat. Damit ist jede Form der zweckfreien Erkenntnis von vornherein ausgeschlossen. Der amerikanische Pragmatismus war ein Angriff auf die europäische Metaphysik, die sich aus Sicht der amerikanischen Philosophen als unpraktisch erwiesen hatte. Die amerikanische Kultur ist besessen von der Idee des Praktischen und verachtet jede Metaphysik. Der Computer und die Programmiersprachen sind die perfekte Verkörperung der pragmatischen Auffassung des menschlichen Verstandes. Jede Programmzeile hat ganz konkrete praktische Auswirkungen. Funktionalität ist der einzige Maßstab. Die Vorstellung, dass eine Programmzeile für ihre Schönheit geschrieben werden könnte, ist absurd. Der Pragmatismus, der in Programmiersprachen wie C++ zum
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Ausdruck kommt, ist eine radikale Reduktion der menschlichen Vernunft. Vernunft ist heute nur noch das, was sich an seinen praktischen Auswirkungen messen lässt. Was keine praktischen Auswirkungen hat, gehört nicht in die Sphäre der Vernunft, sondern in eine untergeordnete Region. Der Umgang mit dem Wahren und Schönen fällt der amerikanischen Kultur daher sehr schwer. Ihr geht es vielmehr darum, Dinge zu erledigen, ohne deren Ursachen und Bedeutungen zu hinterfragen. Genau aus diesem Grund ist die amerikanische Kultur so dynamisch. Sie wird oft bezichtigt, das Praktische und das Machbare über jede andere Wahrheit zu stellen. Diese Anschuldigung stimmt, doch sie übersieht, welche Macht hinter dieser Reduktion steckt. Nur im Praktischen wird Geschichte gemacht. Die Essenz der amerikanischen Kultur besteht nicht nur in der Philosophie des Pragmatismus, sondern im Computer als der praktischen Verkörperung dieser Philosophie. Nichts repräsentiert die amerikanische Kultur besser als der Computer, und nichts hat die Welt schneller und gründlicher verändert. Mehr als das Auto oder Coca-Cola verkörpert der Computer die amerikanische Vorstellung von Vernunft und Wirklichkeit. Die Kultur des Computers ist definitionsgemäß barbarisch. Die Essenz des Barbarischen ist die Reduzierung der Kultur auf eine einfache Kraft, die weder Umwege noch Konkurrenten zulässt. In seiner ganzen Anlage, Arbeitsweise und Entwicklung ist der Computer eine starke, reduktionistische Kraft. Er verkörpert nicht das zweckfreie Denken, sondern einen Verstand, der sich auf einfachste Ausdrucksformen reduziert und sich durch praktische Leistungen legitimiert. Pragmatismus, Computer und Microsoft (oder jedes andere amerikanische Unternehmen) sind hochgradig fokussiert, ausschließlich instrumentell und außerordentlich effektiv. So zersplittert die amerikanische Kultur sich darstellen mag, in ihrem Herzen etabliert sich heute die Barbarei des Computers und dessen ultimativen Nutzers, des Konzerns. Der Konzern ist ursprünglch eine europäische Erfindung, doch in seiner Übertragung auf die Vereinigten Staaten wird er zu einer Lebensart. Die Konzerne sind von der Zersplitterung genauso be-
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troffen wie der Rest der amerikanischen Kultur. Doch in ihrer Vielfalt bringen sie dieselbe Selbstgewissheit zum Ausdruck wie jede andere amerikanische Ideologie.
Zusammenfassung Die Vereinigten Staaten werden soziokulturell imitiert und politisch kritisiert. Sie befinden sich auf einer ideologischen Bruchstelle des internationalen Systems. In einer Zeit, in der die Bevölkerungszahlen aufgrund veränderter Reproduktionsmuster zurückgehen, entwickeln sich ausgehend von den Vereinigten Staaten radikal veränderte Lebensformen. Ohne Computer und Konzerne ist eine moderne Wirtschaft undenkbar, und zur Programmierung der Computer sind Englischkenntnisse erforderlich. Wer sich dieser Tendenz widersetzt, muss das amerikanische Denk- und Lebensmodell aktiv vermeiden. Doch damit ist eine moderne Wirtschaft von vornherein ausgeschlossen. Deshalb sind die Vereinigten Staaten so stark und deshalb frustrieren sie ihre Kritiker so beständig. Der Bevölkerungsrückgang verändert Familienstruktur und Alltagsleben. Computer vereinfachen und fokussieren unser Denken. Konzerne organisieren unsere Arbeit ständig neu. Diese drei Faktoren bedeuten eine Veränderung in unserem Lieben, Denken und Leben und bewirken eine Zunahme der amerikanischen Macht. Traditionelle Lebensformen sind verschwunden, ohne dass bisher neue an ihre Stelle getreten wären. Im 21. Jahrhundert werden eine Reihe neuer Institutionen, Wertesysteme und Praktiken im Ansatz sichtbar werden. Die erste Hälfte des Jahrhunderts wird von heftigen gesellschaftlichen Konflikten gekennzeichnet sein. Diese sind der Hintergrund der internationalen Auseinandersetzungen im 21. Jahrhundert.
Kapitel 4
Die neuen Gräben
Wo wird das nächste geopolitische Erdbeben eintreten und wie wird es aussehen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die Gräben des 21. Jahrhunderts ansehen. Wie in der Geologie gibt es zahlreiche Bruchstellen, an denen zwei tektonische Platten aufeinander treffen. Ohne den Vergleich zu weit treiben zu wollen, müssen wir besonders aktive tektonische Gräben ausfindig machen, an denen die Reibung so groß werden kann, dass es zum Ausbruch kommt. Was werden also im kommenden Jahrhundert die Brennpunkte sein? Fünf Weltregionen lassen sich als mögliche Krisenherde identifizieren. Die erste ist der alles entscheidende Pazifikraum. Die Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten kontrollieren den Pazifischen Ozean. Auf der asiatischen Seite befinden sich fast ausschließlich Handelsnationen, die auf den freien Zugang zu ihren Schifffahrtsrouten angewiesen und daher von den Vereinigten Staaten abhängig sind. Allerdings sind zwei dieser Nationen – Japan und China – wichtige Mächte, die durchaus in der Lage sein könnten, die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten in Frage zu stellen. Zweitens müssen wir uns die Zukunft Eurasiens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ansehen. Seit 1991 ist die Region zersplittert und geschwächt. Russland, der Nachfolgestaat der Sowjetunion, lässt diese Phase momentan hinter sich und entwickelt ein gestärktes Selbstbewusstsein. Doch Russland befindet sich in einer geopolitisch problematischen Lage. Wenn es ihm nicht gelingt, eine erweiterte Einflusssphäre zu schaffen, läuft es Gefahr, weiter zu zerfallen. Andererseits könnte es bei der Schaffung dieser Einflusssphäre zu einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten und Europa kommen.
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Drittens ist die zukünftige Gestalt Europas nach wie vor ungeklärt. Fünf Jahrhunderte lang war der Kontinent Schauplatz blutiger Kriege. In den letzten sechzig Jahren war die eine Hälfte besetzt, während die andere versuchte, einen Staatenbund zu schaffen, der künftige Kriege unmöglich machen sollte. Europa muss möglicherweise mit einem wieder erstarkten Russland, den Einmischungen der Vereinigten Staaten oder inneren Konflikten leben. Ein vierter Brennpunkt ist die islamische Welt. Sorgen bereitet weniger die Instabilität als vielmehr der mögliche Aufstieg eines Staates, der ein ideologieübergreifendes Bündnis schaffen könnte. In der Vergangenheit war die Türkei die erfolgreichste Macht der islamischen Welt. Heute ist sie ein dynamischer Staat auf dem Weg in die Moderne. Wie sieht ihre Zukunft aus, und wie entwickeln sich die übrigen islamischen Nationen? Fünftens stellt sich schließlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Unter normalen Umständen würde es sich kaum um einen globalen Brennpunkt handeln, doch als Nachbar der Vereinigten Staaten auf dem nordamerikanischen Kontinent kommt Mexiko eine größere Bedeutung zu. Als ein Land, das heute auf Rang 15 der größten Volkswirtschaften der Welt rangiert, sollte es auch unabhängig davon nicht unterschätzt werden. Aus historischen Gründen hegt Mexiko tiefe Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten, und im Laufe des kommenden Jahrhunderts könnte es zu gesellschaftlichen Entwicklungen kommen, die sich der Kontrolle beider Nationen entziehen. Um die zukünftigen Brennpunkte beschreiben zu können, müssen wir zunächst analysieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welcher Reihenfolge jede dieser Verwerfungen zum Konflikt führt. Die Tatsache, dass an einer bestimmten Stelle Reibungen auftreten, bedeutet noch nicht, dass es zu einem Erdbeben kommen muss. Geopolitische Gräben wie die eben beschriebenen können über Jahrtausende hinweg existieren und nur gelegentlich zu leichten Erschütterungen führen. Doch angesichts dieser Vielzahl von großen Verwerfungen ist es mehr als wahrscheinlich, dass es im 21. Jahrhundert zu gravierenden Konflikten kommt.
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Der Pazifikraum Der westliche Rand des Pazifik war im letzten halben Jahrhundert die am schnellsten wachsende Wirtschaftsregion des Planeten. Hier befinden sich mit Japan und China zwei der weltgrößten Volkswirtschaften. Wie zahlreiche andere ostasiatische Nationen sind diese beiden stark vom Seehandel abhängig, sie exportieren Güter in die Vereinigten Staaten und nach Europa und importieren Rohstoffe vom Persischen Golf und dem übrigen Pazifikraum. Jede Störung des Handels würde ihnen großen Schaden zufügen. Betrachten wir zunächst Japan, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und die einzige bedeutende Industrienation, die nicht über eigene Rohstoffvorkommen verfügt. Japan muss sämtliche Rohstoffe von Öl bis Bauxit (für die Aluminiumherstellung) importieren. Ohne diese Importe würde die Produktion innerhalb weniger Monate vollständig zusammenbrechen. Wie wichtig diese Importe sind, lässt sich daran bemessen, dass Japan im Jahr 1941 Pearl Harbor überfiel, weil die Vereinigten Staaten den Zugang des Inselstaats zu Rohstoffen behindert hatten. Im Lauf der letzten Generation stieg auch China zu einer bedeutenden Industrienation auf. Die chinesische Wirtschaft expandiert schneller als jede andere, auch wenn sie noch immer erheblich kleiner ist als die der Vereinigten Staaten oder Japans. China ist heute einer der wichtigsten Akteure des Pazifikraums. In früheren Jahren war das Land weit unabhängiger von Rohstoffimporten als Japan, doch durch das anhaltende Wachstum ist China heute zum Nettoimporteur von Rohmaterialien geworden. Der Pazifikraum beheimatet heute also zwei fernöstliche Nationen, die zur Aufrechterhaltung ihres Wirtschaftswachstums auf Imund Exporte angewiesen sind. Japan und China, in geringerem Maße auch Taiwan und Südkorea, sind von einem freien Zugang zum Pazifik abhängig, um Rohstoffe und Güter zu transportieren. Da die USMarine den Pazifik kontrolliert, sind diese Nationen auf ein gutes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten angewiesen. Das birgt ein erhebliches Risiko.
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RUSSLAND
KANADA
USA
JAPAN CHINA IndustrieExporte MALAYSIA
Hawaii, U.S.
PHILIPPINEN
D S INDONESIEN Straße von Malakka
MEXIKO
PANAMA Rohstoffe
AUSTRALIEN
Pazifischer Ozean
Handelsrouten im Pazifik
Auf der anderen Seite nehmen die Vereinigten Staaten große Mengen preisgünstiger Industrieprodukte aus Fernost ab, wovon die einheimischen Konsumenten profitieren. Dieser Handel hat natürlich andererseits verheerende Auswirkungen auf bestimmte Branchen und Regionen in den Vereinigten Staaten und gefährdet einen Teil der dortigen Industrie. Was Konsumenten nutzt, kann Arbeitsplätze vernichten, Löhne unter Druck setzen und für komplexe innenpolitische Auseinandersetzungen sorgen. Die Vereinigten Staaten neigen in der Regel dazu, übersensibel auf innenpolitische Fragen zu reagieren, zumal sie in außenpolitischen Fragen große Spielräume haben. Obwohl die Vereinigten Staaten also insgesamt vom Handel mit Asien profitieren, könnte sich eine Situation ergeben, in der Politiker aus innenpolitischen Erwägungen ihre Haltung zu Billigimporten revidieren. Das ist zwar unwahrscheinlich, stellt aber eine ernsthafte Bedrohung für die Interessen der fernöstlichen Nationen dar. Beinahe ein Viertel aller chinesischen Exporte ist für den amerikanischen Markt bestimmt. Sollten die Vereinigten Staaten Importe aus China einschränken oder durch Einfuhrzölle konkurrenzunfähig machen, stünde China vor einer gewaltigen Wirtschaftskrise. Japan und
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den anderen ostasiatischen Staaten erginge es nicht anders. Länder, die vor einer wirtschaftlichen Katastrophe stehen, handeln oft unberechenbar. Sie könnten mit aggressiven Mitteln versuchen, sich andere Märkte zu erschließen, und dabei auch auf politischen und militärischen Druck zurückgreifen. Militärisch könnten die Vereinigten Staaten den Zugang zum Pazifik nach Belieben verhindern. Wirtschaftlich sind sie zwar auf den Handel mit Ostasien angewiesen, aber nicht annähernd in dem Maße wie umgekehrt. Es wäre also durchaus denkbar, dass sie auf innenpolitischen Druck hin ihre Wirtschaftsbeziehungen mit den Nationen des Pazifikraums neu gestalten. Ein mögliches Instrument ist eine protektionistische Gesetzgebung, die sie mit ihrer militärischen Stärke durchsetzen. Die fernöstlichen Nationen hätten keinerlei effektive Handhabe gegen derartige militärische oder wirtschaftliche Maßnahmen. Subjektiv betrachtet ist ein Konflikt das letzte, was die Länder dieser Region wollen. Objektiv stehen wir jedoch vor einem massiven machtpolitischen Ungleichgewicht. Jeder Politikwechsel der Vereinigten Staaten könnte in Fernost Chaos auslösen, und ein solcher Politikwechsel ist keineswegs ausgeschlossen. Sollten die Vereinigten Staaten beispielsweise China mit Sanktionen drohen, um dessen Ölimporte einzuschränken, wäre dies ein vernichtender Schlag gegen die nationalen Sicherheitsinteressen des Lands. Daher muss China seine wachsende wirtschaftliche Macht nutzen, um militärische Optionen gegen die Vereinigten Staaten vorzubereiten. Damit handelt China nur nach einem bewährten Prinzip der geostrategischen Planung: Hoffe das Beste, erwarte das Schlimmste. In den vergangenen fünfzig Jahren haben die Nationen entlang des Westpazifik ihre wirtschaftliche Macht ausgebaut, ohne ihre militärische Macht zu vergrößern. Daher ist Ostasien äußerst verwundbar. China und Japan bleibt gar keine andere Wahl, als im kommenden Jahrhundert ihre Streitkräfte auszubauen, was die Vereinigten Staaten wiederum als Bedrohung für ihre Kontrolle des Pazifik auffassen werden. Sie werden diese defensiven Maßnahmen als Aggression wahrnehmen, was sie natürlich objektiv – ganz unabhängig von
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den jeweiligen chinesischen und japanischen Absichten – auch sind. Wenn wir die ebenfalls wirtschaftlich expandierenden Nationen Taiwan und Südkorea hinzunehmen, ist leicht erkennbar, warum sich diese Region im 21. Jahrhundert in ein Pulverfass verwandelt. Angesichts der zu erwartenden großen Ölpreissprünge müssen sich die ostasiatischen Nationen zudem auf die Möglichkeit einstellen, dass die Vereinigten Staaten große Mengen Energie für ihren eigenen Verbrauch reservieren werden. Für die kommenden zwanzig bis fünfzig Jahre ist dies ein durchaus realistisches Szenario, auf das sich jede vernünftige fernöstliche Macht vorbereiten sollte. Und ein letzter, spezifischerer Aspekt der Herrschaft über den Pazifik besteht in der Kontrolle der Energietransportwege. Je teurer das Öl und je weiter entfernt der Einsatz von nicht-fossilen Energiequellen, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Auseinandersetzung um diese Transportrouten. Vor diesem Hintergrund der extrem unausgewogenen Machtverhältnisse in der Region, der bevorstehenden Energiekrisen und der Frage nach dem Zugang zum amerikanischen Markt wird der Pazifikraum zu einer gewaltigen geopolitischen Verwerfungszone.
Eurasien Während fast der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontrollierte die Sowjetunion Eurasien von Ostdeutschland bis zum Pazifik und im Süden bis zum Kaukasus und dem Hindukusch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rückte die Grenze beinahe anderthalbtausend Kilometer nach Osten, von der Elbe bis zur Grenze zwischen Russland und Weißrussland. Vom Hindukusch verschob sie sich anderthalbtausend Kilometer nach Norden, an die Grenze zwischen Russland und Kasachstan. Russland wurde von der türkischen Grenze in den Nordkaukasus zurückgedrängt, wo es sich noch immer versucht zu halten. Der russische Machtbereich hat sich seit Jahrhunderten nicht so weit nach Osten verschoben, während er sich zu Zeiten des Kalten Kriegs weiter nach Westen verlagert hatte als je zuvor. In den kommenden Jahrzehnten werden sich die Vorposten des russi-
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schen Machtbereichs irgendwo zwischen diesen beiden Extremen einpendeln. Nach dem Zerfall der Sowjetunion drängten ausländische Mächte heran, um sich Teile der russischen Wirtschaft zu sichern, und stürzten dabei das Land in Chaos und Armut. Gleichzeitig versuchten sie, möglichst große Gebiete des früheren sowjetischen Einflussbereichs unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die osteuropäischen und die baltischen Staaten wurden in die NATO und die Europäische Union aufgenommen. Die Vereinigten Staaten gingen enge Beziehungen zu Georgien und vielen der zentralasiatischen »-stans« ein. Diese Beziehungen verstärkten sich nach dem 11. September 2001, als Russland den US-Streitkräften die Erlaubnis erteilte, für ihren Einsatz in Afghanistan die Infrastruktur der Region zu nutzen. Die wichtigste Entwicklung war jedoch die Hinwendung der Ukraine zum Westen – dies stellte einen entscheidenden Bruch in der russischen Geschichte dar. Mit der ukrainischen »Orangenen Revolution« im Dezember 2004 und Januar 2005 endete für Russland die Ära nach dem Kalten Krieg. In Russland betrachtete man die Ereignisse in der Ukraine als Versuch der Vereinigten Staaten, Kiew in die NATO zu integrieren und damit die Zerschlagung Russlands vorzubereiten. Diese Sichtweise war nicht ganz von der Hand zu weisen. Wenn es dem Westen gelungen wäre, die Ukraine auf seine Seite zu ziehen, wäre Russland militärisch nicht mehr zu verteidigen gewesen. Die Südgrenze mit Weißrussland wäre genauso offen gewesen wie die Südwestgrenze. Dazu kommt, dass die Ukraine nur 600 Kilometer von Kasachstan entfernt ist, und nur über diese schmale Brücke hätte dann Moskau noch seine Macht auf den Kaukasus ausüben können. Es ist denkbar, dass Russland unter diesen Umständen seine Kontrolle über den Kaukasus verloren hätte und sogar gezwungen gewesen wäre, sich aus Tschetschenien nach Norden zurückzuziehen. Damit hätte Moskau selbst Teile der russischen Föderation aufgegeben und wäre an seiner Südflanke hochgradig verwundbar gewesen. Russland wäre Gefahr gelaufen, weiter zu zerfallen und auf seine mittelalterlichen Grenzen zurückzuschrumpfen. Das hätte in Eurasien Chaos zur Folge gehabt, wäre aber den Verei-
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nigten Staaten sicher nicht ganz unrecht gewesen, da es, wie wir gesehen haben, zu ihrer Strategie gehört, Eurasien zu spalten, um auf diese Weise die Kontrolle der Weltmeere zu sichern. Die Vereinigten Staaten hatten also allen Grund, diese Entwicklung zu forcieren und Russland hatte allen Grund, sich ihr entgegenzustellen. Nach der Orangenen Revolution, die Russland als Versuch des Westens deutete, das eigene Land weiter zu schwächen, intensivierte Moskau die Bemühungen, den Einfluss über das Gebiet der früheren Sowjetunion wiederzuerlangen. Der Rückzug der russischen Macht endete an der Grenze zur Ukraine. Seither expandiert Russland seinen Einfluss in drei Richtungen: nach Zentralasien, in den Kaukasus und natürlich in Richtung Westen, also in Richtung der baltischen Staaten und Osteuropa. Bis zum Jahr 2020 wird das vordringliche Anliegen Russlands darin bestehen, sein Territorium wiederherzustellen und seine Macht in der Region auszubauen.
Nachfolgestaaten der Sowjetunion ehemalige Ostblockstaaten
St. Petersburg ESTLAND LETTLAND Moskau LITAUEN WEISSRUSSLAND UKRAINE MOLDAWIEN
RUSSLAND
KASACHSTAN GEORGIEN
USBEKISTAN
ARMENIEN TURKMENISTAN ASERBAIDSCHAN
Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion
KIRGISISTAN TADSCHIKISTAN
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FINNLAND SCHWEDEN ESTLAND
RUSSLAND
LETTLAND LITAUEN Moskau Minsk POLEN
ew Kiew UKRAINE RUMÄNIEN
BULGARIEN
Wolgograd
REPUBLIK MOLDAU
Schwarzes Meer GEORGIEN TÜRKEI
Die strategische Bedeutung der Ukraine
Interessanterweise geht dieser geopolitische mit einem wirtschaftlichen Kurswechsel einher. Wladimir Putin betrachtet Russland nicht mehr vorrangig als Industrienation, sondern vor allem als Rohstoffund Energielieferanten. Indem er die Energieindustrie unter staatliche Kontrolle bringt, drängt er ausländische Interessen aus dem Geschäft und richtet die Branche auf den Export vor allem nach Europa aus. Hohe Energiepreise haben Russland geholfen, seine Wirtschaft wieder zu stabilisieren. Doch Putins Anstrengungen richten sich nicht allein auf die Energie, sondern auch auf die Land- und Forstwirtschaft, Edelmetalle, Diamanten und andere Exportgüter. Damit führt er Russland aus dem wirtschaftlichen Ruin und macht es zwar noch nicht zu einer wohlhabenden, immerhin aber zu einer produktiveren
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Nation. Außerdem gibt er Russland ein Instrument an die Hand, mit dem es Europa einschüchtern kann: den Gashahn. Russland expandiert an allen Fronten. Ein Teil seiner Energie richtet sich auf Zentralasien, wo es in der nahen Zukunft erfolgreich sein wird. Schwieriger wird es in der entscheidenderen Kaukasusregion, wofür der Krieg gegen Georgien im August 2008 als erstes Beispiel gelten kann. Russland wird nicht zulassen wollen, dass sich weitere Teile der Russischen Föderation abspalten. Daher wird es vor allem im kommenden Jahrzehnt zu Reibungen mit den Vereinigten Staaten und anderen Ländern der Region kommen. Der eigentliche Krisenherd wird jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit die russische Westgrenze sein. Von allen Staaten der früheren Sowjetunion hat Weißrussland im geringsten Umfang politische und wirtschaftliche Reformen durchgeführt und hat das größte Interesse an der Gründung einer Neuauflage der Sowjetunion. Durch eine enger werdende Verbindung wird es Russland dabei unterstützen, seine Macht auf das Gebiet der früheren Sowjetunion auszudehnen. Von den Staaten des Baltikums bis nach Rumänien erstreckt sich ein historisch konfliktreiches Gebiet mit unsicheren Grenzverläufen. Durch den Norden dieses Streifens verläuft die nordeuropäische Tiefebene, die von den Pyrenäen bis nach Petersburg reicht. Hier wurden die großen europäischen Kriege ausgetragen. Napoleon und Hitler wählten die Tiefebene als Aufmarschgebiet für ihre Russlandfeldzüge. Da es hier keine natürlichen Hindernisse gibt, versucht Russland traditionell, seine Grenze so weit wie möglich nach Westen zu verlagern, um eine Pufferzone zu schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg drang es auf dieser Ebene bis nach Deutschland vor. Heute hat es sich weit nach Osten zurückgezogen, doch es wird versuchen, sich erneut so weit wie möglich nach Westen vorzuschieben. Das heißt, dass die baltischen Staaten und Polen einmal mehr ein Problem für Russland darstellen. Die Festlegung der neuen russischen Einflusssphäre wird Konflikte verursachen. Die Vereinigten Staaten und die Länder im früheren sowjetischen Machtbereich werden ein weiteres Vordringen Russlands verhindern wollen. Eine Rückkehr unter die russische Herrschaft ist
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das letzte, was die baltischen Staaten wollen. Das trifft auch auf die südlich der Tiefebene gelegenen Staaten in den Karpaten zu. Die ehemaligen sowjetischen Satelliten, allen voran Polen, Ungarn und Rumänien, sind sich im Klaren, dass eine Rückkehr der russischen Armee an ihre Grenzen eine ernsthafte Bedrohung für ihre nationale Sicherheit darstellen würde. Da sich diese Staaten der NATO angeschlossen haben, sind ihre Interessen eng mit denen der Westeuropäer und der Vereinigten Staaten verknüpft. Die Frage ist also, wo die westliche Grenze des russischen Einflussgebietes verlaufen wird. Es handelt sich um ein historisches Problem, das Europa seit mehr als hundert Jahren beschäftigt. Russland wird zwar im kommenden Jahrzehnt nicht wieder zur Weltmacht aufsteigen, doch es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als zu einer Regionalmacht zu werden. Dies führt automatisch zu Konflikten mit Europa und sorgt dafür, dass die russisch-europäische Grenze zu einem wichtigen Brennpunkt wird.
Europa Nach zwei verheerenden Weltkriegen und dem Verlust seiner Kolonialreiche befindet sich Europa noch immer in einem Prozess der Neuorganisation, und es bleibt abzusehen, ob diese weiterhin friedlich verlaufen wird. Europa wird sein Weltreich nicht wiedererlangen, doch wir sollten uns näher ansehen, inwieweit die etwas selbstzufriedene Gewissheit, dass es auf dem alten Kontinent nie wieder zum Krieg kommen wird, tatsächlich berechtigt ist. Das hängt von der Frage ab, ob Europa ein erloschener oder ein schlafender Vulkan ist. Die Europäische Union erwirtschaftet ein Bruttoinlandsprodukt von mehr als 14 Billionen US-Dollar pro Jahr und damit rund eine Billion mehr als die Vereinigten Staaten. Es ist durchaus möglich, dass eine derart wohlhabende und vielfältige Region gegen Konflikte immun ist, aber garantiert ist dies keineswegs. Trotz der Existenz der Europäischen Union wäre es wenig sinnvoll, so zu tun, als sei der Kontinent eine geschlossene Einheit. Europa ist
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nach wie vor nicht mehr als eine Ansammlung souveräner Einzelstaaten mit ihren jeweils eigenen Interessen. Statt von einem Europa zu sprechen, wäre es daher sinnvoller, den Kontinent in vier Regionen aufzuteilen (wobei ich Russland und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion hier ausnehme – sie gehören zwar geografisch zu Europa, unterliegen aber einer anderen Dynamik): 1. Die europäischen Atlantikstaaten: Länder, die direkt an den Atlantik grenzen und während der letzten 500 Jahre wichtige Kolonialmächte waren. 2. Zentraleuropa: Vorrangig Deutschland und Italien, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als moderne Nationalstaaten gegründet wurden. Der Versuch, ihre nationalen Interessen durchzusetzen, war die Ursache der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. 3. Osteuropa: Die Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, die während des Zweiten Weltkriegs von russischen Truppen besetzt wurden und ihre nationale Identität heute über diese Erfahrung definieren. 4. Dazu kommt ein viertes, wenngleich weniger bedeutendes Europa: Skandinavien. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die europäischen Atlantikstaaten das imperialistische Herz der Welt. Die zentraleuropäischen Staaten waren die Zuspätgekommenen und Herausforderer. Die Osteuropäer waren die Opfer. Zwei verheerende Weltkriege drehten sich um die Grundsatzfrage: Welchen Status sollte Deutschland innerhalb des europäischen Gefüges einnehmen? Deutschland, das keinen Platz im imperialistischen System der Atlantikstaaten hatte, wollte dieses System stürzen und seine Vorherrschaft durchsetzen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland zerstört, geteilt und besetzt, im Osten von der Sowjetunion, im Westen von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Mit dem Beginn der Konfrontationen mit der Sowjetunion wurde Westdeutschland zum unersetzlichen Verbündeten der Vereinigten Staaten und der NATO. Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands
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Westeuropa Mitteleuropa Osteueropa Skandinavien NORWEGEN SCHWEDEN
FINNLAND
Atlantischer Ozean
IRLAND GROSSBRITANNIEN NIEDERLANDE BELGIEN
DEUTSCHLAND
SCHWEIZ
SPANIEN
TSCHECHIEN SLOWAKEI
FRANKREICH
PORTUGAL
POLEN
ÖSTERREICH
UNGARN SLOWENIEN RUMÄNIEN KR TIEN KROATIEN BOSNIEN UND HERZEGOWINA ITALIEN SERBIEN BULGARIEN BU ARIEN MAZEDONIEN ALBANIEN
Die vier Europas
stellte allerdings ein Problem dar: Wenn der deutsche Machtzuwachs für zwei Weltkriege verantwortlich war und wenn nun Westdeutschland erneut zu einer europäischen Macht aufstieg – wer sollte dann garantieren, dass es nicht zu einem dritten europäischen Krieg kam? Daher musste Westdeutschland in die NATO eingebunden werden, das heißt, die Bundeswehr musste effektiv unter amerikanischen Oberbefehl gestellt werden. Doch die umfassendere Antwort lag in der Integration Westdeutschlands in ein Gesamteuropa. In den 1950er Jahren wurde neben der NATO auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Die Europäische Union, die schließlich aus ihr hervorging, ist ein schizophrenes Gebilde. Ihr Hauptanliegen besteht in der Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums,
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während die Mitgliedstaaten ihre politische Souveränität weitgehend behalten. Gleichzeitig soll sie der Vorläufer eines europäischen Staatenbundes mit einer Zentralregierung, einem Parlament und einer gemeinsamen Verwaltung sein; diese europäische Regierung soll für die Außen- und Verteidigungspolitik zuständig sein, während die nationale Eigenständigkeit auf einheimische Belange beschränkt wird. Europa ist allerdings von diesem Ziel noch weit entfernt. Es hat eine Freihandelszone geschaffen und eine Einheitswährung eingeführt, die von einigen seiner Mitglieder verwendet wird und von anderen nicht. An der Verabschiedung einer politischen Verfassung ist die Europäische Union jedoch gescheitert, die Einzelstaaten bewahren sich ihre nationale Souveränität. Eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik hat sich bislang nicht verwirklichen lassen. Diese ist nach wie vor Sache der NATO, doch nicht alle NATO-Staaten (allen voran die Vereinigten Staaten) sind Mitglieder der Europäischen Union. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden einzelne osteuropäische Staaten Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. Vereinfacht gesagt, ist Europa nach dem Kalten Krieg ein gutartiges Durcheinander. Es ist vollkommen unmöglich, das Geflecht der hochkomplizierten und ambivalenten institutionellen Beziehungen zu entwirren, das im Laufe der Jahrzehnte entstanden ist. Früher führte diese Art der Verwirrung in Europa zu Kriegen. Doch mit Ausnahme des ehemaligen Jugoslawien hat Europa keine Gelüste auf Konflikt, Krieg und Chaos mehr. Dies ist ein außergewöhnlicher psychologischer Wandel. Wo vor 1945 Jahrhunderte lang Krieg und Gewalt auf der Tagesordnung standen, verursacht heute selbst das Durcheinander der europäischen Institutionen nicht mehr als müde politische Rhetorik. Unter der Oberfläche der Europäischen Union bestehen die alten Nationalismen jedoch weiter fort, wenngleich in abgemilderter Form. Das wird vor allem in den wirtschaftlichen Verhandlungen deutlich. So besteht beispielsweise Frankreich darauf, seine Bauern vor ausländischer Konkurrenz zu schützen, und hält sich nicht an die Vereinbarung zur Begrenzung des Haushaltsdefizits. In einem geopolitischen Kontext tritt Europa daher nach wie vor nicht geschlossen auf.
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Es ist also wenig sinnvoll, so zu tun, als sei Europa eine Einheit wie etwa die Vereinigten Staaten oder China. Es handelt sich um einen lockeren Zusammenschluss unabhängiger Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Kalten Krieg und dem Verlust ihrer Kolonialreiche noch immer unter Schock stehen. In geopolitischen Zusammenhängen verhalten sich Einzelstaaten gemäß ihrer nationalen Interessen. Die entscheidenden Interaktionen finden nicht zwischen Europa und dem Rest der Welt statt, sondern zwischen den europäischen Einzelstaaten. In diesem Sinne ist Europa eher mit Lateinamerika als mit einer Großmacht zu vergleichen. Nationen wie Argentinien und Brasilien verwenden einen großen Teil ihrer Energie darauf, ihr Verhältnis zu ihren unmittelbaren Nachbarn zu klären, wohl wissend, wie begrenzt ihr globaler Einfluss ist. Russland stellt die unmittelbarste geostrategische Bedrohung für Europa dar. Russland hat zwar kein Interesse an einer Eroberung Europas, doch geht es ihm darum, seinen Einfluss über die Staaten der ehemaligen Sowjetunion wiederherzustellen. Aus russischer Sicht handelt es sich um den verständlichen Versuch, sich eine minimale Einflusssphäre zu verschaffen, die in erster Linie dem eigenen Schutz dienen würde. Diese Absicht betrifft auch die drei baltischen Staaten, die heute in europäische Institutionen integriert sind. Offensichtlich haben insbesondere die osteuropäischen Staaten ein Interesse daran, einen neuerlichen Aufstieg Russlands zu verhindern. Die Frage ist jedoch, wie sich der Rest Europas, insbesondere Deutschland, verhalten wird. Heute hat Deutschland eine komfortable Pufferzone zwischen sich und Russland und kann sich auf seine eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme konzentrieren. Dazu kommt, dass das Erbe des Zweiten Weltkriegs Deutschland nach wie vor stark belastet. Deutschland hat kein Interesse an einem Alleingang, sondern will im Verbund mit einem vereinten Europa handeln. Die künftige Position Deutschlands ist schwer vorherzusehen. Das Land hat gelernt, wie gefährlich es ist, nationale Interessen durchsetzen zu wollen. In den Jahren 1914 und 1939 ging es Deutschland darum, mit Entschiedenheit auf geopolitische Bedrohungen zu reagie-
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ren, und beide Male endete dieser Versuch in einer Katastrophe. Aus Sicht der Deutschen ist es daher extrem gefährlich, sich außerhalb einer breiten Koalition auf politische und militärische Experimente einzulassen. Für die europäischen Atlantikstaaten wiederum ist Deutschland ein Puffer gegenüber Russland; eine Gefahr für die Staaten des Baltikums berührt ihre Interessen nicht. Daher werden sie keine Notwendigkeit sehen, sich einem deutschen Bündnis gegen Russland anzuschließen, weshalb es am wahrscheinlichsten ist, dass Deutschland nichts unternimmt und die Vereinigten Staaten in geringem Umfang aktiv werden, wenn Russland seinen Einflussbereich tatsächlich erneut über seine Grenzen hinaus nach Osteuropa ausdehnt. Es ist jedoch ein weiteres Szenario denkbar. Wenn Deutschland im russischen Einfluss auf das Baltikum eine direkte Gefahr für Polen – ein notwendiger Bestandteil der deutschen Sicherheitsinteressen – erkennt, könnte Deutschland eine offensivere Politik verfolgen und versuchen, Polen zu beschützen, indem es selbst auf dem Baltikum aktiv wird. In diesem Szenario könnte Deutschland versuchen, selbst die baltischen Staaten unter seinen Einfluss zu bekommen. Da Russland nicht einfach das Feld räumen wird, sieht sich Deutschland einem längeren Ringen um den Einfluss in Polen und der Karpatenregion ausgesetzt. Während der Rest Europas versuchen wird, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, wird Deutschland eine traditionelle Machtpolitik entwickeln, die nicht an seine aggressive Vergangenheit anknüpft. Durch den effektiven Machtzuwachs setzt ein psychologischer Wandel ein. Mit einem Mal tritt das vereinte Deutschland wieder selbstbewusst auf. Was als defensive Strategie begann, entwickelt sich in unvorhergesehener Weise. Dies ist allerdings nicht das wahrscheinlichste Szenario. Trotzdem könnten die Umstände Deutschland dazu zwingen, Russland als Bedrohung sowie Polen und das übrige Osteuropa als Einflusssphäre und Pufferzone gegen Russland anzusehen. Das hängt davon ab, wie aggressiv Russland vorgeht, wie hartnäckig sich die baltischen Staaten widersetzen, welche Risiken Polen einzugehen bereit ist und in-
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wieweit sich die Vereinigten Staaten einmischen. Letztlich hängt es jedoch an der deutschen Innenpolitik. Im Innern ist Europa nach wie vor untätig und verarbeitet den Schock seiner Verluste. Doch äußere Kräfte wie die islamische Einwanderung und der Versuch Russlands, das Sowjetimperium wiederherzustellen, könnten den früheren Brennpunkt wieder aktiv werden lassen.
Die islamische Welt Wir haben die islamische Welt als möglichen Krisenherd bereits angesprochen. Die gegenwärtige Krise ist weitgehend eingedämmt, doch die islamische Welt als Ganze bleibt instabil. Diese Instabilität wird nicht zu einer allgemeinen Revolte führen, doch es stellt sich die Frage, ob nicht einer der islamischen Staaten die Schwäche der anderen ausnutzt, um sich als Regionalmacht zu etablieren. Indonesien, die bevölkerungsreichste muslimische Nation der Welt, ist dazu kaum in der Lage. Pakistan ist der zweitgrößte muslimische Staat und Nuklearmacht, doch das Land ist innerlich derart zerrissen, dass eine Entwicklung zu einer regionalen Hegemonialmacht kaum vorstellbar ist. Dazu kommt, dass es zwischen Afghanistan im Westen, China und Russland im Norden und Indien im Osten eingekeilt ist. Aufgrund der inneren Instabilität und seiner geografischen Lage wird Pakistan nicht zu einem führenden islamischen Staat werden. Nach Indonesien und Pakistan gibt es drei weitere wichtige islamische Nationen: Ägypten ist mit 80 Millionen Einwohnern die größte der drei, die Türkei mit 71 Millionen Einwohnern die zweitgrößte und der Iran mit 65 Millionen Einwohnern die drittgrößte. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 660 Milliarden US-Dollar steht die Türkei auf Rang 17 der größten Volkswirtschaften der Welt. Der Iran belegt mit einem Bruttoinlandsprodukt von 300 Milliarden US-Dollar Rang 29 und Ägypten mit 125 Milliarden US-Dollar Rang 52. Die türkische Wirtschaft verzeichnete in den vergangenen fünf Jahren ein Wachstum zwischen 5 und 8 Prozent pro Jahr und gehört da-
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mit zu den am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaften. Von einer zweijährigen Rezession abgesehen hatte auch der Iran in den vergangenen fünf Jahren ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 6 Prozent, ebenso wie Ägypten. Beide Länder expandieren rasch, wenngleich im Vergleich zur Türkei auf einer erheblichen schwächeren Ausgangsbasis. Natürlich ist die Größe der Volkswirtschaft nicht alles. Der Iran scheint geopolitisch die aggressivere Nation zu sein, doch genau das ist seine Schwäche. Bei dem Versuch, sein Regime gegen die Vereinigten Staaten, sunnitische Muslime und anti-iranische arabische Staaten zu schützen, sieht sich der Iran immer wieder zu überhasteten Aktionen gezwungen. Dadurch lenkt er die Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten auf sich, die den Iran unweigerlich als mögliche Bedrohung einstufen. Aufgrund seiner Interessen im Persischen Golf und dem Irak gerät der Iran in Konflikt mit den Vereinigten Staaten. Das bedeutet, dass er Ressourcen abstellen muss, um sich gegen einen möglichen amerikanischen Angriff zu schützen, und das zu einer Zeit, in der seine Volkswirtschaft rasch wachsen müsste, um in der Region eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Der Iran ist den Vereinigten Staaten ein Dorn im Auge. Sollten sich diese ausreichend bedroht fühlen, wären sie in der Lage, den Iran zu zerstören. Der Iran ist außerstande, zu einer Regionalmacht aufzusteigen, solange die Vereinigten Staaten mit Argusaugen jede seiner Bewegungen verfolgen. Dazu kommt eine geografisch problematische Lage. Der Iran liegt am Rand der Region. Im Osten grenzt er an Afghanistan, wo es wenig zu gewinnen gibt. Bei dem Versuch, seinen Einfluss nach Norden auszudehnen, würde der Iran unweigerlich mit Russland kollidieren. Bleibt der Irak, doch der hat sich in einen Sumpf verwandelt, und jede Ausdehnung in diese Richtung würde arabische und amerikanische Reaktionen provozieren. Der Iran hat kaum Möglichkeiten, sein Einflussgebiet in der Region auszudehnen, denn jede Initiative kostet mehr, als sie bringt. Ägypten ist die größte der arabischen Nationen und traditionell deren Sprecher. Unter Gamal Abdel Nasser unternahm das Land den
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Versuch, sich an die Spitze der arabischen Nationen zu setzen. Diese sind jedoch traditionell zerstritten, und Ägypten verärgerte SaudiArabien und andere wichtige Staaten. Nach dem Friedensvertrag mit Israel im Jahr 1978 unterließ Ägypten weitere Anstrengungen, seinen Einfluss auszudehnen. Aufgrund seiner schwachen Wirtschaft und seiner relativen geografischen Isolierung ist kaum vorstellbar, dass Ägypten in absehbarer Zeit zu einer Regionalmacht aufsteigen könnte. Es ist wahrscheinlicher, dass das Land wie so oft in den vergangenen Jahrhunderten unter den Einfluss einer anderen Nation fällt, etwa der Türkei, der Vereinigten Staaten oder Russlands. Ganz anders die Türkei. Sie ist nicht nur eine moderne Nation, sondern verfügt über die mit Abstand leistungsstärkste Volkswirtschaft der Region, wenn nicht sogar die einzige moderne Wirtschaft der gesamten islamischen Welt. Wichtiger noch, die Türkei liegt an einem strategisch wichtigen Punkt an der Schnittstelle von Europa, dem Nahen Osten und Russland.
UKRAINE
RUSSLAND
RUMÄNIEN
BULGARIEN
Schwarzes Meer GEORGIEN ARMENIEN
Ankara
Kaspisches Meer ASERBAIDSCHAN
GRIECHENLAND TÜRKEI
ZYPERN Mitte mee Mittelmeer
LIBANON ISRAEL ÄGYPTEN
Die Türkei heute
IRAN
SYRIEN
JORDANIEN
IRAK
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Wien EUROPA ASIEN
Schwarzes Meer Konstantinopel Algier
te e r Mittelmeer Tripolis
TÜRKEI Jerusalem
Kairo
Bagdad
MITTLERER OSTEN
AFRIKA
Das Osmanische Reich
Die Türkei ist weder isoliert noch anderweitig eingeschränkt. Sie liegt strategisch günstig und kann ihren Einfluss in unterschiedliche Richtungen ausdehnen. Vor allem aber stellt sie keine Gefahr für die amerikanischen Sicherheitsinteressen dar und muss daher nicht mit einer ständigen Bedrohung durch die Vereinigten Staaten leben. Das heißt, sie ist nicht gezwungen, Ressourcen zu ihrer Verteidigung gegen die Vereinigten Staaten abzuzweigen. Dank ihrer expandierenden Wirtschaft wird sie bald ihre alte Rolle als Vormacht der Region einnehmen können. Erinnern wir uns, dass die Türkei bis zum Ersten Weltkrieg über ein bedeutendes Imperium herrschte und die mächtigste islamische Nation der Welt war. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert war sie sogar die führende Macht im Mittelmeerraum und kontrollierte nicht nur Nordafrika und die Levante, sondern auch Südosteuropa, den Kaukasus und die Arabische Halbinsel. Nach dem Verlust dieses Reichs im Jahr 1918 verwandelte sich die Türkei in einen säkularen Staat mit einer islamischen Bevölkerung.
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Die Türkei ist ein komplexes Land mit einer säkularen und vom Militär geschützten Verfassung einerseits und einer stetig wachsenden radikal-islamischen Bewegung andererseits. Es ist nicht absehbar, welche Staatsform das Land schließlich annehmen wird. Angesichts des Chaos, das seit der amerikanischen Irak-Invasion im Jahr 2003 herrscht, kommt nur die Türkei, ein Verbündeter der Vereinigten Staaten, als ernsthafter Kandidat für eine Führungsrolle in der Region in Frage.
Mexiko Wer im Jahr 1950 vorhergesagt hätte, dass Deutschland und Japan fünfzig Jahre später zu den führenden Wirtschaftsmächten der Welt gehören würden, der hätte sich vermutlich lächerlich gemacht. Und wer 1970 behauptet hätte, dass China bis zum Jahr 2007 über die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt verfügen würde, der hätte wahrscheinlich nicht weniger Lacher geerntet. Nicht weniger absurd wäre es gewesen, im Jahr 1800 zu prognostizieren, dass die Vereinigten Staaten im Jahr 1900 an der Schwelle zur Weltmacht stehen würden. Doch die Dinge ändern sich, und wir sollten uns darauf einstellen, dass das eintritt, was wir am wenigsten erwarten. Wir sollten daher an dieser Stelle festhalten, dass Mexiko im Jahr 2007 gleich hinter Australien auf Rang 15 der größten Volkswirtschaften der Welt rangierte. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 12 000 US-Dollar pro Jahr steht Mexiko allerdings erheblich schlechter da, nämlich auf Rang 60, neben der Türkei, aber immer noch weit vor China. Das Pro-Kopf-Einkommen spielt zwar eine wichtige Rolle, doch in geopolitischen Zusammenhängen ist die absolute Größe einer Volkswirtschaft entscheidend. Armut und Ungleichverteilung des Wohlstands stellen ein Problem dar, doch allein die absolute Größe der Wirtschaft entscheidet darüber, welche Ressourcen ein Land für seinen Verteidigungshaushalt bereitstellen kann. Die Sowjetunion und China hatten vergleichsweise niedrige Pro-Kopf-Einkommen, doch
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dank der schieren Größe ihrer Volkswirtschaften wurden sie zu bedeutenden Mächten. Wirtschaftliche Stärke und Bevölkerungsreichtum haben in der Vergangenheit immer dafür gesorgt, dass man mit einem Land rechnen musste, egal wie verbreitet die Armut war. Im Jahr 1950 hatte Mexiko 27 Millionen Einwohner. In den nächsten fünfzig Jahren stieg diese Zahl auf 100 Millionen, und im Jahr 2005 waren es 107 Millionen. Für das Jahr 2050 erwarten die Vereinten Nationen eine Gesamtbevölkerung von 114 bis 139 Millionen, wobei die niedrigere Zahl die wahrscheinlichere sein dürfte. Nachdem sich die Einwohnerzahl in den vergangenen fünfzig Jahren vervierfacht hat, wird sie in den kommenden fünfzig Jahren so gut wie stabil bleiben. Anders als die wohlhabenden Industrienationen wird Mexiko allerdings keinen Bevölkerungsverlust erleiden, weshalb das Land ausreichend Arbeitnehmer hat, um weiter zu expandieren. Hinsichtlich seiner Größe und Bevölkerung ist Mexiko also alles andere als ein kleines Land. Der Drogenkrieg sorgt zwar für Instabilität, doch im Jahr 1970 herrschte auch in China noch das Chaos. Instabilität lässt sich überwinden. Es gibt in aller Welt eine Vielzahl von Ländern wie Mexiko, die man nicht als geopolitische Brennpunkte bezeichnen würde. Doch Mexiko unterscheidet sich in einem entscheidenden Aspekt von Indien oder Brasilien: Es liegt auf dem nordamerikanischen Kontinent, der, wie wir gesehen haben, heute der Dreh- und Angelpunkt des internationalen Beziehungsgefüges ist. Es grenzt sowohl an den Pazifik als auch an den Atlantik und hat eine lange, problematische Grenze mit den Vereinigten Staaten. Mexiko hat in der Vergangenheit mit seinem nördlichen Nachbarn einen größeren Krieg um die Vorherrschaft auf dem Kontinent geführt und verloren. Die mexikanische Wirtschaft und Gesellschaft sind aufs Engste mit den Vereinigten Staaten verbunden. Die strategisch günstige Lage und seine zunehmende wirtschaftliche Bedeutung machen das Land zu einem möglichen Brennpunkt. Um diesen Brennpunkt besser zu verstehen, möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Exkurs über den Begriff des »Grenzlands“ einschieben. Zwischen zwei benachbarten Ländern liegen häufig Regionen, die in der Vergangenheit mal zu der einen, mal zu der anderen
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Seite gehörten. Ein Beispiel sind Elsass und Lothringen. Beide Regionen zeichnen sich durch eine einmalige Mischkultur aus. Ihre Bewohner fühlen sich unterschiedlichen Nationen verbunden und sprechen Deutsch, Französisch und einen regionalen Dialekt. Heute gehören beide Gebiete zu Frankreich, doch unabhängig davon, wer sie politisch kontrolliert, handelt es sich um eine Grenzregion mit zwei Kulturen und gewissen inneren Spannungen. Ähnliche Grenzgebiete gibt es in aller Welt. Nordirland ist die Grenzregion zwischen England, Schottland und Irland, Kaschmir zwischen Indien und Pakistan und der Kosovo zwischen Serbien und Albanien. Ähnlich verschwommen ist das Grenzland zwischen Polen und Russland oder zwischen Quebec und den Vereinigten Staaten. Jede dieser Regionen ist durch mehr oder weniger große innere Spannungen gekennzeichnet. Auch im Grenzgebiet zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten leben Mexikaner und Amerikaner in einer Mischkultur. Das Grenzland verläuft nördlich und südlich der gemeinsamen Grenze: Die mexikanische Seite ist anders als das übrige Mexiko und die amerikanische Seite anders als die übrigen Vereinigten Staaten. Wie jedes Grenzgebiet hat auch dieses seine unverwechselbare Kultur, mit einem Unterschied: Die Mexikaner, die auf beiden Seiten der Grenze leben, fühlen sich Mexiko verbunden, und die Amerikaner fühlen sich den Vereinigten Staaten verbunden. Die wirtschaftliche und kulturelle Mischung ist zutiefst spannungsgeladen, vor allem deshalb, weil immer mehr Mexikaner über die Grenze in die Vereinigten Staaten strömen, während Amerikaner nicht nach Süden über die mexikanische Grenze auswandern. Die meisten Grenzregionen haben mehrfach den Besitzer gewechselt, das amerikanisch-mexikanische Grenzland bisher nur einmal. Nordmexiko wurde nach der texanischen Rebellion der Jahre 1835 bis 1836 allmählich von den Vereinigten Staaten in Besitz genommen. Höhepunkt war der Amerikanisch-Mexikanische Krieg von 1846 bis 1848, in dem sich die Vereinigten Staaten Nordmexiko einverleibten. Die Grenze ist seither der Rio Grande, im Westen kam später noch Südarizona dazu. Die mexikanische Bevölkerung wurde nicht vertrieben, sondern blieb in der Region, auch als diese später von amerikanischen
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Siedlern aus dem Osten besetzt wurde. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam schließlich eine neue Welle von Mexikanern über die Grenze, was die demografische Situation weiter komplizierte. Die Bevölkerungsbewegungen in einem Grenzland unterscheiden sich erheblich von klassischer Einwanderung. Herkömmliche Einwanderer werden bei ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat räumlich von ihrem Herkunftsland getrennt und sind von neuen Einflüssen umgeben, die dafür sorgen, dass ihre Kinder Teil der neuen Kultur und Wirtschaft werden. Damit unterscheidet sich die Einwanderung von der Übersiedlung in ein Grenzland. In letzterem Fall erfolgt keine räumliche Trennung von der alten Heimat, denn das Grenzland ist nichts als deren Verlängerung. Die Grenze ist eine politische Linie, doch die Neuankömmlinge sind nie weit von ihrer alten Heimat entfernt. Sie bleiben in räumlichem Kontakt und fühlen sich auf komplexe Weise beiden Heimaten zugehörig. KANADA
USA
MEXIKO
Pazifischer Ozean Mexiko vor der texanischen Rebellion
Golf von Mexiko
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Mexikaner, die im Grenzland leben, verhalten sich anders als Mexikaner in Chicago. Letztere ähneln klassischen Einwanderern, während erstere das Gefühl haben, weniger im Ausland als vielmehr in einem besetzten Gebiet zu leben. Ganz ähnlich empfanden vermutlich die amerikanischen Siedler ihre Lage vor der texanischen Rebellion: Sie lebten auf mexikanischem Staatsgebiet, doch sie sahen sich als Amerikaner und gründeten eine Unabhängigkeitsbewegung, mit der sie Texas schließlich von Mexiko abspalteten. Irgendwann wird das Grenzgebiet eine einfache Frage der militärischen und politischen Macht. Der Stärkere beansprucht das Grenzland für sich, und wer das ist, wird in einem Krieg ermittelt. Aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit sind die Vereinigten Staaten seit 1848 im Besitz dieses Grenzlands. Die Bevölkerungsverhältnisse ändern sich, das Schmuggelgeschäft blüht, doch die politischen Grenzen bleiben durch die militärischen Kräfteverhältnisse festgeschrieben. In vierzig Jahren wird diese Grenze seit zwei Jahrhunderten Bestand haben. Mexiko könnte an Macht gewinnen, und die Bevölkerungsverhältnisse auf der amerikanischen Seite könnten sich soweit verschieben, dass die politischen Grenzen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Es ist durchaus vorstellbar, dass Mexiko im Laufe des Jahrhunderts zu den größten zehn Volkswirtschaften der Welt aufschließt. Es sind schon sehr viel erstaunlichere Dinge passiert, und der freie Warenaustausch mit den Vereinigten Staaten wird diese Entwicklung fördern. Dazu kommt, dass viele der europäischen Nationen, die heute noch vor Mexiko rangieren, mit erheblichen demografischen Problemen zu kämpfen haben werden. Aufgrund der Auswirkungen, die eine mögliche Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko hätte, müssen wir auch diesen Brennpunkt sehr ernst nehmen.
Zusammenfassung Von den fünf genannten Brennpunkten sind nach dem amerikanischdschihadistischen Krieg zwei besonders augenfällig. Mexiko und die
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Türkei sind noch nicht in der Lage, eine globale Rolle zu übernehmen, und Europa bleibt isoliert und uneins genug, um zwar auf Entwicklungen zu reagieren, sie aber nicht selbst anzustoßen. Damit bleiben für die Zeit um das Jahr 2020 zwei Brennpunkte, der Pazifikraum und Eurasien – genauer: China und Russland. In fernerer Zukunft besteht die Möglichkeit, dass sich Japan zu einem Brennpunkt entwickelt, doch das Verhalten Japans wird stark von China abhängen. Daher beschäftigen wir uns zunächst mit China und Russland, um zu sehen, welches der beiden Länder zuerst aktiv werden und im kommenden Jahrzehnt die größte Herausforderung für die Vereinigten Staaten darstellen wird. Was wir uns hier ansehen, sind systemische Konflikte. Der Kalte Krieg war ein solcher systemischer Konflikt, in dem sich zwei führende Mächte auf eine Weise gegenüberstanden, die sich auf das gesamte internationale Beziehungssystem auswirkte. Es gab zwar zahlreiche weitere Auseinandersetzungen, doch diese wurden sämtlich in den Strudel dieser übergreifenden Konfrontation gezogen. Vom arabischisraelischen Konflikt über die chilenische Innenpolitik bis hin zur Unabhängigkeit des Kongo wurden sämtliche Auseinandersetzungen durch den Kalten Krieg geprägt. Auch die beiden Weltkriege waren systemische Konflikte. Definitionsgemäß ist an einem solchen Konflikt die jeweils führende Weltmacht beteiligt, in diesem Fall die Vereinigten Staaten. Wiederum definitionsgemäß nehmen die Vereinigten Staaten an jedem wichtigen Konflikt teil. Sollte es beispielsweise zu einer Konfrontation zwischen Russland und China kommen, würden die Vereinigten Staaten wohl kaum neutral bleiben. Und Russland und China könnten wiederum nur dann einen Krieg beginnen, wenn sie sich der amerikanischen Neutralität sicher sein könnten. Die Vereinigten Staaten sind heute derart mächtig, dass ein Bündnis mit der einen Seite automatisch die Niederlage der anderen bedeuten würde. Welches der beiden Länder, Russland oder China, wird sich in einer Weise verhalten, die eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten provoziert? Vor dem Hintergrund dessen, was wir über die Strategie der Vereinigten Staaten wissen, werden diese kaum von sich aus ei-
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nen Konflikt vom Zaun brechen, es sei denn, eine aggressive Regionalmacht unternimmt den Versuch, ihr Einflussgebiet in Eurasien auszuweiten, und gerät dabei in Konflikt mit amerikanischen Interessen. Um zu einer Einschätzung der kommenden Jahrzehnte zu kommen, wollen wir uns daher die chinesische und die russische Interessenlage ansehen. Beginnen wollen wir mit der Nation, die heute von den meisten Beobachtern ernster genommen wird: China.
Kapitel 5
China: Der Papiertiger
Jeder Versuch, die Entwicklung des kommenden Jahrhunderts zu prognostizieren, muss mit China beginnen. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebt im Reich der Mitte, und in den letzten Jahren wurde China immer wieder als zukünftige Weltmacht gehandelt. In den vergangenen dreißig Jahren hat das Land ein beispielloses Wirtschaftswachstum erlebt und sich zu einer ernstzunehmenden Macht entwickelt. Doch dreißig Jahre Wachstum bedeuten nicht endloses Wachstum. Vielmehr wird die Wahrscheinlichkeit, dass China mit diesem Tempo weiter wächst, immer geringer. Und im Fall Chinas bedeutet verlangsamtes Wachstum erhebliche gesellschaftliche und politische Probleme. Daher bin ich nicht der Ansicht, dass China eine Weltmacht werden wird. Ich glaube nicht einmal, dass China als geeintes Land erhalten bleiben wird. Doch ich stimme zu, dass wir bei der Erörterung der Zukunft nicht um China herumkommen. Die geografischen Gegebenheiten machen es unwahrscheinlich, dass China zu einem aktiven Brennpunkt wird. Sollte es tatsächlich zu einem Konfliktgebiet werden, dann weniger, weil China expandiert, sondern weil andere seine Schwäche ausnutzen. Chinas Wirtschaft ist nicht annähernd so robust, wie sie nach außen hin wirkt, und seine politische Stabilität, die von einem dauerhaft starken Wirtschaftswachstum abhängt, ist sogar noch prekärer. Trotzdem halten zahlreiche Beobachter China für eine kommende Weltmacht, weshalb wir uns an dieser Stelle mit diesem Land beschäftigen. Betrachten wir zunächst die geopolitischen Fakten. China ist eine Insel, die nicht von Wasser, sondern von schwer passierbaren Regionen umgeben ist, die das Land effektiv vom Rest der Welt abschneiden.
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RUSSLAND KASACHSTAN MONGOLEI Peking
NORDKOREA SÜDKOREA
Chengdu
NEPAL
CHINA
JAPAN
Shanghai
Chongqing INDIEN
Guangzhou BIRMA
TAIWAN
Hongkong VIETNAM
China: Räumliche Barrieren
RUSSLAND
KASACHSTAN
MONGOLEI NORDKOREA SÜDKOREA JAPAN
INDIEN
NEPAL
Einwohner pro km� 400 + 301 – 400 201 – 200 101 – 200 0 – 100
TAIWAN BIRMA
VIETNAM
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Die nächsten hundert Jahre
Im Norden liegen Sibirien und die mongolische Steppe – ein unwirtliches, dünn besiedeltes und schwer zu durchquerendes Gebiet. Im Südwesten liegt der unüberwindliche Himalaja. Die Südgrenze zu Burma, Laos und Vietnam besteht aus Bergen und Urwäldern, und im Osten liegt das Meer. Lediglich die Westgrenze zu Kasachstan ist besser passierbar, doch auch hier würden Vorstöße aller Art einen Aufwand erfordern, der durch die chinesische Geschichte bislang nur selten belegt worden ist. Die überwiegende Mehrheit der Chinesen lebt in weniger als anderthalbtausend Kilometern Entfernung zur Küste. Damit ist vor allem das östliche Drittel des Lands besiedelt, während die restlichen zwei Drittel weitgehend unterbevölkert sind. China wurde nur einmal in seiner Geschichte vollständig erobert, und zwar im 12. Jahrhundert von den Mongolen. Selbst hat es seine Macht nur selten über seine heutigen Grenzen hinaus ausgedehnt. China ist keine aggressive Nation und kommuniziert nur sporadisch mit dem Rest der Welt. Auf Phasen des wirtschaftlichen Austauschs folgten in der Vergangenheit immer wieder Zeiten der vollkommenen Abschottung gegenüber dem Ausland. Der Handel erfolgte traditionell über Handelswege wie die Seidenstraße, die durch Zentralasien führt, sowie über die Häfen im Osten. Mitte des 19. Jahrhunderts trafen die Europäer auf ein China in einer seiner isolationistischen Phasen. Das Land war geeint, doch relativ arm. Die Europäer erzwangen sich den Zugang und trieben intensiven Handel mit den Küstenstädten. Das hatte zwei Auswirkungen: einen sprunghaften Anstieg des Wohlstands in den Küstenstädten und ein massives Wohlstandsgefälle zwischen der Küste und dem nicht am Handel beteiligten Binnenland. Dies wiederum führte zu einer Schwächung der Stellung der Zentralregierung in den Küstenprovinzen sowie zu Instabilität und Chaos. Die Küstenstädte suchten enge Bindung an die Europäer bis hin zur direkten Herrschaft. Diese Instabilität hielt bis zur Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 an. Mao Zedong versuchte zunächst, mit seiner Revolution in Küstenstädten wie Schanghai Fuß zu fassen. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, unternahm er seinen legendären Langen
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Marsch ins Landesinnere, stellte aus armen Bauern eine Armee zusammen, begann einen Bürgerkrieg und eroberte schließlich die Küste. Nach seinem Sieg schottete er China erneut ab. Zwischen 1949 und dem Tod Maos im Jahr 1976 war China ein geeintes Land unter einer starken Regierung, doch es war weitgehend isoliert und arm.
Chinas Wette Nach Maos Tod versuchten dessen Nachfolger ein weiteres Mal, den alten chinesischen Traum zu verwirklichen. Sie wollten ein China, das durch internationalen Handel reich und durch eine starke Zentralregierung zusammengehalten wurde. Maos Nachfolger Deng Xiaoping wusste, dass sich China im Interesse der eigenen Sicherheit nicht dauerhaft abschotten konnte, da früher oder später eine fremde Nation die wirtschaftliche Schwäche des Lands ausnutzen würde. Daher ließ er sich auf eine Wette ein. Er setzte darauf, dass sich China diesmal dem internationalen Handel öffnen konnte, ohne durch innere Konflikte zerrissen zu werden. Wieder wurden die Küstenprovinzen reich und banden sich eng an ausländische Mächte. Billiggüter und Handel sorgten in den großen Küstenstädten wie Schanghai für zunehmenden Wohlstand, doch das Landesinnere blieb arm. Die Spannungen zwischen der Küste und dem Binnenland nahmen zu, doch die chinesische Regierung saß fest im Sattel, ohne die Kontrolle über einzelne Provinzen zu verlieren oder durch extreme Repressalien innere Unruhen zu provozieren. Diese Situation hat seit ungefähr dreißig Jahren Bestand – kein langer Zeitraum, vor allem nicht an chinesischen Maßstäben gemessen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit Peking in der Lage sein wird, mit dem zunehmenden innenpolitischen Druck umzugehen. An dieser Stelle beginnen wir mit unserer Analyse und der Frage nach dem Platz Chinas im internationalen Gefüge des 21. Jahrhunderts. Wird China Teil des Welthandelssystems bleiben? Und wenn ja, wird es sich ein weiteres Mal in Teilregionen auflösen? China setzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts darauf, dass es den Draht-
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Samarkand
Kaschgar
Buchara Antiocha Merw
Rom Konstantinopel
Palmyra
Alexandria
Taschkent
Baktra
Hotan Kabul
Dunhuang Xi’an
Tyros
Die Seidenstraße
seilakt endlos fortsetzen kann. Die Regierung in Peking geht davon aus, dass sie weiterhin in der Lage sein wird, Ressourcen von den reicheren Küstenregionen ins ärmere Binnenland umzuverteilen, ohne an der Küste auf Widerstand zu stoßen. Sie wird alles tun, um die verschiedenen Landesteile zufriedenzustellen. Im Hintergrund schwelt jedoch ein weiteres, viel schwerwiegenderes Problem. Allem Anschein nach ist China ein kapitalistisches Land mit Privateigentum, Banken und anderen Äußerlichkeiten des Kapitalismus. In Wirklichkeit ist es jedoch weit von einer wirklich kapitalistischen Wirtschaft entfernt, denn Investitionen werden nach wie vor nicht durch die Kräfte des Marktes gelenkt. Bei der Kapitalbeschaffung sind Beziehungen wichtiger als ein guter Businessplan. Innerhalb der chinesischen Klan- und der kommunistischen Vetternwirtschaft werden Kredite aus allen möglichen Gründen vergeben, die nichts mit der Kreditwürdigkeit eines Unternehmens zu tun haben. Daher ist es kein Wunder, dass ein beträchtlicher Teil der Kredite faul ist. Schätzungen gehen von Kreditausfällen in einer Größenordnung von 600 bis 900 Milliarden US-Dollar aus – das entspricht einem Viertel, wenn nicht sogar einem Drittel des gesamten chinesischen Bruttoinlandsprodukts.
China: Der Papiertiger
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Diese Kreditausfälle werden durch die enormen Wachstumsraten bei den Billigexporten aufgefangen. Die Welt lechzt nach chinesischen Billigprodukten, und Unternehmen mit riesigen Schuldenbergen halten sich mit den Einnahmen aus deren Verkauf über Wasser. Doch je billiger die Produkte, desto niedriger der Gewinn. Exporte, die kaum Gewinne abwerfen, treiben eine gewaltige Wirtschaftsmaschinerie an, ohne diese von der Stelle zu bewegen. Stellen Sie sich vor, ein Geschäft würde seine Produkte zum Einkaufspreis verkaufen: Dadurch kommt zwar eine Menge Geld in die Kassen, doch dieses Geld fließt genauso schnell wieder ab, wie es hereinkommt. Das ist in ganz Ostasien seit langem ein Problem. Das Beispiel Japan ist hierbei besonders lehrreich. In den 1980er Jahren galt Japan als wirtschaftliche Supermacht. Japanische Importe trieben amerikanische Unternehmen in den Konkurs, und an amerikanischen Universitäten lernten angehende Manager, die japanischen Unternehmenspraktiken nachzuahmen. Die japanische Wirtschaft expandierte rasant, doch ihr Wachstum hatte weniger mit Managementmethoden als mit dem Bankwesen des Lands zu tun. Die staatlich regulierten japanischen Banken boten niedrigste Zinsen auf die Einlagen ihrer Sparer. Aufgrund der strengen Gesetzgebung blieb den meisten Japanern nichts anderes übrig, als ihr Geld auf der staatlichen Postbank anzulegen, die minimale Zinsen zahlte. Der Staat verlieh dieses Geld an Geschäftsbanken, und zwar wiederum zu Zinsen weit unter Weltmarktniveau. Die Geschäftsbanken schließlich gaben das Geld zu günstigsten Konditionen an die Großkonzerne weiter, denen sie zumeist angehörten: So vergab etwa die Sumitomo Bank Kredite an Sumitomo Chemicals. Während amerikanische Unternehmen in den 1970er Jahren Zinsen in zweistelliger Höhe berappen mussten, konnten japanische Konzerne Kredite zu einem Bruchteil dessen aufnehmen. Es ist also kein Wunder, dass die japanischen Unternehmen besser dastanden als die amerikanischen: Ihre Kreditkosten waren sehr viel niedriger. Es ist auch kein Wunder, dass Japan eine außergewöhnlich hohe Sparquote hatte: In Japan gab es damals keine staatliche Rentenversicherungen, und die Betriebsrenten waren minimal. Die Japa-
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ner sparten für ihren Altersruhestand. Dabei hatten sie keine andere Wahl, als ihr Geld zu extrem niedrigen Zinsen anzulegen. Während die hohen Zinsen den westlichen Konzernen große Ausgabendisziplin auferlegten und dafür sorgten, dass die schwächeren Unternehmen ausgesiebt wurden, gaben die japanischen Banken Geld zu niedrigen Zinsen an ihren jeweiligen Hauskonzern weiter. Es gab effektiv keinen Kreditmarkt. Beziehungen waren der Schlüssel zur Liquidität. Die Folge war ein hoher Anteil von Kreditausfällen. Die wichtigste Geldquelle der japanischen Unternehmen war also nicht der Aktienmarkt, sondern waren Kredite ihrer Hausbank. In den Aufsichtsräten saßen führende Konzernmanager und Bankdirektoren, die weniger an Gewinnen als vielmehr daran interessiert waren, den Geldfluss aufrecht zu erhalten, damit die Konzerne weiter produzieren und ihre Schulden bedienen konnten. Daher hatte Japan die niedrigste Kapitalrendite der Welt. Doch die Wachstumsraten waren phänomenal, denn genau darauf hatten die Japaner ihre Wirtschaft ausgelegt. Sie lebten vom Export. Das mussten sie auch. Die hohen Sparquoten, die das System am Laufen hielten, rührten schließlich daher, dass die Japaner ihr Geld auf die Bank brachten, weshalb die Wirtschaft nicht vom Inlandskonsum leben konnte. Und da die japanischen Unternehmen nicht von Investoren, sondern von ihren eigenen Vorständen und Bankern überwacht wurden, wollten sie sicherstellen, dass immer mehr Geld in die Kassen kam. Also verlegten sie sich auf Billigexporte. Sie nahmen immer mehr Kredite auf, benötigten immer mehr Geld und exportierten immer mehr Waren. Die Wirtschaft expandierte, doch sie stand auf tönernen Füßen. Aufgrund der informellen Kreditvergabepraxis nahm die Zahl der Ausfälle zu. Die Banken finanzierten viele schlechte Ideen. Doch statt diese Kredite abzuschreiben und die Schuldner in den Konkurs zu zwingen, stopften die Banken die Löcher mit immer neuen Krediten und erhielten so die Unternehmen künstlich am Leben. Das Kreditvolumen nahm immer weiter zu, und da die Einlagen der japanischen Sparer darauf verwendet wurden, das System am Laufen zu halten, musste mit immer mehr Exporten immer mehr Geld beschafft wer-
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den. Die Wirtschaft schwamm im Geld, doch die Vielzahl von eigentlich bankrotten Unternehmen, die ohne Rücksicht auf Gewinne ihren Geldfluss steigern mussten, höhlte das gesamte Finanzsystem aus. Die Exporte stiegen weiter, doch sie erzielten kaum Gewinne. Die gesamte Maschinerie diente nur noch dazu, sich selbst am Laufen zu halten. Der Rest der Welt hatte den Eindruck, die japanische Wirtschaft boome und übernehme den Markt mit hochwertigen und zugleich billigen Produkten. Anders als amerikanische Unternehmen schielten die Japaner nicht immerzu auf Profite und schienen daher die Zukunft für sich gepachtet zu haben. Doch das Gegenteil war der Fall. Japan lebte von billigem, staatlich kontrolliertem Geld, und die Niedrigpreispolitik war nichts als der verzweifelte Versuch, den Geldfluss aufrecht zu erhalten und das Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Am Ende wuchsen die Schulden in derartige Höhen, dass es unmöglich war, sie mit weiteren Exportsteigerungen aufzufangen. Japanische Banken brachen zusammen und wurden von der Regierung gerettet. Doch statt eine massive Wirtschaftskrise zuzulassen und Unternehmen und Banken zur Disziplin zu zwingen, griff der Staat zu Maßnahmen, mit denen die schlimmsten Auswirkungen abgemildert werden sollten. Der Preis war eine langfristige wirtschaftliche Stagnation, die bis heute anhält. Das Wachstum endete, die Märkte kippten. Interessanterweise bemerkten viele westliche Beobachter erst Jahre später, dass die japanische Wirtschaft bereits seit etwa 1990 bankrott war. Selbst Mitte der neunziger Jahre war noch vom japanischen Wirtschaftswunder die Rede. Inwieweit lässt sich das auf China übertragen? Um es salopp auszudrücken, ist China wie Japan auf Koks. Genau wie in Japan sind Beziehungen bei der Kreditvergabe wichtiger als geordnete wirtschaftliche Verhältnisse. Dazu kommt, dass es sich um einen kommunistischen Staat handelt, der Gelder nach politischem Gutdünken vergibt und seine Wirtschaftsdaten schönt. Investoren, die Gewinne erwarten, spielen hier eine weitaus geringere Rolle als Bankiers und Regierungsbeamte, die Bargeld sehen wollen. Beide Volkswirtschaften sind extrem exportabhängig, beide verzeichnen hohe Wachstumsraten, und beiden droht der Kollaps, wenn die Wachstumsraten auch nur gering-
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fügig abnehmen. Im Jahr 1990 machten Japans Kreditausfälle rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass die Kreditausfälle in China heute bei 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, weniger konservative Annahmen sprechen von bis zu 40 Prozent. Nach außen hin wirkt Chinas Wirtschaft gesund und dynamisch, und sie legt ein atemberaubendes Tempo vor. Doch Wachstum ist nur ein Faktor. Wichtiger ist die Frage, ob dieses Wachstum Gewinne erzielt. Das chinesische Wirtschaftswachstum ist durchaus real und bringt das Geld in die Kassen, das die Banken einfordern. Doch dieses Wachstum ist nicht nachhaltig. Sollte zum Beispiel in der Folge der sich in den Vereinigten Staaten jetzt abzeichnenden Rezession die Nachfrage zurückgehen, könnte die gesamte Wirtschaft sehr schnell in sich zusammenfallen. In Ostasien wäre das nichts Neues. Japan war der Motor der 1980er Jahre. Seinerzeit erwarteten Viele, dass das Land die Vereinigten Staaten überflügeln würde. Als das Wachstum schließlich einbrach, erlebte Japan eine massive Finanzkrise, von der es sich auch zwanzig Jahre später noch nicht vollständig erholt hat. Auch die Krise der asiatischen Tigerstaaten im Jahr 1997 traf viele Beobachter unvorbereitet, da die Volkswirtschaften dieser Länder bis zuletzt rasant gewachsen waren. China erlebt seit dreißig Jahren eine beispiellose wirtschaftliche Expansion. Die Vorstellung, dass sich diese Wachstumsraten auf Dauer aufrecht erhalten lassen, widerspricht allen Gesetzen der Wirtschaft. Irgendwann, spätestens wenn der Nachschub an billigen, unqualifizierten Arbeitskräften ausbleibt, kommt der Konjunkturzyklus an sein Ende. Jedes Wachstum hat strukturelle Grenzen, und an diese Grenzen wird auch China stoßen.
Chinas politische Krise Japan bekommt sein Problem nach zwanzig Jahren Stagnation allmählich in den Griff. Dank seiner politischen und gesellschaftlichen
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Disziplin verlief die Krise friedlich. Die Tigerstaaten, vor allem Südkorea und Taiwan, ergriffen einschneidende Maßnahmen und gingen gestärkt aus der Krise hervor, doch das gelang ihnen nur mit Hilfe eines starken Staates. Andere Länder wie Indonesien haben sich bis heute nicht erholt. Chinas Problem ist ein politisches. Das Land wird durch Geld, nicht durch eine Ideologie zusammengehalten. Ein wirtschaftlicher Abschwung und ein Versiegen des Geldstroms werden nicht nur das Finanzsystem gefährden, sondern die gesamte chinesische Gesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttern. Die Loyalität zum Regime ist entweder erkauft oder erzwungen. Ohne Geld bleibt nur noch der Zwang übrig. Im Allgemeinen führt wirtschaftlicher Abschwung durch Firmenzusammenbrüche und Arbeitslosigkeit zu gesellschaftlicher Instabilität. In einem Land, das ohnehin schon durch Armut und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, provoziert eine wirtschaftliche Krise auch politische Instabilität. Im 19. Jahrhundert wurde China schon einmal durch die europäische Kolonisation in Küste und Binnenland gespalten. Die Hafenstädte, die vom Handel und den ausländischen Investitionen profitierten, unterstützten ausländische Interessen und versuchten, sich von der Zentralregierung zu lösen. Sie baten die imperialistischen Mächte, die eigene wirtschaftliche Interessen in China verfolgten, um ihre Unterstützung. Die heutige Situation hat große Ähnlichkeit mit der damaligen. Einen Unternehmer in Schanghai verbinden mehr Interessen mit Los Angeles, New York und London als mit Peking. Sollte Peking ihn maßregeln wollen, könnte er nicht nur versuchen, sich der Kontrolle durch die Hauptstadt zu entziehen, sondern sich des Beistandes ausländischer Mächte zu versichern. Währenddessen versuchen die Menschen der ärmeren Provinzen im Binnenland, entweder in die reicheren Küstenregionen umzusiedeln oder Peking zu zwingen, die reichen Landesteile zu besteuern und den Wohlstand umzuverteilen. In dieser Situation läuft Peking Gefahr, entweder die Kontrolle zu verlieren oder hart durchzugreifen und erneut in die maoistische Abschottungspolitik zu verfallen. Der chinesische Staat ruht auf zwei Säulen: dem riesigen bürokra-
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tischen Apparat, der das Land verwaltet, und der Armee, die den Willen der Kommunistischen Partei durchsetzt. Die dritte Säule, die Ideologie des Maoismus, ist verschwunden. Gleichheit, Selbstlosigkeit und der Dienst am Volk sind überholte Werte, die zwar gepredigt, aber nicht mehr gelebt werden. Staat, Partei und Sicherheitsapparat sind genauso von diesem Verlust der ideologischen Säule betroffen wie der Rest der Gesellschaft. Die Funktionäre der Kommunistischen Partei haben persönlich von der neuen Ordnung profitiert. Sollte die Zentralregierung versuchen, die Küstenstädte zur Räson zu bringen, dann wird dies kaum mit besonderer Konsequenz geschehen, da die Funktionäre vor Ort Teil des Systems sind, das diesen Regionen ihren Reichtum beschert hat. Das Problem ist dasselbe wie im 19. Jahrhundert, als Beamte in den Küstenprovinzen sich weigerten, die Anweisungen der Regierung in Peking zu befolgen, und es vorzogen, mit den Ausländern Geschäfte zu machen. Sollte es in der Tat zu einer schwerwiegenden Wirtschaftskrise kommen, muss die Zentralregierung einen Ersatz für die Ideologie des Kommunismus finden. Wenn die Menschen Opfer bringen sollen, dann im Namen von etwas, an das sie glauben können – und wenn dies nicht der Kommunismus ist, kann dies die chinesische Nation sein. Die chinesische Regierung wird versuchen, den Zerfall zu stoppen, indem sie den Nationalismus und dessen natürlichen Begleiter, die Fremdenfeindlichkeit, anheizt. Das Misstrauen gegenüber Ausländern hat in China tiefe Wurzeln, und die Partei benötigt einen Sündenbock für die Wirtschaftskrise. So wie Mao ausländische Mächte für die Schwäche Chinas schuldig sprach, wird die Partei nun die Ausländer für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich machen. Da es in Wirtschaftsfragen fast zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit ausländischen Unternehmen kommen wird, die ihre Investitionen zu schützen versuchen, wird es China nicht schwer fallen, die nationalistische Karte zu spielen. Die Ideologie der großen chinesischen Nation wird die Ideologie des Kommunismus ablösen, und die Konflikte werden zunächst die Position der Regierung eher noch stärken. Mit Schuldzuweisungen gegen Ausländer, diplomatischen
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Konfrontationen und zunehmenden Demonstrationen militärischer Stärke wird die Regierung Rückhalt in der Bevölkerung erhalten. Diese Situation wird sich vermutlich in den Jahren nach 2010 einstellen. Die wahrscheinlichsten Gegner in diesem Konflikt werden der historische Feind Japan und/oder die Vereinigten Staaten sein, gegen die bereits gewisse Ressentiments vorhanden sind. Russland wird kaum als Sündenbock in Frage kommen. Doch auch die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Japan oder den Vereinigten Staaten ist mehr als gering. Es würde China schwer fallen, militärisch gegen einen der beiden Staaten vorzugehen. Die chinesische Marine ist schwach und würde eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten nicht überstehen. Taiwan wäre theoretisch ein verlockendes, doch praktisch ein so gut wie unerreichbares Ziel: China hat nicht die Flotte, um die Formosastraße zu überqueren oder seine Invasionskonvois zu schützen, und es wird nicht in der Lage sein, im kommenden Jahrzehnt die Flottenkapazitäten aufzubauen, die nötig wären, um den Vereinigten Staaten etwas entgegensetzen zu können. ⋆
Damit bleiben China drei Möglichkeiten. Erstens, es expandiert dauerhaft mit astronomischen Wachstumsraten. Das hat bisher noch kein Land der Welt geschafft, und China wird keine Ausnahme darstellen. Das außerordentliche Wirtschaftswachstum der vergangenen dreißig Jahre hat verheerende Ungleichgewichte und Ineffizienzen in der chinesischen Wirtschaft geschaffen, die korrigiert werden müssen. Irgendwann muss China denselben schmerzhaften Anpassungsprozess durchlaufen, den der Rest Ostasiens bereits hinter sich hat. Eine zweite Möglichkeit ist die neuerliche Zentralisation Chinas. Die widerstreitenden Interessen, die nach einer Wirtschaftskrise zu Tage treten, werden von einer starken Zentralregierung kontrolliert, die die Ordnung wiederherstellt und die Autonomie der Provinzen beschneidet. Dieses Szenario ist wahrscheinlicher als das erste, doch da der Verwaltungsapparat mit Funktionären durchsetzt ist, die wenig Interesse an einer Zentralisation haben, ist es ebenfalls unwahrscheinlich. Die Regierung in Peking kann sich nicht darauf verlassen,
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dass die Bürokratie ihre Entscheidungen umsetzt. Der Nationalismus ist der einzige Kitt, der in der Lage wäre, China zusammenzuhalten. Die dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, dass China unter dem Druck einer Wirtschaftskrise in seine Provinzen zerfällt, während eine geschwächte Zentralregierung ohnmächtig zusehen muss. Historisch betrachtet ist dies das wahrscheinlichste Szenario. Sieger sind dann die wohlhabenden Schichten und die ausländischen Investoren. Damit kehrt China dahin zurück, wo es in der Zeit vor Mao war: Die Provinzen konkurrieren miteinander oder geraten sogar in Konflikt, während es der Regierung in Peking kaum gelingt, die Zügel in der Hand zu behalten. Wenn wir davon ausgehen, dass die chinesische Wirtschaft früher oder später eine Phase der Anpassung durchlaufen muss, die in der Regel von schweren Spannungen begleitet wird, dann ist dies die Variante, die aufgrund der Gegebenheiten und der chinesischen Geschichte am ehesten zu erwarten ist.
Eine japanische Variante Die führenden Industrienationen werden in den Jahren nach 2010 aufgrund ihres Bevölkerungsrückgangs unter erheblichem Arbeitskräftemangel leiden. In einigen Ländern ist die Einwanderung aufgrund hartnäckiger kultureller Vorurteile keine Option. Japan beispielsweise steht der Einwanderung äußerst ablehnend gegenüber und räumt Ausländern keine Möglichkeiten ein, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. So müssen etwa die Koreaner, die schon ein Leben lang in Japan gelebt und gearbeitet haben, mit Ausweisen vorlieb nehmen, in die das Stichwort »Koreaner« eingedruckt ist (die Japaner unterscheiden nicht nach Nord- und Südkorea). Doch zugleich muss das Land eine Arbeitskräftequelle finden, um mit deren Abgaben die Rentenlast seiner Senioren bestreiten zu können. In China steht jedoch ein großes Reservoir billiger Arbeitskräfte zur Verfügung. Wenn es den Chinesen verwehrt ist, in Japan ansässig zu werden, dann könnte Japan, wie das früher bereits auf militärische Weise der Fall gewesen ist, auf China zugreifen. Japanische Unterneh-
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men, die sich in China ansiedeln und chinesische Arbeitnehmer beschäftigen, könnten eine Alternative zur Einwanderung darstellen. Auf diese Idee wird nicht nur Japan kommen. Gleichzeitig wird Peking versuchen, seine Macht im Land zu erhalten. Wenn eine chinesische Zentralregierung in der Vergangenheit hart durchgegriffen hat, dann war sie in der Regel bereit, ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum in Kauf zu nehmen. Obwohl eine starke japanische Präsenz, die chinesische Arbeitskräfte beschäftigt, aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten für Unternehmer, Provinzregierungen und selbst die Regierung in Peking durchaus sinnvoll sein könnte, wäre sie politisch kaum vertretbar. Im Gegenteil, sie läuft den Interessen Pekings zuwider. Um das Jahr 2020 jedoch wird Japan Verbündete auf dem chinesischen Festland finden, die es ihm ermöglichen, Investitionen in seinem Sinne zu tätigen. Die Küstenprovinzen werden untereinander in Wettbewerb um japanische Investitionen treten und sich dem Druck Pekings und der nationalistischen Ideologie widersetzen. Das chinesische Binnenland wird kaum von den japanischen Investitionen profitieren, wohl aber die Unternehmen und Regierungen der Küstenprovinzen. Japan wird mit großen Summen Verbündete unter den Hafenstädten finden, die nicht bereit sind, den Preis der Abschottung zu bezahlen. Es kommt zu einer Allianz zwischen einer oder mehreren Küstenprovinzen und Japan gegen die Hauptstadt Peking. Die japanischen Investitionen spalten bald auch die Partei und unterwandern die Bemühungen der Zentralregierung, die Küstenstädte zu kontrollieren. Für Länder wie Japan, die unter demografischem Druck stehen und keine Einwanderung in großem Stile zulassen wollen, bietet China eine mögliche Lösung. Leider ist das Timing ungünstig, denn der unvermeidliche Niedergang der chinesischen Wirtschaft wird dafür sorgen, dass die Zentralregierung einen autoritären und nationalistischen Kurs einschlägt. Allerdings ist die Regierung in Peking korrumpierbar und schwächt sich auf diese Weise selbst. China wird ein geeintes Land bleiben, doch die Macht wird sich von der Zentralregierung in die Provinzen verlagern.
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Mit großer Wahrscheinlichkeit wird im Jahr 2020 ein alter Alptraum Chinas wahr werden: Provinzfürsten konkurrieren untereinander, ausländische Mächte nutzen die Situation aus, um in den Provinzen die wirtschaftlichen Spielregeln zu diktieren, und die Zentralregierung muss hilflos zusehen. Eine zweite Möglichkeit ist ein neomaoistisches China, das den inneren Zusammenhalt um den Preis des wirtschaftlichen Fortschritts erkauft. Das unwahrscheinlichste Szenario ist jedoch wie immer der Fortbestand des Status quo.
Kapitel 6
Russland: Die Revanche
Die großen Konflikte der Geopolitik wiederholen sich. Deutschland und Frankreich führten beispielsweise mehrmals Krieg gegeneinander, ebenso wie Polen und Russland. Wenn ein geopolitisches Problem nicht mit einer einzigen bewaffneten Auseinandersetzung beizulegen ist, führen die Parteien so oft Krieg, bis die Frage schließlich geklärt ist. Und selbst wenn es nicht zu einem weiteren Krieg kommt, bestehen die Spannungen fort. Große Konflikte sind tief in der geopolitischen Realität verwurzelt und verschwinden nicht einfach. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie schnell auf dem Balkan die Kriege wieder aufflammten, die ein Jahrhundert zuvor ausgetragen worden waren. Russland nimmt den östlichen Teil Europas ein und ist mehrfach mit dem übrigen Europa in Konflikt geraten. In den Napoleonischen Kriegen, den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg ging es unter anderem um den Status Russlands in Europa und sein Verhältnis zum Rest des Kontinents. In keinem der Kriege konnte diese Frage endgültig geklärt werden, am Ende überlebte oder triumphierte ein geeintes und unabhängiges Russland. Doch dieses geeinte Russland stellt eine erhebliches Bedrohungspotenzial für das übrige Europa dar. Russland ist ein riesiges Land mit einer großen Bevölkerung. Es ist ärmer als der Rest Europas, doch es hat zwei entscheidende Stärken: Land und Rohstoffe. Daher stellt es immer auch eine Versuchung für andere europäische Mächte dar, die sich auf Kosten Russlands nach Osten ausdehnen und ihren Wohlstand vergrößern wollen. In der Vergangenheit erlitten europäische Nationen mit ihren Russlandfeldzügen jedoch vernichtende Niederlagen. Wenn sie nicht selbst von
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den Russen geschlagen wurden, dann kostete sie der Feldzug derart viel Kraft, dass eine andere Macht sie besiegte. Gelegentlich drängt Russland nach Westen und bedroht Europa. Zu anderen Zeiten verhält es sich passiv und wird kaum beachtet. Doch wer Russland unterschätzt, zahlt früher oder später einen hohen Preis. Nach dem Kalten Krieg schien die russische Frage beigelegt. Wenn sich die Russische Föderation in den neunziger Jahren aufgelöst hätte und in zahlreiche kleinere Staaten zerfallen wäre, dann wäre mit der russischen Macht auch die Bedrohung für Europa verschwunden. Hätten die Amerikaner, Europäer und Chinesen Anstrengungen in diese Richtung unternommen, hätte sich die russische Frage geklärt. Doch die Europäer waren am Ende des 20. Jahrhunderts zu schwach und uneins, die Chinesen hatten zu sehr mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, und nach dem 11. September 2001 waren die Amerikaner zu sehr mit ihrem Krieg gegen die islamische Welt beschäftigt, um mit Entschiedenheit zu handeln. Die Maßnahmen der Vereinigten Staaten waren unzureichend und konfus. Sie hatten lediglich zur Folge, dass Russland auf die Gefahr aufmerksam wurde, die ihm von den Vereinigten Staaten drohte, und entsprechend reagierte. Da Russland nicht zerfallen ist, wird die alte geopolitische Frage wieder aktuell. Und da sich Russland heute neu formiert, wird dies eher früher als später passieren. Der Konflikt wird genauso wenig eine Neuauflage des Kalten Kriegs sein, wie der Erste Weltkrieg eine Neuauflage der Napoleonischen Kriege war. Doch er wird ein weiteres Mal die grundlegende russische Frage stellen: Wo liegen die Grenzen des geeinten Russland, und was ist das Verhältnis zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn? Diese Fragen beschäftigen uns in der nächsten Phase der Weltgeschichte bis zum Jahr 2020.
Die russische Dynamik Um das Verhalten und die Absichten Russlands zu verstehen, müssen wir bei seiner entscheidenden Schwäche beginnen: seinen europäischen Grenzen, vor allem zum nördlichen Europa. Selbst wenn die
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Ukraine wie in den vergangenen Jahrhunderten von Russland kontrolliert wird und Weißrussland sowie Moldawien Teil des russischen Staatsgebiets sind, hat das Land nach Westen hin keine natürlichen Grenzen. Das Zentrum und der Süden werden von den Karpaten gesichert, die bis an die slowakisch-polnische Grenze reichen, und an der Grenze zur Ukraine befinden sich die unpassierbaren Prypjat-Sümpfe. Doch in Richtung Südost- und Nordeuropa hat Russland keine natürlichen Grenzen, die es – oder seine Nachbarn – schützen könnten. Entscheidend ist die nordeuropäische Tiefebene mit ihrer offenen Flanke. Der einzige Vorteil Russlands ist seine Tiefe. Je weiter es sein Territorium nach Westen verschiebt, desto weiter ist der Weg nach Moskau. Historisch drängt Russland daher auf der nordeuropäischen Tiefebene nach Westen, und Europa nach Osten. An den übrigen Grenzen Russlands beziehungsweise der Sowjetunion ist die Situation eine andere, weshalb die Grenzverläufe dort seit Ende des 19. Jahrhunderts in etwa stabil geblieben sind. Im Süden trennen das Schwarze Meer und der Kaukasus Russland von der Türkei beziehungsweise dem Iran. An der iranischen Grenze liegen außerdem das Kaspische Meer und die Karakum-Wüste im südlichen Turkmenistan, die weiter an der afghanischen Grenze verläuft und am Fuß des Himalaja endet. Die iranisch-afghanische Grenze beschäftigt Russland, weshalb es wie in der Vergangenheit weiter nach Süden drängen könnte, doch ihm selbst droht an dieser Grenze keine Gefahr. Die Grenze zu China ist lang und scheinbar verwundbar, doch nur auf der Landkarte. Ein Einmarsch in das gewaltige Ödland von Sibirien ist praktisch unmöglich. Russland ist also weitgehend sicher – außer in Nordeuropa. Von dort droht ihm die größte Gefahr: durch die Geografie und von seinen mächtigen europäischen Nachbarn. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft verlor Russland gewaltige Gebiete. Im Jahr 1989 lagen anderthalbtausend Kilometer zwischen Sankt Petersburg und den Truppen der NATO, heute sind es weniger als 150 Kilometer. Moskau hatte im Jahr 1989 einen Puffer von fast 2000 Kilometern, heute sind es rund 300. Solange die Ukraine unabhängig ist, bleibt auch die Kontrolle des Schwarzen Meers unsicher. Im Kaukasus wurde Russland bis in den Norden des Ge-
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birgszuges zurückgedrängt. Afghanistan ist mehr oder weniger unter amerikanischer Kontrolle, und Russland hat seinen Anker im Himalaja verloren. Hätte eine Armee ein Interesse daran, nach Russland vorzudringen, könnte Russland sie kaum aufhalten. Das strategische Problem Russlands ist seine schwache Infrastruktur. Würde Russland gleichzeitig an verschiedenen Stellen entlang seiner langen Grenze angegriffen, könnte es wenig zu seiner Verteidigung unternehmen. Es wäre schwer, die erforderlichen Kräfte zu mobilisieren und an die verschiedenen Frontabschnitte zu schicken. Daher würde Russland außerordentlich große Streitkräfte benötigen, die fest entlang der Grenze stationiert sein müssten, wie dies zu Zeiten der Sowjetunion der Fall war. Es ist nicht das erste Mal, dass Russland bedroht wird. Die Sicherung der Grenzen ist allerdings nicht das einzige Problem des Lands. Russland steht vor einer gewaltigen demografischen Krise. Die Bevölkerung wird von heute 145 Millionen Einwohnern wird bis zum Jahr 2050 ja nach Schätzung auf 125 bis 90 Millionen zurückgehen. Russland läuft die Zeit davon. Es wird Probleme haben, ausreichend große Streitkräfte zu unterhalten. Außerdem nimmt der Anteil der gebürtigen Russen gegenüber den Angehörigen anderer Volksgruppen weiter ab, weshalb Russland möglichst bald handeln muss. In zwanzig Jahren könnte es zu spät sein, und die politischen Führer sind sich dessen sehr bewusst. Russland muss nicht die Welt erobern, aber es muss seine Pufferzone zurückgewinnen und in die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion zurückkehren. Vor dem Hintergrund seiner geopolitischen, wirtschaftlichen und demografischen Probleme muss Russland seine Strategie ändern. Ein Jahrhundert lang versuchten seine politischen Führer, das Land durch Industrialisierung zu modernisieren und den Anschluss an das übrige Europa zu finden. Dieser Versuch ist gescheitert. Daher schlug Russland um das Jahr 2000 einen neuen Weg ein und verlegte sich auf den Export von Rohstoffen, vor allem Energie, aber auch Erzen, landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Holz und Edelmetallen. Die Abkehr von der Industrialisierung und die Hinwendung zum Rohstoffexport entspricht eher der Strategie eines Entwicklungslan-
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des. Doch der unerwartete Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise rettete die russische Wirtschaft und stärkte sie so weit, dass Russland heute eine selektive Reindustrialisierung vornehmen kann. Und da die Rohstoffförderung weniger arbeitskräfteintensiv ist als die industrielle Produktion, verleiht sie dem Land eine wirtschaftliche Grundlage, die sich auch mit einer schrumpfenden Bevölkerung aufrechterhalten lässt. Diese Wirtschaftsstrategie hat den zusätzlichen Vorteil, dass sie Russland seinen internationalen Einfluss zurückgibt. Europa lechzt nach Energie. Mit seinen Gaspipelines bedient Russland den europäischen Energiebedarf und löst seine eigenen wirtschaftlichen Probleme. Außerdem ist Energie in einer Welt des wachsenden Konsums ein Machtfaktor. Russland setzt den Gashahn ein, um sich seine Nachbarn gefügig zu machen. Seine Macht reicht bis weit nach Europa hinein. Nicht nur die früheren sowjetischen Satellitenstaaten, sondern auch Deutschland ist von den russischen Lieferungen abhängig. Mit seiner Gaspipeline und anderen Rohstoffen ist Russland in der Lage, erheblichen Druck auf Europa auszuüben. Diese Art der Abhängigkeit ist ein zweischneidiges Schwert. Ein militärisch schwaches Russland kann Europa nicht unter Druck setzen, denn seine Nachbarn könnten auf den Gedanken kommen, ihm die Quelle seines Wohlstands zu nehmen. Also muss Russland seine militärische Stärke wiedererlangen. Länder, die zugleich reich und schwach sind, befinden sich in einer äußerst ungünstigen Lage. Wenn Russland seine Rohstoffe erschließen und nach Europa exportieren will, muss es in der Lage sein, sie zu schützen und das internationale Umfeld seinen Wünschen gemäß zu gestalten. Im nächsten Jahrzehnt wird Russland immer wohlhabender (zumindest im Vergleich zur Vergangenheit), während seine Grenzen immer unsicherer werden. Daher wird es einen Teil seines neuen Wohlstandes darauf verwenden, geeignete Streitkräfte aufzustellen sowie Pufferzonen zu schaffen, um sich gegen den Rest der Welt zu schützen. Russlands übergreifende Geostrategie besteht darin, breite Puffer auf der europäischen Tiefebene einzurichten sowie seine Nachbarn zu schwächen und zu beherrschen, um auf diese Weise ein neues
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Machtgleichgewicht in Europa herzustellen. Daher werden die zukünftigen Schritte Russlands nach außen hin aggressiv erscheinen, obwohl sie in Wirklichkeit defensiver Natur sind. Russlands wird seine Aktivitäten in drei Phasen entfalten. In der ersten geht es darum, die Staaten der früheren Sowjetunion unter seinen Einfluss und seine Kontrolle zu bekommen und deren Pufferzonen wiederherzustellen. In der zweiten wird Russland versuchen, einen weiteren Ring von Pufferzonen um die Grenzen der früheren Sowjetunion herum einzurichten, ohne dabei den Widerstand zu provozieren, der im Kalten Krieg schließlich zu seiner Niederlage fürchte. In der dritten Phase, die eigentlich parallel zu den beiden eben genannten beginnt, wird Russland schließlich versuchen, die Entstehung anti-russischer Bündnisse zu verhindern. ⋆
An dieser Stelle müssen wir kurz innehalten und uns klar machen, warum die Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überlebte und was ihre Stärke ausmachte. Die Sowjetunion wurde nämlich nicht nur durch Gewalt zusammengehalten, sondern auch durch ein komplexes System wirtschaftlicher Beziehungen, genau wie vor ihr das russische Zarenreich. Als riesige, weitgehend vom Meer abgeschnittene Regionen im Herzen Eurasiens bilden die Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion eine geografische Einheit. Sie verfügen über schlechte Transportwege, das Flusssystem entspricht nicht den Erfordernissen der Landwirtschaft und der Industrie, weshalb der Transport von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen eine große Herausforderung darstellt. Wenn wir die Sowjetunion als ein natürliches Bündnis aus räumlich isolierten und wirtschaftlich benachteiligten Nationen begreifen, verstehen wir, was ihren Zusammenhalt ausmachte. Die Teilrepubliken der Sowjetunion wurden durch wirtschaftliche Notwendigkeit zusammengehalten. Sie konnten wirtschaftlich nicht mit dem Rest der Welt konkurrieren, doch abgeschottet vom Wettbewerb konnten sie einander ergänzen und unterstützen. Dieses naturwüchsige Bündnis wurde von Russland beherrscht. Die Länder jenseits der Karpaten (die Russ-
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land im Zweiten Weltkrieg eroberte und zu seinen Satelliten machte), gehörten nicht zu diesem natürlichen Zusammenschluss. Ohne den Eisernen Vorhang hätten sie sich Europa zugewandt, nicht Russland. Die ehemalige Sowjetunion bestand also aus Teilrepubliken, denen im Grunde gar nichts anderes übrig blieb, als zu kooperieren. Diese alten wirtschaftlichen Beziehungen bestehen nach wie vor, mit dem Unterschied, dass die früheren Teilrepubliken aufgrund des neuen russischen Wirtschaftsmodells, des Energieexports, heute noch stärker von Russland abhängig sind als früher. Die Ukraine fühlte sich zwar zu Westeuropa hingezogen, doch sie kann mit Europa weder konkurrieren noch kooperieren. Der natürliche Wirtschaftspartner der Ukraine ist Russland, sie ist von russischen Energieexporten abhängig und wird letztlich auch militärisch von Russland dominiert. Russland wird diese Dynamik nutzen, um seine alte Einflusssphäre wiederherzustellen. Eine von Moskau beherrschte formale politische Struktur ist zwar denkbar, aber keine notwendige Voraussetzung. Wichtiger ist die Tatsache, dass Russland in den kommenden fünf bis zehn Jahren seinen Einfluss in der Region ausbauen wird. Um die künftige Entwicklung besser zu verstehen, sehen wir uns drei Regionen genauer an: den Kaukasus, Zentralasien und Europa mit den baltischen Staaten.
Der Kaukasus Der Kaukasus ist die Grenze zwischen Russland und der Türkei und war in der Vergangenheit ein Brennpunkt zwischen den beiden Reichen. Auch im Kalten Krieg war die Region ein potenzieller Krisenherd. Auf sowjetischer Seite der Grenze befanden sich die drei Teilrepubliken Armenien, Georgien und Aserbaidschan, die heute selbstständig sind. Der Norden des Kaukasus verläuft durch das Territorium der Russischen Föderation selbst; dort befinden sich die muslimischen Regionen Dagestan und Tschetschenien, wo Rebellen seit dem Untergang des Kommunismus einen Guerillakrieg gegen die Herrschaft aus Moskau führen.
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Aus verteidigungspolitischer Sicht ist die exakte Grenzziehung zwischen Russland und der Türkei irrelevant, solange die Grenze durch den Kaukasus verläuft, denn das bergige Gelände erleichtert die Verteidigung. Sollte Russland jedoch seine Position im Kaukasus vollständig verlieren und ins nördliche gelegene Flachland zurückgedrängt werden, dann geriete Russland in eine schwierige Lage. Da die Landbrücke zwischen der Ukraine und Kasachstan nur wenige hundert Kilometer breit ist, bekäme Russland strategische Probleme. Aus diesem Grund ist Russland in Tschetschenien nicht zu Kompromissen bereit. Der Nordkaukasus verläuft durch den Süden Tschetscheniens, weshalb ein Verlust der Region die russische Stellung gefährden würde. Wenn Russland die Wahl hätte, würde es die Grenze eher noch weiter nach Süden, nach Georgien, verschieben. Armenien ist bereits ein Verbündeter Russlands. Wäre Georgien Teil des Territoriums der Russischen Föderation, wäre diese Grenze sicherer. Die
RUSSLAND Adygeja KaratschaiTschetTscherkessien Kabardinoschenien Balkaria InguNord- schetien ossetien Dagestan
Südossetien
Schwarzes Meer
Kaspisches Meer
GEORGIEN
ASERBAIDSCHAN
ARMENIEN TÜRKEI ASERBAIDSCHAN IRAN Der Kaukasus
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Kontrolle über Tschetschenien ist ein Muss. Die Übernahme Georgiens wäre wünschenswert. Der Besitz Aserbaidschans schließlich bietet zwar keinen unmittelbaren Vorteil, doch in Moskau hätte man auch nichts gegen einen weiteren Puffer gegenüber dem Iran einzuwenden. Die russische Position ist an dieser Stelle zwar nicht schwach, doch Georgien, das nicht zufällig enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unterhält, stellt ein verlockendes Ziel dar, weshalb es im August 2008 zu einem ersten Konflikt kam. Wie in so vielen Bergregionen der Welt, die von kleinen Völkern besiedelt werden, werden im Kaukasus seit jeher erbitterte Feindschaften ausgetragen. Armenien beschuldigt die Türkei, Anfang des 20. Jahrhunderts einen Völkermord an christlichen Armeniern verübt zu haben, und sucht Schutz bei Russland. Georgien wiederum pflegt eine intensive Rivalität und Feindschaft mit Armenien und hegt tiefes Misstrauen gegenüber Russland – und das, obwohl Stalin ein Georgier war. Russland wiederum behauptet, Georgien dulde Waffenlieferungen an die tschetschenischen Rebellen, und die Tatsache, dass Georgien enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unterhält, macht die Sache nicht besser. Aserbaidschan wiederum ist mit Armenien verfeindet und steht dem Iran und der Türkei nahe. Die Situation im Kaukasus ist nicht nur schwer zu durchschauen, sondern auch schwer zu handhaben. Die Sowjetunion löste die verworrene Situation nach dem Ersten Weltkrieg, indem sie diese Nationen in ihr Bündnis aufnahm und kompromisslos sämtliche Autonomiebestrebungen unterdrückte. Russland kann diese Region weder jetzt noch in Zukunft vernachlässigen, wenn es seine Position im Kaukasus nicht verlieren will. Daher muss es, beginnend in Georgien, seine Macht wiederherstellen. Da die Vereinigten Staaten Georgien jedoch als strategisch wichtigen Partner ansehen, ist eine Konfrontation unvermeidlich. Solange die Rebellion in Tschetschenien fortgesetzt wird, muss sich Russland nach Süden orientieren, die Rebellen einkreisen und ihre Position in den Bergen aushebeln. Zwei Mächte haben wenig Interesse an einem solchen Verlauf der Ereignisse: die Vereinigten Staaten und die Türkei. Die Vereinigten Staaten würden eine russische Vorherrschaft in Georgien als Angriff
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auf ihre eigene Position in der Region begreifen, und für die Türkei bedeutet sie eine Stärkung Armeniens und eine Rückkehr der russischen Armee an ihre Grenzen. Der Widerstand dieser beiden Länder wird Russland nur umso mehr davon überzeugen, dass es in der Region handeln muss. Daher sind weitere Konflikte im Kaukasus unausweichlich.
Zentralasien Zentralasien ist eine riesige Landmasse zwischen dem Kaspischen Meer und der chinesischen Grenze. Als überwiegend muslimische Region wurde sie, wie bereits erörtert, von der massiven Destabilisierung der islamischen Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfasst. Dank ihrer Rohstoffvorkommen ist die Region wirtschaftlich interessant, doch strategisch ist sie von geringer Bedeutung
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KASACHSTAN
USBEKISTAN
KIRGISISTAN
TURKMENISTAN
CHINA TADSCHIKISTAN
IRAN
AFGHANISTAN
INDIEN PAKISTAN
Zentralasien
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für Russland – es sei denn, eine andere Großmacht wollte versuchen, sie zu kontrollieren und hier eine Basis zu errichten. In diesem Fall wäre die Region mit einem Mal äußerst wichtig. Wer Kasachstan beherrscht, steht wenige hundert Kilometer vor der Wolga, einem entscheidenden Transportweg für die russische Landwirtschaft. In den 1990er Jahren strömten westliche Energiekonzerne nach Zentralasien. Das störte Russland wenig: Es war weder konkurrenzfähig noch in der Lage, die Region militärisch zu kontrollieren. Aus russischer Sicht war Zentralasien ein neutrales und relativ unbedeutendes Gebiet. Das änderte sich schlagartig mit dem 11. September 2001. In der neuen geopolitischen Situation sahen sich die Vereinigten Staaten plötzlich gezwungen, in Afghanistan einzumarschieren. Da sie nicht in der Lage waren, diese Operation allein durchzuführen, baten sie Russland um Unterstützung. Unter anderem sollte Russland die Nordallianz, eine mit den Taliban verfeindete Gruppierung in Nordafghanisten, dazu bewegen, sich aktiv an den Auseinandersetzungen zu beteiligen. Russland hatte die Nordallianz gefördert und kontrollierte sie weitgehend. Außerdem baten die Vereinigten Staaten Russland um Unterstützung bei der Einrichtung von Militärbasen in verschiedenen zentralasiatischen Ländern. Theoretisch handelte es sich zwar um unabhängige Nationen, doch da die Vereinigten Staaten auf die Unterstützung der Nordallianz angewiesen waren, konnten sie es sich nicht erlauben, Russland zu verärgern. Umgekehrt wollten es sich auch die zentralasiatischen Staaten nicht mit Russland verscherzen, und schließlich mussten die amerikanischen Flugzeuge russisches Territorium überfliegen, um deren Basen zu erreichen. Russland stimmte der Präsenz amerikanischer Truppen in der Region zu, offenbar in der Annahme, dass es sich lediglich um ein kurzfristiges Engagement handeln würde. Doch da sich der Krieg in Afghanistan in die Länge zog, blieben die Vereinigten Staaten und bauten ihren Einfluss aus. Russland musste erkennen, dass eine ehemals wohlgesonnene Pufferzone unter die Vorherrschaft der führenden Weltmacht kam – einer Macht, die Russland auch in der Ukraine, dem Kaukasus und dem Baltikum bedrängte. Dazu kam, dass vor dem Hin-
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tergrund steigender Energiepreise und der neuen Wirtschaftsstrategie die zentralasiatischen Rohstoffvorräte immer wichtiger für Russland wurden. Russland hatte kein Interesse daran, dass sich die Truppen der Vereinigten Staaten wenige hundert Kilometer von der Wolga entfernt festsetzten, und musste handeln. Es tat dies nicht direkt, sondern dämmte den Einfluss der Vereinigten Staaten durch eine Manipulation der politischen Situation in der Region ein. Ziel war es, Zentralasien wieder in den russischen Einflussbereich zurückzuholen. Die Amerikaner, die auf der anderen Seite der Welt agierten und von den chaotischen Ländern Afghanistan, Iran und Pakistan umringt waren, konnten dieser Strategie nichts entgegensetzen, und Russland bekräftigte seine natürliche Vormachtstellung. Interessanterweise handelte es sich um eine der wenigen Regionen der Welt, die sich nicht mit einer Flotte erreichen lassen. Doch gerade in Zentralasien können es sich die Vereinigten Staaten nicht erlauben, unter russischem Druck zu bleiben. Hier könnte China übermächtig werden, obwohl dies, wie wir gesehen haben, eher unwahrscheinlich ist. China verfügt über gewissen Einfluss, doch letztlich ist Russland die militärische und wirtschaftliche Vormacht. Russland kann China den Zugang zu Zentralasien gestatten, doch die Situation wird sich im Grunde nicht gegenüber der verändern, wie sie die Sowjetunion zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. Daher bin ich der Ansicht, dass Zentralasien spätestens im Jahr 2010 wieder fest in der russischen Einflusssphäre verankert sein wird, lange bevor größere Auseinandersetzungen im Westen, in Europa, beginnen.
Europa Der europäische Schauplatz besteht in erster Linie aus den unmittelbaren westlichen Nachbarn Russlands, den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Dazu kommen Weißrussland und die Ukraine, die früher zur Sowjetunion gehörten. Dahinter liegt der Gürtel der früheren sowjetischen Satellitenstaaten Polen, Tschechien,
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Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Aus Gründen der nationalen Sicherheit muss Russland seine Einflusssphäre auf die Ukraine und Weißrussland ausdehnen. Das Baltikum kommt an zweiter Stelle. Osteuropa ist weniger wichtig, solange Russland in den Karpaten verankert und auf der nordeuropäischen Tiefebene militärisch gesichert ist. Das alles kann natürlich zu Komplikationen führen. Die Ukraine und Weißrussland sind für die russische Sicherheit entscheidend. Sollten sie unter feindlichen Einfluss geraten – etwa den der NATO – würde dies eine tödliche Gefahr für Russland darstellen. Moskau ist rund 300 Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt und Wolgograd, das frühere Stalingrad, liegt noch näher an der ukrainischen Grenze. Vor Napoleon und Hitler war Russland durch seine räumliche Weite geschützt, doch ohne Weißrussland und die Ukraine hat es diese weiten Flächen verloren. Natürlich ist die Vorstellung absurd, dass die NATO eine Bedrohung für Russland darstellen könnte. Doch die Russen denken langfristig und wissen, wie schnell das Absurde zu einer realen Möglichkeit werden kann. Schließlich haben sie mitangesehen, wie die Vereinigten Staaten und die NATO ihren Einflussbereich systematisch auf Osteuropa und das Baltikum ausgedehnt haben. Als die Vereinigten Staaten jedoch versuchten, auch die Ukraine für die NATO zu gewinnen, änderte Russland seine Haltung gegenüber den Absichten der NATO sowie der Ukraine. Aus russischer Sicht ist die Aufnahme der Ukraine in die NATO ungefähr so bedrohlich, wie es ein Beitritt Mexikos in den Warschauer Pakt für die Vereinigten Staaten gewesen wäre. Als die prowestliche Orangene Revolution Anfang 2004 die Ukraine in die Arme der NATO zu treiben schien, hielt Moskau den Vereinigten Staaten vor, sie wollten Russland einkreisen und vernichten. Es sei dahingestellt, ob die Vereinigten Staaten dies tatsächlich vorhatten. Doch der NATOBeitritt der Ukraine wäre zweifelsohne ein potenziell vernichtender Schlag für die nationalen Sicherheitsinteressen Russlands gewesen. Russland mobilisierte keine Armeen, sondern seine Geheimdienste, die in der Ukraine ausgezeichnet vernetzt sind. Diese unterwanderten die Orangene Revolution, indem sie die Spaltung des Lands in eine pro-europäischen Westukraine und eine pro-russische Ostukra-
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ine ausnutzten. So fiel es ihnen nicht schwer, die ukrainische Politik vollständig zu paralysieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe sich Kiew der russischen Macht beugt. Der Fall Weißrussland liegt dagegen einfacher. Wie zuvor angemerkt, hat Weißrussland von allen ehemaligen Sowjetrepubliken die wenigsten politischen Reformen durchgeführt und ist ein weitgehend zentralistischer, autoritärer Staat geblieben. Die politischen Führer trauern der Sowjetunion nach und haben mehrfach ein neues Bündnis mit Russland vorgeschlagen. Die Bedingungen eines solchen Zusammenschlusses würde natürlich Russland vorgeben, was zu inneren Spannung führen könnte, doch es besteht zumindest keine Gefahr, dass Weißrussland der NATO beitreten könnte. Die Rückkehr der Ukraine und Weißrusslands in die russische Einflusssphäre wird in den nächsten fünf Jahren abgeschlossen sein. Dann ist im Westen der Grenzverlauf aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wiederhergestellt. Im Süden ist Russland im Kaukasus verankert, die Ukraine ist gesichert, und auf der nordeuropäischen Tiefebene grenzt Russland an Polen und das Baltikum. Damit stellt sich die Frage der Vormachtstellung und des exakten Grenzverlaufs im Nordwesten. Der eigentliche Konfliktherd wird das Baltikum werden. Für Armeen, die Russland erobern wollten, war das Einfallstor traditionell die 500 Kilometer breite Schneise zwischen der Ostsee und den Karpaten. Es handelt sich um eine Tiefebene, die nur wenige natürliche Hindernisse in Form von Flüssen bietet und sich leicht überqueren lässt. Potenzielle europäische Invasoren können geradewegs nach Moskau oder Petersburg spazieren. Die Tatsache, dass die NATO heute nur noch 100 Kilometer von Petersburg entfernt ist, erklärt, warum das Baltikum einen strategischen Alptraum für Russland darstellt und warum es dieses Problem unbedingt lösen will. Die drei baltischen Staaten waren Teilrepubliken der Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch wurden sie unabhängig und traten der NATO bei. Wie wir gesehen haben, stecken die Europäer heute zu tief in der Phase der Dekadenz, um diese Situation für sich nutzen zu können. Doch Russland wird sich in Fragen seiner nationalen Sicherheit
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kaum auf diese Annahme verlassen wollen. Es hat nicht umsonst erlebt, wie Deutschland, das 1932 am Boden lag, bereits neun Jahre später vor den Toren Moskaus stand. Durch den NATO-Beitritt der baltischen Staaten und Polens hat sich das Nordatlantische Verteidigungsbündnis bedrohlich nahe an das russische Kernland herangeschoben. Ein Land, das in den letzten zwei Jahrhunderten dreimal überfallen wurde, wird sich nicht damit in der Sicherheit wiegen, dass die NATO keine Bedrohung darstellt. Aus russischer Sicht ist die potenzielle Einfallschneise nicht nur vollkommen ungeschützt, sondern sie befindet sich obendrein in der Hand von Ländern, die Russland alles andere als wohlgesonnen sind. Die baltischen Staaten haben Russland nie für seine Besetzung vergeben. Polen ist ähnlich verbittert und misstraut Russland zutiefst. Als Teil der NATO bilden diese Staaten die Front. Dahinter liegt Deutschland, dem Russland genauso misstraut wie Polen und die baltischen Staaten Russland. Mag sein, dass die Russen paranoid sind – aber das heißt nicht, dass sie keine Feinde haben oder verrückt wären. Mit einem neutralen Baltikum könnte sich Russland abfinden, doch ein Baltikum, das der NATO angehört und den Vereinigten Staaten nahe steht, ist ein inakzeptables Sicherheitsrisiko. Auf der anderen Seite können es sich die Vereinigten Staaten, die in Zentralasien klein beigeben mussten und im Kaukasus auf der Hut sind, nicht leisten, sich aus dem Baltikum zurückzuziehen. Jedes Zugeständnis hinsichtlich der baltischen Staaten würde Osteuropa in Panik versetzen, die Region destabilisieren und ein weiteres Vordringen der russischen Einflusssphäre wahrscheinlicher machen. Das russische Interesse ist größer, doch auch für die Vereinigten Staaten steht viel auf dem Spiel. Als nächstes wird Russland Weißrussland in sein Verteidigungssystem integrieren. Aufgrund des engen Verhältnisses der beiden Staaten ist dies ein natürlicher Schritt. Damit steht die russische Armee an der Grenze zum Baltikum und zu Polen, und die Konfrontation nähert sich ihrem Höhepunkt. Polen misstraut Deutschland und Russland gleichermaßen. Gefangen zwischen beiden, fürchten sie stets den jeweils stärkeren. Anders
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als der Rest Osteuropas, der die Karpaten zwischen sich und Russland hat oder an die Ukraine grenzt, befindet sich Polen auf der gefährlichen nordeuropäischen Tiefebene. Wenn Russland im Zuge der Konfrontation mit den baltischen Staaten mit seiner Armee an die polnischen Grenzen zurückkommt, muss Polen reagieren. Mit rund 40 Millionen Einwohnern ist Polen kein kleines Land, und als enger Verbündeter der Vereinigten Staaten ist es nicht zu unterschätzen. Polen wird die baltischen Staaten unterstützen. Russland wird die Ukraine in sein Bündnis mit Weißrussland holen, womit russische Truppen an der gesamten polnischen Ostgrenze stehen. An diesem Punkt wird Russland versuchen, das Baltikum zu neutralisieren – meiner Ansicht nach wird dies irgendwann Mitte der 2010er Jahre passieren. Russland wird drei Instrumente zum Einsatz bringen, um die baltischen Staaten unter seinen Einfluss zu bekommen. Erstens geheimdienstliche Operationen. So wie Washington in aller Welt Oppositionsgruppen mit Geld und Militärberatern unterstützte, wird Moskau die russischen Minderheiten und pro-russische Gruppierungen in diesen Ländern fördern. Sollten die baltischen Staaten diese Bewegungen unterdrücken, liefern sie Russland einen Vorwand, ihr zweites Instrument zum Einsatz zu bringen und wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen, sprich: den Gashahn abzudrehen. Schließlich wird Russland auch den militärischen Druck erhöhen und Truppen an der Grenze zu den baltischen Staaten zusammenziehen. In Polen und dem Baltikum weiß man, wie unberechenbar die Russen sind, weshalb der psychologische Druck erheblich ist. In den letzten Jahren war häufig die Rede von der vermeintlichen Schwäche der russischen Armee. Im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion traf dies durchaus zu. Doch heute stehen wir vor einer neuen Realität, die Tendenz kehrte sich im Jahr 2000 um, und im Jahr 2015 wird von einer militärischen Schwäche keine Rede mehr sein können. Die bevorstehende Auseinandersetzung in Nordosteuropa wird kein plötzliches Ereignis sein, sondern sich über einen längeren Zeitraum hin forcieren. Russland wird ausreichend Zeit haben, seine Streitkräfte aufzubauen. Ein Bereich, in
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dem Russland in den 1990er Jahren weiter in die Forschung investierte, war die Militärtechnologie. Im Jahr 2010 wird Russland ohne jeden Zweifel über die effektivsten Streitkräfte der Region verfügen. Spätestens im Jahr 2015 werden diese Streitkräfte eine Herausforderung für jede Macht darstellen, die sich in dieser Region etablieren will, die Vereinigten Staaten eingeschlossen. Russland steht einer Gruppe von Staaten gegenüber, die sich nicht selbst verteidigen können, und einer NATO, die nur dann effektiv ist, wenn die Vereinigten Staaten bereit sind, sich militärisch zu engagieren. Wie wir gesehen haben, verfolgen die Vereinigten Staaten eine kohärente Strategie: Sie wollen verhindern, dass eine Macht Eurasien ganz oder teilweise beherrscht. Während China schwächer wird oder zerfällt und die Europäer schwach und uneins sind, haben die Vereinigten Staaten vor allem ein Interesse: Sie werden versuchen, die Aufmerksamkeit Russlands auf das Baltikum und Polen zu konzentrieren, um zu verhindern, dass es weltweite Ambitionen entwickelt. Dazu wenden die Vereinigten Staaten ihre bewährte Methode an: Sie unterstützen die betroffenen Länder mit dem Transfer von Technologien. In den Jahren vor 2020 werden diese Technologien immer effektiver. Aufgrund dieser Technologien sind immer kleinere und effizientere Streitkräfte erforderlich, was wiederum zur Folge hat, dass kleine Länder mit ihrer Hilfe über verhältnismäßige große militärische Schlagkraft verfügen. Die Vereinigten Staaten haben ein Interesse daran, die baltischen Staaten und Polen mit dieser Technologie auszustatten, um die russischen Streitkräfte zu binden. Dies ist der beste Ort zur Eindämmung der russischen Macht. Georgien ist ein zweiter Brennpunkt, der Moskau verärgert und veranlasst, Streitkräfte aus Europa abzuziehen, weshalb die Vereinigten Staaten auch hier aktiv werden. Doch die entscheidende Auseinandersetzung wird nicht im Kaukasus, sondern in Europa stattfinden. Angesichts der amerikanischen Macht wird Russland keinen direkten Angriff wagen. Umgekehrt werden die Vereinigten Staaten keine Abenteuer ihrer Verbündeten dulden. Stattdessen wird Russland versuchen, die Vereinigten Staaten andernorts in Europa und der Welt unter Druck zu setzen. Sie könnten beispielsweise versuchen, Grenz-
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länder wie die Slowakei und Bulgarien zu destabilisieren. Die Konfrontation wird die gesamte Grenze zwischen Russland und dem übrigen Europa erfassen. Die russische Strategie wird auf eine Spaltung der NATO und eine Isolierung Osteuropas hinauslaufen. Der Schlüssel zu dieser Strategie sind Deutschland und Frankreich. Keines der beiden Länder wünscht eine Konfrontation mit Russland. Beide sind isolierte Staaten, und Deutschland ist zudem von russischem Gas abhängig. Deutschland wird mit gewissem Erfolg versuchen, diese Abhängigkeit zu verringern, doch es wird nicht ohne die Gaslieferungen aus Russland überleben können. Russland wird daher gegenüber den Deutschen behaupten, sie würden von den Vereinigten Staaten benutzt, um Russland einzudämmen, und das, obwohl doch beide Staaten ein gemeinsames Interesse hätten, nämlich ein neutrales Polen als stabilen Puffer. Die Frage der baltischen Staaten habe damit nichts zu tun. Die Vereinigten Staaten könnten nur dann ein Interesse am Baltikum haben, wenn sie eine militärische Aktion gegen Russland planten. Im Rahmen eines breiten Bündnisses wolle Russland die baltische Autonomie akzeptieren. Außerdem wolle es die polnischen Sicherheitsinteressen garantieren, wenn Polen im Gegenzug abrüste und neutral würde. Die Alternative, ein Krieg, könne dagegen nicht im Interesse Deutschlands und Frankreichs sein. Diese Argumentation könnte durchaus verfangen, doch ich gehe davon aus, dass sich die Situation in unvorhergesehener Weise entwickelt. Die Vereinigten Staaten, die aus europäischer Sicht immer unnötig aggressiv vorgehen, werden in Osteuropa unnötig viel Unruhe stiften, um den Russen zu drohen. Sollte Deutschland zulassen, dass die NATO auf diese Weise aktiv wird, würde es in einen Konflikt verwickelt, den es nicht wünscht. Ich würde daher davon ausgehen, dass Deutschland die Unterstützung für Polen, die baltischen Staaten und das übrige Osteuropa blockieren wird – die NATO erfordert Einstimmigkeit, und Deutschland ist ein wichtiger Mitgliedsstaat. Russland wird wiederum davon ausgehen, dass der Schock über die negative Entscheidung der NATO Polen und die baltischen Staaten zum Einlenken zwingt.
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Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Polen, das seinen historischen Alptraum durchlebt und befürchtet, zum Spielball von Russland und Deutschland zu werden, wird sich stärker an die Vereinigten Staaten binden. Diese wiederum erkennen eine billige Möglichkeit, russische Streitkräfte zu binden, Europa zu spalten sowie die Europäische Union zu schwächen, weshalb sie ihre Unterstützung für Osteuropa verstärken. Um das Jahr 2015 formiert sich ein neuer Block, der aus den baltischen Staaten und ehemaligen sowjetischen Satelliten besteht. Da diese Staaten sehr viel energiegeladener sind als die Westeuropäer und zudem von den Vereinigten Staaten unterstützt werden, entwickelt ihr Block eine überraschende Dynamik. Moskau reagiert auf diese Ausweitung des amerikanischen Einflusses, indem es die Vereinigten Staaten andernorts unter Druck setzt. Im Nahen Osten, wo sich die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern fortsetzen, unterstützt es die arabische Seite. Wo immer es amerikafeindliche Regierungen gibt, wird Russland Militärhilfe gewähren. Ab 2015 ist in aller Welt eine unterschwellige Konfrontation zu spüren, die sich bis zum Jahr 2020 verstärkt. Keine Seite riskiert den offenen Krieg, doch beide Seiten sind aktiv. Zu Beginn der 2020er Jahre ist der Konflikt weltweit das beherrschende Thema. Und wieder gehen sämtliche Beobachter davon aus, dass es sich um ein dauerhaftes Problem handelt. Doch die Auseinandersetzung wird nicht die Dimensionen des Kalten Kriegs annehmen. Russland wird nie in der Lage sein, ganz Eurasien zu kontrollieren, und keine weltweite Bedrohung darstellen. Regional wird es allerdings sehr wohl eine Gefahr sein, und auf dieser Ebene reagieren die Vereinigten Staaten. Die Spannungen werden das gesamte russische Grenzgebiet erfassen, doch die Vereinigten Staaten werden – anders als einst um die Sowjetunion – keinen Gürtel um Russland legen können oder müssen. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung wird die Versorgung Europas mit fossilen Brennstoffen zum strategischen Thema. Die Vereinigten Staaten werden mit einer Abkehr von fossilen Brennstoffen reagieren und die Erschließung alternativer Energiequellen forcieren. Russland wird sich dagegen auf seine bestehenden Indus-
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trien konzentrieren, statt neue zu entwickeln. Das heißt, es wird die Öl- und Gasförderung verstärken, statt neue Formen der Energiegewinnung zu erschließen. Russland wird daher bei der Entwicklung der neuen Technologien, die die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts beherrschen werden, zurückfallen und den Anschluss an die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt verlieren. Seine reichen Öl- und Gasvorräte werden sich somit paradoxerweise als Nachteil erweisen. In der ersten Phase seines Wiederaufstiegs, die bis etwa 2010 andauert, wird Russland gefährlich unterschätzt. Es gilt als zerrissenes Land mit einer stagnierenden Wirtschaft und schwachen Streitkräften. Selbst danach, wenn die Auseinandersetzungen zunehmen und die unmittelbaren Nachbarn besorgt reagieren, werden die größeren Mächte die russische Stärke nicht erkennen. Die Vereinigten Staaten neigen dazu, ihre Feinde erst zu unter- und dann zu überschätzen. Mitte der 2010er Jahre werden sie ein weiteres Mal auf Russland fixiert sein. Anhand dieser Entwicklung lässt sich ein interessantes Phänomen beobachten: So groß die Stimmungsausschläge in den Vereinigten Staaten sein mögen, so konsistent und rational ist ihre Außenpolitik. In diesem Fall werden die Vereinigten Staaten in ihre manische Phase eintreten und alles tun, um die Expansion der russischen Macht zu verhindern, ohne selbst in einen Krieg eintreten zu müssen. Dabei spielt es eine große Rolle, wo die entscheidenden Krisenherde im Einzelnen liegen. Sollte sich Russland darauf beschränken, Zentralasien und den Kaukasus zu kontrollieren und möglicherweise Moldawien einzugliedern, ohne die baltischen Staaten oder die Länder westlich der Karpaten unter seine Kontrolle zu bringen, dann würde sein Wiederaufstieg lediglich zu eine internationale Krise führen. Sollte es Russland jedoch gelingen, die baltischen Staaten einzugliedern, auf dem Balkan wichtige Verbündete wie Serbien, Bulgarien oder Griechenland zu gewinnen (oder in Osteuropa die Slowakei), dann könnte die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten besorgniserregendere Dimensionen annehmen. Am Ende wird jedoch auch eine solche Auseinandersetzung nicht in einen offenen Krieg umschlagen. Die Vereinigten Staaten werden
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einen Bruchteil ihrer Militärmacht abstellen, um Russland an der Entfaltung seiner Aktivitäten zu hindern, und die russischen Streitkräfte damit hoffnungslos überfordern. Unabhängig davon, wie sich das übrige Europa verhält, werden Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien alles tun, um den russischen Vormarsch zu stoppen, und sie werden jeder Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten zustimmen, um deren Unterstützung zu gewinnen. Daher verläuft die Front diesmal nicht wie im Kalten Krieg quer durch Deutschland, sondern durch die Karpaten. Polen und die nordeuropäische Tiefebene werden der entscheidende Brennpunkt, doch Russland wird keinen Krieg beginnen. Aufgrund der ähnlichen Ausgangslage wird diese Konfrontation ähnlich enden wie der Kalte Krieg, nur dass es die Vereinigten Staaten diesmal weniger Mühe kosten wird. Schauplatz der letzten Auseinandersetzung war Zentraleuropa, diesmal wird er weiter im Osten liegen. Damals war China zumindest zu Beginn ein Verbündeter Russlands, diesmal wird China keine Rolle spielen. Beim letzten Mal kontrollierte Russland den gesamten Kaukasus, heute sieht es sich dort von Süden her türkischem und amerikanischem Druck ausgesetzt. Während des Kalten Kriegs war Russland eine bevölkerungsreiche Nation, diesmal verfügt es über eine kleinere und weiter schrumpfende Bevölkerung. Innere Konflikte vor allem im Süden werden Russland vom Geschehen im Westen ablenken und schließlich auch ohne einen Krieg in die Knie zwingen. Russland brach 1917 und 1991 zusammen. Kurz nach dem Jahr 2020 wird das russische Militär ein weiteres Mal kollabieren.
Kapitel 7
Die Wirtschaft in der Krise
Entlang der Südgrenze der Vereinigten Staaten wird eine Mauer gebaut, die illegale Einwanderer fernhalten soll. Die Vereinigten Staaten haben ihre Wirtschaftsmacht auf den Rücken der Einwanderer errichtet, doch seit den 1920er Jahren herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass der Zustrom der Einwanderer begrenzt werden müsse, damit die Wirtschaft sie absorbieren kann und sichergestellt ist, dass die Bürger ihre Arbeitsplätze nicht verlieren. Die Mauer an der Grenze zu Mexiko ist die logische Konsequenz dieser Politik. Damals stand die Welt am Beginn einer Bevölkerungsexplosion. Die Vereinigten Staaten und die anderen Industrieländer sahen sich mit der Frage konfrontiert, was sie mit der immer größer werdenden Zahl von Arbeitskräften anfangen sollten. Arbeit war billig und strömte tendenziell in wohlhabende Länder. Angesichts der drohenden Einwanderungsflut beschlossen die Vereinigten Staaten, die Zuwanderung zu beschränken, um einem Lohnverfall entgegenzuwirken. Die Annahme, die der gegenwärtigen Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten zugrunde liegt, wird im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts nicht mehr gelten. Die Bevölkerungsexplosion geht zu Ende, die Lebenserwartung nimmt zu. Die Folge sind ein gestiegenes Durchschnittsalter der Bevölkerung und eine geringere Zahl junger Arbeitskräfte. Ab dem Jahr 2020 werden die Vereinigten Staaten daher mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel konfrontiert sein und Einwanderer benötigen, die diese Lücke schließen. Das Problem betrifft auch die anderen Industrienationen, und Arbeitskräfte werden weltweit zur Mangelware. Bestand das Problem im 20. Jahr-
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hundert darin, die Zuwanderung zu beschränken, geht es im 21. Jahrhundert darum, genug Einwanderungswillige zu finden. Mit dem zweiten Zusammenbruch Russlands zeichnet sich ein neues goldenes Zeitalter für die Vereinigten Staaten ab. Doch das Ende der Konfrontation mit Russland fällt mit einer durch den zunehmenden Arbeitskräftemangel verursachten Krise der heimischen Wirtschaft zusammen. Wenn die Geschichte in dieser Frage eine Orientierung bietet, erreicht diese Krise im US-Präsidentschaftswahlkampf des Jahrs 2028 oder 2032 ihren Höhepunkt. Ich erwähne das deshalb, weil die USamerikanische Geschichte ein merkwürdiges und schwer erklärbares Muster aufweist. Etwa alle fünfzig Jahre stehen die Vereinigten Staaten vor einer epochalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Das Problem zeichnet sich in der Regel jeweils schon ein Jahrzehnt vor deren Ausbruch ab. Dann verändert die Wahl eines Präsidenten, der in der Lage ist, eine neue Agenda aufzustellen, die politische Landschaft für das kommende Jahrzehnt, die Krise wird gelöst, und die Vereinigten Staaten erleben einen neuen Aufschwung. Im Laufe der nachfolgenden Generation wird die Lösung des alten Problems jedoch zur Ursache eines neuen, das sich so lange verschärft, bis es erneut zu einer Krise kommt und sich der Kreislauf wiederholt. Oft wird der entscheidende Moment erst später erkennbar, manchmal ist er unübersehbar, doch vorhanden ist es immer. Um zu verstehen, warum ich für die 2020er Jahre eine Krise prognostiziere, wollen wir uns dieses historische Muster an dieser Stelle genauer ansehen. So wie man nicht in Aktien investieren kann, ohne historische Zyklen zu kennen, lässt sich meine Prognose nur verstehen, wenn man die politischen und wirtschaftlichen Zyklen der Vereinigten Staaten kennt. Bislang haben die Vereinigten Staaten vier solcher Zyklen durchlaufen und befinden sich heute in der Mitte des fünften. Der Kreislauf beginnt in der Regel mit einem weichenstellenden und endet mit einem gescheiterten Präsidenten. Der erste Zyklus begann mit George Washington und endete mit John Quincy Adams, der zweite führte von Andrew Jackson bis Ulysses S. Grant, der dritte von Rutherford B.
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Hayes bis Herbert Hoover und der vierte von Franklin Delano Roosevelt bis Jimmy Carter. Doch diese zyklischen Krisen haben ihre Ursachen nicht in der Politik, sondern in der Auseinandersetzung zwischen einer im Niedergang befindlichen Klasse und deren Wirtschaftsmodell und dem Aufstieg einer neuen Klasse mit einem konkurrierenden Wirtschaftsmodell. Beide Gruppen vertreten radikal unterschiedliche ideologische Standpunkte, staatsbürgerliche Ideale und wirtschaftliche Vorstellungen.
Erster Zyklus: Von den Gründervätern zu den Pionieren Die Vereinigten Staaten wurden im Jahr 1776 mit der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung gegründet. Von diesem Moment an hatte das Land eine eigene Identität, eine eigene Armee und ein eigenes Parlament. Die Gründerväter stammten vorrangig aus einer ethnischen Gruppierung: Es handelte sich vor allem um Engländer und eine Handvoll Schotten. Diese begüterten Landbesitzer betrachteten sich als herrschende Klasse, die sich von den Besitzlosen und vor allem von den afrikanischen Sklaven abhob. Doch diese Schicht war nicht in der Lage, das Land allein aufzubauen. Dazu waren Pioniere nötig, die das Land westlich der Appalachen besiedelten. Diese Pioniere unterschieden sich grundlegend von Männern wie Thomas Jefferson oder George Washington. Es waren in der Regel arme, ungebildete Einwanderer, die überwiegend aus Schottland und Irland kamen und ein Stück Land suchten, das sie bewirtschaften konnten. Es waren Männer wie der legendäre Daniel Boone, der das Vorbild zu James Fenimore Coopers »Lederstrumpf« abgab. In den 1820ern war ein Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen entbrannt, die alte Klasse der wohlhabenden Landbesitzer verlor an Einfluss, und die Ideale der Gründerväter kollidierten mit den Interessen der Siedler. Die gesellschaftlichen Spannungen führten zu einer Wirtschaftskrise und erreichten ihren Höhepunkt in der Wahl des Jahrs 1828, als John Quincy Adams, der gescheiterte letzte Präsident
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der Gründergeneration, durch Andrew Jackson, den Vertreter der neuen Generation, abgelöst wurde.
Zweiter Zyklus: Von den Pionieren zur Kleinstadt Unter Andrew Jackson waren die immer zahlreicher werdenden Siedler, die nach Westen aufbrachen, die dynamischste gesellschaftliche Gruppe. Jacksons Vorgänger hatten eine stabile Währung geschaffen, um Investoren zu schützen. Jackson bevorzugte dagegen billiges Geld, um die Schuldner zur schützen, die ihn gewählt hatten. Wenn der Großgrundbesitzer, Soldat und Staatsmann George Washington das Leitbild des ersten Zyklus war, dann war der in einer Blockhütte in Kentucky geborene Abraham Lincoln das Leitbild des zweiten. Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg und am Ende des zweiten Zyklus wurde der Westen nicht länger durch das Bild der Pioniere bestimmt, die Claims absteckten und das Land urbar machten. Spätestens ab dem Jahr 1876 waren die Bauern nicht nur Landbesitzer, sondern sie verdienten auch gut am Verkauf ihrer Produkte. Die Landschaft hatte sich verändert, aus früheren Einzelgehöften waren Kleinstädte geworden, die Dienstleistungen für die zunehmend wohlhabenden Bauern boten. Kleine Banken legten die Ersparnisse der Landwirte an der Wall Street an, die das Geld wiederum in Eisenbahnen und Industrie investierte. Es gab jedoch ein Problem. Die Politik des billigen Gelds der vorangegangenen fünfzig Jahre half zwar den Siedlern, doch sie schadete ihren Kindern, die aus den Bauernhöfen des Westens Unternehmen gemacht hatten. In den 1870er Jahren führte diese Politik in eine Krise. Niedrige Zinsen machten es den Bauern und Dienstleistern unmöglich, ihre Erträge gewinnbringend anzulegen. Die Vereinigten Staaten brauchten wieder eine starke, stabile Währung, um weiter wachsen zu können. Nach dem gescheiterten Präsidenten Ulysses S. Grant wurde 1876 Rutherford B. Hayes gewählt. Dieser – genauer gesagt: sein Finanzminister John Sherman – vertrat eine auf Gold basierende Währung, um die Inflationsgefahr einzu-
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dämmen, sowie eine Politik der hohen Zinsen, um Investitionen attraktiver zu machen. Armen Bauern schadete diese Politik, doch reiche Bauern und Viehzüchter sowie deren Bankiers profitierten. Diese Geldpolitik war der Motor einer raschen Industrialisierung der Vereinigten Staaten. Über ein halbes Jahrhundert hinweg ermöglichte sie eine außergewöhnliche Expansion der amerikanischen Wirtschaft, bis diese wie in den beiden Zyklen zuvor an ihrem eigenen Erfolg scheiterte.
Dritter Zyklus: Von der Kleinstadt zur Industriemetropole Genau wie Daniel Boone noch verklärt wurde, lange nachdem die Siedler historisch ausgespielt hatten, blieb auch der Mythos der Kleinstadt lebendig, nachdem diese längst der Vergangenheit angehörte. Millionen von Einwanderern waren ins Land gekommen, die in Bergwerken und Fabriken arbeiteten und in Städten lebten. Sie waren überwiegend irischer, italienischer und osteuropäischer Herkunft. Diese Einwanderer waren vollkommen anders als alles, was Amerika bis dahin gesehen hatte. Die überwiegend weiße und protestantische Nation mit einer schwarzen Unterschicht wurde plötzlich überflutet von Einwanderern, die anders aussahen, sprachen und dachten. Daher begegneten die amerikanischen Kleinstädter den Neuankömmlingen mit Misstrauen und Feindseligkeit. Und daher erschienen ihnen die großen Industriestädte, in denen diese neuen Einwanderer lebten und arbeiteten, als Inbegriff einer fremden und korrupten Kultur. Doch die Werte der Kleinstadt erwiesen sich mehr und mehr als Hemmschuh. Seit den 1870er Jahren war das Finanzsystem von einer Politik des knappen Gelds bestimmt gewesen. Diese nutzte Sparern und Investoren, doch sie schadete dem Konsum und dem Kreditwesen. Mit der Explosion der Stadtbevölkerung durch Zuwanderung und hohe Geburtenraten machten niedrige Löhne den Einwanderern das Leben schwer. Zwar wurde immer mehr investiert, doch die Arbeiter waren immer weniger in der Lage, die Produkte zu kaufen, die sie selbst herstellten. Das Ergebnis war die Weltwirtschaftskrise, in der
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die Konsumenten nicht mehr genug Geld hatten, um die Produkte zu kaufen, die sie benötigten. Die Unternehmen, die diese Waren herstellten, mussten Arbeiter entlassen, was einen Teufelskreis in Gang setzte. Fleiß und Sparsamkeit, die Werte der Kleinstadt, waren kein Mittel gegen diese übermächtigen, makroökonomischen Kräfte. Im Jahr 1932 folgte Franklin D. Roosevelt auf den gescheiterten Herbert Hoover. Roosevelt kehrte die Politik der vorigen Generation um und suchte nach Möglichkeiten, den Wohlstand von Investoren auf Verbraucher umzuverteilen, um auf diese Weise den Konsum anzukurbeln. Er setzte sich für die städtischen Industriearbeiter ein – auf Kosten der im Niedergang begriffenen Kleinstadt und ihrer Werte. Letztlich war es allerdings nicht Roosevelts Wirtschaftspolitik, sondern der Zweite Weltkrieg, der die Wirtschaftskrise beendete, indem er die Regierung dazu veranlasste, gewaltige Summen in den Bau von Fabriken zu investieren, was Tausende von Arbeitern in Lohn und Brot brachte. Noch entscheidender war die Nachkriegszeit. Dank staatlicher Programme konnten heimkehrende Soldaten günstige Kredite aufnehmen, Eigenheime erwerben, die Universität besuchen und qualifizierte berufliche Laufbahnen einschlagen. Die Regierung trieb den Ausbau eines engmaschigen Autobahnnetzes voran und bereitete auf diese Weise der Entstehung der Vorstädte den Boden. Diese Fördermaßnahmen bewirkten eine massive Umverteilung des Wohlstands, schufen Arbeitsplätze in den Sektoren Dienstleistung und Industrie und ermöglichten ein Wirtschaftswachstum wie zu Kriegszeiten. Es war die Geburtsstunde der amerikanischen Mittelschicht. Die Reformen, die Roosevelt in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg durchführte, zielten auf eine Unterstützung der städtischen Arbeiterschicht und sorgten schließlich dafür, dass aus Arbeiterkindern mittelständische Vorstädter wurden.
Vierter Zyklus: Von der Industriemetropole zur Vorstadt Wie immer steckt in jeder Lösung bereits der Kern eines neuen Problems. Die Weltwirtschaftskrise wurde durch eine Steigerung der Nach-
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frage, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die finanzielle Stärkung der Konsumenten überwunden. Besserverdiener zahlten hohe Steuern, niedrige Zinsen förderten den Erwerb von Eigenheimen, und neue Verbraucherkredite ermöglichten den Kauf einer Vielzahl von Waren und Dienstleistungen. Diese Politik sorgte dafür, dass die Wirtschaft florierte. Doch in den 1970er Jahren funktionierte diese Formel nicht mehr. Hohe Steuern machten Unternehmensgründungen zu einem unkalkulierbaren Risiko und förderten die Entstehung riesiger und zunehmend ineffizienter Konzerne. Der Höchststeuersatz für Besserverdiener und Unternehmer lag bei über 70 Prozent. Diese Steuerpolitik bestrafte Erfolg und verhinderte Investitionen. Die Fertigungsanlagen veralteten, obwohl der Konsum dank günstiger Verbraucherkredite ungebrochen war. Ohne Investitionen wurden Fabriken und die Wirtschaft als Ganze zunehmend ineffizient und büßten ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit ein. Als Ende der 1970er Jahre die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge eigene Familien gründeten, stieg die Kreditnachfrage. Dazu kam die Ölkrise. Unter Präsident Jimmy Carter geriet die gesamte Wirtschaft aus den Fugen. Zinsen auf langfristige Anleihen erreichten den zweistelligen Bereich, die Inflation lag bei 10 Prozent, ebenso wie die Arbeitslosenquote. Carters Antwort waren Steuersenkungen für die Bezieher geringer und mittlerer Einkommen, doch diese sorgten lediglich für einen weiteren Anstieg der Nachfrage und setzten die Wirtschaft weiter unter Druck. Die Rezepte der vergangenen fünfzig Jahre hatten nicht nur ausgedient, sie verschlimmerten die Lage sogar noch. Im Jahr 1980 wurde Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt. Reagan stand vor einer Krise der Unterinvestition und des Überkonsums. Seine Antwort war eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, das heißt, er senkte die Unternehmenssteuern und die Spitzensteuersätze, um die Investitionstätigkeit anzuregen. Gleichzeitig unterließ er alles, was die Nachfrage gedämpft hätte. Besserverdienende und Unternehmen sollten die Wirtschaft durch Investitionen modernisieren. Diese Umstrukturierung der Wirtschaft in den 1980er Jahren bereitete dem Boom der 1990er Jahre den Boden.
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Reagans Politik verschob die politische und wirtschaftliche Macht von den Städten in die Vorstädte. Die Reformen der Roosevelt-Ära hatten einen massiven Umzug der Bevölkerung in die Vorstädte zur Folge gehabt und das Land von Grund auf verändert. Autobahnen und Landstraßen ermöglichten es den Menschen, weniger gut erschlossenes und günstigeres Bauland zu erwerben und zur Arbeit in die Stadt zu pendeln. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Vorstädter immer wohlhabender. Sie waren es schließlich, die vor allem von Reagans Politik profitierten. Reagan vollendete die Umorientierung der amerikanischen Wirtschaft von Roosevelts städtischen Arbeitern hin zu den Fachkräften und Unternehmern der Vorstädte. In den Augen seiner Kritiker verriet er damit die amerikanische Gesellschaft, wie sie die Städte und die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verkörperten. Genau wie Roosevelt, Hayes und Jackson wurde auch Reagan als Verräter der ureigensten amerikanischen Werte beschimpft. Doch Reagan hatte genauso wenig eine Wahl wie Roosevelt, Hayes und Jackson. Seine Revolution wurde von der Realität diktiert.
Fünfter Zyklus: Von der Vorstadt zur Dauermigration Wenden wir uns nun der Zukunft zu. Wenn das Muster der FünfzigJahres-Zyklen, das die letzten zwei Jahrhunderte bestimmt hat, weiterhin Bestand hat, befinden wir uns heute in der Mitte des fünften Zyklus, der mit der Wahl Ronald Reagans im Jahr 1980 begann. Demnach hätte die gegenwärtige Struktur der amerikanischen Gesellschaft noch bis etwa 2030 Bestand, und kein Präsident, gleich welcher Partei er angehört, hat Einfluss auf die grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dwight D. Eisenhower wurde 1952, zwanzig Jahre nach Franklin D. Roosevelt, gewählt, doch er war nicht in der Lage, dessen Wirtschaftspolitik grundlegend zu verändern. Der fortschrittliche Theodore Roosevelt hatte wiederum keine Möglichkeit, den von Rutherford Hayes eingeschlagenen Kurs zu verlassen. Abraham Lincoln bestätigte die
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Prinzipien von Andrew Jackson. Thomas Jefferson hinterfragte das System von George Washington nicht, sondern bestärkte es. Innerhalb eines Zyklus kann die Opposition Wahlen gewinnen und große Präsidenten an die Macht bringen, doch die grundlegenden Prinzipien bleiben unverändert erhalten. Bill Clinton ist nicht in der Lage gewesen, die Realitäten zu verändern, die seit 1980 Bestand haben, genausowenig wie es ein anderer Präsident gleich welcher Partei können wird. Das Muster ist zu ausgeprägt und zu sehr in fundamentalen Kräften verwurzelt. Doch jeder Zyklus kommt irgendwann an sein Ende. Wenn das Muster weiter Bestand hat, werden wir in den 2020er Jahren Zeugen zunehmender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Spannungen, die durch einen einschneidenden politischen Kurswechsel im Anschluss an die Präsidentschaftswahl des Jahrs 2028 oder 2032 beendet werden. Was aber ist der Auslöser dieser Krise der 2020er Jahre? Wie wird die Lösung aussehen? Eines wissen wir bereits: Die Lösung der letzten Krise ist indirekt Auslöser der neuen Krise, und deren Lösung wiederum wird die Vereinigten Staaten radikal verändern. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten basiert heute auf leicht verfügbaren Krediten für Verbraucher und Unternehmer sowie historisch niedrigen Zinsen. Die Sparquote ist niedrig, doch der Wohlstandszuwachs in den letzten Jahrzehnten groß gewesen. Bis zum Sommer 2008 verdankte sich ein großer Teil des Wohlstands nicht mehr traditionellen Spareinlagen, sondern Anlagengewinnen wie Wertsteigerungen bei Eigenheimen und privaten Rentenversicherungen. Die Reformen der 1980er Jahre hatten in großem Umfang unternehmerische Aktivitäten angestoßen. Neue Technologien und Unternehmensformen ließen die Arbeitsproduktivität und die Unternehmenswerte in die Höhe schnellen. Microsoft und Apple verkörpern das neue Unternehmertum. Während der vorhergehende Zyklus von Großkonzernen wie General Motors und US Steel bestimmt wurde, sind heute stärker unternehmerorientierte und weniger kapitalintensive Firmen der Wachstumsmotor. Verbrauchernachfrage und Kapitalanlagen befinden sich in einem sensiblen Gleichgewicht. Wenn die Nachfrage aus irgendeinem Grund
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plötzlich sinkt, verlieren – wie in jüngster Zeit geschehen – Kapitalanlagen in Form von Eigenheimen oder Unternehmensaktien an Wert. Diese Anlagen sind jedoch der Motor der Wirtschaft, denn sie decken die Verbraucher- und Unternehmenskredite. Sie bestimmen den Nettowert von Privathaushalten wie Unternehmen. Der Wertverlust bei Kapitalanlagen setzt eine Abwärtsspirale in Gang. Früher musste dafür gesorgt werden, dass das Wirtschaftswachstum mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hielt. Heute besteht die große Herausforderung vielmehr darin, zu verhindern, dass die Wirtschaft schneller schrumpft als die Bevölkerung. Idealerweise sollte die Wirtschaft trotz eines Bevölkerungsrückgangs sogar noch weiter wachsen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich am Horizont drei dunkle Wolken ab, die eine große Wirtschaftskrise signalisieren. Die erste ist demografischer Natur. Ab etwa 2015 treten die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit in das Rentenalter ein, machen ihre Kapitalanlagen zu Geld und verkaufen ihre Eigenheime, um von diesem Erlös ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die zweite Wolke ist die drohende Energiekrise. Auch wenn der Ölpreis in letzter Zeit wieder gefallen ist, so könnten doch die exorbitanten Preissteigerungen zuvor Teil eines zyklischen Anstiegs sein, der auf 25 Jahre günstiger Energie folgt. Sie könnten jedoch auch die Vorboten des Endes einer auf Erdöl basierenden Wirtschaft sein. Die dritte Wolke besteht darin, dass sich die Produktivitätssteigerungen aus dem letzten Innovationszyklus ihrem Höhepunkt nähern. Die unternehmerischen Leitbilder der 1980er und 90er Jahre, beispielsweise Microsoft und Dell, haben sich in Konzerne verwandelt, ihre geringer werdenden Profitmargen sind Anzeichen eines sich verlangsamenden Produktivitätszuwachses. Die Innovationen des letzten Vierteljahrhunderts sind im allgemeinen bereits in den Kapitalpreis eingerechnet. Es wird schwer sein, das atemberaubende Wachstumstempo der zurückliegenden zwanzig Jahre aufrechtzuerhalten. Dies wiederum setzt Kapitalanlagen wie Immobilien und Aktien unter Druck. Es gibt bislang keine finanzwirtschaftlichen Instrumente, um deren Wert zu kontrollieren. Im Laufe des vergangenen Jahrhun-
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derts wurden zwar Instrumente zur Festlegung der Zinsen und der Geldmenge geschaffen, doch wie der Zusammenbruch des Hypothekenmarktes im Jahr 2008 verdeutlichte, gibt es nach wie vor kaum Möglichkeiten, den Wert von Kapitalanlagen zu schützen. Die jetzige Spekulationsblase auf dem Aktien- und dem privaten Immobilienmarkt ist meiner Ansicht nach nur das Vorgewitter einer Krise, die erst in 15 Jahren ihren eigentlichen Höhepunkt erreichen wird. Der gegenwärtige Zyklus wird in einer Bevölkerungs-, Energie- und Innovationskrise enden. An dieser Stelle ist ein Rückblick auf die Finanzkrise des Jahrs 2008 angebracht. Im Grunde handelt es sich dabei um einen der regelmäßig wiederkehrenden Konjunkturumschwünge. Während einer ausgeprägten Wachstumsphase sind die Zinsen notwendig niedrig. Konservative Investoren versuchen, ihre Kapitalerträge zu steigern, ohne das Risiko zu vergrößern. Banken sind nichts anderes als Wirtschaftsunternehmen, die diese Nachfrage mit ihren Finanzprodukten befriedigen. Wenn sich der Konjunkturzyklus seinem Höhepunkt nähert, entwickeln Banken aggressiv neue Produkte, die ein immer größeres, verborgenes Risiko beinhalten. Mit dem Ende des Konjunkturzyklus tritt diese Schwäche zutage und das Kartenhaus stürzt ein. Erinnern wir uns an das Ende der Dotcom-Blase zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Betrifft die Krise den Finanzsektor, sind die Konsequenzen doppelt fatal. Erstens gehen Werte verloren, und zweitens ist der Finanzsektor nicht mehr in der Lage, die Realwirtschaft mit den erforderlichen Geldmitteln zu versorgen. In Situationen wie diesen reagieren die Vereinigten Staaten in der Regel mit staatlichen Interventionen. In den 1970er Jahren verhinderte die Bundesregierung beispielsweise einen Bankrott der Stadt New York, indem sie die Garantie für deren Schulden übernahm. Als es in den 1980er Jahren die Länder der Dritten Welt zunehmend außerstande waren, ihre Kredite zu bedienen, initiierten die Vereinigten Staaten internationale Garantien. Und als im Jahr 1989 der Zusammenbruch des privaten Immobilienmarkts die Sparkassen in den Bankrott trieb, rief die Regierung eine Treuhandgesellschaft ins Leben. Die Krise des Jahrs 2008 wurde durch einen Verfall der privaten Immobilienpreise ausgelöst, und die Regie-
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rung war gezwungen, zu intervenieren, um Garantien für Kredite und andere Instrumente des Finanzsektors zu übernehmen. Schulden stehen immer dem Wert der Sicherheiten gegenüber. Wenn ich 1 000 Dollar schulde und meine Sicherheiten weniger wert sind, dann kann ein Arbeitsplatzverlust fatale Folgen haben. Wenn ich aber eine Million Dollar schulde und eine Milliarde besitze, dann stellt dies kein Problem dar. Die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten ist Hunderte Billiarden US-Dollar wert. Eine Schuldenkrise im Umfang von einigen Billiarden Dollar kann diese Wirtschaft nicht gefährden. Die Frage ist nur, wie diese Sicherheit verwendet werden können, um die schlechten Kredite zu decken, wenn sie sich auf Hunderte Millionen Menschen verteilen. Dazu ist nur die Regierung in der Lage, die mit Hilfe ihrer Steuerhoheit und der Geldpresse der Notenbank die Garantie für diese Schulden übernehmen kann. In diesem Sinne unterscheidet sich die Krise des Jahrs 2008 nicht wesentlich von früheren Wirtschaftskrisen. Die Wirtschaft tritt zwar in eine Rezession ein, doch es handelt sich lediglich um eine der wiederkehrenden Phasen des Konjunkturzyklus. Nichtsdestotrotz lassen sich in dieser Rezession bereits die Vorboten für kommende Krisen ausmachen. Der Verfall der Immobilienpreise hat viele Ursachen, doch dahinter lauert bereits eine demografische Wirklichkeit. Mit dem Bevölkerungsschwund gilt die alte Regel nicht mehr, nach der Immobilienpreise aufgrund der wachsenden Nachfrage stetig steigen. Die Krise des Jahrs 2008 hatte zwar nur marginal demografische Ursachen, doch sie nimmt bereits eine Entwicklung vorweg, die in den kommenden zwanzig Jahren durchschlagen wird: eine demografisch bedingter Verfall der Anlagewerte. Private Immobilien haben drastisch an Wert verloren, doch in der Vergangenheit haben ähnliche Entwicklungen keine einschneidenden Veränderungen bewirkt. Auch diese Krise wird vorübergehen, doch wir sollten sie als erstes Anzeichen dessen verstehen, was uns bevorsteht: eine größere Einflussnahme des Staats auf die Wirtschaft Wenn von einer Wirtschaftskrise die Rede ist, wird oft das Gespenst der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre heraufbeschworen. In der Vergangenheit haben die Krisen am Ende eines Zyklus jedoch über-
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wiegend die Form einer Wirtschaftsflaute denn eines Zusammenbruchs angenommen. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass die künftige Krise eher der Stagnation und Inflation der 1970er oder den kurzen Krisen der 1870er ähnelt als dem umfassenden Systemzusammenbruch der 1930er. Doch es bedarf keines Flächenbrands, um die Rezession der 2020er zu einem historischen Wendepunkt zu machen. ⋆
Im ersten Jahrhundert der Geschichte der Vereinigten Staaten war die Verteilung des Lands das entscheidende Problem. In den folgenden anderthalb Jahrhunderten ging es um das Verhältnis von Kapitalbildung und Konsum. Mal schlug das Pendel zugunsten der Kapitalbildung, mal zugunsten des Konsums aus, mal befanden sich beide im Gleichgewicht. Doch in der 250-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten war Arbeit nie ein Problem. Die Bevölkerung wuchs, und die jüngeren Generationen im arbeitsfähigen Alter waren zahlenmäßig immer stärker als die älteren. Eine der Ursachen der Wirtschaftskrise der 2030er Jahre ist die Tatsache, dass Arbeiter nicht mehr so verlässlich zur Verfügung stehen werden wie in der Vergangenheit. Der Anstieg der Geburtenraten nach dem Zweiten Weltkrieg und die Zunahme der Lebenserwartung führen zu einem größer werdenden Altenanteil, der nicht mehr produziert, aber weiterhin konsumiert. Als die Sozialversicherung das Rentenalter auf 65 Jahre festlegte, hatte der durchschnittliche männliche Amerikaner eine Lebenserwartung von 61 Jahren. Diese Zahl verdeutlicht, wie wenig die Sozialversicherungen ursprünglich auszahlen sollten. Der Anstieg der Lebenserwartung auf heute fast achtzig Jahre hat die Berechnungsgrundlage für die Alterssicherungssysteme längst auf den Kopf gestellt. Der Rückgang der Geburtenraten seit den 1970er Jahren und der spätere Eintritt in die Erwerbstätigkeit sorgen schließlich dafür, dass immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Rentnern gegenüberstehen. Dieser Trend wird sich durch die 2020er Jahre fortsetzen. Das Problem besteht weniger darin, dass die Arbeitnehmer die Rentner finanzieren, obwohl das natürlich auch eine gewisse Rolle spielt. Ent-
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scheidender ist die Tatsache, dass Rentner mit dem Kapital aus ihrem Immobilienbesitz und den Pensionsfonds weiterhin in großem Umfang konsumieren. Diese Nachfrage müssen die Arbeitnehmer bedienen. Sinkende Arbeitnehmerzahlen und eine konstante Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen haben jedoch einen Anstieg der Preise und damit der Inflation zur Folge, da Arbeit zunehmend teuer wird. Dies wiederum bedeutet, dass die Rentner ihr Kapital schneller aufzehren. Die zukünftigen Rentner zerfallen in zwei Gruppen. Die erste konnte sich frühzeitig Rücklagen in Form von Immobilien oder privaten Rentenversicherungen schaffen und kann diese Anlagen nun verkaufen. Die zweite Gruppe hat nur geringe oder gar keine Rücklagen. Die Sozialversicherung garantiert bestenfalls ein Leben in Armut. Der Druck, den geburtenstarken Jahrgängen einen angemessenen Lebensstandard und möglichst umfassende Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten, wird umso stärker sein, als er von einer Gruppe ausgeübt wird, die aufgrund ihrer Größe unverhältnismäßig großen politischen Einfluss hat. Rentner haben im Vergleich zu anderen Altersgruppen mehr Gewicht und werden für eine ihnen geneigte Politik sorgen. Regierungen in aller Welt werden entweder mit Steuererhöhungen oder mit zusätzlicher Staatsverschuldung reagieren. Im ersten Fall werden sie genau die Gruppe besteuern, die aufgrund des Arbeitskräftemangels von den gestiegenen Löhnen profitieren würde. Im zweiten Fall begibt sich der Staat just in dem Moment auf den Kapitalmarkt, in dem die Rentner ihre Kapitalanlagen zu Geld machen; wie in den 1970er Jahren sorgt die wachsende Geldmenge für einen Anstieg bei Zinsen und Inflation. Im Unterschied zu den 1970er Jahren wird die Arbeitslosigkeit jedoch kein Problem darstellen. Wer arbeiten kann, hat Arbeit, und zwar gut bezahlte Arbeit, wenngleich die Löhne durch Steuern und Inflation stark beschnitten werden. Ab dem Jahr 2013 verabschieden sich die geburtenstarken Jahrgänge aus der Erwerbstätigkeit. Wenn wir von einem durchschnittlichen Renteneinstiegsalter von siebzig Jahren ausgehen (zunehmende Gesundheit und finanzielle Erfordernisse werden dafür sorgen, dass das Renteneinstiegsalter weiter steigt), wird in den folgenden Jahren
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der Altenanteil der Bevölkerung rasant zunehmen. Ein erster Rückgang ist erst wieder nach dem Jahr 2025 zu erwarten, und die wirtschaftlichen Folgen werden noch lange nachwirken. Die Vertreter der Geburtenjahrgänge um 1980 sehen sich diesem Problem im Alter von Mitte dreißig bis Mitte vierzig gegenüber. Sie bringen einen erheblichen Teil ihres Erwerbslebens in einer dysfunktionalen Wirtschaft zu. In historischen Maßstäben gemessen, handelt es sich um ein vorübergehendes Problem. Doch für die Generation der zwischen 1970 und 1990 Geborenen wird dies nicht nur ein schwieriger, sondern ein entscheidender Moment sein. Jeder Zyklus hat seine eigenen wirtschaftlichen Probleme. So auch dieser. Wie kann man dem zunehmenden Arbeitskräftemangel begegnen? Im Grunde sind zwei Lösungen denkbar. Zum einen die Steigerung der Produktivität pro Arbeitnehmer, zum anderen die Steigerung der Zahl der Arbeitnehmer. Angesichts der Größenordnung des Problems besteht die einzige sofort wirksame Lösung in der Steigerung der Zahl der Arbeitskräfte, sprich: in der Ausweitung der Einwanderung. Nach 2015 wird die Einwanderung zwar zunehmen, doch nicht schnell genug, um das Problem in den Griff zu bekommen. Seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre geht in den Vereinigten Staaten das Gespenst eines Arbeitskräfteüberschusses – sprich der Arbeitslosigkeit – um. Außerdem wird die Einwanderung nach wie vor durch die Brille der Bevölkerungsexplosion gesehen und gilt als Lohndrücker. Die Vorstellung, dass sich mit der Einwanderung das Problem des Arbeitskräftemangels beheben ließe, ist heute noch fremd. Diese Einstellung wird sich in den 2020er Jahren ändern und nach den Wahlen des Jahrs 2028 oder 2032 das neue politische Denken bestimmen. Einige Politiker werden argumentieren, es gebe ausreichend potenzielle Arbeitskräfte, doch aufgrund der hohen Steuern fehlten ihnen die Arbeitsanreize. Der letzte Präsident des fünften Zyklus wird versuchen, mit Hilfe von Steuersenkungen diese nicht vorhandenen Arbeitskräfte zu motivieren, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Doch die wahre Lösung ist eine rasche und dramatische Vergrößerung der Erwerbstätigenbevölkerung durch eine neue Einwanderungs-
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politik. Der Durchbruch erfolgt, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die alte Sicht des Arbeitskräfteüberschusses nicht mehr zutrifft. Diese Einsicht bleibt nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern verbreitet sich in allen führenden Industrienationen. Zugleich aber haben dann die heutigen Schwellenländer, aus denen die Einwanderer bislang kommen, ihre Volkswirtschaften erheblich verbessert und ihre Bevölkerungszahlen stabilisiert. Der Anreiz, aus diesen Ländern auszuwandern, wird sehr viel geringer sein. Im Jahr 2009 ist es kaum vorstellbar, dass die führenden Industrienationen im Jahr 2030 um Einwanderer konkurrieren werden. Die Aufgabe der Einwanderungspolitik wird nicht mehr darin bestehen, den Zustrom zu drosseln, sondern darin, Zuwanderer anzulocken. Die Vereinigten Staaten bleiben dabei gegenüber Europa im Vorteil: Schon heute ist es einfacher, in die Vereinigten Staaten einzuwandern als nach Frankreich, und das wird sich nicht ändern. Zudem bieten die Vereinigten Staaten Zuwanderern langfristig bessere Möglichkeiten, und sei es nur aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte. Rentner werden die neue Einwanderungspolitik aus naheliegenden Gründen begrüßen. Arbeitnehmer, die Konkurrenz und Einkommensverluste fürchten, werden sich ihr widersetzen. Kunden von Dienstleistern wiederum werden die Einwanderung gutheißen, weil sie zu einer Senkung der Kosten beiträgt. In der Politik wird es schließlich weniger um Einwanderung als solche gehen als darum, Bereiche zu identifizieren, in denen Einwanderung wirtschaftlich sinnvoll ist, Qualifikationsprofile für Einwanderer zu erstellen und deren Zustrom in die gewünschten Branchen zu lenken. Darüber hinaus müssen die Vereinigten Staaten den Zuwanderern bestimmte Anreize bieten, von beschleunigten Arbeitserlaubnisverfahren und Aufenthaltsgenehmigungen bis hin zu Bonuszahlungen durch den Staat oder Arbeitsvermittler sowie Arbeitsplatzgarantien. Potenzielle Einwanderer werden die Angebote sorgfältig miteinander vergleichen. Dieser Prozess führt zu einer erheblichen Stärkung des Staats. Seit den 1980er Jahren hat der Staat immer mehr Macht abgegeben. Doch die neue Einwanderungspolitik der 2030er Jahre erfordert direkte
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staatliche Interventionen. Der Staat muss die Rechte der Einwanderer garantieren und sicherstellen, dass Privatunternehmen ihre Zusagen einhalten, um zu verhindern, dass arbeitslose Einwanderer eine Belastung darstellen. Lediglich die Grenzen zu öffnen ist daher keine Option. Die Steuerung des neuen Arbeitsmarktes wird ähnliche Züge annehmen wie die Aufsicht der Kapital- und Kreditmärkte – die Umkehrung eines Prozesses, der unter Reagan begann. Die zugewanderten Arbeitskräfte fallen grundsätzlich in zwei Kategorien. Zum einen handelt es sich um Dienstleister für die alternde Bevölkerung, beispielsweise um Ärzte und Pflegepersonal, zum anderen um Entwickler von Technologien, die Produktivitätssteigerungen ermöglichen und dazu beitragen, das Problem des Arbeitskräftemangels langfristig in den Griff zu bekommen. Die Vereinigten Staaten werden also vorrangig Fachkräfte aus der Physik, dem Ingenieurwesen und dem medizinischen Sektor sowie qualifizierte Arbeiter rekrutieren. Der Zustrom der Einwanderer wird zwar nicht die Ausmaße der Jahre zwischen 1880 und 1920 annehmen, doch er wird die seither größte Einwanderungswelle darstellen. Und er wird die Kultur der Vereinigten Staaten grundlegend verändern. Diese Kultur ist, wie bereits geschildert, barbarisch und hat keine feste Form. Aber diese Flexibilität stellt sich bei der Rekrutierung von Einwanderern als Vorteil heraus. Wir sollten außerdem davon ausgehen, dass die neue Einwanderungspolitik für Spannungen mit dem Ausland sorgt. Die Vereinigten Staaten betreiben die Rekrutierung von Arbeitskräften ohne Rücksicht auf die Interessen anderer Länder und werden alles tun, um Konkurrenten auszustechen und Fachkräfte aus Schwellenländern abzuwerben. Wie wir noch sehen werden, hat dies Auswirkungen auf die Außenpolitik dieser Länder. Für die Vereinigten Staaten geht es lediglich darum, einen weiteren Fünfzig-Jahres-Zyklus erfolgreich zu bewältigen und eine weitere Welle von Einwanderern in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu locken. Egal, ob diese Einwanderer aus Indien oder aus Brasilien kommen, ihre Kinder werden genauso zu Amerikanern werden wie die Kinder aller früheren Einwanderergenerationen.
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Dies trifft auf alle Einwanderergruppen zu, bis auf eine Ausnahme: die Mexikaner. Die Vereinigten Staaten beanspruchen Land, das früher zu Mexiko gehörte, und die Grenze zwischen beiden Nationen ist extrem durchlässig. Die Migration von Mexiko in die Vereinigten Staaten weicht vom allgemein gültigen Muster ab, vor allem im Grenzland. In den 2030er Jahren wird Mexiko die Hauptquelle für qualifizierte Arbeiter sein, was den Vereinigten Staaten im weiteren Verlauf des Jahrhunderts ernsthafte strategische Probleme bereiten wird. Doch um das Jahr 2030 kommt es zu einem unvermeidlichen Schritt. Aufgrund des Arbeitskräftemangels, der die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, formalisieren die Vereinigten Staaten einen Prozess, der bereits seit 2015 im Gange ist, und forcieren die Einwanderung. Danach werden sie ihre wirtschaftliche Entwicklung fortsetzen. Wenn in den 2040er Jahren die geburtenstarken Jahrgänge gestorben sind und die Bevölkerungsstruktur wieder eher einer Pyramide als einem Pilz ähnelt, wird ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung einsetzen, wie wir ihn aus den 1950ern und den 1990ern kennen. Diese Entwicklung wiederum bereitet den Boden für die Krise des Jahrs 2080. Doch bis dahin wird sich noch einiges ereignen.
Kapitel 8
Eine neue Weltordnung
Der Zusammenbruch Russlands zu Beginn der 2020er Jahre stürzt ganz Eurasien ins Chaos. Moskau verliert die Kontrolle, Tschetschenien und andere muslimische Gebiete werden unabhängig, Karelien mit seiner engen Bindung an Skandinavien löst sich aus der russischen Föderation. Selbst der dünn besiedelte Pazifikrand spaltet sich ab, da er mehr mit dem Pazifikraum gemeinsam hat als mit Moskau. Der Zerfall betrifft jedoch nicht nur Russland, sondern erfasst auch frühere Teilrepubliken der Sowjetunion. So wie nach deren Auflösung die Oligarchen ans Ruder kamen, so sind es nun die Regionalfürsten. Der russische Kollaps fällt mit der chinesischen Krise zusammen. Die wirtschaftlichen Probleme Chinas führen zu einer Regionalisierung, die sich in den 2020er Jahren weiter intensiviert. Ganz Eurasien östlich der Karpaten ist in Auflösung begriffen, die diversen Regionen ringen in ständig wechselnden Bündnissen um politische und wirtschaftliche Vorteile. Der Zerfall, der den gesamten Kontinent von Kasachstan bis zum Pazifik erfasst, macht vor keiner Grenze Halt. Aus Sicht der Vereinigten Staaten ist dies eine durchaus begrüßenswerte Entwicklung. Ihr fünftes geopolitisches Gebot verlangt, dass keine Macht in der Lage sein darf, Eurasien zu beherrschen. Da Russland und China im Chaos versinken, ist diese Gefahr in weite Ferne gerückt. Die Vereinigten Staaten sehen keinen Anlass mehr, sich in der Region zu engagieren, um ein Machtgleichgewicht zu erhalten. Eurasien ist nun ein Paradies für Plünderer. Für die Länder der Peripherie ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Die riesige Region ist reich an Rohstoffen und Arbeitskräften. Der Zusammenbruch der Machtstrukturen gibt den Ländern am Rande Eurasiens die Chance,
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die Situation für ihre Zwecke zu nutzen. Angetrieben von einer Mischung aus Angst, Notwendigkeit und Gier versuchen diese Länder, die Schwäche des Zentrum auszunutzen. Drei Nationen befinden sich in einer besonders vorteilhaften Position. Erstens Japan, das in der russischen Pazifikregion und Ostchina aktiv wird. Zweitens die Türkei, die eine Möglichkeit erhält, nach Norden in den Kaukasus und sogar darüber hinaus vorzudringen. Drittens schließlich sieht ein Bündnis osteuropäischer Staaten unter polnischer Führung – darunter die baltischen Staaten, Ungarn und Rumänien – die Chance, in ihre früheren Grenzen zurückzukehren und sich effektiv gegen einen künftigen russischen Staat zu schützen. Durch diese Stärkung schützen sich diese Länder außerdem gegen eine mögliche Bedrohung durch Deutschland, ihren traditionellen Feind im Westen. Die osteuropäischen Nationen erkennen die Situation als willkommene Gelegenheit, das Machtgleichgewicht in der Region zu ihren Gunsten zu verschieben. Indien kann dagegen trotz seiner Größe nicht eingreifen. Da es vom Rest der Kontinents durch den Himalaja abgeschnitten ist, ist es nicht in der Lage, die Situation zu seinem Vorteil zu nutzen.
Wien EUROPA ASIEN
Schwarzes Meer Ko stantinopel Konstantinopel Algier
Mittelmeer Tripolis
AFRIKA
Ein Paradies für Wilderer
TÜRKEI Jerusalem
Kairo
Bagdad
MITTLERER OSTEN
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Die nächsten hundert Jahre
Die Vereinigten Staaten beobachten die Entwicklung mit Wohlwollen. Osteuropa, die Türkei und Japan sind ihre langjährigen Verbündeten. In den 2020er Jahren sind die Türkei und Japan bereits seit mehr als siebzig Jahren ihre Partner und Osteuropa seit dreißig Jahren. In der Konfrontation mit Russland haben sie – jeder aus eigenen Gründen – die Vereinigten Staaten unterstützt, weshalb diese sie, genau wie frühere Verbündete, als ihren verlängerten Arm betrachten. Die Ereignisse der 2020er Jahre haben jedoch weit über Russland und China hinaus ihre Auswirkungen: erstens auf die Rolle Ostasiens in der Pazifikregion und damit auch auf das Verhältnis zwischen Ostasien und den Vereinigten Staaten, zweitens auf die muslimische Welt nach dem amerikanisch-dschihadistischen Krieg und drittens auf das Machtgefüge in Europa in einer Zeit des deutschen und französischen Niedergangs und des osteuropäischen Aufstiegs. Nach der deutschfranzösischen Weigerung, Polen militärisch zu unterstützen, ist der Zerfall der NATO nur eine Frage der Zeit. Die NATO wurde ursprünglich als Verteidigungsbündnis konzipiert, ein Angriff auf eines ihrer Mitglieder ist gleichbedeutend mit einem Angriff auf das gesamte Bündnis. Das beinhaltet jedoch auch, dass die NATO schon im Vorfeld bei der Unterstützung der Verteidigungsanstrengungen eines gefährdeten Lands aktiv wird. Die Gefährdung der baltischen Staaten durch Russland macht eine Stationierung von Truppen dort und in Polen erforderlich, doch da einige Mitgliedsstaaten diese verweigern, müssen Maßnahmen außerhalb der NATO ergriffen werden. Damit hat die NATO ausgedient.
Die Frage stellt sich erstmals im Jahr 2010, zu Beginn der Auseinandersetzungen mit Russland. Während des Konflikts wird sie beiseite gelegt oder spielt zumindest keine wichtige Rolle auf der Weltagenda. Nach dem Ende der russischen Bedrohung muss jedoch jede dieser Regionen ihre eigene Geostrategie entwickeln.
Ostasien Die japanischen Aktivitäten in China gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. In der Zeit der Unruhen, die mit den europäischen Interventio-
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nen Mitte des 19. Jahrhunderts begann und nach dem Zweiten Weltkrieg endete, war Japan in China aktiv und suchte nach seinem wirtschaftlichen Vorteil. Aufgrund der japanischen Politik während der 1930er und 1940er Jahre herrschen in China bis heute anti-japanische Ressentiments. Diese sitzen jedoch nicht so tief, als dass China in der Zeit nach Mao japanische Investitionstätigkeiten unterbunden hätte. In den 1930er Jahren war Japan am chinesischen Markt und erst in zweiter Linie an den Arbeitskräften interessiert. In den 2020er Jahren richtet sich das Hauptaugenmerk Japans auf die Arbeitskräfte. Die Regionalisierung und Fragmentierung Chinas in den 2010er und 2020er Jahren weckt in Japan alte Begehrlichkeiten. Mit der Kontrolle über eine chinesische Provinz könnte es seine demografischen Probleme lösen, ohne den gesellschaftlichen und kulturellen Preis der Einwanderung zahlen zu müssen. Mit dieser Provinz müsste Japan allerdings eine äußerst enge Beziehung eingehen. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits eine Reihe chinesischer Provinzen auf der Suche nach Schutz vor der Zentralregierung in Peking sowie nach ausländischen Investitionen und Technologien. Damit sind die besten Voraussetzungen gegeben, um das symbiotische Verhältnis zwischen den Küstenprovinzen und Japan wieder aufzunehmen. In der Vergangenheit war Japan nicht nur an chinesischen Arbeitskräften interessiert, sondern auch an Rohstoffen. Wie bereits erwähnt, muss die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt fast sämtliche Rohmaterialien importieren. Diese historische Herausforderung war einer der Gründe, aus denen Japan den Vereinigten Staaten 1941 den Krieg erklärte. Historiker vergessen oft, dass in Japan eine heftige Debatte geführt wurde, ehe die Entscheidung für den Angriff auf Pearl Harbor fiel. Einige japanische Politiker argumentierten, ein Einmarsch in Sibirien würde Japan die erforderlichen Rohstoffe sichern und sei weit weniger riskant als ein Krieg mit den Vereinigten Staaten. Wie dem auch sei, der Ernst, mit dem sich Japan Rohstoffquellen erschließen wollte und weiterhin will, darf nicht unterschätzt werden. Die Pazifikregionen Russlands sind extrem rohstoffreich und verfügen unter anderem über große Vorkommen fossiler Brennstoffe. In den 2020er Jahren steht Japan vor einem Energieproblem und ist
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vom Persischen Golf abhängig, was wiederum potenzielle Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten bedeutet. Die amerikanische Überheblichkeit nach dem neuerlichen Sieg über Russland bereitet Japan, genau wie dem Rest der Welt, zunehmend Sorge. Angesichts des russischen Zerfalls wäre es daher für Japan ein nahe liegender Versuch, die russische Pazifikregion zumindest wirtschaftlich unter seine Kontrolle zu bekommen. In Anbetracht seiner extremen Rohstoffabhängigkeit muss Japan auf jede Unsicherheit in der Region reagieren. Japan hat also unmittelbares Interesse am Nordosten Chinas und an der russischen Pazifikküste, doch es wird sich nicht auf militäri-
RUSSLAND
CHINA
NORDKOREA Gelbes Meer
Japanisches Meer
SÜDKOREA
Tokio To io
Ostchinesisches Meer
TAIWAN Japan
JA JAPANN
Philippinisches Meer
Pazifischer Ozean
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sche Abenteuer einlassen wollen. Gleichzeitig ist klar, dass Japan gegen Mitte des Jahrhunderts vor einer wirtschaftlichen Katastrophe steht, wenn es nicht in den 2020er Jahren einschneidende Maßnahmen einleitet. Bis zum Jahr 2050 könnte die japanische Bevölkerung von heute 128 Millionen auf 107 Millionen sinken. Davon wären 40 Millionen älter als 65 und 15 Millionen jünger als 14. Mit einer Erwerbstätigenbevölkerung von 52 Millionen wird es Japan jedoch schwer fallen, sein wirtschaftliches Niveau aufrechtzuerhalten. Die Bevölkerungs- und Energiesituation wird Japan zwingen, zu einer Regionalmacht zu werden. Sehen wir uns die Geschichte Japans etwas genauer an. Heute ist Japan die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und wird dies bis weit ins 21. Jahrhundert auch bleiben. In vielerlei Hinsicht hat sich die vorindustrielle Gesellschaftsstruktur durch die Industrialisierung, den Zweiten Weltkrieg und das Wirtschaftswunder der 1980er Jahre hindurch erhalten. Japan ist bekannt für seine große innere Stabilität, die auch einschneidende politische und wirtschaftliche Umwälzungen überdauert. Nach dem ersten Kontakt mit dem Westen erkannte es, dass es den Industriemächten nicht gewachsen war, und begann mit schwindelerregendem Tempo einen Prozess der Industrialisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach Japan mit seiner tief verwurzelten militaristischen Kultur und verwandelte sich von einem Tag auf den anderen in eine der pazifistischsten Nationen der Welt. Seine Wirtschaft wuchs, bis in den 1990er Jahren eine Finanzkrise die Expansion zum Erliegen brachte. Die Japaner nahmen diese Entwicklung jedoch mit Gleichmut hin. Die Mischung aus kultureller Kontinuität und gesellschaftlicher Disziplin erlaubte es den Japanern, ihre fundamentalen Werte zu bewahren, während sich ihre Lebens- und Handlungsweisen veränderten. Andere Gesellschaften sind zu derartig plötzlichen und geordneten Kurswechseln nicht in der Lage. Aufgrund seiner Insellage ist Japan geschützt vor potenziell spaltenden kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen. Daneben verfügt Japan über eine fähige Elite, die ihre Angehörigen streng nach Leistungsprinzipien auswählt, sowie eine
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Die nächsten hundert Jahre
disziplinierte Bevölkerung, die bereit ist, dieser Elite zu folgen. Diese Stärke versetzt Japan in die Lage, Kursänderungen vorzunehmen, die andere Gesellschaften zerreißen würden. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Japan seine Zurückhaltung und seinen Pazifismus in den 2020er Jahren aufrechterhält. Zwar hat das Land in Erinnerung an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs wenig Interesse an militärischen Auseinandersetzungen und wird daher so lange wie möglich an seiner Strategie festhalten. Doch der Pazifismus ist letztlich eine Anpassungsstrategie der Japaner, kein ehernes Prinzip. Da die industriellen und technologischen Voraussetzungen gegeben sind, ist ein militärisch selbstbewussteres Auftreten lediglich eine Frage des politischen Kurswechsels. Und dieser ist angesichts der anstehenden demografischen und wirtschaftlichen Probleme nahezu unvermeidlich. Japan wird zunächst versuchen, seine Ziele mit wirtschaftlichen Mitteln zu erreichen. Doch Japan ist nicht das einzige Land, das versucht, die Zahl seiner Arbeitskräfte ohne Einwanderung zu vergrößern, oder ausländische Energiereserven unter seine Kontrolle zu bekommen. Auch die Europäer werden ein Interesse an Wirtschaftsbeziehungen zu dieser Region entwickeln, und die neuerdings autonomen chinesischen und russischen Provinzen werden versuchen, Japaner und Europäer gegeneinander auszuspielen. Japan kann es sich nicht erlauben, dieses Spiel zu verlieren. Aufgrund seiner Bedürfnisse und seiner geografischen Lage kann Japan seinen Einfluss nur auf Ostasien ausdehnen. Doch seine Interessen stoßen in unterschiedlicher Weise auf Widerstand. Die Regierung in Peking, die schon seit Jahren anti-japanische Kampagnen durchführt, fasst Japans Aktivitäten als gezielten Versuch auf, die staatliche Einheit Chinas auszuhöhlen. Die chinesischen Provinzen selbst versuchen, im Bündnis mit ausländischen Mächten ihre Nachbarn zu beherrschen; es beginnt eine komplexe politische Auseinandersetzung, die eine potenzielle Bedrohung für die japanischen Interessen darstellt und Japan tiefer verwickelt, als ihm lieb sein kann. Die Militarisierung ist Japans letztes Mittel, doch sie wird sich schließlich nicht vermeiden lassen. In den 2020er und 2030er Jahren nehmen die chi-
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nesische und russische Instabilität und die ausländische Präsenz in der Region derartige Dimensionen an, dass Japan wie alle anderen Nationen gezwungen sein wird, seine Interessen mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Zu Beginn der 2030er Jahre revidieren die Vereinigten Staaten ihre Einschätzung eines immer selbstbewussteren Japan. Wie die Vereinigten Staaten ist Japan eine Seemacht. Es ist abhängig vom Rohstoffimport und Warenexport, weshalb der freie Zugang zu Seewegen überlebensnotwendig ist. Wenn es sich zur Sicherung seiner Interessen in Ostasien von einer großen Handelsmacht zu einer kleinen Militärmacht wandelt, gilt sein besonderes Augenmerk dem Schutz seiner Schifffahrtsrouten. Innerhalb eines Radius’ von 800 Kilometern von der japanischen Küste liegen Schanghai, die Insel Sachalin und Wladiwostok. Dies ist das japanische Interessengebiet. Doch selbst um diesen überschaubaren Bereich zu schützen, benötigt Japan starke See- und Luftstreitkräfte sowie ein effektives Satellitenüberwachungssystem. Bis zum Jahr 2030 wird Japan darüber verfügen und kann so unerwünschte Eindringlinge aus seinem Einflussgebiet fernhalten. Das ist der Moment, in dem Japan mit seinem selbstbewussten Auftreten in Konflikt mit den strategischen Interessen der Vereinigten Staaten gerät. Das Ergebnis ist eine sukzessive Verschlechterung der amerikanisch-japanischen Beziehungen. Um seine nationalen Interessen auf dem asiatischen Festland zu verfolgen, muss Japan seine Schifffahrtsrouten kontrollieren. Umgekehrt sehen die Vereinigten Staaten die Kontrolle der internationalen Gewässer als unabdingbare Voraussetzung für ihre eigene nationale Sicherheit; sie üben daher Druck auf Japan aus, dessen Verhalten sie zunehmend als Aggression auffassen. Mitten in der größer werdenden japanischen Einflusssphäre liegt Korea, das vermutlich noch vor 2030 wiedervereinigt werden wird. Mit einer Bevölkerung von 70 Millionen ist ein Gesamtkorea nicht sehr viel kleiner als Japan. Südkorea verfügt heute über die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt und wird nach der Wiedervereinigung weiter an Bedeutung gewinnen. Aus historischen Gründen fürchtet Korea eine mögliche japanische Herrschaft. Indem Japan jedoch seine
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Macht auf China und Russland ausweitet, kreist es Korea ein. Korea ist für sich genommen kein zu unterschätzendes Land, doch seine eigentliche Bedeutung rührt daher, dass die Vereinigten Staaten es als Gegengewicht gegen die japanische Macht und als Flottenstützpunkt im Japanischen Meer einsetzen werden. Korea wird die Vereinigten Staaten um Unterstützung gegen ein erstarktes Japan ersuchen und mit diesen ein anti-japanisches Bündnis eingehen. Gleichzeitig wird es im Innern Chinas zu Veränderungen kommen. In den vergangenen Jahrhunderten verlief die chinesische Geschichte in Zyklen von dreißig bis vierzig Jahren. Im Jahr 1842 trat China Hongkong an das Britische Weltreich ab. Um 1875 setzten sich die Europäer in den chinesischen Provinzen fest. Im Jahr 1911 wurde die MandschuDynastie von Sun Yatsen beseitigt. Im Jahr 1949 übernahmen die Kommunisten die Macht. Mit dem Tod Maos im Jahr 1976 begann die Phase der wirtschaftlichen Expansion. Ab 2010 wird China gegen den inneren Zerfall und wirtschaftlichen Niedergang ankämpfen. Das heißt, in den 2040er Jahren steht vermutlich ein neuer Umbruch bevor. Dieser Kurswechsel besteht in einer neuerlichen zentralistischen Kontrolle durch Peking und dem Versuch, die ausländische Präsenz in China zu begrenzen. Dieser Prozess beginnt nicht erst in den 2040er Jahren, sondern erreicht dann seinen Höhepunkt. Er setzt bereits in den 2030ern ein, wenn die ausländische und vor allem japanische Einflussnahme zunimmt. Diese Entwicklung wird ein weiterer Hebel sein, den die Vereinigten Staaten einsetzen, um die Situation unter ihre Kontrolle zu bringen. In einer Rückkehr zu der Politik, die sie vor dem Zweiten Weltkrieg verfolgten, werden sie Peking in seinen Bemühungen unterstützen, China zu einen und Japan zu kontrollieren. In den 2040er Jahren sind die Differenzen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten unüberbrückbar geworden. Die Vereinigten Staaten verbünden sich mit Seoul und Peking, die den japanischen Machtzuwachs mit zunehmender Sorge verfolgen. Japan, das eine Einmischung der Vereinigten Staaten in seinem Einflussgebiet fürchtet, verstärkt seine Streitkräfte. Doch Japan ist isoliert und steht einem von den Vereinigten Staaten geschaffenen Bündnis und der amerikanischen Militärmacht gegenüber. Japan kann diesem Druck auf Dauer
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allein nicht standhalten, doch in der unmittelbaren Nachbarschaft sind keine Verbündeten in Sicht. Allerdings eröffnen die technologischen Veränderungen neue geopolitische Möglichkeiten, weshalb ein möglicher Verbündeter Japans auf der anderen Seite Asiens auftaucht.
Die Türkei Während der russisch-amerikanischen Auseinandersetzungen der 2010er Jahre ist der Kaukasus bloß ein Nebenschauplatz. Russland dringt von Norden her in diese Region vor, gliedert Georgien ein und schließt sich mit seinen armenischen Verbündeten kurz. Die Rückkehr der russischen Armee an die Grenzen der Türkei löst dort eine Krise aus. Ein Jahrhundert nach dem Untergang des Osmanischen Reichs und der Gründung der modernen Türkei sehen sich die Türken derselben Bedrohung gegenüber wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Mit dem Zusammenbruch Russlands um das Jahr 2020 trifft die Türkei eine unvermeidliche strategische Entscheidung. Sie verlässt sich nicht mehr darauf , dass sie von einer chaotischen Pufferzone vor der Bedrohung durch Russland geschützt ist. Diesmal dringt sie in den Kaukasus vor, und zwar tief genug, um die eigene nationale Sicherheit zu gewährleisten. Hintergrund ist eine andere Entwicklung. Im Jahr 2020 wird die Türkei zu den zehn wirtschaftsstärksten Nationen der Welt gehören. Schon im Jahr 2007 befand sie sich auf Platz 18. Doch sie ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch strategisch von Bedeutung. Die Türkei befindet sich in einer der geografisch günstigsten Positionen in ganz Eurasien und hat freien Zugang zur arabischen Welt, dem Iran, Europa, der ehemaligen Sowjetunion und dem Mittelmeerraum. Die türkische Wirtschaft wächst aufgrund ihrer eigenen Dynamik und weil die Türkei der Dreh- und Angelpunkt des regionalen Handels ist. Zu Beginn der 2020er Jahre ist die Türkei eine aufstrebende, stabile Wirtschafts- und Militärmacht und eine Insel inmitten des Chaos. Gefahr droht nicht nur vom instabilen Norden. Im Südosten liegt der
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Iran, der zwar in den vergangenen Jahrhunderten wirtschaftlich und militärisch bedeutungslos war, der jedoch innenpolitisch unberechenbar bleibt. Im Süden drohen die permanente Instabilität und wirtschaftliche Rückständigkeit der arabischen Welt. Und im Nordwesten liegen der chaotische Balkan und der historische Feind Griechenland. Keine dieser Regionen wird in den 2020er Jahren besonders gut dastehen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Arabische Halbinsel wird von einer Existenzkrise heimgesucht. Abgesehen vom Öl verfügt sie weder über Rohstoffe noch über Industrie. Diese dünn besiedelte Region hatte ihre Bedeutung, ihren Wohlstand und ihre Stabilität allein dem Öl zu verdanken. Doch in den 2020er Jahren befindet sich die Arabische Halbinsel im Niedergang. Zwar sind die Ölvorräte noch längst nicht erschöpft und ist die Region alles andere als arm, doch am Horizont zeichnen sich dunkle Wolken ab. Die Familie Saud ist zerstritten, die Emirate am Golf sind instabil. Das weitaus bedeutendere Thema ist jedoch der Zerfall der gesamten islamischen Welt. Ihre historische Zerstrittenheit hat sich durch den amerikanisch-dschihadistischen Krieg nur noch verschärft. Die amerikanisch-russischen Auseinandersetzungen führen zu einer weiteren Destabilisierung, da Russland versucht, den Vereinigten Staaten südlich der Türkei Probleme zu bereiten. Die islamische Welt im allgemeinen und die arabischen Nationen im besonderen erweisen sich in den 2020er Jahren als zutiefst gespalten. Auch der Balkan im Nordwesten der Türkei bleibt ein Pulverfass. Anders als im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts, der Jugoslawien stabilisierte, führt die neue russisch-amerikanische Konfrontation zu einer Destabilisierung der Region. Russland ist diesmal sehr viel schwächer und sieht sich zudem Ungarn, Bulgarien und Rumänien gegenüber. Daher versucht es, Bulgarien, Serbien und Kroatien gegen diese osteuropäischen Länder und ebenfalls gegen die Türkei in Stellung bringen. Auch Griechenland, Mazedonien, Bosnien und Montenegro werden in den neuen Balkankonflikt gezogen, und die Region liegt erneut in Trümmern. Die unmittelbare Nachbarschaft der Türkei als instabil zu beschreiben, wäre eine Untertreibung.
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Aus freien Stücken ist die islamische Welt kaum zur Einheit fähig – da muss sich aus ihrer Mitte schon eine hegemoniale Macht an die Spitze setzen. In der Vergangenheit, oder zumindest seit der Invasion der Mongolen im 13. Jahrhundert, war die Türkei diejenige Macht, die am ehesten dazu in der Lage war, Teile der islamischen Welt zu einem Reich zu einen. Das Jahrhundert zwischen 1917 und 2020 stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, da die Türkei in dieser Zeit auf Kleinasien beschränkt war und noch ist. Doch in den 2020er Jahren wird diese türkische Macht erneut erstarken. Mehr noch als Japan spielt die Türkei dann eine entscheidende Rolle in der Konfrontation mit Russland. Der türkisch kontrollierte Bosporus, die Meerenge zwischen der Ägäis und dem Schwarzen Meer, verhindert den russischen Zugang zum Mittelmeer. Um diese Blockademöglichkeit abzusichern, schließt sich die Türkei der Koalition mit den Vereinigten Staaten an. Umgekehrt kommt der Türkei in der Auseinandersetzung mit Russland eine Schlüsselrolle in der amerikanischen Strategie zu. Die Vereinigten Staaten ermuntern die Türkei, nach Norden in den Kaukasus vorzustoßen und ihren Einfluss in den islamischen Regionen des Balkan und den arabischen Staaten im Süden auszubauen. Sie unterstützen die Türkei beim Aufbau ihrer See- und Luftstreitkräfte sowie eines Satellitenüberwachungssystems, mit deren Hilfe sie Russland im Schwarzen Meer begegnen können. Und sie unternehmen zudem alles, um das Wachstum der ohnehin expandierenden türkischen Wirtschaft zu fördern. Wenn Russland schließlich zerbricht, befindet sich die Türkei in einer Position, die so vorteilhaft ist wie seit einem Jahrhundert nicht mehr. Umgeben von schwachen und in Auflösung begriffenen Staaten, hat die Türkei die Chance, die Wirtschaft der gesamten Region zu dominieren. Dazu kommt eine beachtliche militärische Präsenz. Mit dem Zusammenbruch Russlands rückt die Türkei ins Zentrum des geopolitischen Geschehens, ohne allzu viel dafür tun zu müssen. Sie nimmt eine Vormachtstellung in der Region ein und übt ihren Einfluss in alle Richtungen aus. Die Türkei verfügt zwar nicht über ein Weltreich, doch sie wird ohne jeden Zweifel zum Mittelpunkt der islamischen Welt.
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Natürlich beobachten gerade die arabischen Nationen diesen Aufstieg der Türkei mit gewissem Unbehagen – sie haben ihre Unterdrückung durch das Osmanische Reich nicht vergessen. Doch die einzigen Nationen der Region, die in der Lage wären, eine ähnliche Macht auszuüben, sind Israel und der Iran, und diesen beiden ziehen die Araber die Türkei allemal vor. Angesichts des Niedergangs der Arabischen Halbinsel hängen Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung in der arabischen Welt jetzt von guten Beziehungen zur Türkei ab. Die Vereinigten Staaten beurteilen diese Entwicklung positiv. Erstens wird dadurch ein enger Verbündeter belohnt. Zweitens wird eine konfliktreiche Region befriedet. Drittens kommen so die noch immer beträchtlichen Ölvorkommen im Persischen Golf unter türkische Kontrolle. Und viertens stellt sich die Türkei den Ambitionen des Iran entgegen. So positiv ihre unmittelbare Reaktion ausfallen mag, langfristig steht diese Entwicklung im Widerspruch zur geopolitischen Strategie der Vereinigten Staaten. Wie wir bereits gesehen haben, schaffen die Vereinigten Staaten regionale Machtblöcke, um größere Bedrohungen in Eurasien zu entschärfen. Doch zugleich fürchten sie die Entstehung von Hegemonialmächten, die sich regional und global als Gefahr erweisen könnten. Und als solche nehmen die Vereinigten Staaten die Türkei über kurz oder lang wahr. Gegen Ende der 2020er Jahre trüben sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten daher zusehends. Auch die türkische Sichtweise verändert sich in dieser Zeit. Die Türkei erkennt in den Vereinigten Staaten zunehmend eine Bedrohung ihrer regionalen Interessen. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass in der Türkei, die seit dem Untergang des Osmanischen Reichs ein säkularer Staat ist, ein ideologischer Wandel einsetzt. In der Vergangenheit hat die Türkei einen flexiblen Umgang mit der Religion bewiesen und sie gleichermaßen als Glaubenssystem und als politisches Instrument begriffen. Angesichts des zunehmenden Widerstands gegen eine Ausdehnung ihres Einflussbereichs könnte die Türkei versuchen, islamistische Energien zu mobilisieren und verkünden, sie wolle ein islamisches Reich errichten. Damit könnte sie die arabischen
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Nationen der Region, welche die türkische Expansion bislang stillschweigend dulden, zu energischen Unterstützern machen, gleichgültig wie zynisch die türkische Position ist. Damit sehen sich die Vereinigten Staaten einem potenziell mächtigen islamischen Staat gegenüber, der die arabische Welt und den östlichen Mittelmeerraum organisiert. Die politische und wirtschaftliche Machtposition der Türkei stellt eine Bedrohung für die existenziellen Interessen der Vereinigten Staaten dar, zumal auch andernorts die Gefahren zunehmen.
Polen In der künftigen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sind die früheren sowjetischen Satellitenstaaten, allen voran Polen, am bereitwilligsten mit von der Partie. Polen könnte im Falle eines Wiedererstarkens Russlands alles verlieren und bittet die NATO um Unterstützung, sofern die russischen Streitkräfte an seinen Grenzen stehen. Deutschland und Frankreich haben wenig Interesse an einer solchen Konfrontation, also tut Polen das, was es in der Geschichte immer getan hat, wenn es von Russland oder Deutschland bedroht wurde: Es bittet eine außenstehende Macht um Hilfe. In der Vergangenheit ist diese Strategie gescheitert. Die Sicherheitsgarantien Frankreichs und Großbritanniens konnten Polen 1939 nicht vor dem Überfall durch Deutschland und Russland schützen. Anders eine Garantie durch die Vereinigten Staaten. Sie sind keine im Niedergang begriffene Macht, sondern jung, risikofreudig und stark genug, um Russland aufzuhalten. Der Rest Europas, allen voran Frankreich und Deutschland, nimmt die amerikanische Überlegenheit gegenüber Russland mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis – ebenso wie das plötzlich erstarkte Selbstbewusstsein von Ländern wie Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Aus der Konfrontation mit Russland gehen diese Staaten gestärkt hervor, da sie eine starke bilaterale Bindung zu den Vereinigten Staaten eingehen, um der russischen Macht zu begegnen. Befreit von der Bedrohung durch Russland und ein immer
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schwächer werdendes Deutschland können sie sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten sicher fühlen. Der Niedergang Deutschlands und Frankreichs, herbeigeführt durch den Bevölkerungsrückgang, die Verknöcherung ihrer Volkswirtschaften und den strategischen Fehler, sich nicht auf eine Konfrontation mit Russland einzulassen (und damit die NATO zu zerstören), ist entlang der gesamten europäischen Peripherie spürbar. Das Ergebnis ist eine Verstärkung der Krise des Selbstvertrauens, die Deutschland und Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg belastet, und darüber hinaus eine Neudefinition des gesamten europäischen Machtgefüges. Der Zusammenbruch Russlands eröffnet den osteuropäischen Nationen die Möglichkeit (und die Notwendigkeit), nach Osten eine aggressivere Außenpolitik zu vertreten. Osteuropa entwickelt sich zur dynamischsten Region des Kontinents. Dabei ist ein politischer Zusammenschluss der baltischen Staaten, Polens, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens nicht zu erwarten – zu groß sind die kulturellen und historischen Unterschiede. Doch eine Allianz zwischen ihnen sowie in fester Anbindung an die Vereinigten Staaten ist durchaus vorstellbar. Und nach 2030 stellt sich – dank seiner wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung – diesem Bündnis bei seiner Expansion nach Osten kein Hindernis mehr in den Weg. Es ist schwer zu sagen, wie weit die osteuropäischen Staaten vordringen werden. Ein estnisches Petersburg, ein polnisches Minsk oder ein ungarisches Kiew sind jedoch kaum schwerer vorstellbar, als es im 20. Jahrhundert ein von Russland besetztes Warschau, Budapest oder Berlin waren. Mit dem Zusammenbruch Russlands ist eine Ostexpansion Osteuropas unvermeidlich. Polen wird eine bedeutende und dynamische europäische Macht, nicht nur aufgrund seiner eigenen Stärke, sondern vor allem als führende Nation dieses Bündnisses osteuropäischer Staaten. Damit verschiebt sich das europäische Machtgleichgewicht in den 2030er Jahren nach Osten. Zwar übertreffen die osteuropäischen Volkswirtschaften die westeuropäischen vermutlich nicht hinsichtlich ihrer Größe, wohl aber hinsichtlich ihrer Dynamik.
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Was bedeutet dies für Frankreich und Deutschland? Es ist eine Sache, in einem Europa zu leben, das zwar schlecht organisiert ist, in dem diese beiden Staaten jedoch eine Führungsrolle innehaben. Es ist eine ganz andere Sache, sich ein Europa vorzustellen, das sich neu aufstellt und diese beiden Nationen hinter sich lässt. Während Großbritannien und auch die Iberische Halbinsel intensive Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten unterhalten, stehen Frankreich und Deutschland vor einem existenziellen Dilemma. Das entscheidende Problem beider Nationen sind die Vereinigten Staaten. Ohne deren Unterstützung wäre die wirtschaftliche Expansion Osteuropas zur Mitte des Jahrhunderts kaum aufrechtzuerhalten. Wenn die Vereinigten Staaten aus Europa verdrängt werden könnten, wäre Osteuropa nicht mehr in der Lage, seine strategischen Interessen im Osten durchzusetzen. Die alte Ordnung wäre wiederhergestellt und mit ihr die nationale Sicherheit Frankreichs und Deutschlands. Natürlich haben Frankreich und Deutschland keine Möglichkeit, den Vereinigten Staaten direkt entgegenzutreten oder sie ohne fremde Hilfe aus Europa zu verdrängen. Doch mit dem Ende des amerikanisch-russischen Konflikts sind es die Vereinigten Staaten selber, die vermutlich das Interesse an der Region verlieren. Das mag Frankreich und Deutschland die Rückgewinnung des alten Einflusses ermöglichen – aber nur für eine Übergangsphase. Denn wenn sich der Konflikt der Vereinigten Staaten mit der Türkei und Japan zuspitzt, engagieren sie sich erneut in Europa, vor allem in Osteuropa. So läuft ausgerechnet der Aufstieg der Türkei dem Wiedererstarken Frankreichs und Deutschlands zuwider.
Zusammenfassung Die Zersplitterung Chinas in den 2010er Jahren und der Zusammenbruch Russlands in den 2020ern schafft vom Pazifik bis zu den Karpaten ein Machtvakuum. Entlang der gesamten Peripherie bieten sich kleineren Ländern Möglichkeiten, sich ein Stück aus dem Kuchen zu
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schneiden. Finnland verleibt sich Karelien ein, Rumänien besetzt Moldawien, Indien unterstützt die Befreiung Tibets, Taiwan dehnt seine Macht auf das chinesische Festland aus und Europäer und Amerikaner errichten regionale Einflussspähren in China. Die Aasgeier finden reichlich Beute. Drei Nationen werden die Möglichkeit bekommen und die Notwendigkeit verspüren, weit darüber hinaus aktiv zu werden. Japan dehnt seine Macht auf die russische Pazifikregion und den Nordosten Chinas aus. Die Türkei weitet ihren Einflussbereich in den Kaukasus sowie nach Nordwesten und Süden aus. Und Polen dringt an der Spitze einer Koalition osteuropäischer Staaten nach Weißrussland und in die Ukraine vor. Ein Jahrzehnt lang beobachten die Vereinigten Staaten diese Entwicklung wohlwollend, wobei sie eine ähnliche Haltung einnehmen wie in den 1990er Jahren. Polen, die Türkei und Japan sind ihre Verbündeten, und deren Stärkung bedeutet die Stärkung der eigenen Position. Ab etwa 2035 jedoch werden die Vereinigten Staaten angesichts des fortgesetzten Machtzuwachses dieser Nationen unruhig. Ihr fünftes geopolitisches Prinzip gebietet, jeder Macht entgegenzutreten, die eine Vorherrschaft über Eurasien erlangen könnte. Plötzlich treten drei solcher Mächte auf den Plan, von denen mit der Türkei und Japan zwei im Mittelmeer und im Pazifik beträchtliche Seestreitkräfte unterhalten. Außerdem verfügen beide über erhebliche Kapazitäten im Weltraum, die, wie wir im kommenden Kapitel sehen werden, zur Jahrhundertmitte eine wichtige Rolle spielen werden. In den 2040er Jahren tun die Vereinigten Staaten also das, was sie immer tun, wenn sie eine Situation als beunruhigend empfinden. Sie handeln.
Kapitel 9
Der Aufmarsch
In den Jahren um 2040 herrscht in den Vereinigten Staaten Aufbruchstimmung, ähnlich wie in den 1990er, den 1950er und 1890er Jahren. Zehn bis zwanzig Jahre nach dem Beginn des neuen Zyklus sorgt der politische Kurswechsel für neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Reformen auf dem Gebiet der Ökonomie, der Technologie und der Einwanderung, die in den 2030ern eingeleitet wurden, schlagen gegen Ende des Jahrzehnts durch. Robotertechnologie und eine durch Genforschung verbesserte medizinische Versorgung steigern die Produktivität und das Wachstum. Wie schon in den 1990er Jahren tragen die militärischen Forschungen und Entwicklungen aus der Zeit der Konfrontation mit Russland wirtschaftliche Früchte. Doch wie so oft in der Geschichte sind Zeiten des Aufschwungs international nicht unbedingt friedliche oder stabile Zeiten. Im Jahr 2040 stellt sich immer dringlicher die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt. Die Vereinigten Staaten sind derart mächtig, dass nahezu jede ihrer Handlungen Auswirkungen auf andere Länder hat. Wenn eine Konfrontation mit ihren unabsehbaren Risiken droht, setzen die betroffenen Länder alles daran, ihr auszuweichen. Andere Nationen sind hingegen auf ausdrückliche Kooperation bedacht, da diese großzügig belohnt wird. Um das Jahr 2040 steht die Zukunft des Pazifikraums ganz oben auf der Tagesordnung. Dabei geht es vor allem um den Nordwestpazifik, genauer: um die japanische Russland- und Chinapolitik. Vordergründig dreht es sich dabei um Japans zunehmend aggressives Auftreten bei der Durchsetzung seiner Wirtschaftspolitik auf dem asiatischen Festland, das es in Konflikt mit den Interessen anderer
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Mächte, namentlich der Vereinigten Staaten, bringt. Dazu kommt die Frage nach der Missachtung der staatlichen Souveränität Chinas durch Japan sowie der politischen Autonomie der russischen Pazifikregion. Was jedoch in Wirklichkeit die Besorgnis der Vereinigten Staaten erregt, sind die rasch wachsenden japanischen Seestreitkräfte sowie seine Militärsatelliten. Japan, das nach wie vor Erdöl aus dem Persischen Golf bezieht, verstärkt seine Präsenz im Südchinesischen Meer und in der Straße von Malakka. Anfang der 2040er Jahre ist Japan zunehmend besorgt um die Stabilität im Golf und patrouilliert im Indischen Ozean, um seine Schifffahrtswege zu schützen. Japan unterhält enge Wirtschaftsbeziehungen zu zahlreichen Inselstaaten im Pazifik und vereinbart die Einrichtung von Bodenkontrollstationen für seine Satelliten. Die Geheimdienste der Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass Japan in diesen Basen auch überschallschnelle Seezielflugkörper stationiert. Heute erreichen Raketen etwa fünffache Schallgeschwindigkeit, doch Mitte des 21. Jahrhunderts werden sie mehr als doppelt so schnell sein und Geschwindigkeiten von mehr als 13 000 Kilometern pro Stunde erreichen. Neben Raketen, die direkt im Ziel einschlagen, kommen unbemannte Flugzeuge zum Einsatz, die ihre Bombenlast über ihrem Zielgebiet abwerfen und an den Ausgangsort zurückkehren. Die Japaner agieren auf dem Wasser neben der Siebten Flotte der Vereinigten Staaten und im All neben dem US-Weltraumkommando, das bis dahin weitgehende Eigenständigkeit erlangt hat. Keine der beiden Seiten will Zwischenfälle provozieren, beide unterhalten formell freundliche Beziehungen. Doch in Japan weiß man nur zu gut, wie sehr es die Vereinigten Staaten beunruhigt, dass sie ihr Privatgewässer, den Pazifik, nicht vollständig kontrollieren. Japan ist besonders daran gelegen, seine Schifffahrtsrouten gegen mögliche Bedrohungen aus dem Süden zu schützen, vor allem bei der Durchfahrt durch Indonesien, das zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean liegt. Die zahlreichen Inseln von Indonesien sind Heimat einer Vielzahl von ethnischen Gruppierungen. Das Land ist von inneren Konflikten zerrissen, auf verschiedenen Inseln sind Separatistenbewegungen aktiv. Japan versucht, einige dieser Gruppie-
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rungen gegen andere auszuspielen, um Meerengen in indonesischen Gewässern zu schützen. Außerdem hat Japan großes Interesse daran, die Marine der Vereinigten Staaten aus dem Westpazifik fernzuhalten. Es versucht dies auf dreierlei Weise. Erstens stationiert es auf eigenem Gebiet Anti-SchiffRaketen, die bis tief in den Pazifik reichen. Zweitens trifft es mit seinen Wirtschaftspartnern im Pazifik – etwa den Bonin-Inseln (zu denen auch Iwo Jima gehört), den Marshall-Inseln und Nauru – Vereinbarungen über die Einrichtung von Satellitenkontrollstationen und Raketenbasen, um im Bedarfsfall die Möglichkeit zu haben, von diesen Engstellen aus den amerikanischen Handel und Militärtransport im Pazifik abfangen zu können. Dies wiederum garantiert, dass die Schiffe der US-Marine nur noch bestimmte Seewege befahren und auf diese Weise leichter von japanischen Satelliten erfasst werden können. Was die Vereinigten Staaten jedoch am meisten beunruhigt, sind die Aktivitäten der Japaner im Weltall, die dort nicht nur kommerzielle und industrielle Stationen erreichten, sondern auch militärische. Die Vereinigten Staaten antworten wie immer mit einer komplexen politischen Strategie. In den 2010er und 2020er Jahren sind USGeheimdienste besessen von der Vorstellung, China zu stärken und zu einer Bedrohung Russlands aufzubauen. In den 2030er Jahren wird dieser Gedanke zu einer fixen Idee des Außenministeriums, das noch nie eine Strategie zu den Akten gelegt hat, nur weil sie veraltet war. Die Vereinigten Staaten beschäftigen sich also nach wie vor mit der Schaffung eines stabilen China. Das japanische Auftreten auf dem Festland steht im Widerspruch zu den amerikanischen Bemühungen. Anfang der 2040er Jahre wird die Beziehung zwischen Washington und Peking enger, sehr zum Verdruss Japans.
Die Türkei Inzwischen drängt die Türkei mit Entschiedenheit in den Kaukasus. Dabei agiert sie teils militärisch, teils geht sie politische Bündnisse ein. Ihre wirtschaftliche Stärke spielt hierbei eine wichtige Rolle, denn
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der Rest der Region hat großes Interesse daran, gute Beziehungen zur neuen Wirtschaftsmacht herzustellen. Das türkische Einflussgebiet dehnt sich jedoch weit über den Kaukasus in die Ukraine und Russland aus, in die politisch unsicheren Täler von Don und Wolga und die östlich gelegene Kornkammer Russlands. Über ihren Einfluss im muslimischen Kasachstan streckt sie die Fühler bis nach Zentralasien aus. Das Schwarze Meer wird ein türkisches Binnengewässer, die Halbinsel Krim und der Hafen von Odessa handeln fast ausschließlich mit der Türkei, die in erheblichem Umfang in der Region investiert. Russland hat vor seinem Zusammenbruch analog zum Kalten Krieg im Süden der Türkei ein eigenes Bündnissystem geschaffen. Nach dem neuerlichen Kollaps Russlands bleibt ein Gürtel instabiler Nationen zurück, der vom Nahen Osten bis nach Afghanistan reicht. Die Türkei hat wenig Interesse daran, sich mit dem Iran anzulegen, und begnügt sich damit, ihn zu isolieren. Doch die Instabilität Syriens und des Irak betrifft die türkischen Interessen direkt, zumal die Kurden erneut über die Gründung eines eigenen Staats nachdenken. Ohne russische Unterstützung sind Syrien und Irak geschwächt und werden von ihren traditionellen inneren Konflikten zerrissen. Aus Sorge, diese Instabilität könnte auf den Norden übergreifen oder eine andere Macht könnte das Vakuum füllen, wird die Türkei im Süden aktiv. Vor allem will sie verhindern, dass die Amerikaner ihnen zuvor kommen: Von deren Präsenz hatten sie bereits in den 2000er Jahren genug. Auch der Balkan versinkt im Chaos. Die Schwäche der Russen erfasst ihre einstigen Verbündeten und sorgt regional für Ungleichgewichte. Ungarn und Rumänien unternehmen den Versuch, dieses Vakuum zum Teil zu füllen, genau wie das traditionell mit der Türkei verfeindete Griechenland. Als neue Regionalmacht wird die Türkei durch die Instabilität auch in den Balkan gezogen. Dort unterhält sie bereits enge Beziehungen zu den islamischen Staaten Bosnien und Albanien, denen an jedem Beistand zum Schutz vor ihren Nachbarn gelegen ist. Geografisch kann eine Macht in dieser Region nur ein Ziel haben: die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum und das Schwarze
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Meer. Historisch war die Türkei sowohl Land- als auch Seemacht. Je näher eine europäische Macht dem Bosporus, der Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis, kommt, umso gefährlicher wird sie für die Türkei. Um den Bosporus zu kontrollieren, muss die Türkei dafür sorgen, dass sich die europäischen Mächte nicht auf dem Balkan festsetzen. Daher muss sie sich selbst auf dem Balkan engagieren. Mitte der 2040er Jahren ist die Türkei eine bedeutende Regionalmacht. Sie verfügt über ein Geflecht von Bündnissen, das weit nach Russland hineinreicht und ihre Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Energie sicherstellt. Über die von ihr kontrollierten Staaten Irak und Syrien reicht ihr Einfluss bis hinunter zur Arabischen Halbinsel, deren schwindende Ölreserven nach wie vor den Motor der amerikanischen Wirtschaft antreiben. Im Nordwesten reicht ihr Einflussgebiet tief in den Balkan, wo sie mit den Interessen von wichtigen amerikanischen Verbündeten wie Ungarn und Rumänien kollidiert, die ihren Einfluss ebenfalls in die Ukraine ausweiten und in der gesamten Region der nördlichen Schwarzmeerküste auf die Türkei treffen. Überall entlang der türkischen Peripherie kommt es zu Konflikten, von Guerillawiderstand bis hin zu konventionellen Kriegen. Die Türkei baut ihre ohnehin schon starken Streitkräfte weiter aus, und zwar zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Kontrolle des Schwarzen Meers, der Schutz des Bosporus und ein Einsatz in der Adria zur Einflussnahme auf den Balkan erfordern erhebliche Seestreitkräfte und eine Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer bis nach Sizilien. Nicht nur der Bosporus muss unter türkischer Kontrolle sein, sondern auch die Straße von Otranto, der Zugang zur Adria. Es dauert nicht lange, bis die Türkei in Konflikt mit amerikanischen Verbündeten in Südosteuropa gerät. Italien beobachtet den Machtzuwachs mit Sorge. Der entscheidende Moment ist erreicht, als in Ägypten eine innenpolitische Krise ausbricht und die Türkei als führende islamische Nation Truppen entsendet, um das Land zu stabilisieren. Plötzlich kontrollieren türkische Friedenssoldaten den Suezkanal und eröffnen der Türkei die Möglichkeit, seine traditionelle Politik zu verfolgen und weiter nach Nordafrika vorzudringen. Sollte dies gelingen,
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SYRIEN
Mittelmeer
IRAK
ISRAEL Suezkanal
IRAN
JORDANIEN
KUWA KUWAITT Persischer Golf Straße von Hormus KATAR Golf von Oman V.A.E. SAUDIARABIEN
ÄGYPTEN
OMAN
Rotes Meer SUDAN
ERITREA
JEMEN
Arabisches Meer
DSCHIBUTI ÄTHIOPIEN
SOMALIA
Schifffahrtsrouten im Nahen Osten
wird die Türkei die entscheidende Macht im westlichen Eurasien. Israel bleibt zwar als starke Kraft erhalten, doch die türkische Macht wird es an einer weiteren Entfaltung hindern und zu einem Arrangement zwingen. Mit der Kontrolle des Suezkanals eröffnen sich der Türkei weitere Möglichkeiten. Im Kampf gegen arabische Separatisten unterhält sie bereits Truppen in Saudi-Arabien. Da deren Nachschub auf dem Landweg schwierig ist, kann die Türkei ihre Truppen nun über den Seeweg versorgen. Damit konsolidiert sie ihre Kontrolle über die Arabische Halbinsel und wird zunehmend zu einer Gefahr für den Iran, dessen Häfen sie blockieren und den sie von Westen her angreifen kann. Das hat sie zwar nicht vor, doch allein die Bedrohung wird den Iran ruhig stellen, was der Türkei sehr entgegenkommt. So dringt die Türkei über das Rote Meer hinaus in den Indischen Ozean vor. Ihr Interesse gilt dem Persischen Golf, wo sie ihre Kontrolle über die Arabische Halbinsel und die nach wie vor wertvollen Ölreserven der Region festigt. So wird sie zu einem wichtigen Faktor in den japanischen Sicherheitsüberlegungen. Japan ist historisch von den
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Öllieferungen aus der Golfregion abhängig. Da diese nun von der Türkei kontrolliert wird, ist Japan auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen. Beide Nationen sind bedeutende Wirtschafts- und aufstrebende Militärmächte. Beide haben ein Interesse daran, die Schifffahrtswege von der Straße von Hormuz bis zur Straße von Malakka zu sichern. Sie haben viele gemeinsame Interessen und kaum Reibungspunkte. Die Vereinigten Staaten beobachten den Aufstieg der Türkei zur führenden Seemacht der Region mit Sorge, zumal er mit der japanischen Aufrüstung zusammenfällt. Besonders besorgniserregend ist die informelle Kooperation Japans und der Türkei im Indischen Ozean. Im Persischen Golf ist die türkische Vormacht erdrückend, ebenso wie die japanische Hegemonie im Nordwestpazifik. Die Vereinigten Staaten bleiben zwar die vorherrschende Macht im Indischen Ozean, doch wie bereits im Pazifik wendet sich der Trend gegen sie. Ebenso beunruhigend sind die Bemühungen der Türkei, sich die ideologischen Überreste des eigentlich überlebten Islamismus zunutze zu machen und auf diese Weise ihre Vorherrschaft in der Region moralisch zu untermauern. Ihr Einfluss ist längst keine rein militärische Angelegenheit mehr. Dies stößt nicht nur in den Vereinigten Staaten auf Besorgnis, sondern auch in Indien. Seit dem amerikanisch-dschihadistischen Krieg zu Beginn des Jahrhunderts unterhalten die Vereinigten Staaten freundschaftliche Beziehung zu Indien. Dem innerlich zerrissenen Subkontinent ist zwar der Aufstieg zu einer globalen Wirtschaftsmacht nicht gelungen, doch es hat eine gewisse regionale Vormachtstellung inne. Die Präsenz der islamischen Türkei in der Arabischen See und die Ausweitung ihrer Einflusssphäre in den Indischen Ozean beunruhigt Indien. Die indischen Interessen decken sich mit denen der Vereinigten Staaten, die somit im Indischen Ozean in einer ähnlichen Lage sind wie im Pazifik: Sie verbünden sich mit einem riesigen und bevölkerungsreichen Land gegen kleinere und dynamischere Seemächte. Die Macht Japans und der Türkei, die eine im Osten, die andere im Westen Asiens, wird im Laufe dieses Prozesses immer größer. Jede weitet ihre Interessen auf dem Kontinent aus und verstärkt ihre See-
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streitkräfte weiter. Daneben bauen beide ihre Weltraumkapazitäten aus und schicken regelmäßig bemannte und unbemannte Missionen ins All. Bei der Entwicklung von Weltraumtechnologien arbeiten beide in begrenztem Umfang zusammen: Japan hat gegenüber der Türkei einen erheblichen technologischen Vorsprung, doch der Zugang zu türkischen Startrampen bietet Japan zusätzlichen Schutz vor einem amerikanischen Militärschlag. Diese Zusammenarbeit wird in den Vereinigten Staaten als weiterer Grund zur Beunruhigung aufgenommen. Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts reicht der türkische Einfluss bis weit nach Russland und in den Balkan, wo er allerdings mit den Interessen des osteuropäischen Staatenbündnisses um Polen kollidiert.
Polen Der polnische Alptraum ist ein gleichzeitiger Angriff durch Russland und Deutschland. Wann immer es dazu kommt, wie etwa im Jahr 1939, ist Polen chancenlos. Nach dem Zusammenbruch Russlands in den 2020er Jahren bietet sich Polen daher eine Chance, die es nutzen muss. So wie Russland keine andere Wahl hat, als seinen Puffer so weit wie möglich nach Westen zu verschieben, muss Polen nun seine Grenzen nach Osten verlagern. In der Vergangenheit bot sich Polen nur selten eine solche Gelegenheit, denn es wurde von drei Reichen – Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn – eingekeilt und beherrscht. Lediglich im 17. Jahrhundert hatte Polen diese Möglichkeit, als Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg zerrissen war und Russland seine Macht noch nicht in Richtung Westen ausgedehnt hatte. Das Problem Polens war früher seine ungesicherte Südflanke. Im Jahr 2040 stellt dies kein Problem mehr dar, da sich die übrigen osteuropäischen Nationen noch gut an die Lektionen der Vergangenheit erinnern und genau wie Polen ein Interesse daran haben, nach Osten hin Pufferzonen einzurichten. Dieser neue Ostblock hat allerdings neben der militärischen auch eine wirtschaftliche Dimension.
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RUSSLAND
POLEN HEILIGES RÖMISCHES REICH
OSMANISCHES REICH
Polen im Jahr 1660
Seit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 war Deutschland der europäische Wirtschaftsmotor. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland sein politisches Selbstbewusstsein verloren hatte, blieb es die dynamischste Volkswirtschaft des Kontinents. Im Jahr 2020 hat sich die Situation geändert. Eine alternde Bevölkerung belastet die deutsche Wirtschaft. Der deutsche Hang zur Schaffung von Konzernstrukturen ist langfristig ineffizient und schafft eine zwar große, aber träge Wirtschaft. Wie die übrigen west- und zentraleuropäischen Nationen wird Deutschland unter einer ganzen Reihe von Gebrechen leiden. Doch die Osteuropäer sind als Sieger aus einem Kalten Krieg hervorgegangen, den sie an der Seite der auf dem Gebiet der Technologie-
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entwicklung führenden Macht, den Vereinigten Staaten, geführt haben. Ein Kalter Krieg ist der beste aller Kriege, da er die Wirtschaft eines Lands stimuliert, ohne sie zu zerstören. Viele der Technologien, die den Vereinigten Staaten ihren gewaltigen Vorsprung auf diesem Gebiet verschaffen, stammen aus diesem zweiten Kalten Krieg, und Polen wird vom amerikanischen Know-how profitieren. Deutschland hat weder ein Interesse noch die Möglichkeiten, den polnischen Block, wie wir ihn nennen wollen, herauszufordern. Trotzdem ist man sich in Deutschland natürlich sehr bewusst, wie die Entwicklung weitergehen wird. Der polnische Block wird West- und Zentraleuropa überflügeln und genau das erreichen, wovon man in Deutschland lange träumte. Er wird den westlichen Teil des früheren russischen Reichs eingliedern und aufbauen und auf diese Weise zu einer ernstzunehmenden Wirtschaftsmacht aufsteigen. Die entscheidende Schwäche des polnischen Blocks ist seine relative Binnenlage. Seine Häfen im Baltikum lassen sich selbst von einer kleinen Flotte am Skagerrak blockieren. Da dies sein einziger Zugang zu den Weltmeeren ist, sind die Handelswege überaus verwundbar. Eine andere Alternative wäre ein Adriahafen. Kroatien, das Ungarn
NORWEGEN
ESTLAND
Skagerak LETTLAND
SCHWEDEN Nordsee
DÄNEMARK
Ostsee
LITAUEN RUSSLAND
GROSSBRITANNIEN
NIEDERLANDE
Der Skagerrak
POLEN DEUTSCHLAND
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historisch sehr nahe steht, verfügt über den Hafen Rijeka. Dieser hat zwar begrenzte Kapazitäten, wäre aber besser als gar nichts. Der Zugang zu diesem Hafen ist allerdings mit zwei Problemen verbunden, die beide mit der Türkei zu tun haben. Zum einen engagiert sich die Türkei genau wie Ungarn und Rumänien verstärkt auf dem Balkan. Wie immer auf dem Balkan handelt es sich um eine verworrene Gemengelage, die durch Religion und historische Feindschaften weiter kompliziert wird. Die Türkei will ein Vordringen des polnischen Blocks ans Mittelmeer verhindern und wird zu diesem Zweck die Spannungen zwischen Kroatien und Bosnien forcieren. Doch selbst wenn es den osteuropäischen Nationen um Polen gelingt, Zugang zur Adria und zum Mittelmeer zu bekommen, reicht es nicht aus, dort einfach eine Handelsmarine zu unterhalten. Handel ist effektiv nur dann möglich, wenn sie die Straße von Otranto kontrollieren. Die einzige andere Alternative bestünde darin, Deutschland und Dänemark zu erobern, um den Skagerrak zu kontrollieren, doch das würde die Möglichkeiten des polnischen Blocks übersteigen. Das Staatenbündnis um Polen gerät neben dem Balkan jedoch noch an einem zweiten Ort in Konflikt mit der Türkei, und zwar in Russland, wo die Türkei ihren Einfluss durch die Ukraine nach Westen ausdehnt, während der polnische Block nach Osten vordringt. Hier verläuft das Aufeinandertreffen weniger brisant als auf dem Balkan, da beide ausreichend Platz zur Verfügung haben, doch es handelt sich um einen nicht unbedeutenden Nebenschauplatz. Weder der polnische Block noch die Türkei haben in Südrussland und der Ukraine klar definierte Einflusssphären. Doch angesichts der fortdauernden Animositäten zwischen der Ukraine und Polen, deren Wurzeln bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichen, sowie zwischen der Ukraine und der Türkei hat jede der beiden Seiten Möglichkeiten, der anderen Schwierigkeiten zu bereiten. Polen ist dringend auf die Unterstützung durch die Vereinigten Staaten angewiesen. Nur diese verfügen über das nötige Gewicht, um der Türkei im Mittelmeerraum etwas entgegensetzen zu können. Die Vereinigten Staaten ihrerseits ziehen es vor, nicht direkt aktiv zu werden, sondern regionale Verbündete zu unterstützen, die ebenfalls an
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einer Eindämmung der Türkei interessiert sind. Anders als die Türkei stellt das osteuropäische Staatenbündnis um Polen keine unmittelbare Bedrohung der amerikanischen Interessen dar. Daher versorgen sie den polnischen Block mit den Technologien, die dieser benötigt, um seine eigene Strategie zu verfolgen. Etwa um das Jahr 2045 hat das osteuopäische Staatenbündnis Slowenien und Kroatien unter seine Kontrolle gebracht und sich Rijeka gesichert. Die beiden Balkannationen sehen in dieser Verbindung einen Schutz vor ihren feindlich gesinnten Nachbarn Serbien und Bosnien. Mit Hilfe der amerikanischen Technologie entwickelt der osteuropäische Block rasch die Kapazitäten zur See und im Weltraum, die erforderlich sind, um der Türkei in der Adria und dem Mittelmeer zu begegnen. Deutschland beobachtet die Entwicklung mit Sorge und stellt sich auf die Seite der Türkei. Deutschland selbst unternimmt nichts, doch es ist sich nur zu gut im Klaren darüber, was passieren würde, wenn es Polen gelingen sollte, die Türkei zu überwinden. Sollte das osteuropäische Staatenbündnis dabei geeint bleiben, wäre es – in geostrategischer Hinsicht – nichts anderes als eine Wiedergeburt der Sowjetunion und würde sämtliche Rohstoffvorkommen Westrusslands und des Nahen Ostens kontrollieren. Deutschland kann sich gut genug in die Lage der Vereinigten Staaten versetzen, um zu wissen, dass diese im Falle eines polnischen Siegs gegen die neue Hegemonialmacht vorgehen müssten, doch es weiß auch, dass es selbst die Hauptlast eines möglichen neuen Konflikts zu tragen hätte. Sollte der polnische Block eine derartige Machtposition erreichen, müssten die Vereinigten Staaten seine weitere Expansion in Richtung Westeuropa verhindern und Deutschland würde ein weiteres Mal zu einem möglichen Kriegsschauplatz. Ein Erfolg des polnischen Blocks würde also kurzund langfristig eine Bedrohung für Deutschland darstellen. Es ist daher im deutschen Interesse, die Türkei in fast jeder erdenklichen Art und Weise zu unterstützen, nur nicht militärisch. Die Türkei benötigt jedoch just eine Unterstützung bei der militärischen Blockade des osteuropäischen Staatenbündnisses. Polen und seine Verbündeten müssten vom Zugang zu den Vereinigten Staaten und dem Welt-
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handel abgeschnitten werden. Wenn es der Türkei gelänge, die Adria abzuriegeln, während Deutschland gleichzeitig eine Blockade über die Ostsee verhängen würde, wären die osteuropäischen Staaten ernsthaft in Gefahr. Doch Deutschland ist nur zu dieser Blockade bereit, wenn es sicher sein kann, dass die Türkei mit ihrer Strategie Erfolg hat, was wiederum voraussetzt, dass die Vereinigten Staaten nicht ihr gesamtes Gewicht in die Waagschale werfen. Und da man in Deutschland weder das eine noch das andere mit Sicherheit wissen kann, verlegt man sich aufs Warten. Auch die Vereinigten Staaten warten ab. Sie bewaffnen den polnischen Block und ermuntern ihn zu einer Konfrontation mit der Türkei, während sie gleichzeitig Indien im Indischen Ozean stärken. Außerdem unterstützen sie China und Korea und verstärken ihre militärische Präsenz im Pazifik und im Mittelmeer. Sie tun alles, um Japan und die Türkei einzudämmen, ohne direkt ins Geschehen eingreifen zu müssen. Dieses Spiel beherrschen sie sehr gut – sogar zu gut. Die Türkei und Japan wissen um die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten für ihre Zwecke zu mobilisieren und befürchten, ein Opfer der amerikanischen Stellvertreter zu werden. Die Folge ist eine massive Eskalation.
Neue Bündnisse In den 1940er Jahren standen in Vereinigten Staaten schon einmal zur gleichen Zeit mehreren Krisenherden gegenüber, als nämlich Deutschland und Japan gleichzeitig die amerikanischen Interessen gefährdeten. Auch im Zweiten Weltkrieg verfolgten die Vereinigten Staaten die Taktik der Stärkung ihrer regionalen Verbündeten, als sie nämlich Großbritannien und Russland in ihrem Kampf gegen Deutschland sowie China gegen Japan unterstützten. Ein Jahrhundert später bereiten sie sich erneut auf eine lange Auseinandersetzung vor. Sie haben kein Interesse an einer Besetzung der Türkei, Japans oder gar Deutschlands. Sie entscheiden sich vielmehr für ein defensives Vorgehen, das darauf abzielt, den Aufstieg der jeweiligen Hegemonial-
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macht zu verhindern. Dabei geht es darum, mögliche Gefahren über einen langen Zeitraum hinweg abzubauen und ihre Gegner in niederschwelligen Konflikten, die sie weder gewinnen noch beenden können, zu zermürben. In der Öffentlichkeit betonen sie dabei stets das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie und zeichnen Japan und die Türkei als Aggressoren, die staatliche Souveränität und Menschenrechte mit Füßen treten. Neben dieser öffentlichen Kampagne üben die Vereinigten Staaten jedoch konkreten Druck aus. Zum einen auf wirtschaftlichem Gebiet. Der gewaltige Markt der Vereinigten Staaten ist ein wichtiger Abnehmer für japanische und in geringerem Umfang auch für türkische Produkte. Gleichzeitig sind die Vereinigten Staaten nach wie vor der wichtigste Lieferant für modernste Hochtechnologie. Ein Im- und Exportstop wäre daher mehr als schmerzhaft. Die Vereinigten Staaten bringen den Handel als Hebel gegen beide Länder zum Einsatz. Sie verbieten den Export bestimmter Technologien vor allem aus dem militärischen Bereich und verhängen Importbeschränkungen für Waren aus beiden Ländern. Zum anderen unterstützen sie durch den polnischen Block russische und ukrainische Bewegungen innerhalb der türkischen Einflusssphäre. Gegen die Interessen dieses Blocks unterstützen sie zudem auf dem Balkan den serbischen Widerstand gegen die Türkei. Auch das seit Jahrhunderten mit der Türkei verfeindete Griechenland wird ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten, auch wenn es kein formelles Bündnis mit dem polnischen Block eingeht. Aus geopolitischer Sicht sind diese Bündnisse unschwer vorherzusehen. Sie orientieren sich an Mustern, die bereits seit Jahrhunderten Bestand haben. Ich versuche lediglich aufzuzeigen, wie sich diese bestehenden Verhältnisse in den Zusammenhängen des kommenden Jahrhunderts weiterentwickeln. Nachdem die Vereinigten Staaten mit ihrer gezielten Unterstützung von Widerstandsbewegungen begonnen haben, verwandelt sich der Balkan erneut in ein Pulverfass, was die Türkei zwingt, einen unangemessen Verteidigungsaufwand in einer Region zu betreiben, in der sie vorrangig defensive Interessen verfolgt. Der Türkei geht es letztlich nur um den Schutz des Bosporus.
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Sollte sie sich jedoch zurückziehen, würde ihre Glaubwürdigkeit in dieser jungen Einflusssphäre Schaden nehmen. Die Vereinigten Staaten versuchen außerdem, arabische Nationalisten in Ägypten und der Arabischen Halbinsel zu stärken. Obwohl die Türkei sich hütet, ihren Einfluss in diesen Ländern allzu aggressiv durchzusetzen, sind anti-türkische Ressentiments dort weit verbreitet. Die Vereinigten Staaten machen sich diese Stimmung zunutze, nicht aus Interesse am arabischen Nationalismus, sondern um die Türkei zu schwächen. Die Türkei beobachtet die amerikanische Unterstützung des polnischen Blocks und der nordafrikanischen Nationalisten mit Sorge. Den Vereinigten Staaten geht es darum, mit ihren Interventionen auf das Verhalten der Türkei einzuwirken und deren Aktionsradius einzuschränken, doch ihre Aktivitäten bleiben unterhalb der Schwelle, die man in der Türkei als Gefahr für die eigenen grundlegenden Sicherheitsinteressen auffassen müsste.
Spähsatelliten und Kampfsterne Die bedrohlichsten Maßnahmen ergreifen die Vereinigten Staaten auf den Weltmeeren, wenn auch nicht direkt in den Ozeanen, sondern vom All aus. In den 2030ern haben sie ein noch relativ bescheidenes kommerzielles Raumfahrtprogramm aufgelegt, das in erster Linie der Energieerzeugung dienen soll. Mitte der 2040er Jahre ist dieses Programm zwar ein Stück weit fortgeschritten, doch es ist nach wie vor auf staatliche Mittel angewiesen und in der Entwicklungsphase. Im Rahmen dieses Programms entwickeln die Vereinigten Staaten ihre Robotertechnik weiter und setzen menschliche Astronauten ausschließlich für schwierige und komplexe Aufgaben ein. Sie haben eine beachtliche Infrastruktur errichtet und auf diese Weise ihren technologischen Vorsprung weiter ausgebaut. Um diese Vorherrschaft im Weltraum zur Festigung ihrer Machtposition auf der Erde einzusetzen, investieren die Vereinigten Staaten weiter in diese Infrastruktur. Nach und nach verabschieden sie sich von der kostspieligen und wenig effektiven Strategie, bewaffnete Trup-
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pen mit benzinbetriebenen Flug- und Fahrzeugen in Tausende Kilometer entfernte Länder zu transportieren und dort zum Einsatz zu bringen, um ihre Machtansprüche durchzusetzen. Stattdessen investieren sie in eine Flotte unbemannter Flugzeuge, die im eigenen Land stationiert sind. Gesteuert werden diese Flugzeuge über Satelliten, die sich über möglichen Zielen in einer geostationären Umlaufbahn befinden und die ich in der Folge »Kampfsterne« nenne. Zur Jahrhundertmitte kann eine Hyperschallrakete, die auf Hawaii abgefeuert wird, in einer halben Stunde ein Schiff vor der Küste Japans oder einen Panzer in der Mandschurei treffen. Da die Rüstungskontrollverträge aus dem 20. Jahrhundert weiterhin Gültigkeit haben, entwickeln die Vereinigten Staaten insgeheim Raketen, die vom Weltall aus auf irdische Ziele abgefeuert werden können. Sollte die Kommunikation zwischen einem Kampfstern und der Bodenkontrollstation unterbrochen werden, kann dieser eigenständig vom All aus agieren und beispielsweise Raketen auf bestimmte Ziele auf der Erde lenken. In den Kampfeinsätzen des 21. Jahrhunderts spielt effiziente Kommunikation eine ausschlaggebende Rolle. Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der Kriegstechnik ist die Verlagerung von Kommando- und Kontrollzentren von der Erde ins Weltall. Kontrollzentren am Boden sind leicht verwundbar. Wenn ein Bild von einem Satelliten im All aus aufgenommen, dann zur Erde übermittelt und anschließend ein Befehl an die Waffensysteme im All geschickt werden muss, vergehen kostbare Sekunden. Je mehr Schaltstellen beteiligt sind, desto größer ist die Zahl der verwundbaren Stellen und desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Feind das Signal stören könnte. Feinde könnten Bodenkontrolleinrichtungen, Empfangsstationen und Sendeanlagen angreifen und die Kommunikation selbst mit geringem technischen Aufwand stören. Befinden sich die Kommandozentralen jedoch im Weltall, sind sie vor diesen Angriffen geschützt und können ungehindert mit Waffen und Personal kommunizieren – so die Theorie. Heute streckt die Technik der erforderlichen Systeme noch in den Kinderschuhen. Gegen Mitte des Jahrhunderts wird sie jedoch serien-
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reif sein. Dies ist keineswegs Science-Fiction, sondern ein Ausblick auf reale Entwicklungen, die auf bereits bestehender Technik und aktueller Verteidigungsplanung basieren. Die Kampfsterne werden mit sensibelster Spähtechnologie sowie Abhörinstrumenten zur Auswertung von elektronischer Kommunikation ausgestattet sein. Von hier aus erden außerdem unbemannte Satellitensysteme kontrolliert. Die Kampfsterne nutzen hochauflösende Bilder von der Erdoberfläche und können ferngesteuerte Flugzeuge innerhalb weniger Minuten in jedes beliebige Ziel lenken. Sie sind genauso in der Lage, eine auslaufende Flotte unter Feuer zu nehmen, wie Soldaten, die Sprengsätze an einer Straße anbringen. Was sie sehen, das können sie auch beschießen. Basierend auf den Raumprogrammen der 2030er Jahre werden die Vereinigten Staaten vermutlich drei Kampfsterne in geostationären Umlaufbahnen über dem Äquator einrichten: den ersten nahe der Küste Perus, den zweiten über Papua Neuguinea und den dritten über Uganda. Diese drei Raumstationen befinden sich in ungefähr gleichem Abstand zueinander und teilen die Erde damit in drei Sektoren auf. Den wenigsten Ländern wird die Gegenwart der Kampfsterne gefallen, am wenigsten der Türkei und Japan. Es ist kein Zufall, dass sich einer direkt im Süden der Türkei befindet und ein zweiter südlich von Japan. Jeder dieser Kampfsterne verwendet seine eigenen Spähinstrumente sowie die Information von mobilen Satelliten, um die beiden Länder zu überwachen. Im Grunde genommen sind die Kampfsterne nichts anderes als Pistolen, die auf den Kopf der Türkei und Japans gerichtet sind. Sie sind außerdem in der Lage, von einem Moment auf den anderen über jedes der beiden Länder eine undurchdringliche Blockade zu verhängen. Die Kampfsterne können die Türkei und Japan zwar nicht besetzen, sie können ihnen jedoch effektiv die Luft abschnüren. Dieses Weltraumverteidigungssystem wurde bereits Jahre zuvor geplant, doch nun wird es mit atemberaubender Geschwindigkeit installiert. Im Jahr 2040 wird die Stationierung beschlossen, und zur Jahrhundermitte ist das System einsatzbereit. Die Stationierung basiert auf der Annahme, dass die Kampfsterne unverwundbar sind
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und dass kein Land über die technischen Möglichkeiten verfügt, sie anzugreifen und zu zerstören. Ähnliches haben die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit immer wieder angenommen – von Schlachtschiffen, Flugzeugträgern und Tarnkappenbombern. Die amerikanische Militärplanung basiert immer auf der arroganten Überzeugung, dass andere Nationen nicht in der Lage sind, mit ihrer überlegenen Technologie Schritt zu halten. Diese Annahme ist natürlich riskant, doch sie beschleunigt die Stationierung.
Eskalation Die Entwicklung der Kampfsterne, die Einführung neuer, weltraumgestützter Waffensysteme sowie politischer und wirtschaftlicher Druck zielen sämtlich darauf, die weitere Expansion Japans und der Türkei zu verhindern. Aus türkischer und japanischer Sicht sind die amerikanischen Forderungen jedoch extrem und irrational. Die Amerikaner verlangen den Rückzug sämtlicher Streitkräfte auf das ursprüngliche Territorium der beiden Länder sowie eine Garantie der Schifffahrtsrouten im Schwarzen Meer, im Bosporus und in der Japanischen See. Wenn sich Japan auf diese Forderungen einließe, würde dies seine gesamte wirtschaftliche Strategie zunichte machen. Auch die Türkei hätte wirtschaftliche Konsequenzen zu befürchten, vor allem aber politisches Chaos in der Region. Gleichzeitig richten die Vereinigten Staaten keine Forderungen an den polnischen Block. Im Gegenteil, im Grunde verlangen sie von der Türkei nichts anderes, als den Balkan, die Ukraine und Teile Südrusslands an Polen abzutreten und den Kaukasus erneut im Chaos versinken zu lassen. Die Vereinigten Staaten haben gar nicht die Absicht, Japan und die Türkei zu einer Kapitulation zu zwingen. Sie versuchen mit ihren Forderungen lediglich, der Expansion dieser Länder Grenzen zu setzen und ihre Unsicherheit zu vergrößern. Sie gehen gar nicht davon aus, dass diese beiden Länder in ihre Grenzen von 2020 zurückkehren, sondern wollen lediglich die weitere Ausdehnung ihrer Einflusssphären unterbinden.
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Für Japan und die Türkei stellt sich die Situation allerdings anders dar. Aus ihrer Sicht versuchen die Vereinigten Staaten im besten Falle, sie vor unlösbare internationale Probleme zu stellen, um ihre Kapazitäten zu binden. Im schlimmsten Falle bereiten die Vereinigten Staaten jedoch ihre Vernichtung vor. Der Türkei und Japan bleibt keine andere Wahl, als sich auf letzteres Szenario einzustellen und ihren Widerstand vorzubereiten. Keines der beiden Länder verfügt über die Weltraumerfahrung ihres Gegners. Sie sind in der Lage, bemannte Expeditionen ins All zu schicken, und haben auch ihr eigenes Aufklärungssystem. Doch an die militärischen Kapazitäten der Vereinigten Staaten reicht keins der beiden Länder heran, schon gar nicht in einem Zeitrahmen, in dem sie diese dazu zwingen könnten, ihre Politik zu überdenken. Andererseits sind die Türkei und Japan nicht in der Lage, von ihrer Position abzurücken. Die Vereinigten Staaten planen keinen Krieg. Sie wollen lediglich Druck ausüben, um Japan und die Türkei zu zwingen, ihren Forderungen entgegenzukommen. Sowohl die Türkei als auch Japan haben großes Interesse daran, die Macht der Vereinigten Staaten einzudämmen und bilden daher ein natürliches Bündnis. Dank des technologischen Fortschritts gestaltet sich eine enge Kooperation zwischen beiden Ländern Mitte des 21. Jahrhunderts sehr einfach. Die Raumfahrt hat profunde Auswirkungen auf die Geopolitik. Auch in traditioneller Hinsicht unterstützen sich Japan und die Türkei gegenseitig. Die Vereinigten Staaten sind in Nordamerika lokalisiert, Japan und die Türkei sind eurasische Regionalmächte. Dadurch ergeben sich ein natürliches Bündnis und ein gemeinsames strategisches Ziel. Im Jahr 2045 erstreckt sich die japanische Macht über die Pazifikküste und Ozeanien bis weit auf das ostasiatische Festland. Die türkische Einflusssphäre reicht durch Zentralasien bis in die islamischen Regionen Westchinas. Bei einer erfolgreichen Zusammenarbeit könnten die Türkei und Japan durchaus zu einer gesamteurasischen Macht werden, die es mit den Vereinigten Staaten aufnehmen kann. Das Haar in der Suppe ist der polnische Block, der verhindert, dass die Türkei ihren Einfluss über den Balkan hinaus ausweitet. Das wird
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die Türkei und Japan jedoch nicht daran hindern, ein Bündnis einzugehen. Sollte es gelingen, auch nur eine weitere europäische Macht als Partner zu gewinnen, wären die osteuropäischen Staaten in einer misslichen Lage. Sie müssten ihre Ressourcen auf zwei Fronten verteilen, womit die Türkei freiere Hand in der Ukraine und Russland und das türkisch-japanische Bündnis ein drittes Standbein hätte. Der naheliegende europäische Partner heißt Deutschland. Wenn die Türkei und Japan Deutschland davon überzeugen könnten, dass ein von den Vereinigten Staaten unterstütztes Polen eine ausreichend große Gefahr darstellt und dass ein Dreierbund ausreichend stark ist, die Vereinigten Staaten zu einem vorsichtigeren Vorgehen zu zwingen, dann bestünde die Möglichkeit, Eurasien gemeinsam zu beherrschen und die Rohstoffe des Kontinents unter sich aufzuteilen. In Deutschland gibt man sich nicht einen Moment lang der Illusion hin, dass sich die Vereinigten Staaten beeindrucken lassen könnten. Im Gegenteil, man befürchtet, dass ein Dreierbund eine sofortige militärische Reaktion provozieren würde. Außerdem sieht man im Fall einer Niederlage des polnischen Blocks die Türken wieder vor Wien stehen, was wenig Begeisterung weckt. Obwohl Deutschland also der geeignetste Bündnispartner der Türkei und Japans wäre, lehnt es eine Beteiligung ab – es sei denn, Polen würde in einem möglichen Krieg so weit geschwächt, dass eine deutsche Intervention kein Risiko mehr darstellen würde. Sollten die Vereinigten Staaten den Krieg gewinnen, stünde Deutschland nicht schlechter da. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Vereinigten Staaten und Polen den Krieg verlieren sollten, würde Deutschland an der Beute beteiligt. Daher hält man es in Deutschland für sinnvoller, die Entwicklung in Polen abzuwarten. Ein weiterer denkbarer, wenngleich sehr unwahrscheinlicher Bündnispartner der Koalition ist Mexiko. Schon im Ersten Weltkrieg bat das Deutsche Kaiserreich Mexiko um Unterstützung im Krieg gegen die Vereinigten Staaten, weshalb diese Allianz kein neuer Gedanke wäre. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts erlebt Mexiko einen raschen wirtschaftlichen Aufstieg und ist in den 2040ern eine ernstzunehmende Wirtschaftsmacht, die jedoch noch im Schatten der Verei-
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nigten Staaten steht. Nach Verabschiedung der neuen amerikanischen Einwanderungspolitik in den 2030er Jahren wandern Mexikaner verstärkt in den Südwesten der Vereinigten Staaten aus. Das bringt zwar gewisse Probleme für die Vereinigten Staaten mit sich, doch in den 2040er Jahren ist Mexiko kaum in der Lage, einem anti-amerikanischen Bündnis beizutreten. Die amerikanischen Geheimdienste registrieren die verstärkten diplomatischen Kontakte zwischen Tokio und Istanbul (die Regierung der Türkei ist mittlerweile von Ankara in die traditionelle Hauptstadt des Osmanischen Reichs verlegt worden) und beobachten, wie beide ihre Fühler nach Mexiko und Deutschland ausstrecken. Die Vereinigten Staaten erkennen, dass die Lage ernst wird, und wissen, dass die Türkei und Japan gemeinsame Pläne für einen möglichen Krieg haben. Obwohl die beiden Staaten kein formelles Bündnis eingegangen sind, können sich die Vereinigten Staaten nicht mehr sicher sein, dass sie es mit zwei isolierten und kontrollierbaren Regionalmächten zu tun haben. Stattdessen gehen sie davon aus, dass sie einer Koalition gegenüberstehen, die ganz Eurasien beherrschen und damit den amerikanischen Alptraum wahrmachen könnte. Diese Befürchtung hängt mit der geopolitischen Strategie der Vereinigten Staaten zusammen, die ich zu Beginn des Buchs erörtert habe. Sollte die türkisch-japanische Koalition Eurasien kontrollieren, wäre sie vor einem Angriff geschützt und könnte sich darauf konzentrieren, den Vereinigten Staaten im Weltall und auf den Meeren Paroli zu bieten. Die Vereinigten Staaten reagieren, wie sie so oft reagiert haben: Sie üben wirtschaftlichen Druck aus. Beide Länder hängen zu einem gewissen Grad von Exporten ab, die in einer Welt der schrumpfenden Bevölkerungen immer weniger Märkte finden. Die Vereinigten Staaten formieren einen wirtschaftlichen Block und bieten denjenigen Ländern den Status als bevorzugte Handelspartner an, die ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Japan und der Türkei aufkündigen und ihre Importe aus Drittländern beziehen. Mit anderen Worten: Sie organisieren einen wenig subtilen Boykott der türkischen und japanischen Wirtschaft. Daneben schränken sie den Technologieexport in diese beiden
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Länder immer weiter ein. Da die modernste Roboter- und Gentechnologie aus den Vereinigten Staaten stammt, wirkt sich dies schmerzlich auf die Hightech-Industrie der Türkei und Japans aus. Außerdem intensivieren die Vereinigten Staaten ihre Militärhilfe für China, Indien und Polen sowie den anti-türkischen und anti-japanischen Widerstand in Russland. Die Politik der Vereinigten Staaten ist ganz einfach: Sie wollen diesen beiden Ländern so viel Ärger wie möglich bereiten, um sie daran zu hindern, ein Bündnis einzugehen. Am meisten Kopfzerbrechen bereiten der Türkei und Japan jedoch die Weltraumaktivitäten der Vereinigten Staaten. Die Stationierung der Kampfsterne dient ihnen als Beweis, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, wenn nötig einen Angriffskrieg zu führen. Ende der 2040er Jahre ziehen die Türkei und Japan ihren eigenen Schluss aus den zahlreichen amerikanischen Aktivitäten: Ihrer Ansicht nach haben die Vereinigten Staaten die Absicht, sie zu vernichten, weshalb nur ein formelles Bündnis als Schutz und Abschreckung dienen kann. Daher unterzeichnen die beiden Nationen einen Verteidigungspakt. Dieser wiederum mobilisiert Muslime in ganz Asien, die sich aus der Konfrontation zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten einen Zugang zur Macht erhoffen. Der wiedererstarkte islamische Extremismus erfasst auch Südostasien. Dies eröffnet Japan den Zugang nach Indonesien, was wiederum die amerikanische Kontrolle des Pazifik und den Zugang zum Indischen Ozean gefährdet. In den Vereinigten Staaten herrscht jedoch eine Gewissheit vor: So groß die Gefahr ist, die von der Türkei und Japan in Eurasien ausgeht, die amerikanische Vormachtstellung im Weltall werden diese beiden Mächte nie gefährden können. Nachdem sie also die Türkei und Japan in eine unmögliche Situation gebracht haben, verfallen die Vereinigten Staaten angesichts der Reaktion der beiden Nationen einerseits in Panik, wiegen sich aber andererseits in dem selbstgefälligen Bewusstsein, dass sie dieses Problem in den Griff bekommen können. Sie erwarten keinen Waffengang, sondern einen neuen Kalten Krieg. Die Supermacht ist überzeugt, dass es niemand wagen würde, ihr in einem offenen Krieg gegenüberzutreten.
Kapitel 10
Am Vorabend des Kriegs
Der Krieg, der gegen Mitte des 21. Jahrhunderts ausbricht, hat klassische Ursachen: Ein Land – die Vereinigten Staaten – übt massiven Druck auf ein Bündnis zweier anderer Nationen aus. Keiner der Kontrahenten will einen Krieg, doch jeder sieht existenzbedrohende Konflikte auf sich zukommen. In dieser Auseinandersetzung prallen drei Strategien aufeinander. Die Vereinigten Staaten wollen verhindern, dass in Eurasien Regionalmächte entstehen, und befürchten, dass sich diese beiden Länder zu einer regionalen Hegemonialmacht zusammenschließen könnten. Japan muss seine Präsenz auf dem asiatischen Festland erhalten, um seinen Bevölkerungsrückgang und seine Rohstoffarmut zu kompensieren sowie dazu den Nordwestpazifik kontrollieren. Die Türkei wiederum befindet sich an der Schnittstelle dreier Kontinente, in denen mehr oder weniger großes Chaos herrscht. Sie muss daher versuchen, die Region zu stabilisieren, um selbst weiter wachsen zu können. Während die türkische und japanische Politik in den Vereinigten Staaten für gewisse Unruhe sorgt, haben diese beiden Länder den Eindruck, sie könnten nur dann überleben, wenn sie etwas unternehmen. Eine diplomatische Lösung ist ausgeschlossen. Jedes Zugeständnis an die Vereinigten Staaten hat nur weitere Forderungen zur Folge. Und jede Weigerung der Türkei und Japans, auf deren Forderungen einzugehen, bestärkt die amerikanischen Befürchtungen. Es läuft auf eine Wahl zwischen Unterwerfung und Krieg hinaus, und am Ende scheint Krieg doch die klügere Entscheidung zu sein. Japan und die Türkei geben sich nicht der Illusion hin, sie könnten die Vereinigten Staaten besetzen oder gar vernichten. Sie wollen vielmehr Bedingun-
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gen schaffen, in denen ihr Gegner einer Verhandlung zustimmt und die japanischen und türkischen Einflusssphären anerkennt, die nach Ansicht dieser beiden Staaten keine Gefahr für die fundamentalen amerikanischen Interessen darstellen. Da sie nicht in der Lage sind, die Vereinigten Staaten in einem Krieg zu besiegen, wollen die Türkei und Japan ihrem Gegner zu Beginn des Konflikts einen schweren Schlag versetzen, der ihnen kurzzeitig einen Vorteil verschafft. Die Vereinigten Staaten sollen das Gefühl bekommen, dass ein Krieg riskanter wäre und sie teurer zu stehen käme als eine Verhandlungslösung. Die Türkei und Japan hoffen, dass sich die Vereinigten Staaten, die sich in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs befinden und gewisse Sorgen mit ihrem erstarkten Nachbarn Mexiko haben, nicht auf langwierige Kampfhandlungen einlassen und einer diplomatischen Lösung zustimmen werden. Sie wissen, welches Risiko es bedeutet, wenn sich die Vereinigten Staaten nicht auf eine Verhandlung einlassen, doch aus ihrer Sicht bleibt ihnen keine andere Wahl. In gewisser Hinsicht handelt es sich um eine Neuauflage des Zweiten Weltkriegs: Schwächere Nationen versuchen, das Machtgleichgewicht zu ihren Gunsten zu verschieben und die andere Seite mit einen plötzlichen Präventivschlag unvorbereitet zu treffen. In der Praxis unterscheidet sich dieser Krieg jedoch ganz erheblich von allen Kriegen zuvor und markiert den Beginn eines neuen Zeitalters der Kriegsführung.
Ein neuer Krieg Der Zweite Weltkrieg war der letzte Krieg des Europäischen Zeitalters. In dieser Epoche der Menschheitsgeschichte gab es zwei Arten von Kriegen, die gelegentlich zusammenfielen: den Weltkrieg, der den gesamten Erdball in ein Schlachtfeld verwandelte und seine Ursprünge im 16. Jahrhundert hat und den totalen Krieg, der eine ganze Gesellschaft mobilisierte. Im Zweiten Weltkrieg machten die kriegführenden Nationen ihre gesamte Gesellschaft mobil, um Armeen aufzu-
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stellen und diese zu versorgen. Der Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten löste sich in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts weitgehend auf. Der totale und globale Krieg führte zu einem beispiellosen Blutvergießen. Der totale Krieg geht auf die veränderte Kriegsführung nach der Erfindung der Feuerwaffen zurück. Vereinfacht gesagt, ist eine Feuerwaffe eine Waffe, deren Geschoss – eine Gewehrkugel, Granate oder Bombe – seinen Kurs nicht mehr ändern kann, wenn es abgefeuert oder abgeworfen wurde. Damit sind diese Waffen extrem ungenau. Ob eine Kugel oder eine Bombe ihr Ziel findet, hängt davon ab, wie gut sich ein Schütze oder Pilot konzentrieren kann, während gleichzeitig andere versuchen, ihn zu töten. Im Zweiten Weltkrieg war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Geschoss tatsächlich sein Ziel traf, erstaunlich gering. Bei einer derart geringen Trefferwahrscheinlichkeit besteht die einzige Lösung darin, das gesamte Zielgebiet mit einem Bombenteppich zu belegen. Das heißt, es sind große Mengen von Geschossen und damit von Soldaten erforderlich. Große Heere sind jedoch auf eine große Zahl von Arbeitern und Zulieferern angewiesen, die den Nachschub sichern. Im Zweiten Weltkrieg benötigten fast alle Waffensysteme Benzin, und der Aufwand, den allein die Förderung, die Raffinierung und der Transport des Öls an die Front und zu den kriegsrelevanten Unternehmen erforderlich machte, übertraf den Aufwand, der früher für einen ganzen Krieg nötig war. Im 20. Jahrhundert erforderte ein militärischer Sieg nichts weniger als die Mobilisierung einer gesamten Gesellschaft. In den beiden Weltkriegen warfen sich ganze Nationen gegeneinander. Ziel war die Vernichtung der jeweils anderen Gesellschaft, denn es ging darum, die Bevölkerung des Gegners so weit zu dezimieren und seine Infrastruktur so gründlich zu zerstören, dass diese nicht mehr in der Lage war, die gewaltigen Waffenarsenale zu produzieren, die an der Front benötigt wurden. Doch die Bombardierung einer Stadt mit Tausenden von Flugzeugen ist eine aufwändige und kostspielige Angelegenheit. Stellen Sie sich vor, Sie könnten dasselbe Ergebnis mit einem einzigen Flugzeug
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und einer einzigen Bombe erzielen. Der totale Krieg könnte mit einem Bruchteil der Mittel und einer weitaus geringeren Gefährdung der eigenen Nation geführt werden. Das war die Logik hinter der Atombombe. Sie stellte die Drohung dar, die Gesellschaft des Feinds so schnell und so gründlich zu zerstören, dass dieser lieber kapitulierte, als sich dieser Gefahr auszusetzen. Technisch war die Atombombe eine radikale Neuerung. Militärisch stellte sie jedoch lediglich eine Fortsetzung der Kultur dar, die in Europa über Jahrhunderte entwickelt worden war. Die gewaltige Wirkung der Atombombe stieß eine neue Entwicklung in der Kriegsführung an. Atomwaffen führten den totalen und globalen Krieg ad absurdum. In einem Atomkrieg mussten die kriegführenden Nationen – die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – in der Lage sein, den gesamten Planeten zu überblicken. Dazu mussten sie das feindliche Territorium überfliegen können, und die sicherste und effizienteste Methode war die Raumfahrt. Die bemannte Weltraumfahrt war nur das öffentliche Gesicht, das eigentliche Motiv war die Notwendigkeit herauszufinden, wo die andere Seite ihre Atomraketen stationiert hatte. Spähsatelliten lieferten in Echtzeit Bilder, mit deren Hilfe sich der Standort einer Abschussrampe auf den Meter genau bestimmen und mit einer eigenen Rakete beschießen ließ. Damit entstand die Notwendigkeit, derart zielgenaue Waffen zu entwickeln.
Das Ende des totalen Kriegs Die Möglichkeit einer genauen Standortbestimmung feindlicher Rampen schuf die Notwendigkeit, zielgenauere Waffen herzustellen. Ende der 1960er Jahre wurden erstmals Präzisionsgeschosse eingesetzt, die nach dem Abschuss ins Ziel gelenkt werden konnten. Was nach einer vernachlässigbaren technischen Verbesserung klingt, sollte die gesamte Kriegsführung verändern. Im 20. Jahrhundert waren Tausende Flugzeuge und Millionen von Gewehren erforderlich, um einen Krieg zu führen. Im 21. Jahrhundert wird nur ein Bruchteil nötig sein. Das ist das Ende des totalen Kriegs.
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Diese Entwicklung stellt einen erheblichen Vorteil für die Vereinigten Staaten dar, die in Kriegen stets demografisch im Nachteil waren. Die entscheidenden Schlachten des 20. Jahrhunderts wurden in Europa und Asien ausgetragen, Tausende Kilometer von den Vereinigten Staaten entfernt. Die verhältnismäßig kleine Bevölkerung des Lands musste nicht nur Soldaten stellen, sondern den Nachschub produzieren und über weite Strecken transportieren, weshalb weniger Personal für die eigentlichen Kampfeinheiten zur Verfügung stand. Die amerikanische Kriegsführung zielte deshalb schon immer darauf ab, die Wirkung jedes einzelnen Soldaten auf dem Schlachtfeld zu maximieren. In der Vergangenheit brachten die Vereinigten Staaten dazu Technologie und große Mengen von Waffen zum Einsatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es jedoch immer mehr um die technologischen Multiplikatoren und immer weniger um die Massen. Die Vereinigten Staaten hatten keine andere Wahl: Als Weltmacht mussten sie in der Lage sein, die Effektivität ihrer Soldaten zu maximieren, indem sie diese mit modernsten Waffen ausstatteten. Mit dem fortschreitenden Technologieeinsatz nahm die Zahl der erforderlichen Soldaten ab, die dennoch in der Lage waren, auch größere Armeen zu besiegen. Zugleich korrespondierten die neuen technologischen Möglichkeiten mit der demografischen Entwicklung, denn eine alternde und schrumpfende Bevölkerung macht es schwer, wenn nicht unmöglich, große Streitkräfte zu unterhalten. Im 21. Jahrhundert ist der Schlüssel der Kriegsführung daher die Präzision. Je zielgenauer die Geschosse, desto geringer deren benötigte Anzahl. Das wiederum bedeutet weniger Soldaten und weniger Arbeiter in der Rüstungsindustrie – und dafür mehr Wissenschaftler und Techniker. In den kommenden Jahrzehnten werden Waffen entwickelt, die in den Vereinigten Staaten stationiert sind, binnen weniger als einer Stunde das andere Ende der Welt erreichen, wendig genug sind, um Boden-Luft-Raketen auszuweichen, präzise zuschlagen und nach Hause zurückkehren, um sofort eine neue Mission auszuführen. Mit Hilfe eines solchen Systems müssen die Vereinigten Staaten nie mehr wieder auch nur einen einzigen Panzer in ein 12 000 Kilometer entferntes Kriegsgebiet entsenden.
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Diese Waffe ist ein unbemannter Hyperschallbomber. Die Vereinigten Staaten verfügen bereits heute über Flugsysteme, die fünffache Schallgeschwindigkeit erreichen. Diese Maschinen werden nicht von Raketendüsen, sondern von sogenannten Staustrahl- oder Scramjet-Triebwerken angetrieben. Ihre Reichweite ist heute noch begrenzt, doch mit der Weiterentwicklung der Turbinen und extrem hitzeresistenter Materialien ist eine Steigerung der Reichweite und der Geschwindigkeit absehbar. Ein Geschoss, das mit einer Geschwindigkeit von Mach 10 oder 13 000 Kilometern pro Stunde an der Ostküste der Vereinigten Staaten abgefeuert wird, erreicht Europa in weniger als einer halben Stunde. Bei einer Geschwindigkeit von Mach 20 würde es dieselbe Strecke in unter 15 Minuten zurücklegen. Den geopolitischen Erfordernissen der Vereinigten Staaten, schnell eingreifen und die gegnerischen Streitkräfte zerstören zu können, wäre damit Genüge getan. Der Bau einer ausreichenden Zahl von unbemannten Hyperschallbombern wäre zwar außerordentlich kostspielig, bleibe im Vergleich zu den Kosten der gegenwärtigen militärischen Strukturen jedoch immer noch im Rahmen. In einer Zeit, in der fossile Brennstoffe immer knapper werden, würde dieses System zudem die Vorratshaltung von Benzin für Panzer, Flugzeuge und Schiffe weitgehend überflüssig machen. Die Entwicklung dieser Hyperschallbomber bedeutet die Umkehr eines Trends, der die Kriegsführung seit den Zeiten vor Napoleon bestimmte. Die Armeen des 21. Jahrhunderts sind sehr viel kleiner und professioneller als ihre Vorgänger und technologisch bestens ausgestattet. Mit der Präzision ist auch die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten wieder möglich: Um ein bestimmtes Gebäude zu zerstören, ist es nicht mehr nötig, eine ganze Stadt mit einem Bombenteppich zu belegen. Soldaten erinnern zunehmend an die waffenstarrenden Ritter des Mittelalters und weniger an die GIs des Zweiten Weltkriegs. Mut ist nach wie vor erforderlich, doch noch wichtiger ist die Fähigkeit, hochkomplexe Waffensysteme zu bedienen. Geschwindigkeit, Reichweite, Präzision und eine große Zahl unbemannter Flugzeuge werden die Massenheere ersetzen, die im 20. Jahrhundert erforderlich waren, um die Waffen auf das Schlachtfeld zu
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transportieren. Damit wird sich allerdings ein entscheidendes Problem der Kriegsführung nicht lösen lassen: die Besetzung des feindlichen Territoriums. Armeen dienen zum einen dem Zweck, andere Armeen zu zerstören – eine Aufgabe, die sich mit Präzisionswaffen effektiver ausführen lässt denn je zuvor. Zum anderen dienen sie der Besetzung des gegnerischen Territoriums und die bleibt äußerst personalintensiv. In vielerlei Hinsicht handelt es sich dabei allerdings eher um eine Polizeiaufgabe. Die Aufgabe eines Soldaten besteht in erster Linie darin, einen Feind zu töten, die Aufgabe eines Polizisten ist es jedoch, Gesetzesbrecher zu erkennen und zu verhaften. Ersteres erfordert Mut, Ausbildung und Waffen, letzteres darüber hinaus ein Verständnis der Kultur, das es überhaupt erst ermöglicht, Feinde von gesetzestreuen Bürgern zu unterscheiden. Diese Aufgabe wird nie einfacher werden und bleibt die Achillesferse jeder Großmacht. Genau wie die Römer und später die Briten ihre Probleme bei der Besetzung Palästinas hatten, obwohl sie die feindlichen Armeen spielend besiegt hatten, so werden auch die Vereinigten Staaten Kriege gewinnen und danach die Konsequenzen durchleiden.
Krieg im Weltall So sehr sich die Kriegsführung verändert, ein wesentliches Prinzip bleibt erhalten: Jeder Befehlshaber muss sein Schlachtfeld kennen. Auch auf dem globalen Schlachtfeld muss die Armeeführung genau wissen, was der Feind tut und wo die eigenen Streitkräfte stehen. Die einzige Möglichkeit der Echtzeitkontrolle ist die Beobachtung aus dem Weltall. In Schlachten ging es schon immer darum, die höchste Stelle einzunehmen, weil diese den besten Überblick ermöglichte. Das ist in Zeiten des globalen Kriegs nicht anders. Heute ist der Feldherrnhügel jedoch der Weltraum, von wo aus Aufklärungssatelliten das Schlachtfeld ununterbrochen und weltweit beobachten. Der globale Krieg findet daher im Weltall statt. Das stellt keineswegs eine radikale Veränderung dar. Schon heute befinden sich unzählige Spionagesatelliten im Erdumlauf und versorgen unterschied-
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liche Länder mit Informationen über das Geschehen in aller Welt. Für die Vereinigten Staaten schaffen Sensoren im Weltall bereits heute ein globales Schlachtfeld, indem sie mögliche Ziele identifizieren und Luftschläge lenken. Auch wenn es die entsprechenden Waffen noch nicht gibt, sind die Überwachungssysteme bereits Wirklichkeit. Der Weltraum bietet freie Sicht und sichere Kommunikation. Er ermöglicht es auch, feindliche Objekte zu verfolgen. Daher wird auch die Leitung von Kampfeinsätzen in den Orbit verlegt. Kommandostationen auf unterschiedlichen Umlaufbahnen befehligen Roboter und bemannte Einheiten zu Land und zur See, leiten Einsätze, greifen feindliche Satelliten an und weichen Angriffen aus. Einem Feind die Sicht zu nehmen, bedeutet künftig, die Weltraumsysteme zu zerstören, mit denen er seine Ziele lokalisiert, sowie seine Navigations- und Kommunikationssysteme auszuschalten, um ihn der Fähigkeit zur Kriegsführung zu berauben. Die Zerstörung feindlicher Satelliten wird daher im 21. Jahrhundert ein wichtiges Kriegsziel. Umso entscheidender wird die Verteidigung der eigenen Satelliten. Die einfachste Möglichkeit, einen Satelliten zu schützen, ist ein Ausweichmanöver. Das ist allerdings schwieriger, als es klingt. Zum einen ist zur Steuerung des Satelliten Treibstoff erforderlich, doch dieser ist schwer und sein Transport teuer. Zweitens schützt auch ein Ausweichmanöver nicht vor einem ebenfalls mobilen Antisatellitensystem und schon gar nicht vor einem Laserstrahl. Und drittens handelt es sich um geostationäre Satelliten, die ein bestimmtes Terrain abdecken sollen. Jede Bewegung verändert deren Standort und beeinträchtigt ihre Nützlichkeit. Satelliten müssen geschützt werden, entweder durch die Abwehr eines Angriffs oder die Zerstörung des Angreifers. Mitte des 21. Jahrhunderts wird es daher Satelliten-Kampfstaffeln geben . Wie ein Flugzeugträger von seiner Begleitflotte geschützt wird, werden Aufklärungsstationen von einem Geschwader von unterstützenden Satelliten umgeben, deren Aufgaben beispielsweise in der Ablenkung von Laserstrahlen oder dem Angriff auf andere Satelliten bestehen. Die Verteidigung der Weltraumsysteme wird immer vordringlicher, da beide
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Seiten ihr Bedrohungspotenzial aufstocken und damit weitere Schutzmaßnahmen erforderlich machen. Irgendwann wird es auch möglich sein, Sprengköpfe vom Weltall aus auf die Erde abzuschießen, doch das ist wiederum komplizierter, als es klingt. Eine Abschussbasis im Weltall bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von Tausenden Kilometern pro Stunde, während gleichzeitig die Erde unter ihr rotiert. Die Fähigkeit, vom Weltall aus ein Ziel auf der Erde zu treffen, entwickelt sich langsamer als die Aufklärungskapazitäten, doch auch auf diesem Gebiet wird die Forschung zweifelsohne bald Früchte tragen. Ein einzelner Satellit kostet Milliarden von US-Dollar und eine Satellitenstaffel entsprechend ein Vielfaches. Heute stellt die Beschädigung oder der Ausfall eines Satelliten in den allermeisten Fällen einen Totalverlust dar, kein einziges Teil wird wiederverwendet. Je intensiver das Weltall genutzt wird, umso wertvoller werden die Satelliten und umso gravierender schlägt ein Totalausfall zu Buche. Wenn das Weltall zum Kriegsschauplatz wird, wird auch die Reparatur der Satelliten immer wichtiger. Und um den Schaden an komplexen Systemen zu beheben, ist der Einsatz von Menschen erforderlich. Es wäre wenig effizient, diese Menschen jedesmal ins All befördern zu wollen, wenn eine Reparaturmaßnahme ansteht. Außerdem ist es teurer, eine Raumfähre ins All zu schießen, als sich mit einem Raumfahrzeug zu bewegen, das sich bereits im Orbit befindet. Daher wird es irgendwann effizienter und wirtschaftlicher sein, dauerhaft Reparaturmannschaften im All zu stationieren. Natürlich werden auch diese zum potenziellen Angriffsziel und müssen sich verteidigen können. Neben der Reparatur übernehmen sie außerdem die Leitung und Kontrolle der Weltraumsysteme. Für eine effektive Kriegsführung vom Weltall aus ist mehr erforderlich als die Fähigkeit, teure Satelliten rasch reparieren zu können. Die Kommunikationsverbindung zwischen Erde und Orbit ist komplex und störanfällig. Ein möglicher Feind wird daher zunächst den logischen und kostengünstigen Versuch unternehmen, diese Kommunikation zu unterbrechen. Das lässt sich mit relativ einfachen Mitteln bewerkstelligen, etwa durch die Zerstörung von Sendestationen
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auf der Erde mit Hilfe einer Autobombe. Auch Startbasen könnten das Ziel von Angriffen werden. Wenn beispielsweise zwei der wichtigsten Raketenabschussbasen, das Kennedy Space Center in Florida und die Vandenberg Air Force Base in Kalifornien, durch feindliche Raketenangriffe so stark beschädigt würden, dass sie zwei Monate lang ausfielen, wären die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, weitere Ausrüstung ins All zu schicken, und das zum Zeitpunkt des Angriffs im Erdumlauf befindliche Material wäre das einzig verfügbare. Die Aufrechterhaltung der Systeme kann Sieg oder Niederlage bedeuten. Daher ist die feste Stationierung von Reparaturmannschaften im All entscheidend. Wie Sie inzwischen vermutlich selbst bemerkt haben, ist jede Erörterung der künftigen Kriegsführung im Weltall nicht ganz unproblematisch. Je tiefer wir in die Materie eindringen, desto mehr erinnert es an Science-Fiction, obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass die Entwicklung im kommenden Jahrhundert genau dahin gehen wird. Die Technologie gibt es bereits, und die strategischen und taktischen Vorteile sind nicht von der Hand zu weisen. Wie die Seekriegsführung im 16. Jahrhundert hat auch die Weltraumkriegsführung eine räumliche Expansion zur Folge. Die geostationäre Umlaufbahn ist ein strategisch wichtiger Ort und wird heftig umkämpft werden. Doch diese ist nur einer der potenziellen Schauplätze von Auseinandersetzungen. Ein anderer ist der Mond. So weit hergeholt es klingen mag, der Mond wird eine stabile Basis für die Beobachtung der Erde und mögliche Konflikte im All bieten. Es würde vermutlich Tage und damit viel zu lange dauern, ehe eine mit Sprengköpfen bestückte Rakete vom Mond aus die Erde erreicht. Doch schon binnen weniger Sekunden kann ein Signal einen Killersatelliten erreichen und diesen auf den Weg schicken, um eine Reparaturmannschaft anzugreifen. Auf dem Mond sind der Aufbau und die Verteidigung von Basen zudem einfacher als in der Erdumlaufbahn. Um niedrige und geostationäre Umlaufbahnen werden genauso Auseinandersetzungen ausgetragen werden wie um Lagrange-Punkte (Gleichgewichtspunkte zwischen Erde und Mond) sowie um die Mondoberfläche selbst. Wie auf der Erde besteht das Ziel möglicher
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militärischer Auseinandersetzungen darin, dem Gegner die Nutzung bestimmter Gebiete zu verwehren und den eigenen militärischen Zugang zu sichern. Verträge hin oder her – wo es Menschen gibt, gibt es auch Krieg. Und wenn die Menschen sich ins Weltall begeben, dann gibt es auch im Weltall Krieg. Entscheidend ist auch die Kontrolle der Weltmeere vom Weltall aus. Schon heute nutzt die US-Marine Überwachungssatelliten, um ihre Seestreitkräften effektiv einsetzen zu können. Der Aufbau einer Flotte, die die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zur See bedrohen könnte, wäre für alle anderen Länder schwierig, kostspielig und zeitraubend. Die Entwicklung eines Flugzeugträgers und die Ausbildung einer qualifizierten Mannschaft kann Generationen in Anspruch nehmen. Die meisten Seestreitkräfte der Welt haben diesen Versuch daher längst aufgegeben und auch in Zukunft werden nur wenige dieses Projekt angehen. Doch im 21. Jahrhundert hängt die Kontrolle der Weltmeere weniger von der Flotte selbst ab, als von den weltraumgestützten Systemen, die feindliche Schiffe entdecken und ins Visier nehmen können. Wer das Weltall kontrolliert, kontrolliert die Ozeane. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Exkurs zum Thema Roboter einschieben. Ich gehe zwar davon aus, dass Menschen im Weltall die Kontrolle über die weltraumgestützten Kampfsysteme behalten, doch diese werden von Robotersystemen unterstützt werden. Einen Menschen im All zu unterhalten, bleibt auch im kommenden Jahrhundert ein kompliziertes und teures Unterfangen. Doch autonome und ferngesteuerte Systeme sind inzwischen weit verbreitet, unbemannte Flüge ins All Routine. Im Weltraum wurde bislang ein großer Teil der Pionierarbeit auf dem Gebiet der Roboterentwicklung geleistet und das wird auch in Zukunft so bleiben. Die Technologie ist so weit, dass das amerikanische Verteidigungsministerium inzwischen hochentwickelte Projekte auf diesem Gebiet unterhält. Schon heute gibt es autonome Fluggeräte, Reparatureinheiten für Satelliten und intelligente Unterwassertorpedos, und diese Entwicklung wird weitergehen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass gegen Ende des 21. Jahrhunderts zur Vermeidung menschlicher Opfer Roboter als Soldaten zum Einsatz kommen und einfache Aufgaben wie etwa den Sturm ei-
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ner befestigten Stellung übernehmen. Dies alles führt zu einer Revolution der Kriegsführung. Die Präzision macht Vernichtung unnötig.
Kriegsvorbereitungen Zur Jahrhundertmitte bilden unbemannte Hyperschallbomber mit globaler Reichweite und weltraumgestützte Raketen das Gerüst der amerikanischen Streitkräfte. Mit Hilfe dieser Systeme können sie, wenn nötig, eine Seeblockade über Japan und die Türkei verhängen. Außerdem können sie nach Belieben jede bodengestützte Einrichtung zerstören und den Bodenstreitkräften einen vernichtenden Schlag versetzen. Die amerikanische Kriegsführung besteht aus drei Phasen. Die erste ist ein Angriff auf feindliche Flugzeug- und Raketenstellungen, die den Vereinigten Staaten gefährlich werden könnten, sowie auf bodenund weltraumgestützte Flugabwehrsysteme. In der zweiten Phase erfolgt ein Schlag gegen die übrigen militärischen Einrichtungen des Feinds sowie gegen Schlüsselindustrien. In der letzte Phase kommt schließlich eine kleine Bodentruppe von hochmobilen, extrem überlebensfähigen und bewaffneten Infanteriesoldaten in gepanzerten Waffenanzügen zum Einsatz, die von Robotersystemen unterstützt werden. Neben den Satelliten spielen vor allem die Kommandoplattformen, die ich Kampfsterne nenne, eine entscheidende Rolle. Die Kampfsterne sind die Augen, Ohren und Fäuste der Vereinigten Staaten. Sie kommandieren Satellitengeschwader sowie Raketenbasen in der Erdumlaufbahn, die in der Lage sind, Geschosse auf die Erde sowie andere Satelliten abzufeuern. Sie übermitteln Zielkoordinaten an auf der Erde stationierte unbemannte Hyperschallbomber und sind in der Lage, diese Flugzeuge vom Weltall aus zu steuern. Sollten die Kampfsterne zerstört oder von der Kommunikation abgeschnitten werden, wäre die gesamte Kriegsführung der Vereinigten Staaten lahm gelegt. Das Militär kann dann zwar noch feste Ziele treffen, deren Koordinaten es kennt, doch für Feindbewegungen ist es blind.
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Ein Kampfstern ist darauf ausgelegt, sich selbst zu verteidigen. Es handelt sich um eine große Plattform, auf der Dutzende oder gar Hunderte Menschen zur Übernahme von Wartungsaufgaben beziehungsweise zur Durchführung der Mission des Satelliten stationiert sind. Der Kampfstern wird aus modernsten Materialien gefertigt und verfügt über mehrfache Schutzhüllen, die verhindern sollen, dass er von Laser- oder Energiestrahlen zerstört wird. Mit Hilfe seiner Sensoren kann er näherkommende Objekte aus großer Entfernung wahrnehmen und mit seinen Bordgeschützen und Laserkanonen alles zerstören, was ihm bedrohlich erscheint. Diese Sicherheitssysteme basieren auf der Annahme, dass nichts, was von der Erde aus in die Umlaufbahn befördert wird, groß und robust genug ist, um den Waffen des Kampfsterns standzuhalten. Die Plattform selbst besteht aus Komponenten, die in Tausenden von Transportflügen ins All befördert wurden. Außerdem gehen die amerikanischen Militärs davon aus, dass ihre Sensoren auf der Erde und im All sofort erkennen, wenn andere Staaten größere Systeme im All errichten. Der Kampfstern erkennt jede Gefahr und kann jeder nur denkbaren Bedrohung begegnen. Zur Jahrhundertmitte verfolgen verschiedene Länder bereits seit Jahrzehnten eigene Militärmissionen im Weltall. Das gegenwärtig noch übliche Verfahren, einen Satelliten im Wert von Milliarden von Dollar in eine Umlaufbahn zu schießen und darauf zu hoffen, dass alles funktioniert, ist bis dahin längst überholt. Ausgefallene Systeme müssen repariert werden. Das heutige Spaceshuttle ist zwar zu solchen Einsätzen prinzipiell in der Lage, doch in dem Maße, in dem das Weltall eine größere Rolle spielt, wird es immer wichtiger, Reparaturmannschaften fest im All zu stationieren. Das Teuerste an der Raumfahrt ist der Start, und es wäre unwirtschaftlich, ständig neue Missionen ins All zu befördern. Etwa um das Jahr 2030 wird es daher zu Norm werden, bemannte Reparaturstationen in verschiedenen Umlaufbahnen zu unterhalten, und im Laufe der Zeit werden diese auch Aufklärungsoperationen und militärische Aufgaben übernehmen und beispielsweise feindliche Satelliten zerstören. Die Vereinigten Staaten sind die Vorreiter auf diesem Gebiet und
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stellen damit eine potenzielle Bedrohung für alle anderen Länder dar, die nachziehen wollen. Angesichts dieses gewaltigen Vorsprungs muss die japanisch-türkische Koalition einen Plan entwickeln, der die Kampfkraft der Vereinigten Staaten drastisch einschränkt und ihr einen ausreichenden Vorsprung gibt, um amerikanische Stützpunkte in aller Welt anzugreifen, ohne einen effektiven Gegenschlag befürchten zu müssen. Auf diese Weise hoffen sie, die Voraussetzungen für eine Verhandlungslösung zu schaffen, mit denen die Vereinigten Staaten besser leben können als mit weiteren Angriffen. Verschiedene Möglichkeiten schließen sich von selbst aus, etwa eine Landung auf amerikanischem Territorium oder offene Seegefechte. Auch Atomwaffen, über die Japan und die Türkei verfügen, kommen nicht in Frage. Mitte des 21. Jahrhunderts ist diese Technologie bereits mehr als 100 Jahre alt, und ihre Konstruktion stellt kein Geheimnis mehr dar. Wie bereits gesehen, dienen Nuklearwaffen eher der Abschreckung, doch die Türkei und Japan wollen ihre nationalen Interessen wahren und nicht Selbstmord begehen. Ein Nuklearschlag hätte zwar verheerende Folgen in den Vereinigten Staaten, doch der Gegenschlag würde Japan und die Türkei noch härter treffen. Der Schlüssel liegt darin, den Vereinigten Staaten die Kontrolle über den Weltraum zu nehmen. Dazu muss die Koalition etwas schaffen, das weithin für unmöglich gehalten wird: Sie muss die Kampfsterne ausschalten. Gelingt ihr dies, erhalten ihre Streitkräfte die Möglichkeit, im Pazifikraum und Ostasien sowie in der Region rund um die Türkei Fakten zu schaffen. Alles hängt von der Kleinigkeit ab, das Unmögliche zu vollbringen. Die Herausforderung besteht darin, ein Geschoss zu starten, das groß genug ist, um einen Kampfstern zu zerstören, ohne zuvor von ihm zerstört zu werden. Ein Abschuss von der Erde aus ist undenkbar, da die Vereinigten Staaten das Geschoss entdecken und sofort vernichten würden. Die Koalition hat allerdings einen großen Vorteil: Der Kampfstern ist manövrierunfähig. Er hat genug Treibstoff, um auf der geostationären Umlaufbahn zu bleiben, aber nicht genug, um Ausweichmanöver durchzuführen. Außerdem würde ihn jede Bewegung aus seiner geostationären Umlaufbahn befördern und ihm da-
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mit die Stabilität nehmen, die er zur Durchführung seiner Mission benötigt. Das ist eine der Schwächen der Kampfsterne. Sie werden in den 2040er Jahren in einem eilig aufgelegten Programm im All stationiert. In dem engen Zeitplan lässt sich zwar eine Plattform für Hunderte Astronauten schaffen, nicht aber eine manövrierfähige Raumstation. Also beugen sich die Planer den technischen Zwängen und rationalisieren. Da der Kampfstern unzerstörbar ist, so ihre Logik, muss er keine Ausweichmanöver durchführen können. Wie die Titanic wird er kurzerhand für unsinkbar erklärt. Japan legt seit den 2030er Jahren Geheimprogramme über die Zerstörung eines Kampfsterns auf. Nach 2020 entwickelt es sein eigenes Raumfahrtprogramm und hat damit einen erheblichen Vorsprung gegenüber der Türkei, deren Kapazitäten mit den Ereignissen an ihren Grenzen weitgehend ausgelastet sind. Beide entwickeln niedrig fliegende Aufklärungssatelliten und geostationäre Kommunikationssysteme, doch Japan ist vor allem an einer kommerziellen Nutzung der Raumfahrt und an der weltraumgestützten Energieerzeugung interessiert. Ein Standort für Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen ist der Mond. Vermutlich werden wie in der Antarktis der 1950er Jahre mehrere Nationen Forschungsstationen auf dem Mond einrichten, allen voran Japan und die Vereinigten Staaten. Im Jahr 2040 unterhält Japan eine große Kolonie und unterirdische Labors auf dem Mond. Raumfähren verkehren mit solcher Regelmäßigkeit zwischen Erde und Mond, dass sie kaum noch wahrgenommen werden. Die einzelnen Nationen arbeiten eng zusammen und tauschen konstant Personal aus. Vom Mond aus könnte man keine militärischen Operationen starten, die man nicht von der Erde aus sehr viel besser durchführen könnte, so die Logik. Wie jedes Militär entwickelt auch das japanische seine Kriegsszenarien. Die Fragestellung ist einfach: Wie lässt sich das Herz der amerikanischen Kriegsführung, der Kampfstern, ausschalten? Ein Angriff von der Erde aus wäre, wie bereits gesehen, zum Scheitern verurteilt und würde unter den denkbar schlechtesten Voraussetzungen zu einem Krieg mit den Vereinigten Staaten führen.
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Doch Japan hat eine andere Strategie gefunden. Erinnern wir uns an das Jahr 1941, als Japan nach Möglichkeiten suchte, das Herz des amerikanischen Militärs im Pazifik auszuschalten, die Flotte im Hafen von Pearl Harbor. Es wäre zu gefährlich gewesen, die intakte Flotte zu provozieren, und die Amerikaner hielten ihren Stützpunkt von Pearl Harbor für unverwundbar. Also griffen die Japaner zu einer Überraschungstaktik, sie griffen den Ort von Flugzeugträgern aus an, schossen Torpedos in einen Hafen, der als zu flach für ihren Einsatz galt, und griffen aus einer unerwarteten Richtung an, dem Nordwesten, was nach Ansicht der amerikanischen Marine einen zu großen Umweg für die Japaner bedeutet hätte. Mitte des 21. Jahrhunderts stehen die Japaner vor demselben Problem, wenn auch in einem neuen Zusammenhang. Sie müssen die Kampfsterne ausschalten und dazu aus einer unerwarteten Richtung und mit überraschenden Mitteln angreifen. Die unerwartete Richtung ist die rückwärtige: Die Entsprechung des Nordwestpazifik ist der Mond. Und die überraschenden Mittel sind Waffen, die auf dem Mond selbst gebaut werden, da deren Transport auf den Trabanten die Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten erregen würde. Auch das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts basiert also auf einer Überraschung hinsichtlich der Waffen und der Angriffsrichtung. Natürlich gibt es Alternativen zu dem Szenario, das ich hier vorstelle, doch angesichts der Geometrie des Raumes halte ich die in der Folge beschriebene Taktik für die plausibelste. Hinter meiner Theorie steht ein geostrategisches Prinzip. Im Zweiten Weltkrieg versuchten mit Japan und Deutschland zwei aufstrebende Mächte die Weltordnung neu zu definieren. Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts wiederholt sich dieser ständig wiederkehrende geopolitische Zyklus. Im Zweiten Weltkrieg versuchte Japan, mit einem Überraschungsschlag die Streitkräfte der Vereinigten Staaten im Pazifik auszuschalten und auf diese Weise den Boden für eine Verhandlungslösung in seinem Sinne zu bereiten. Aufgrund seiner geografischen Lage befand sich Japan gegenüber den Vereinigten Staaten langfristig im Nachteil, also musste es mit einem überraschenden Angriff auf das Herz der amerikanischen Streitkräfte ein Zeitfenster
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öffnen, in dem es sich einen weiteren Vorteil verschaffen konnte. Mitte des 21. Jahrhunderts befindet sich Japan in einer ähnlichen Situation, nur dass diesmal der Verbündete Türkei und nicht Deutschland heißt. Wie auch immer die japanische Militärstrategie im Detail aussehen mag – und hier bleibt uns nur die Spekulation –, der Konflikt geht in beiden Jahrhunderten von derselben Dynamik aus, weshalb auch die grundlegende Strategie dieselbe bleibt. Zu Beginn dieses Buches habe ich die Geschichte mit einem Schachspiel verglichen, das weitaus weniger Züge zulässt, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Je besser ein Spieler, desto eher erkennt er die Schwäche eines Zuges Ich habe versucht zu zeigen, warum die Türkei und Japan zu wichtigen Regionalmächten aufsteigen und warum dies zu Konflikten mit den Vereinigten Staaten führt. Ausgehend von der Geschichte und der wahrscheinlichen Situation zur Mitte des 21. Jahrhunderts habe ich versucht, mir vorzustellen, wie Japan die Situation auf dem Schachbrett wahrnimmt – was es als Bedrohung sieht und wie es reagiert. Natürlich lässt sich die Entwicklung nicht bis ins Detail vorhersehen. Doch mir geht es eher darum, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sich das Zusammenspiel zwischen Geopolitik, Technologie und Kriegsführung in der weiteren Zukunft entwickelt. Ich weiß weder, wann dieser Krieg genau beginnt, noch wie er im Detail verläuft. Doch ich kann einige Eckdaten darstellen und einen möglichen Kriegsverlauf skizzieren. Japan verfügt inzwischen über mehrere Stützpunkte auf dem Mond. Einer davon dient militärischen Zwecken und ist als zivile Basis getarnt. In heimlich angelegten Höhlen fertigt das japanische Militär Geschosse, die lediglich aus Mondgestein bestehen. Stein hat ein hohes spezifisches Gewicht, ein Felsbrocken von der Größe eines Kleinwagens kann mehrere Tonnen wiegen. Bei hohen Geschwindigkeiten verfügt das Gestein über eine fantastische kinetische Energie und kann bei einem Aufprall auch sehr große Konstruktionen zerstören. Auf dem Mond, wo Luftreibung kein aerodynamisches Problem darstellt, kann ein solches Geschoss relativ roh geformt sein. Antriebsraketen und Treibstofftanks lassen sich einfach an dem Felsen befestigen und starten.
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Die Geschosse werden unter zwei Gesichtspunkten hergestellt: Sie müssen einerseits schwer genug sein, um einen Kampfstern beim Aufprall durch ihre kinetische Energie zu zerstören, und sie müssen andererseits klein genug sein, um mit den Antriebsraketen die Schwerkraft des Mondes zu überwinden, die allerdings erheblich geringer ist als die der Erde. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der das Geschoss den Kampfstern trifft, genügt ein Gewicht von wenigen Tonnen. Doch es muss außerdem in der Lage sein, Treffer durch die kleineren Abwehrgeschosse zu überleben. Japan richtet eine weitere Geheimbasis auf der erdabgewandten Seite des Mondes ein, um das System zu testen und seine Geschosse außer Sichtweite von der Erde weg zu feuern. Dieses System wird über mehrere Jahre hinweg perfektioniert, um mit den Transporten zu der Basis keine Aufmerksamkeit zu erregen. Unterirdische Abschussrampen werden eingerichtet und getarnt. In dem Moment, in dem die Kampfsterne einsatzbereit sind, sind es auch die japanischen Abwehrmaßnahmen. Da das japanische Militär weiß, dass jedes seiner Geschosse zerstört werden kann, bereitet es für jeden Kampfstern Dutzende vor, in der Hoffnung, dass eines von ihnen trifft. Damit die Geschosse nicht bemerkt werden, erhält jedes seine eigene Flugbahn. Gleichgültig, wie weit die Technologie fortschreitet, Budget und Personal werden nie ausreichen, um alles im Auge zu behalten. Entscheidend für den Erfolg der Geschosse ist es, dass sie lange genug unbemerkt bleiben. Vom Mond zu den Kampfsternen sind sie rund drei Tage lang unterwegs. Während des Zeitraums zwischen der Entdeckung der Geschosse und der Zerstörung der Kampfsterne sind die japanischen Pläne am verwundbarsten. Ehe der Kampfstern getroffen wird, könnte seine Besatzung noch Angriffe von Hyperschallbombern auf Japan befehlen und eigene Raketen auf Japan und dessen Einrichtungen im Weltall abfeuern. Es ist daher entscheidend, den Kampfstern ohne Vorwarnung zu treffen und den Vereinigten Staaten auf diese Weise die Sicht zu nehmen. Niemand kann den Erfolg dieser Operation garantieren. Japan hat allerdings einen Vorteil. Die Sensoren der Kampfsterne sind auf die Erde und auf die Region zwischen der Erdoberfläche und ihrer Um-
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laufbahn gerichtet. Sie sind in erster Linie Angriffswaffen und taugen kaum zur Abwehr. Wichtiger noch, sie erwarten keinen Angriff von hinten, sondern höchstens von unten. Sie schauen nur selten über ihre Schulter. Die Amerikaner unterhalten eine einfache und nicht sonderlich effektive Meteoritenvorhersage, wie sie für bemannte Raumstationen unerlässlich ist. Doch das Weltall ist groß, und eine vollständige Überwachung ist aus technischen und praktischen Gründen selbst im Jahr 2050 vollkommen unmöglich. Daher feuern die japanischen Militärs ihre Geschosse nicht gebündelt ab, sondern sie streuen sie, so dass sie aus allen Richtungen zu kommen scheinen. Das Radar könnte ein oder zwei einfangen, doch es würde sie nicht als Angriff interpretieren. Außerdem wählen die japanischen Planer die Geschosse so abschießen, dass sie nicht direkt auf einen der Kampfsterne zielen, sondern erst wenige Stunden vor dem Aufprall mit einem Schub die Richtung ändern. Daher sind der Treibstoffbehälter und der Raketenantrieb sehr viel größer als das eigentliche Geschoss, das nicht mehr ist als ein bearbeiteter Felsbrocken. Ein Computer, der das Geschoss entdeckt, wird es als Meteoriten interpretieren, der dem Kampfstern zwar nahe kommt, aber keine Gefahr darstellt. Möglicherweise gibt das System diese Information nicht einmal an die menschliche Besatzung weiter – es handelt sich um einen Roboter mit wenig Gespür für Feinheiten. Das japanische Militär seinerseits sieht sich drei Gefahren gegenüber. Erstens könnten die Vereinigten Staaten mit Hilfe von Instrumenten, von deren Existenz es bislang nichts weiß, den Start der Geschosse auf dem Mond registrieren. Auch in den zwei bis drei Tagen, die zwischen dem Abschuss und dem Einschwenken auf eine Erdumlaufbahn vergehen, ist die Entdeckung möglich. Und schließlich könnten die Vereinigten Staaten in den letzten Stunden vor dem Treffer Vergeltungsmaßnahmen einleiten. Je später der Angriff entdeckt wird, desto weniger Zeit bleibt für eine Reaktion und desto vernichtender der Schlag. Nach einem Abschuss der Kampfsterne startet Japan einen Angriff von Hyperschallbombern auf die weltweiten Bomber- und Raketen-
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basen der Vereinigten Staaten, auf amerikanische U-Boote, die von japanischen Spähsatelliten verfolgt werden, sowie auf bodengestützte Kommunikationssysteme. Sollte der Angriff auf die Kampfsterne vorzeitig entdeckt werden, planen die japanischen Militärs, diese zweite Phase vorzuziehen und einen Schuss aus der Hüfte abzugeben, in der Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten nur sehr langsam reagieren. Sie rechnen damit, dass sie eine Entdeckung des Angriffs an einem sprunghaften Anstieg der Kommunikation zwischen Kampfsternen, Bodenstationen und anderen Satelliten erkennen werden. Auch wenn sie die Botschaften nicht entschlüsseln können, registrieren sie den Anstieg des Funkverkehrs. Bereits seit Jahren unterhalten sie Satelliten, die als Wetter- und Navigationssatelliten getarnt sind, die jedoch in Wirklichkeit nur dem Zweck dienen, das Kommunikationsaufkommen zwischen den Weltraumeinheiten der Vereinigten Staaten zu registrieren. Japan teilt der Türkei keine Details über den geplanten Angriff mit. Die geheimen Mondbasen sind die Kronjuwelen des japanischen Militärs. Die Türkei ist ein Verbündeter, kein Familienmitglied. Japan informiert die Türkei allerdings sehr wohl darüber, dass es zu einem bestimmten Termin mit feindlichen Handlungen beginnt und einen vernichtenden Schlag gegen die Vereinigten Staaten plant, für den es keine direkte Unterstützung benötigt. Japan versucht, Geheimdienste und Aufklärungssysteme abzulenken und sich so einen zusätzlichen Vorteil zu verschaffen. Es legt den Angriff auf Thanksgiving, den vierten Donnerstag im November, wenn die Vereinigten Staaten ihren Feiertag begehen. Dabei handelt es sich um eine verbreitete militärische Überraschungstaktik, wie sie Japan auch in früheren Kriegen angewendet hat: Der Angriff auf Pearl Harbor erfolgte zum Beispiel an einem Sonntagmorgen, als die Flotte im Hafen vor Anker lag und die Besatzungen am Abend zuvor Landgang hatten. Der neue Angriff muss natürlich nicht unbedingt an Thanksgiving erfolgen, doch es muss ein Termin sein, zu dem sich die politische Führung nicht vollzählig in Washington aufhält. So wie Nordkorea große Verwirrung auslöste, als es Südkorea an einem Sommerwochenende des Jahrs 1950 überfiel, könnte Japan mit eini-
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ger Wahrscheinlichkeit – nach Wochen der Ruhe – an Thanksgiving angreifen. Zuvor provoziert Japan eine Krise. Ohne der Türkei Details über die geplante Thanksgiving-Überraschung zu verraten, bittet Japan sie, einen Konflikt zwischen ihren Truppen in Bosnien und den polnischen Truppen in Kroatien zu provozieren. Die Krise beginnt Mitte Oktober mit der Behauptung, kroatische Terroristen hätten Anschläge in der Türkei verübt. Die Türkei deutet sogar an, dies wäre mit Duldung durch die Vereinigten Staaten geschehen. Wir wissen natürlich nicht, ob es sich just um diesen Vorwand handelt, doch ein Täuschungsmanöver dieser Art ist ein entscheidender Bestandteil der japanischen Strategie. Ähnlich hielt Japan 1941 die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten bis zur letzten Minute aufrecht. Die Tet-Offensive in Vietnam begann während der Waffenruhe des vietnamesischen Neujahrsfestes im Januar 1968, und so weiter. Ein Täuschungsmanöver ist absolut entscheidend. Es folgt eine Krise, in der die Türkei und der polnische Block die oberste Alarmstufe ausrufen. Da amerikanische Streitkräfte in Serbien stationiert sind und die Vereinigten Staaten mit dem polnischen Block verbündet sind, sind sie unmittelbar betroffen. Die Türkei versetzt ihre Luft- und Raketenstreitkräfte außerhalb der Region mehrmals in oberste Alarmbereitschaft, nur um dann wieder Entwarnung zu geben. Sie versucht, einen polnischen Angriff zu provozieren. Aus jahrelanger Erfahrung weiß die Türkei, dass die Verteidigungsnetzwerke des polnischen Blocks und der Vereinigten Staaten eng verknüpft sind und wie sensibel diese auf türkische Aktionen reagieren. In den ersten Novembertagen scheint sie mit ihren Provokationen einen Punkt zu erreichen, an dem keine Umkehr mehr möglich ist. Nachdem Polen Nachricht von einem unmittelbar bevorstehenden Luftschlag erhalten hat, führt es einen begrenzten Militärschlag auf einen türkischen Stützpunkt durch. Damit liefert Polen der Türkei den Anlass für eine Generalmobilmachung. Angesichts eines offenbar bevorstehenden Balkankrieges wendet sich der amerikanische Präsident Minuten nach dem Luftschlag an den polnischen und den türkischen Ministerpräsidenten und fordert beide auf, von weiteren
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Kampfhandlungen abzusehen. Die Türkei, die einen Stützpunkt und zahlreiche Soldaten verloren hat, gibt sich kämpferisch und lenkt nur widerstrebend ein. Japan führt bereits seit einigen Jahren regelmäßig mindestens einmal pro Quartal Bereitschaftsübungen mit seinen Hyperschallbombern und Weltraumeinheiten durch. Die Vereinigten Staaten entsenden Beobachter und sind daher nicht beunruhigt, als Japan wenige Tage vor Thanksgiving ein weiteres Manöver ansetzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Japan seine Streitkräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Diesmal scheint das Manöver nicht einmal im gewohnten Umfang stattzufinden, nur ausgewählte Einheiten scheinen an der Übung teilzunehmen.
Kapitel 11
Der neue Weltkrieg: Ein Szenario
Bislang habe ich in diesem Buch geopolitische Prognosen formuliert, ich habe dargestellt, wie sich die zentralen Themen des 21. Jahrhunderts entwickeln, und überlegt, inwieweit sie sich auf internationalen Beziehungen auswirken. In diesem Kapitel ändere ich meinen Ansatz ein wenig, um einen Krieg zu beschreiben, der meines Erachtens nach um die Mitte des 21. Jahrhunderts ausgetragen werden wird. Natürlich weiß ich weder, wann dieser Krieg genau stattfinden wird, noch kann ich seinen Verlauf in allen Einzelheiten vorhersagen. Ich kann jedoch versuchen, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein Krieg des 21. Jahrhunderts aussieht. So wie sich das 20. Jahrhundert nicht verstehen lässt, ohne den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zu berücksichtigen, bekommt man erst dann ein Gefühl für das 21. Jahrhundert, wenn man weiß, wie seine Kriege aussehen werden. Ein Krieg fällt aus dem Rahmen des bisher beschriebenen, denn im Krieg spielen die Einzelheiten eine ganz entscheidende Rolle. Ohne diese Einzelheiten lässt er sich nicht von Grund auf erfassen. Um einen Krieg wirklich verstehen zu können, reicht es nicht zu wissen, warum er ausgetragen wurde. Wichtiger ist ein detailliertes Verständnis der Technologie, der Kultur und anderer Aspekte. In einer Analyse des Zweiten Weltkriegs muss man unter anderem auch auf Pearl Harbor eingehen. Der Angriff auf Pearl Harbor war ein strategischer Versuch Japans, Zeit zu gewinnen, um Südostasien und Niederländisch-Ostindien zu erobern. Doch um Pearl Harbor wirklich zu verstehen, muss man den Angriff in seinen Einzelheiten verstehen – die Verwendung von Flugzeugträgern, die Erfindung von Torpedos, die im flachen Hafenbecken von Pearl Harbor zum Einsatz
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kommen konnten sowie die Entscheidung, den Angriff auf einen Sonntagmorgen zu legen. In den vorhergehenden Kapiteln habe ich versucht zu zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten, der Türkei und Japan im kommenden Jahrhundert entwickelt und warum sich die letzteren beiden Nationen derart bedroht fühlen, dass ihnen aus ihrer Sicht keine andere Wahl bleibt als ein Präventivkrieg. In diesem Buch geht es um meine Wahrnehmung der Ereignisse der kommenden 100 Jahre, und an dieser Stelle möchte ich den künftigen Krieg darstellen. Dazu muss ich allerdings so tun, als wüsste ich mehr, als ich tatsächlich weiß. Ich muss so tun, als wüsste ich, wo und wann Schlachten ausgetragen werden und wie sie verlaufen. Ich denke, ich habe ein gutes Verständnis der militärischen Technologien, die in diesem Krieg zum Einsatz kommen werden. Ich habe außerdem eine ungefähre Vorstellung, wann dieser Krieg ausgetragen und was sein Ergebnis sein wird. Doch ich befürchte, dieser Krieg wird sich nur dann wirklich verstehen lassen, wenn ich darüber hinaus gehe und ihn mit Einzelheiten ausstatte, die ich streng genommen gar nicht darstellen dürfte. Ich hoffe also, Sie sehen es mir nach, wenn ich mir gewisse Freiheiten herausnehme und diesen Krieg mit »echten« Einzelheiten versehe, um Ihnen auf diese Weise ein Gefühl für die Kriegsführung des 21. Jahrhunderts und insbesondere dieses Kriegs zu vermitteln.
Der Eröffnungszug Die Zerstörung der drei Kampfsterne ist für den 24. November 2050, 17 Uhr, vorgesehen. Zu dieser Uhrzeit an Thanksgiving sitzen die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten vor dem Fernseher, um sich ein Footballspiel anzusehen, oder sie halten ein Verdauungsschläfchen nach einem üppigen Festtagsmahl. Manche sitzen im Auto und sind auf dem Weg nach Hause. Niemand in Washington erwartet ein Problem. Genau in diesem Moment will das japanische Militär zuschlagen. Gegen Mittag nimmt es letzte Kurskorrekturen an seinen Geschossen
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vor, die auf die Kampfsterne zufliegen. Selbst wenn die Geschosse entdeckt werden sollten, so die Logik, dann würde es ein oder zwei Stunden dauern, um das nationale Sicherheitsteam in Washington zusammenzurufen, und wenn die Geschosse gegen 15 oder 16 Uhr entdeckt werden würden, dann bliebe keine Zeit mehr, um rechtzeitig zu reagieren. Um den 21. November startet Japan seine Geschosse vom Mond aus. Schon am Tag zuvor haben die Vorbereitungen für den Alternativplan begonnen, den erwähnten Schuss aus der Hüfte. Der Start der Geschosse auf dem Mond verläuft unbemerkt. Viele werden zwar von den Sensoren der Kampfsterne registriert, doch keines bewegt sich auf einer Flugbahn, die auf eine Gefahr für einen Satelliten oder die Erde schließen ließe. Die Daten werden nicht an das menschliche Kontrollpersonal weitergegeben. Ein Techniker, der am zweiten Tag die tägliche Zusammenfassung überfliegt, entdeckt eine ungewöhnlich große Zahl von Meteoriten, von denen sich einige der Station nähern werden, doch da es sich nicht um ein außergewöhnliches Ereignis handelt, misst er dem keine Bedeutung bei. Gegen Mittag des 24. November werden wie geplant die Triebwerke gezündet, und die Geschosse ändern ihren Kurs. Gegen 14 Uhr gibt der Kollisionsradar des Kampfsterns Uganda eine erste Warnung heraus und bittet den Computer um Bestätigung. Innerhalb der nächsten Stunde identifiziert jede der drei Stationen mehrere Flugobjekte auf Kollisionskurs. Gegen 15.15 Uhr erkennt der kommandierende Flottengeneral auf Kampfstern Peru, dass es sich um einen organisierten Angriff auf seine Satelliten handelt. Er informiert das Hauptquartier der Weltraumeinheiten in Colorado, das wiederum die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte und den Nationalen Sicherheitsrat alarmiert. Inzwischen versucht der kommandierende General auf Kampfstern Peru, den Angriff mit Laserkanonen und Raketen abzuwehren. Doch die Zahl der Geschosse übersteigt die Kapazitäten der Raumstationen, das System ist nicht darauf ausgelegt, auf 15 Angreifer gleichzeitig zu reagieren. Er erkennt rasch, dass der Schutzschirm Lücken hat und dass einige der Projektile ihr Ziel erreichen werden. Der Präsident wird informiert, doch wegen Thanksgiving ist nur
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ein Teil seiner Berater erreichbar. Der Präsident stellt die zwei entscheidenden Fragen: Wer hat den Angriff ausgeführt und von wo aus? Niemand kann ihm diese Frage sofort beantworten. Der nächstliegende Kandidat ist die Türkei als einer der Protagonisten der jüngsten Krise, doch die Geheimdienste sind sich sicher, dass diese nicht in der Lage wäre, einen solchen Angriff durchzuführen. Die Japaner verhalten sich ruhig, und auch von ihnen nimmt niemand an, dass sie zu diesem Schlag in der Lage seien. Während immer mehr Berater im Weiße Haus eintreffen, kristallisiert sich zweierlei heraus: Die Kampfsterne stehen unmittelbar vor ihrer Zerstörung, und niemand weiß, wer dahinter steckt. Gegen 16.30 Uhr informiert Japan seinen Bündnispartner. Noch hält es jedoch detaillierte Informationen zurück, um zu verhindern, dass die Türkei ihr eigenes Spiel spielt. Doch diese ist bereits vorgewarnt, das Theater von Anfang November war das Vorspiel, und sie steht Gewehr bei Fuß für den Fall, dass Japan sie alarmiert. Weniger als dreißig Minuten vor dem Einschlag autorisiert der Präsident die Evakuierung der Kampfsterne. Die Zeit reicht nicht aus, um die Raumstationen vollständig zu evakuieren, Hunderte von Menschen müssen zurückbleiben. Obwohl niemand weiß, auf wessen Konto der Angriff geht, schaffen es die Berater, den Präsidenten davon zu überzeugen, die Verlegung der Hyperschallbomber von ihren Heimatbasen auf verstreute kleinere Stützpunkte anzuordnen. Dieser Befehl erfolgt zur gleichen Zeit wie der Befehl zur Evakuierung der Kampfsterne. Vieles geht schief. Die kommandierenden Offiziere – lediglich eine Rumpfbesatzung – bitten wiederholt um Bestätigung des Befehls. Im Laufe der kommenden Stunde werden einige Maschinen verlegt, die Mehrzahl bleibt jedoch in ihren Hangars. Um 17 Uhr explodieren alle drei Kampfsterne. Die verbleibenden Besatzungsmitglieder kommen ums Leben. Der Rest der amerikanischen Weltraumflotte – Sensoren und Satelliten, die überwiegend mit dem Kampfstern Peru kommunizieren – treibt damit führerlos durchs All. Japanische Spionagesatelliten melden das Ende des Funkverkehrs zwischen den Kampfsternen und Boden, und der japanische Radar erkennt die Zerstörung der Raumstationen.
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Sobald die Nachricht bestätigt ist, starten die japanischen Streitkräfte Phase 2 der Operation. Sie schicken Tausende unbemannter Hyperschallbomber – Maschinen, die klein, schnell und wendig genug sind, um den Abwehrsystemen zu entkommen – in Richtung der Vereinigten Staaten, ihrer Schiffe und ihre Basen im Pazifik. Ziele sind die Hyperschallflotte der Vereinigten Staaten, Luftabwehrstellungen am Boden sowie Kommandozentralen. Städte nehmen die japanischen Bomber nicht ins Visier – mit massiven zivilen Opfern würde Japan nicht nur nichts erreichen, sondern es würde auch die angestrebte Verhandlungslösung von vornherein unmöglich machen. Es geht auch nicht darum, den Präsidenten und seinen Mitarbeiterstab zu treffen, denn schließlich benötigt Japan Ansprechpartner, mit denen es verhandeln kann. Gleichzeitig startet die Türkei eigene Angriffe auf Ziele, die in der gemeinsamen Kriegsplanung festgelegt worden sind. Da die Türkei bereits geahnt hat, dass etwas geschehen würde, und sich beinahe in Alarmzustand befindet, benötigt sie kaum Vorbereitung, um ihren Teil des Kriegsplans umzusetzen. Japan teilt ihr die Zerstörung der Kampfsterne mit, und die türkischen Sensoren bestätigen das. Das türkische Militär beeilt sich, um die Situation zu nutzen. Viele seiner Ziele befinden sich in den Vereinigten Staaten östlich des Mississippi. Doch die Türkei startet auch massive Angriffe gegen den polnischen Block und Indien, das zwar keine wichtige Macht, wohl aber ein enger Verbündeter der Vereinigten Staaten ist. Ziel der Koalition ist es, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten militärisch handlungsunfähig zu machen. Innerhalb weniger Minuten treffen die Raketen der unbemannten Hyperschallbomber die amerikanischen Streitkräfte in Europa und Asien. Es dauert jedoch noch fast eine Stunde, bis sie in den Vereinigten Staaten eintreffen. Diese Stunde verschafft den Vereinigten Staaten wertvolle Zeit. Die meisten der weltraumgestützten Sensoren sind ausgefallen, doch ein altes Infrarotsystem, das Raketen mit Hilfe von Wärmesensoren ortet und das zu veraltet war, um an die Kampfsterne angeschlossen zu werden, meldet noch immer Daten nach Colorado Springs. Es entdeckt Hunderte von Starts in Japan und der
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Türkei, doch kann darüber hinaus wenig Information liefern. Es ist unmöglich festzustellen, auf welche Ziele die Raketen und Hyperschallbomber gerichtet sind. Doch die Tatsache, dass beide Ländern innerhalb weniger Minuten nach der Zerstörung der Kampfsterne aktiv werden, lässt endlich einen Schluss darauf zu, woher die Angriffe kamen. Die Vereinigten Staaten unterhalten eine Datenbank von militärischen Zielen in der Türkei und Japan. Die Flugzeuge der Koalition befinden sich längst in der Luft, und es wäre sinnlos, deren Basen zu bombardieren. Doch in beiden Ländern gibt es feste Ziele, vor allem Befehlszentralen, Flugplätze, Treibstoffvorräte und so weiter, die angegriffen werden können. Außerdem will der Präsident seine Hyperschallflotte in der Luft und nicht auf dem Rollfeld. Also befiehlt er die Aktivierung eines vorhandenen Kriegsplans. Doch bis die Befehle übermittelt sind und die Kontrolleure Posten bezogen haben, bleiben nur noch 15 Minuten, bis die türkischen und japanischen Bomber amerikanisches Festland erreichen. Einige der Flugzeuge starten und zerstören Ziele in beiden Ländern, doch ein Großteil der Bomberflotte wird am Boden zerstört. In den osteuropäischen Staaten sind die Folgen des Angriffs noch verheerender. Das Hauptquartier der Streitkräfte in Warschau erfährt nichts von der Zerstörung der Kampfsterne und wird erst von den Vereinigten Staaten gewarnt, als schon die ersten Raketen in ihren Militärbasen einschlagen. Ohne jede Vorwarnung werfen die türkischen Hyperschallbomber ihre Lenkwaffen ab. Von einem Augenblick auf den anderen ist das Arsenal des polnischen Blocks vollkommen vernichtet. Gegen 19 Uhr ist die Weltraum- und Hyperschallflotte der Vereinigten Staaten weitgehend zerstört. Sie haben die Kontrolle über das Weltall verloren, und ihnen stehen nur noch einige hundert Flugzeuge zur Verfügung. Die Streitkräfte der europäischen Verbündeten wurden völlig überrumpelt. Amerikanische Kriegsschiffe in aller Welt wurden angegriffen und versenkt. Auch Indien hat seine Streitkräfte verloren. Das amerikanische Bündnis hat einen vernichtenden Schlag erlitten.
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Der Gegenschlag Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten ist dagegen intakt, genau wie die ihrer Verbündeten. Hier liegt der Schwachpunkt der japanischtürkischen Strategie. Die Vereinigten Staaten sind eine Atommacht, genau wie Japan, die Türkei, Polen und Indien. Konventionelle Angriffe auf militärische Ziele haben keinen nuklearen Gegenschlag zur Folge. Sollte die Koalition jedoch versuchen, durch Angriffe auf die amerikanische Bevölkerung eine Kapitulation zu erzwingen, könnte der Punkt erreicht sein, an dem die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten Nuklearwaffen einsetzen. Da es der Koalition nicht um eine gegenseitige Auslöschung, sondern um eine politische Lösung geht, mit der die Vereinigten Staaten leben können, und da die Amerikaner oft extrem unberechenbar sein können, wäre der Einsatz von Hyperschallbombern gegen die Zivilbevölkerung extrem gefährlich. Der Besitz von Nuklearwaffen trägt also dazu bei, den Konflikt zu begrenzen. Andererseits sind die Vereinigten Staaten militärisch angeschlagen und wissen nicht, wie weit die Koalition gehen wird. Diese wiederum hofft, das Ausmaß des Schadens und ihre potenzielle Unberechenbarkeit könnten die Vereinigten Staaten dazu bewegen, einer Verhandlungslösung zuzustimmen, türkische und japanische Einflusssphären anzuerkennen, die amerikanischen Sphären zu begrenzen und einer überprüfbaren Rüstungskontrolle im Weltraum zuzustimmen. Mit anderen Worten: Die Koalition hofft darauf, dass die Vereinigten Staaten einsehen, dass sie nun nur noch eine Macht unter vielen sind, und sich mit einer großzügig bemessenen und sicheren eigenen Einflusssphäre zufriedengeben. Außerdem hofft sie, dass die Plötzlichkeit und Effizienz des Angriffs dazu führt, dass die Vereinigten Staaten die militärische Stärke der Koalition überschätzen. Die Vereinigten Staaten überschätzen die Stärke der Koalition in der Tat, doch ihre Reaktion ist das genaue Gegenteil dessen, was sich die Koalition erhofft. Sie sehen sich nicht in einem begrenzten Krieg mit einem Gegner, der klar umrissene politische Ziele verfolgt, mit denen sie sich gegebenenfalls anfreunden könnten. Sie nehmen viel-
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mehr an, die Streitkräfte der Koalition seien sehr viel größer, als sie es in Wirklichkeit sind, und dass sie selbst vor einem weitgehenden Machtverlust, wenn nicht gar vor einer völligen Zerstörung stehen, und durch weitere Angriffe der Koalition und anderer Mächte verwundbar sein könnten. Dies stellt eine existenzielle Bedrohung dar. Die Vereinigten Staaten reagieren emotional und aus dem Bauch heraus auf den Angriff. Würden sie die politische Lösung akzeptieren, die ihnen am Abend des 24. November übermittelt wird, wäre die Zukunft des Lands auf lange Sicht ungewiss. Die Türkei und Japan würden Eurasien unter sich aufteilen. Es gäbe nicht eine Hegemonialmacht, sondern zwei, doch wenn diese beiden zusammenarbeiteten, wäre Eurasien ein geeinter Block, den die beiden systematisch ausbeuten konnten. Damit würde der amerikanische Alptraum wahr, und es wäre nur eine Frage der Zeit, ehe die Koalition die Weltraumund Seehoheit gewinnen würde. Eine Zustimmung zu den Forderungen der Koalition würde zwar den Krieg beenden, doch sie würde auch den Niedergang der Vereinigten Staaten einläuten. An diesem Abend ist keine sorgfältig überdachte Reaktion möglich. Wie nach dem Untergang der Maine im Hafen von Havanna, der 1898 den Spanisch-Amerikanischen Krieg auslöste, dem Angriff auf Pearl Harbor und den Attentaten des 11. September 2001 reagieren die Vereinigten Staaten auch jetzt mit unbedachter Wut. Sie weisen sämtliche Bedingungen zurück und ziehen in den Krieg. Die Vereinigten Staaten können allerdings nichts unternehmen, solange die Aufklärungssatelliten der Koalition existieren. Diese kommen zwar nicht an die Leistungsfähigkeit der Kampfsternflotte heran, doch es handelt sich um Satelliten der jüngsten Generation, die der Koalition in Echtzeit Informationen über die Vereinigten Staaten liefern. Solange diese Satelliten in Betrieb sind, kann die Koalition jede Bewegung der Vereinigten Staaten verfolgen und ihr begegnen. Daher muss das amerikanische Aufklärungssystem so schnell wie möglich wiederhergestellt, und die Informationen der zahlreichen verbleibenden Satelliten müssen auf die Erde umgeleitet werden. Damit können die Vereinigten Staaten die Bewegung ihrer Feinde wieder verfolgen und zurückschlagen. In einem ersten Schritt müssen sie sämtliche
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Weltraumstartrampen auf dem Territorium der Koalition zerstören, um zu verhindern, dass diese weitere Satelliten in Stellung bringt. Die japanische Aufklärung ist zwar nicht perfekt, doch sie arbeitet hervorragend. Daher haben die Vereinigten Staaten bewusst mehrere sorgfältige getarnte Startrampen angelegt. Das ist eines der wichtigsten Geheimprojekte der 2030er Jahre. Als die Japaner mit ihrer Überwachung der Vereinigten Staaten begonnen haben, haben diese versteckten Rampen bereits seit geraumer Zeit existiert. In Friedenszeiten sind diese Anlagen nicht besetzt. Die heimliche Verlegung von Personal zu diesen Rampen wird einige Tage in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit strecken die Vereinigten Staaten durch die Vermittlung des neutralen Deutschland ihre diplomatischen Fühler aus, um Verhandlungsmöglichkeiten zu eruieren. In Wirklichkeit geht es jedoch nur darum, Zeit zu gewinnen. Die Verhandlungen sind lediglich ein Deckmantel für die Vorbereitung eines Gegenschlags. Die Vereinigten Staaten versuchen, mit Hilfe ihrer verbliebenen Streitkräfte die Chancengleichheit wiederherzustellen. Dazu müssen sie zunächst die Aufklärungssatelliten der Koalition ausschalten und dieser die Sicht nehmen. Sie verfügen über Hunderte von Anti-Satelliten-Raketen und Energiekanonen, die an geheimen Standorten stationiert sind. Diese werden nicht auf einen Schlag, sondern über einige Tage hinweg mit Mannschaften bestückt, um den Aufklärungssatelliten der Koalition keinen Grund zu liefern, Verdacht zu schöpfen. Während die Vereinigten Staaten mit der Koalition in Verhandlungen treten, bereiten sie die Basen vor. Etwa 72 Stunden später zerstören sie binnen zweier Stunden sämtliche Aufklärungssatelliten der Koalition. Damit ist die Koalition nahezu blind. Nach der Zerstörung der Satelliten starten die verbliebenen amerikanischen Hyperschallbomber Angriffe gegen die türkischen und japanischen Weltraumstartrampen, in der Hoffnung damit den Start von Killersatelliten der Koalition zu verhindern, mit denen diese die eigenen noch funktionstüchtigen Satelliten zerstören könnten. Anders als die Japaner wissen die Amerikaner, die seit der Zeit des Kalten Kriegs überzählige Aufklärungskapazitäten haben, sehr genau, wo sich die Geheimbasen ihrer Feinde befinden. Es gelingt den Hyper-
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schallbombern, sämtliche Stützpunkte zu zerstören. Kurze Zeit später empfangen die amerikanischen Satellitenkontrollzentren auf der Erde erste Signale von ihren Satelliten im All. Die Aufklärungskapazitäten der Koalition sind nahezu vollständig ausgeschaltet. Schuld ist die japanische Unkenntnis über die Existenz der geheimen Antisatellitenraketen in den Arsenalen der Vereinigten Staaten.
Neue Waffen, alte Kriege Die Mitglieder der Koalition müssen erkennen, dass ihr ursprünglicher Plan fehlgeschlagen ist. Sie wissen zwar nicht, wie viel die Vereinigten Staaten sehen, doch sie wissen, dass sie selbst sehr wenig sehen. Am meisten verstört sie die Tatsache, dass sie nicht wie angenommen die gesamte Bomberflotte der Vereinigten Staaten ausgeschaltet hatten und dass diese nach wie vor in der Lage ist, gezielte Luftschläge durchzuführen. Sie haben keine Ahnung, dass es sich lediglich um die Überreste der Flotte handelt, die zwischen der ersten Warnung und dem Luftangriff der Koalition in Sicherheit gebracht worden waren. Sie tappen im Dunkeln, wie groß die Reserven der Vereinigten Staaten sind, und sie haben keine Möglichkeit, dies herauszufinden. Der Nebel des Kriegs ist im 21. Jahrhundert noch genauso dicht wie in der Vergangenheit. Mit Hilfe aller verfügbaren Daten ermitteln Ingenieure der amerikanischen Streitkräfte die Herkunft der Geschosse, mit denen die Kampfsterne zerstört wurden. Das Militär greift diese Basen mit Raketen an und zerstört sie. Außerdem erteilen die Vereinigten Staaten ihren heimlich auf dem Mond stationierten Streitkräften den Befehl, die japanischen Mondstationen anzugreifen. Sie werden sich nicht ein weiteres Mal überraschen lassen. Wie so oft im Krieg beginnt nach dem ersten und über Jahre hinweg sorgfältig geplanten Schlag die Phase der Improvisationen und der Unsicherheit. Die meisten Kriegspläne gehen davon aus, dass die Kampfhandlungen schnell beendet sein werden. Das sind sie so gut wie nie. Dieser Krieg geht weiter, und zwar in drei Phasen.
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Erstens starten die Vereinigten Staaten, nachdem sie die vorläufige Kontrolle über das Weltall wiedererlangt haben, ein improvisiertes Verteidigungsprogramm, um ihre eigene Herrschaft zu festigen und die Koalition an neuen Aktivitäten im Weltall zu hindern. Im Lauf des kommenden Jahrs steigern sie ihre Aufklärungskapazitäten bis auf Vorkriegsniveau. In Kriegszeiten ist das Tempo von Forschung, Entwicklung und Implementierung um ein Vielfaches höher als zu Friedenszeiten. Ein Jahr nach Thanksgiving 2050 haben die Vereinigten Staaten größere Kapazitäten im Weltall als je zuvor. Zweitens bauen sie ihre Hyperschallflotte wieder auf, während gleichzeitig Flugzeuge der Koalition fortgesetzte Angriffe auf bekannte Produktionsstätten fliegen. Doch die Koalition ist nicht in der Lage, die Vereinigten Staaten ausreichend zu überwachen, und trotz einiger Rückschläge sind die Fabriken binnen Kurzem wieder einsatzbereit und produzieren neue Flugzeuge. Drittens versucht die Koalition, auf dem Boden Tatsachen zu schaffen, ehe die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte wiederherstellen können. Japan versucht, Gebiete in China und Ostasien zu besetzen. Dabei geht es allerdings weit weniger aggressiv vor als die Türkei, die eine Gelegenheit gekommen sieht, den polnischen Block auszuschalten und sich als führende Macht der Region zu etablieren, während die Vereinigten Staaten anderweitig beschäftigt sind. Der Krieg begann mit einem Scheinangriff auf den polnischen Block und geht mit massierten türkischen Boden- und Luftangriffen weiter. Eine Zerschlagung des polnischen Blocks gäbe der Türkei an allen Fronten freie Hand. Statt sich also an verschiedenen Schauplätzen wie Nordafrika oder Russland zu verzetteln, bündelt die Türkei ihre Kräfte auf einen Angriff im Norden und dringt von Bosnien aus in den Balkan vor. Die entscheidende Waffe dieses Krieges ist der gepanzerte Infanteriesoldat – ein Soldat in einem motorisierten Panzeranzug, der erhebliche Lasten bewegen kann, den Soldaten beschützt, und seine rasche Fortbewegung ermöglicht. Es handelt sich um einen hocheffektiven Ein-Mann-Panzer, der mit verschiedenen Waffensystemen ausgestattet ist, Vorräte transportiert und mit Hochleistungsbatterien betrie-
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ben wird. Diese Batterien sind die entscheidende Schwachstelle, denn so modern sie sind, sie müssen aufgeladen werden. Das macht den Zugang zum Stromnetz zum kriegsentscheidenden Faktor. Für die Kriege des 21. Jahrhunderts ist der elektrische Strom so wichtig wie das Benzin für die Kriege des 20. Jahrhunderts. Das Ziel der Türkei besteht darin, die Streitkräfte des polnischen Blocks in eine vernichtende Schlacht zu ziehen. Anders als im Krieg gegen die Vereinigten Staaten kommen sämtliche Teilstreitkräfte zum Einsatz, darunter gepanzerte Infanteriesoldaten, robotergesteuerte Transport- und Kampfplattformen und die inzwischen allgegenwärtigen Hyperschallbomber mit ihren Fernlenkwaffen. Nach einigen schweren Niederlagen versucht der polnische Block, seine Bodentruppen zu verteilen, um sie gegen Luftschläge zu schützen. Die Türkei versucht dagegen, die gegnerischen Streitkräfte durch Angriffe auf wichtige Ziele zu einer Konzentration zu zwingen oder alternativ den Block zu spalten, für den Fall dass Polen oder eine andere Nation sich weigern sollte, sich an der Verteidigung dieser Ziele zu beteiligen. Die Türkei dringt von Bosnien aus nach Kroatien und von dort ins flache Ungarn vor, das keine natürlichen Hindernisse bietet. Ihre Streitkräfte dringen bis nach Budapest vor, obwohl ihr Ziel letztlich die Karpaten in der Slowakei, der Ukraine und Rumänien sind. Sollte es ihnen gelingen, die Karpaten einzunehmen, sind Rumänien und Bulgarien abgeschnitten und müssen sich ergeben. Damit wäre das Schwarze Meer endgültig ein türkisches Binnengewässer. Ungarn wird besetzt, Polen isoliert und von Süden her bedroht. Sollten sich die Polen jedoch auf der ungarischen Tiefebene sammeln, um Budapest zu schützen und den Block zusammenzuhalten, wären die türkischen Luftstreitkräfte in der Lage, die gegnerische Armee zu vernichten. Polen fordert amerikanische Luftunterstützung an, um den Vormarsch der türkischen Kräfte aufzuhalten, doch die Vereinigten Staaten haben selbst kaum noch Flugzeuge. So kann die Türkei innerhalb weniger Wochen Ungarn erobern und kurz darauf die Karpaten besetzen. Das isolierte Rumänien streckt die Waffen. Südosteuropa ist bis zur polnischen und ukrainischen Grenze in türkischer Hand. Was bleibt, ist Polen.
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Die türkische Armee marschiert auf Krakau, und ihre Luftstreitkräfte dezimieren das polnische Militär. Die Vereinigten Staaten sind besorgt, Polen könnte dem Druck nicht standhalten und zu Friedensverhandlungen gezwungen sein. Sie müssen Zeit gewinnen, um ihre strategischen Kräfte wiederaufzubauen und einen überraschenden weltweiten Gegenschlag gegen die Türkei und Japan auszuführen. Sie wollen ihre Kräfte nicht zerstreuen, um taktische Gefechte in Südpolen zu unterstützen. Gleichzeitig können sie nicht riskieren, den polnischen Verbündeten zu verlieren, denn damit wäre der Kampf gegen die Türkei verloren. Um Polen zu einer Fortsetzung des Kampfes zu motivieren, müssen sie der Türkei einen schweren Schlag versetzen.
RUSSLAND
POLEN UKRAINE
KASACHSTAN
RUMÄNIEN ITALIEN
BULGARIEN
Schwarzes Meer
Kaspisches Meer
TÜRKEI Mittelmeer IRAN
TSCHAD SUDAN
Die Türkei im Jahr 2050
Arabisches Meer
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Im Februar 2051 schicken die Vereinigten Staaten einen großen Teil ihrer verbliebenen Luftstreitkräfte sowie einige neue, weiterentwickelte Bomber gegen Stellungen der türkischen Armee und deren Logistikzentren im Süden Polens, in Bosnien und weiter südlich. Trotz der schweren Verluste, die ihnen die türkischen Verteidiger zufügen, gelingt es ihnen, Hunderte gepanzerter Infanteriesoldaten zu töten und eine große Zahl Robotorsysteme und Gerät zu zerstören. Die Türken erkennen schnell, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Ihre Unfähigkeit, im Weltraum aktiv zu werden, und der zügige Wiederaufbau der amerikanischen Luftstreitkräfte bedeuten über kurz oder lang ihre sichere Niederlage. Doch Japan ist nicht in der Lage, sie zu unterstützen, da es in China mit eigenen Problemen zu kämpfen hat. Ihr großer Wurf droht zu scheitern, und nun steht jeder für sich allein. Die Vereinigten Staaten konzentrieren sich offenbar zuerst auf die Türkei und dann auf Japan, also muss die Türkei Polen möglichst schnell ausschalten. Doch die türkischen Kräfte sind inzwischen weit über das große Reich verteilt. Sie ausschließlich auf Polen zu konzentrieren, würde bedeuten, sie anderswo abzuziehen, was langfristig keine gangbare Option darstellt. Die Türkei müsste sich auf Aufstände von Zentralasien bis Ägypten gefasst machen. Schon lange vor Beginn des Kriegs hatte die Koalition Verbindung zu Deutschland aufgenommen, um einen gemeinsamen Angriff auf Polen zu vereinbaren, doch seinerzeit hatte Deutschland abgelehnt. Als die Türkei diesmal auf Deutschland zukommt, macht sie ein verlockendes Angebot. Sollte sich Deutschland am Krieg gegen Polen beteiligen, werde sich die Türkei nach dem Krieg auf den Balkan zurückziehen und nur Rumänien und die Ukraine behalten. Die Türkei werde ihre Macht um das Schwarze Meer, die Adria und das Mittelmeer ausbauen, während Deutschland nördlich davon, etwa in Ungarn, Polen, dem Baltikum und Weißrussland, freie Hand hätte. Was aus deutscher Sicht vor 2050 nichts als türkisches Wunschdenken war, ist mit einem Mal ein bedenkenswerter Vorschlag. Deutschland hat wie Polen und Russland auf der nordeuropäischen Tiefebene eine offene Flanke und könnte auf diese Weise seine Ostgrenze sichern. Außerdem würde diese Lösung Osteuropa endlich wieder in die Schran-
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ken weisen und damit den Trend umkehren, der seit dem Ende des zweiten Kalten Kriegs gegen Deutschland und Westeuropa läuft. Natürlich weiß man in Deutschland, dass die Amerikaner sich früher oder später wieder um die Region kümmern werden, doch das könnte noch eine Weile dauern. Währenddessen eröffnet sich eine reale Chance. Deutschland, das sich vorzugsweise in der Nabelschau ergeht, ist bei weitem nicht so abenteuerlustig wie die Türkei. Doch trotz seiner Risikoscheu entscheidet es sich, dieses Risiko einzugehen. Es mobilisiert sein Heer sowie seine nicht mehr ganz modernen Luftstreitkräfte und dringt im Frühsommer 2051 nach Westpolen vor, während die Türkei ihre Angriffe von Süden her verstärkt. Deutschland gewinnt die politische Unterstützung von Frankreich und einigen anderen Nationen, die sich jedoch militärisch nicht beteiligen. Großbritannien dagegen betrachtet die Entwicklung mit Entsetzen. Auch wenn es sich um ein globales Machtspiel handelt, sind die Briten zutiefst besorgt um das regionale Machtgleichgewicht. Erneut sehen sie sich der Möglichkeit eines von Deutschland beherrschten Kontinentaleuropa gegenüber, so unbeholfen es die Deutschen auch angehen und so sehr sie dabei von der Türkei abhängen. Sollte es dazu kommen und sollten sich die Vereinigten Staaten wie so oft nach den von ihnen geführten Kriegen aus der Weltpolitik zurückziehen, dann würde dies eine Katastrophe für Großbritannien bedeuten. Die Briten haben keinerlei Interesse, sich an diesem Krieg zu beteiligen, doch es bleibt ihnen kaum eine andere Wahl. Bei einem Kriegseintritt könnten sie jedoch ein ansehnliches Gewicht in die Waagschale werfen: eine kleine, intakte Luftstreitmacht, die bei einer Zusammenarbeit mit der amerikanischen Aufklärung den deutschen und türkischen Streitkräften ernsten Schaden zufügen könnte. Darüber hinaus ist die Insel mit ihren modernen Luftabwehrsystemen vor deutschen und türkischen Luftschlägen geschützt – ein sicherer Stützpunkt also. Großbritannien gibt sich zurückhaltend, doch es beginnt mit der heimlichen Verlegung großer Teile seiner Luftstreitkräfte in die Vereinigten Staaten, wo die Luftabwehr aufgrund der größeren Distanz noch wirkungsvoller ist. Schließlich wird Polen von zwei Seiten, von Westen und Süden her,
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angegriffen. Die Angreifer dringen auf das polnische Staatsgebiet vor, genau wie in früheren Kriegen, nur mit einer vollständig anderen Technologie. Die Truppen sind nicht mehr Napoleons riesige Infanterieeinheiten oder Hitlers Panzerdivisionen, sondern zahlenmäßig sehr kleine Einheiten. Die Soldaten sind gepanzerte Infanteristen, die wie in der Vergangenheit aufgefächert vordringen, jedoch klare und einander überlappende Schussfelder haben, die Dutzende Kilometer weit reichen. Sie stehen über ein Computernetzwerk miteinander in Verbindung und bedienen nicht nur die Waffen, die sie selbst bei sich haben, sondern auch Robotersysteme und Hyperschallbomber, die Tausende Kilometer entfernt stationiert sind und auf Abruf bereitstehen. Die Robotersysteme benötigen Daten und elektrischen Strom. Fällt eines der beiden Netzwerke aus, sind sie nutzlos. Nach der Zerstörung ihrer weltraumgestützten Informationssysteme setzt die Türkei unbemannte Fluggeräte ein, die das Schlachtfeld überfliegen und die Roboter mit Informationen versorgen. Da diese Fluggeräte häufig abgeschossen werden, sind diese Informationen unvollständig. Die Truppen der Vereinigten Staaten verfügen über weitaus bessere Informationen, doch ihnen fehlt es an Luftstreitkräften, mit denen sie die Angreifer dezimieren könnten. Auch die Stromversorgung für die gepanzerten Kampfanzüge der Infanteristen sowie für die Roboter stellt ein Problem dar. Täglich müssen ihre großen Batterien aufgeladen oder ausgetauscht werden. Daher spielen Kraftwerke und das Stromnetz eine kriegsentscheidende Rolle. Werden die Kraftwerke zerstört, müssen die Angreifer große Mengen von bereits aufgeladenen Batterien von anderen Kraftwerken herantransportieren und in der Kampfzone verteilen. Je weiter die Truppen vordringen, desto länger wird der Nachschubweg. Wenn die Verteidiger gemäß der Strategie der verbrannten Erde ihre eigene Stromversorgung abschalten und ihre Kraftwerke zerstören, wird der Vormarsch der Angreifer gebremst. Bei einem Geheimtreffen verabreden amerikanische, britische, chinesische und polnische Oberbefehlshaber eine Strategie: Polen soll Widerstand leisten und allmählich vor den angreifenden Truppen der
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Koalition zurückweichen. Die Stoßrichtung beider Fronten ist Warschau. Die polnische Armee soll immer wieder zurückfallen, sich dann neu formieren, um so viel Zeit wie möglich zu gewinnen, während ihre Verbündeten ihre Luftstreitkräfte wiederherstellen. Dabei soll die polnische Armee von mehreren Tausend amerikanischen Soldaten unterstützt werden, die über den Nordpol nach Petersburg eingeflogen werden. Wenn die Situation Ende 2051 schwieriger wird, sollen Luftstreitkräfte aus Großbritannien zum Einsatz kommen, um den Vormarsch der türkischen Armee zu verlangsamen. Die Industrie der Vereinigten Staaten verspricht, gewaltige Anstrengungen zu unternehmen, um Tausende weiterentwickelte Hyperschallbomber zu bauen, die doppelt so schnell sind wie die Vorkriegsmodelle und die doppelte Bombenlast tragen können. Dank der massiven Rüstungsanstrengungen und des erheblichen Ausbaus der weltraumgestützten Systeme sollen die amerikanischen Streitkräfte Mitte 2052 zu einem massiven und vernichtenden Gegenschlag bereit sein, der die Streitkräfte der Koalition in aller Welt zerstören soll. Bis dahin soll die polnische Armee auf Zeitgewinn spielen. Die Koalition hat die Kapazitäten der amerikanischen Industrie sträflich unterschätzt. Sie geht davon aus, dass sie Jahre Zeit hat, um die polnische Armee zu niederzuringen. Zunächst verschont sie daher das polnische Stromnetz, um es nach dem Krieg nicht wieder aufbauen zu müssen und es im Gefecht selbst nutzen zu können. Die polnische Armee zerstört das Netz dagegen auf dem Rückzug, um den Vormarsch der Koalition zu behindern und die deutschen und türkischen Truppen zu zwingen, schwere elektrische Speichereinheiten an die Front zu transportieren und damit Kräfte im Nachschub zu binden. Später, als im Sommer 2052 schließlich die Gegenoffensive beginnt, soll sich genau dieser Nachschub als Schwachstelle erweisen. Sobald die gepanzerten und über Satelliten gesteuerten Infanteristen der Amerikaner zum Einsatz kommen, erkennt die Koalition, dass Polen nicht leicht einzunehmen sein wird. Außerdem sieht sie ein, dass sie die polnische Stromversorgung zerstören und die Amerikaner zwingen muss, Batterien aus den Vereinigten Staaten heranzutransportieren, wenn die Alliierten nicht als Sieger aus dem Krieg
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hervorgehen sollen. Im Sommer 2051 beginnt die Koalition daher mit der Zerstörung der polnischen Kraftwerke bis weit nach Weißrussland hinein. Polen liegt im Dunkeln. In den darauf folgenden zwei Wochen verwickelt die Koalition die alliierten Truppen in anhaltende Gefechte, um sie dazu zu zwingen, ihre bestehenden Energievorräte aufzubrauchen. Sie greift an allen Fronten an, in der Erwartung, dass den Amerikanern und Polen bald der Strom ausgeht. Doch die Koalition trifft nicht nur auf erbitterten Widerstand, sondern die Alliierten fügen ihr außerdem mit neuen Luftschlägen erhebliche Verluste zu. Die Alliierten schicken britische Luftstreitkräfte in die Schlacht. Ein hervorragend koordiniertes, weltraumgestütztes Aufklärungssystem, das von einem neuen, fortschrittlicheren Kampfsternsystem gesteuert wird, ermöglicht zudem die Identifizierung und Zerstörung der deutschen und türkischen Infanterie. Die Vereinigten Staaten haben inzwischen gelernt, militärisch nicht alles auf eine Karte zu setzen, vor allem nicht in Hinblick auf ihre weltraumgestützten Systeme. Vor Kriegsbeginn verfügten sie bereits über einen geheimen Kampfstern der nächsten Generation, der jedoch aufgrund fehlender Haushaltsmittel noch nicht im All stationiert worden war. Ausnahmsweise erweist sich die Langsamkeit der politischen Mühlen diesmal als Glücksfall, die neue Raumstation befindet sich während des japanischen Angriffs noch auf der Erde. Wenige Monate nach Kriegsbeginn und nach der Zerstörung der japanischen Mondstationen wird sie im All stationiert, und die in der Umlaufbahn befindlichen amerikanischen Satelliten kommunizieren sofort mit ihr. Der neue Kampfstern wird in der Nähe von Uganda stationiert, kann sich jedoch im Bedarfsfall rasch an andere Punkte über dem Äquator bewegen und ist vor allem in der Lage, Angriffen der Art auszuweichen, wie sie seine drei Vorgänger zerstörten. Damit stellen die Vereinigten Staaten ihre Vorherrschaft im All nicht nur wieder her, sondern bauen sie gegenüber der Vorkriegszeit sogar noch aus. Die türkischen und deutschen Truppen sind überrascht. Nachdem sie die polnische Stromversorgung zerstört haben, erwarten sie einen
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Zusammenbruch des Widerstandes, da nach ihren Berechnungen den gegnerischen Truppen der Strom ausgehen müsste. Doch die Alliierten zeigen unverminderte Kampfkraft. Da die Amerikaner unmöglich so viele Batterien einfliegen können, stellt sich die Frage, woher der notwendige Strom kommt. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts hat ein amerikanisches Unternehmerkonsortium große Summen in die Entwicklung von billigen Raumfähren investiert, die die Amerikaner dann in großer Zahl einsetzten. Gleichzeitig haben sie Experimente durchgeführt, um im All Strom zu erzeugen, diesen in Form von Mikrowellen auf die Erde zu transportieren und dort wieder in elektrischen Strom umzuwandeln. In ihren zahllosen Kriegsszenarien rund um die Verteidigung Polens haben auch die amerikanischen Militärs die Stromversorgung als Knackpunkt erkannt. Elektrischer Strom wird der Schlüssel zum Sieg. Die Technologie existiert bereits. Die Raumfähren lassen sich genauso schnell bauen wie die Solaranlagen und Mikrowellensysteme. Die größte Herausforderung besteht darin, die Empfangsanlagen zu bauen und im Kriegsgebiet zu stationieren, doch mit einem schier grenzenlosem Budget und äußerster Motivation vollbringen die Amerikaner einmal mehr Wunder. Der neue Kampfstern, von dem die Koalition nichts weiß, hat zwei Aufgaben: Kriegsführung sowie die Leitung der Konstruktion von Sonnensegeln und Sendeanlagen für Mikrowellen. Mobile Empfangsanlagen werden ins Kriegsgebiet transportiert. Als der Schalter umgelegt wird, erhalten Tausende von Empfangsanlagen hinter der polnischen Front Mikrowellen und verwandeln diese in elektrischen Strom. Das System erinnert ein wenig an Mobiltelefone, die das Festnetz ersetzen. Das gesamte Energieversorgungssystem wird revolutioniert. Das wird später noch eine wichtige Rolle spielen. In diesem Moment bedeutet es, dass der Widerstand gegen die türkische Armee nicht nachlässt und die Alliierten weit mehr Energie zur Verfügung haben, als ihre Feinde erwarten. Die Koalition ist nicht in der Lage, dieses neue Energieversorgungssystem im All auszuschalten oder die Empfangsstationen zu identifizieren. Zu viele Sonnensegel befinden sich an zu vielen Stellen, und zudem bewegen sie sich. Doch selbst wenn sie abgeschossen werden
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könnten, würden die Amerikaner sie schneller ersetzen, als die Koalition sie zerstören kann. Die Koalition ist also nicht in der Lage, die alliierten Streitkräfte vom Nachschub abzuschneiden. Außerdem hat sie kaum Aufklärungsmöglichkeiten, da ihre Satelliten frühzeitig zerstört wurden. Daher verliert sie die Kontrolle über den Luftraum. Die alliierten Luftstreitkräfte sind zwar anfänglich kleiner, können aber erheblich effektiver agieren.
Das Endspiel Bis zum Sommer 2052 hält sich am Boden eine Pattsituation. Dann bringen die Vereinigten Staaten ihre neuen Luftstreitkräfte zum Einsatz. Unterstützt von den Waffen und Aufklärungssystemen des Kampfsterns zerstören ihre unbemannten Hyperschallbomber die Truppen der Koalition in Polen sowie deren Energieversorgungssystem. In China versetzen sie den japanischen Truppen einen vernichtenden Schlag. Außerdem versenken sie die japanische Flotte. Die Gegenoffensive erschüttert die polnischen und türkischen Truppen und reibt die deutschen vollkommen auf. Die Bodentruppen der Koalition lösen sich nahezu in Luft auf. Nun sehen sich die Vereinigten Staaten einer nuklearen Bedrohung gegenüber. Sollten die Angehörigen der Koalition angesichts dieses Schlags um ihre nationale Souveränität oder gar um ihr Überleben fürchten, könnten sie durchaus den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung ziehen. Die Vereinigten Staaten fordern daher keine bedingungslose Kapitulation. Sie haben jetzt genauso wenig ein Interesse daran, das nationale Überleben ihrer Gegner in Frage zu stellen, wie vor dem Krieg. In den vorhergehenden fünfzig Jahren haben sie gelernt, dass die völlige Vernichtung eines Feindes nicht die beste Strategie darstellt. Ihnen geht es darum, das Machtgleichgewicht zu erhalten und dafür zu sorgen, dass sich die Regionalmächte mit ihren Nachbarn auseinandersetzen müssen, nicht mit den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten legen es also gar nicht auf eine völlige Zerstörung Japans an. Stattdessen wollen sie ein Gleichgewicht zwischen
Der neue Weltkrieg: Ein Szenario
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Japan, Korea und China herstellen. Genausowenig geht es ihnen darum, die Türkei zu vernichten und die islamische Welt ins Chaos zu stürzen, sondern nur um ausgewogene Machtverhältnisse zwischen dem polnischen Block und der Türkei. Der polnische Block wird die Türkei bestrafen wollen, ebenso wie China und Korea den japanischen Gegner. Doch die Vereinigten Staaten verfolgen dieselbe Linie wie knapp 140 Jahre zuvor Woodrow Wilson in Versailles: Im Namen der Menschlichkeit werden sie dafür sorgen, dass das Chaos in Eurasien erhalten bleibt. Auf einer eilig einberufenen Friedenskonferenz wird die Türkei gezwungen, sich in den Süden des Balkan zurückzuziehen und Serbien und Kroatien als Puffer zu akzeptieren. Im früheren Russland müssen sie sich in Richtung Kaukasus zurückziehen und eine chinesische Präsenz in Zentralasien hinnehmen. Japan muss sämtliche Truppen aus China abziehen, und die Vereinigten Staaten stellen China ihre Verteidigungstechnologie zur Verfügung. Im Detail bleibt der Friedensvertrag vage, was den Interessen der Vereinigten Staaten jedoch sehr entgegenkommt. Neue Nationen entstehen. Viele Grenzen und Einflussgebiete bleiben unklar. Die Sieger sind keine wirklichen Sieger, und die Verlierer keine wirklichen Verlierer. Die Vereinigten Staaten haben den ersten Schritt in Richtung einer zivilisierten Nation getan. Gleichzeitig sichern sie sich die absolute Kontrolle über den Weltraum, ihre Wirtschaft boomt dank der Rüstungsausgaben, und ein neues System revolutioniert die Energieversorgung. Der Zweite Weltkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts kostete rund 50 Millionen Menschen das Leben. Der Erste Weltraumkrieg, der ein Jahrhundert später stattfindet, fordert vermutlich eine halbe Million Todesopfer, vor allem während der türkisch-deutschen Bodenoffensive und in China. Die Vereinigten Staaten haben wenige Tausend Opfer zu beklagen, viele davon im Weltall, andere während der ersten Angriffe auf ihr Territorium, weitere im Kampf an der Seite Polens. Es ist ein Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes, doch dank der technologischen Fortschritte hinsichtlich der Präzision und Geschwindigkeit ist es kein totaler Krieg, in dem sich ganze Gesellschaften gegenseitig vernichten.
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Trotzdem hat dieser Krieg eines mit dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam. Am Ende haben die Vereinigten Staaten am wenigsten verloren und am meisten gewonnen. So wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg mit einem immensen technologischen Sprung, einer wiederbelebten Wirtschaft und einer neuen Weltmachtstellung hervorgingen, stehen sie erneut vor einem Goldenen Zeitalter. Und sie werden reifer im Umgang mit ihrer Macht.
Kapitel 12
Ein goldenes Nachkriegsjahrzehnt
Der Kriegsausgang bestätigt die Vereinigten Staaten als unangefochtene Supermacht und den nordamerikanischen Kontinent als den Dreh- und Angelpunkt des internationalen Beziehungsgefüges. Die Vereinigten Staaten festigen ihre Vorherrschaft im Weltall und damit ihre Kontrolle der internationalen Schifffahrtsrouten. Wichtigstes Ergebnis des Kriegs ist ein Vertrag, der den Vereinigten Staaten das alleinige Recht zur militärischen Nutzung des Weltalls zusichert. Andere Nationen dürfen den Weltraum ausschließlich zu nicht militärischen Zwecken nutzen und unterliegen der Inspektion der Vereinigten Staaten. Es handelt sich letztlich nur um eine Anerkennung der militärischen Wirklichkeit. Die Vereinigten Staaten haben Japan und die Türkei im Weltraum besiegt und werden sich diese Vormachtstellung nicht nehmen lassen. Der Vertrag begrenzt außerdem die Zahl der japanischen und türkischen Hyperschallbomber; es ist jedoch klar, dass sich diese Klausel kaum durchsetzen lässt und lediglich eine Formel darstellt, mir der die Sieger die Besiegten erniedrigen. Der Friedensvertrag dient den Interessen der Vereinigten Staaten und wird so lange Gültigkeit haben, wie diese ihn durchsetzen können. Der eigentliche Sieger des Kriegs heißt Polen. Obwohl das Land von allen Kriegsteilnehmern die größten Verluste erlitten hat, dehnt es seinen Machtbereich erheblich aus. China und Korea befreien sich aus der Umklammerung durch Japan, das zwar sein Reich verloren, aber sein Territorium behalten und nur wenige Tausend Opfer zu beklagen hat. Japan leidet nach wie vor unter seinen Bevölkerungsproblemen, doch das ist der Preis der Niederlage. Die Türkei bleibt die
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führende Macht der islamischen Welt und steht einem Reich vor, das durch die Niederlage unruhig geworden ist. Doch trotz des Sieges ist man in Polen verbittert. Da die Verbündeten anderweitig beschäftigt waren, konnten die Türkei und Deutschland nach Polen vordringen. Die Zahl der zivilen Kriegsopfer geht in die Zehntausende, die Infrastruktur und die Wirtschaft des Lands liegen am Boden. Polen ist zwar in der Lage, seinen Wiederaufbau mit Hilfe der eroberten Gebiete voranzutreiben, doch der Sieg ist schmerzhaft. Deutschland, das traditionelle Feind der Polen im Westen, ist geschwächt und eine zweitrangige Nation mit eher düsteren Aussichten, während die Türken, die für den Moment zurückgeschlagen wurden, wenige hundert Kilometer entfernt im südlichen Balkan und in Südrussland sitzen. Polen verfügt über den Hafen von Rijeka und unterhält Stützpunkte in Westgriechenland, um türkische Aggressionen an der Einfahrt in die Adria zu verhindern. Doch die Türkei ist nach wie vor präsent, und die Europäer haben ein Elefantengedächtnis. Am meisten schmerzt es die Polen vermutlich, dass die Vereinigten Staaten keine Ausnahme machen und auch ihnen die militärische Nutzung des Weltalls verwehren. Gleichwohl hat das Land das Reich zurückerlangt, das es im 17. Jahrhundert besaß, und noch weit mehr. Polen schafft einen föderativen Staatenbund für seine früheren Verbündeten und gliedert Weißrussland direkt in sein Territorium ein. Der Krieg hat das Land wirtschaftlich geschwächt und weitgehend zerstört, doch es hat Zeit und Raum, um sich zu erholen. Der Sieg Polens über Deutschland und Frankreich hat das europäische Machtzentrum entschieden nach Osten verlagert. Der Niedergang der europäischen Atlantikstaaten, der 1945 begann, kommt in gewisser Hinsicht in den 2050er Jahren zum Abschluss. Die Vereinigten Staaten stehen der europäischen Vorherrschaft eines starken, selbstbewussten Polen langfristig skeptisch gegenüber. Daher ermutigen sie Großbritannien, ihren engsten Verbündeten, der entscheidend zum Sieg beigetragen hat, seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf dem Kontinent zu erweitern. Angesichts des demografischen und wirtschaftlichen Niedergangs Westeuropas und der verbreiteten Furcht vor einem polnischen Machtzuwachs organisiert Großbritan-
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nien einen Block, der merkwürdige Ähnlichkeiten mit der NATO des 20. Jahrhunderts hat und es sich zur Aufgabe setzt, Westeuropa erneut zu stärken und eine Westausdehnung Polens nach Deutschland, Österreich oder Italien zu verhindern. Die Vereinigten Staaten selbst beteiligen sich nicht, doch sie unterstützen dieses Bündnis. Interessanterweise bemühen sich die Vereinigten Staaten um eine Verbesserung ihrer Beziehung zur Türkei. Sie halten sich an das alte britische Sprichwort, nach dem Staaten keine dauerhaften Freunde oder Feinde haben, sondern nur dauerhafte Interessen. Das amerikanische Interesse besteht darin, schwächere Mächte in der Auseinandersetzung mit stärkeren zu unterstützen, um ein Machtgleichgewicht zu erhalten. Die Türkei, die das langfristige Gefahrenpotenzial Polens erkennt, lässt sich gern auf engere Beziehungen zu Washington ein, weil sie sich davon eine langfristige Existenzgarantie verspricht. Eines der Gesetze der Geopolitik lautet: Es gibt keine dauerhaften Lösungen für geostrategische Probleme. Doch in den 2060er Jahren hat es ähnlich wie in den 1920ern und den 1990ern den Anschein, als wäre keine unmittelbare Bedrohung und kein Herausforderer für die Vereinigten Staaten in Sicht. Zwar wissen sie inzwischen, dass dieses Gefühl der Sicherheit illusorisch ist, doch sie genießen es trotzdem. Der Krieg stellt keine Gefahr für das amerikanische Wirtschaftswachstum dar, das in den 2040er Jahren begonnen hat. Im Gegenteil, es setzt sich unvermindert fort. Über die Jahrhunderte haben die Vereinigten Staaten immer wieder von großen Kriegen profitiert. Sie bleiben unversehrt, und die zusätzlichen staatlichen Investitionen fördern das Wirtschaftswachstum. Da die Vereinigten Staaten ihre Kriege unter großem Technologieeinsatz führen, bewirkt jeder Krieg oder jede ernsthafte Bedrohung staatliche Investitionen in Forschung und Entwicklung. Nach dem Krieg stehen dann die jeweils neuen Technologien für die kommerzielle Nutzung zur Verfügung. Daher beginnt nach dem Krieg eine Phase des Aufschwungs, die etwa bis zum Jahr 2070 anhält und von zahlreichen gesellschaftlichen Umwälzungen begleitet wird. Der Krieg fällt etwa in die Mitte eines Fünfzig-Jahres-Zyklus der amerikanischen Wirtschaft und damit in eine Zeit größter innerer
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Stabilität. Die Bevölkerungsprobleme, die ohnehin nie so gravierend sind wie im Rest der Welt, sind dank einer geschickten Einwanderungspolitik und dem Ende der geburtenstarken Jahrgänge unter Kontrolle. Es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Kapitalangebot und Konsumnachfrage, und beide nehmen zu. Die Vereinigten Staaten treten in eine Phase dramatischer wirtschaftlicher und damit gesellschaftlicher Veränderungen ein. Wenn wie in den 1940er Jahren ein Krieg in die erste Hälfte eines Fünfzig-Jahres-Zyklus fällt, beschleunigt sich der Zyklus unter dem Einfluss der Nachkriegseffekte. Das heißt, in der zweite Hälfte der 2050er beginnen wirtschaftlich und technologisch goldene Zeiten, die etwa fünfzehn Jahre anhalten. In den 2030er Jahren, nach dem Zusammenbruch Russlands, haben die Vereinigten Staaten ihre Verteidigungsausgaben gesenkt, nur um sie mit Beginn der neuen Auseinandersetzungen in den 2040er Jahren wieder drastisch anzuheben. Während des Kriegs leisten die Vereinigten Staaten Außerordentliches auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung und bringen ihre Entdeckungen umgehend zum Einsatz. Was in Friedenszeiten Jahre gedauert hätte, nimmt unter der Dringlichkeit des Kriegs nur wenige Monate und sogar nur Wochen in Anspruch. Die Vereinigten Staaten sind geradezu besessen vom Weltall. Mit dem Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 setzte sich in der Bevölkerung und vor allem im Militär die Überzeugung fest, es könne jeden Moment ein vernichtender Angriff erfolgen, vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Diese Wahrnehmung sollte die atomare Strategie des Lands für die nächsten fünfzig Jahre motivieren. Diese konstante Angst vor einem Überraschungsschlag bestimmte die gesamte militärische Planung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion legte sich diese Furcht, doch mit dem Angriff des Jahrs 2050 lebt der Schrecken von Pearl Harbor wieder auf. Erneut wird die Furcht vor einem Überraschungsangriff zu einer nationalen Obsession, nur dass sie sich diesmal auf das Weltall richtet. Die Bedrohung ist durchaus real. Die Kontrolle des Weltalls bedeutet strategisch dasselbe wie die Kontrolle der Schifffahrtswege. Pearl Harbor hätte die Vereinigten Staaten beinahe die Kontrolle über die
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Weltmeere gekostet, und der Krieg der 2050er kostet sie fast die Kontrolle über das Weltall. Die daraus resultierende Angst vor dem Unerwarteten führt zur Investition von gewaltigen staatlichen und privaten Mitteln in die Raumfahrt. Daher errichten die Vereinigten Staaten eine eindrucksvolle Infrastruktur im All, die von Erdsatelliten über bemannte Raumstationen in geostationären Umlaufbahnen bis zu Mondbasen und Mondsatelliten reicht. Viele dieser Systeme werden von Robotern gesteuert oder sind selbst Roboter. Die unterschiedlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Robotertechnologie aus den vorhergehenden Jahrzehnten kommen nun im Weltall zusammen. Außerdem stationieren die Vereinigten Staaten nun dauerhaft militärische Einheiten im All. Ihre Aufgabe besteht vor allem in der Systemüberwachung, da Roboter, so gut sie sein mögen, alles andere als perfekt sind, und dies in den 2050er und 2060er Jahren als nationale Überlebensfrage wahrgenommen wird. Die Weltraumstreitkräfte werden zum größten Posten des Verteidigungshaushalts und zur stärksten Teilstreitkraft. Eine Vielzahl günstiger Raumfähren, vielfach kommerzielle Modelle, pendeln zwischen der Erde und den Raumstationen hin und her. Mit ihren Weltraumaktivitäten verfolgen die Vereinigten Staaten drei Ziele. Erstens wollen sie ihre Weltraumverteidigung so robust, redundant und tief aufstellen, dass keine Macht je wieder die Möglichkeit erhält, sie auszuschalten. Zweitens wollen sie in der Lage sein, jeden Versuch einer anderen Nation, gegen die eigenen Bestrebungen im All Fuß zu fassen, unterbinden zu können. Schließlich wollen sie ein massives weltraumgestütztes Arsenal von Raketen und neuen Hochenergiestrahlern errichten, um die Ereignisse auf der Erde kontrollieren zu können. Die Vereinigten Staaten sind sich im Klaren, dass sie nicht jede Bedrohung (etwa die durch Terroristen oder durch neue Bündnisse) von ihrer Warte im Weltall ausschalten können, doch sie wollen sicher sein, dass keine Nation in die Lage kommt, ihre Position zu gefährden. Die Kosten für diese militärische Infrastruktur sind gewaltig. Innenpolitisch stößt das auf geringen Widerstand, obwohl diese Kosten
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ein riesiges Haushaltsdefizit verursachen. Aber zugleich kurbeln sie die Wirtschaft an. Wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg schaltet auch jetzt die Furcht jegliche Vorsicht aus.
Die Energierevolution Die amerikanische Weltraumbesessenheit überschneidet sich mit einem weiteren, immer dringlicheren Problem: der Energieversorgung. Während des Kriegs investieren die Vereinigten Staaten große Summen, um das Problem der Energieversorgung der Truppen vom Weltall aus zu lösen. Das System ist unwirtschaftlich, ineffizient und primitiv, doch es erreicht seinen Zweck: Es liefert den alliierten Truppen in Polen die Energie, die sie im Kampf gegen die türkischen und deutschen Invasoren benötigen. Für das Militär bietet die weltraumgestützte Energieerzeugung die Lösung für ein schwerwiegendes logistisches Problem im Kriegsgebiet. Es würde außerdem das Problem der Versorgung der neuen Energiekanonen lösen. Daher ist das Militär bereit, die Entwicklung von weltraumgestützten Kraftwerken voranzutreiben, und der Kongress ist bereit, diese zu finanzieren. Es handelt sich um eine der wichtigsten Lektionen des Kriegs, was das Projekt umso dringlicher erscheinen lässt. Zwei ähnliche Episoden der amerikanischen Geschichte erklären diese Entscheidung. Im Jahr 1956 begannen die Vereinigten Staaten mit dem Bau ihres landesweiten Autobahnnetzes. Dwight D. Eisenhower befürwortete das Projekt aus militärischen Gründen. Als Unteroffizier hatte er versucht, einen Konvoi durch die Vereinigten Staaten zu führen, und dazu Monate gebraucht. Im Zweiten Weltkrieg beobachtete er, wie die Deutschen während der Ardennenoffensive auf der Autobahn ganze Divisionen in kurzer Zeit von der Ost- an die Westfront verlegten. Der Unterschied beeindruckte ihn. Da durch den Bau eines landesweiten Autobahnnetzes generell Transportkosten und -zeiten verringert werden konnten, wurde auch das Umland der Städte mit einem Mal attraktiv. Die Städte erlebten eine rapide Dezentralisierung, die Menschen zogen in die Vorstädte
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und die Industrie siedelte sich außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes an. Das Autobahnnetz veränderte die Vereinigten Staaten, doch ohne die militärische Begründung wäre es vermutlich nie gebaut worden. Ein zweites Beispiel stammt aus den 1970er Jahren, als das Militär gewaltige Summen in die Forschung investierte. Die Armee benötigte eine Möglichkeit, Informationen schneller zwischen den Labors auszutauschen, als dies per Post oder Kurier möglich gewesen wäre. Eine Behörde mit dem Namen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) finanzierte ein Projekt zur Einrichtung eines Computernetzwerks, über das sich Daten über große Entfernungen hinweg austauschen ließen. Das Projekt nannte sich ARPANET. Es wurde unter großen Kosten für einen hochspezialisierten Zweck entwickelt. Aus dem ARPANET wurde schließlich das Internet, dessen Architektur und Pro-
tokolle bis in die 1990er Jahre vom Verteidigungsministerium und seinen Vertragspartnern entwickelt und verwaltet wurden. Wie die Autobahn hätte natürlich auch die Datenautobahn in einem privatwirtschaftlichen Rahmen entstehen können. Doch das war nicht der Fall. Das Militär übernahm die Kosten für die Entwicklung eines Projekts, mit dem es eines seiner logistischen Probleme lösen wollte. Die Energieautobahn entspringt einem ähnlichen Bedürfnis. Weil sie für das Militär entwickelt wird, ist sie gegenüber anderen Formen der Energieversorgung konkurrenzfähiger. Da das Militär die Entwicklungskosten und die Errichtung des Systems übernimmt, kostet die kommerziellen Nutzung dieser Energie erheblich weniger, als dies ansonsten der Fall wäre. Auf dem zivilen Sektor ist billige Energie jedoch entscheidend, zumal Roboter in der Wirtschaft eine immer größere Rolle spielen. Auch kommerzielle Raumfahrtprogramme profitieren davon, dass sie buchstäblich auf militärische Projekte aufsatteln können. Fortschrittliche kommerzielle Raumfähren senken zwar die Transportkosten, doch sie erreichen nie die Kapazitäten, die für ein Großprojekt wie die Errichtung eines weltraumgestützten Sonnenkraftwerks erforderlich sind. Das großangelegte Militärprogramm der 2050er und 2060er Jahre löst das Problem auf zweierlei Weise. Erstens senkt es
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die Transportstückkosten, da die Vereinigten Staaten große Mengen Material ins All transportieren und daher den Preis pro Start drücken müssen. Neue Technologien sowie die schiere Menge des zu transportierenden Materials sorgen für einen dramatischen Rückgang der Kosten sogar unter die der kommerziellen Fähren. Zweitens verfügt das System über große überschüssige Kapazitäten. Eine Lektion aus dem Krieg ist, dass den Vereinigten Staaten nach dem ursprünglichen Angriff keine zusätzlichen Kapazitäten zur Verfügung standen und sie Schwierigkeiten hatten, auf den ersten Angriff zu reagieren. Dies soll nicht wieder passieren. Daher hat die Nation einen erheblichen Überschuss an Transportkapazitäten bei einem gewaltigen Haushaltsdefizit; die private Nutzung dieser Kapazitäten trägt wesentlich zur Kostensenkung bei. Sowohl der Bau der landesweiten Autobahnen als auch die Einrichtung des Internet hatten einen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge. Der Straßenbau beschäftigte Heere von Bauarbeitern und Ingenieuren, doch der eigentliche Boom wurde von den ungeplanten wirtschaftlichen Folgen ausgelöst. McDonald‘s war ebenso ein Produkt der Autobahn wie die Einkaufszentren der Vorstädte. Das Internet förderte den Verkauf von Servern und Rechnern, doch der Boom und die wirtschaftlichen Umwälzungen begannen erst mit Amazon, Ebay und iTunes. Die NASA betreibt seit den 1970er Jahren Forschung auf dem Gebiet der weltraumgestützten Energieerzeugung in Form von Sonnenenergie. Im Krieg der 2050er Jahre bringen die Vereinigten Staaten das Prinzip zum ersten Mal zum Einsatz. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt gehört das System bereits zum Alltag. Riesige fotovoltaische Anlagen, die Sonnenlicht in elektrischen Strom umwandeln, werden in geostationären Umlaufbahnen und auf dem Mond installiert. Die Elektrizität wird in Mikrowellen umgewandelt, zur Erde gesandt, dort in elektrischen Strom zurückverwandelt und in das Stromnetz eingespeist. Die Fläche der erforderlichen Sonnensegel lässt sich mit Hilfe von Brennlinsen reduzieren, was wiederum die Transport- und Installationskosten verringert. Die Empfänger müssen zwar in abgeschirmten Regionen auf der Erde aufgestellt werden, da die Mikrowellenstrah-
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lung von hoher Intensität ist, doch verglichen mit Atomreaktoren und Kohlekraftwerken ist die Umweltbelastung gering. Auf der Erde würden die Sonnenkollektoren unvertretbar große Flächen von der Größe ganzer Staaten einnehmen, doch im grenzenlosen Weltall verschwinden sie. Außerdem gibt es hier keine atmosphärischen Störungen, und die Sonnenkollektoren lassen sich so ausrichten, dass sie ununterbrochen bestrahlt werden. Diese Entwicklung senkt die Energiekosten, weshalb mehr energieintensive Aktivitäten möglich werden. Es ergeben sich erstaunliche unternehmerische Möglichkeiten. Das APRANET lässt sich nicht vom iPod trennen, die zweite Welle der Innovationen verändert die Wirtschaft mindestens ebenso sehr wie die erste, weshalb die Folgen aus den technischen Neuerungen in den 2060er Jahren genauso viel Wohlstand bringen werden wie die Autobahn in den 1960er und das Internet in den 2000er Jahren. Damit bauen die Vereinigten Staaten ihre geostrategische Machtposition weiter aus: Sie werden zum größten Energieproduzenten der Welt, ihre Produktionsstätten sind vor jedem Angriff geschützt. Japan, China und die meisten anderen Nationen der Welt müssen dagegen Energie importieren. Mit den Veränderungen der Energiewirtschaft werden andere Energiequellen wie fossile Brennstoffe immer unattraktiver. Andere Nationen sind nicht in der Lage, ihre eigenen Weltraumkraftwerke zu errichten, zum einen, weil ihr Militär hierfür die Entwicklungskosten nicht übernimmt, zum anderen, weil kein anderes Land sich mit den Vereinigten Staaten anlegen will. Angesichts des Machtungleichgewichts ist ein Angriff auf amerikanische Anlagen undenkbar. Die Fähigkeit, günstige Sonnenenergie zu liefern, wird somit zu einem weiteren Instrument, mit dem die Vereinigten Staaten ihre internationale Vormachtstellung zementieren. Die Welt erlebt einen geopolitischen Paradigmenwechsel. Seit Beginn der Industriellen Revolution hat die Industrie Energie nachgefragt, die nach dem Zufallsprinzip über die Welt verteilt war. Der Arabischen Halbinsel, einer an sich bedeutungslosen Region, kam wegen ihrer Ölfelder eine Schlüsselrolle zu. Mit der Einführung der weltraumgestützten Kraftwerke wird die Industrie mit einem Mal zum
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Energieerzeuger. Die Raumfahrt ist ein Resultat der Industrialisierung, und Industrienationen erzeugen Energie, mit der sie ihre Industrie betreiben. Der Weltraum wird wichtiger, als es Saudi-Arabien je war, und die Vereinigten Staaten kontrollieren den Zugang. Eine neue Welle amerikanischer Kultur erfasst die Welt. Erinnern wir uns, dass mit dem Begriff »Kultur« nicht nur die Kunst gemeint ist, sondern auch unser Alltag und unsere Arbeitswelt. Mehr noch als Kino und Fernsehen ist der Computer die Verkörperung der amerikanischen Kultur. Der Roboter ist die logische Fortsetzung und dramatische Vollendung des Computers. In einer Welt, die trotz des anhaltenden Bevölkerungsrückgangs weiteres wirtschaftliches Wachstum benötigt, werden die Roboter zum Motor der Produktivität. Angetrieben werden sie von den Sonnenkraftwerken im Weltall, die ausreichend Energie für deren Betrieb erzeugen. Sie werden vor allem in den führenden Industrienationen und Schwellenländern übernommen, wo die Bevölkerung inzwischen schrumpft. Die Gentechnik sorgt für weiterhin steigende Lebenserwartung und bekommt eine Reihe von genetisch bedingten Erkrankungen in den Griff. Das Ergebnis ist eine zunehmende gesellschaftliche Instabilität. Soziale Umwälzungen wie die Veränderung der Frauenrolle und der Familienstruktur, die von Europa und den Vereinigten Staaten ausgingen, erreichen nun auch den Rest der Welt. In den Entwicklungsländern kommt es zu heftigen Konflikten zwischen den Vertretern von traditionellen Werten und den veränderten gesellschaftlichen Realitäten. Sämtliche Weltreligionen werden von diesen Auseinandersetzungen erfasst. Christentum, Konfuzianismus und Islam vertreten ein traditionelles Verständnis von Familie, Sexualität und dem Verhältnis der Generationen. Doch diese traditionellen Werte werden erst in Europa und den Vereinigten Staaten und schließlich auch im Rest der Welt unterliegen. Dies führt zu großen gesellschaftlichen Spannungen. Ende des 21. Jahrhunderts versuchen viele Religionen, die medizinisch und technologisch bedingten Umwälzungen aufzuhalten. Da ein Großteil der umstrittenen Technologien aus den Vereinigten Staaten stammt und deren Modell des gesellschaftlichen Chaos sich als Norm durch-
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setzt, werden sie zum Feindbild der Traditionalisten in aller Welt. Amerika wird als gefährlich, unkultiviert und zersetzend wahrgenommen, aber es wird mit Vorsicht behandelt, und es wird beneidet. Es ist eine Zeit internationaler Stabilität, regionaler Spannungen und gesellschaftlicher Unruhen. Außerhalb der Vereinigten Staaten denken vor allem zwei Nationen über eigene Raumfahrtprogramme nach. Zum einen Polen, das seine Föderation festigt und wegen des Friedensvertrags der 2050er Jahre noch immer zutiefst gekränkt ist. Das zweite Land, das Weltraumambitionen hegt, ist Mexiko, das Ende der 2060er Jahre zu den wichtigsten Wirtschaftsmächten der Welt vorgestoßen ist. Mexiko sieht sich als Rivalen der Vereinigten Staaten und betritt die Bühne der Weltpolitik. Noch hat es allerdings keine eigene nationale Strategie. Beide Länder schrecken davor zurück, die Vereinigten Staaten herauszufordern. Auch in anderen Schwellenländer expandiert die Wirtschaft, sobald sich ihre Bevölkerung auf einem stabilen Niveau einpendelt. Eines ist Brasilien, dessen Bevölkerung eine Generation weiter von der Stabilisierung entfernt ist als die mexikanische. Brasilien zieht ein regionales Wirtschaftsbündnis mit Argentinien, Chile und Uruguay in Erwägung, die sich ebenfalls rasch entwickeln. Brasilien denkt an eine friedliche Zusammenarbeit, doch wie so oft kommen bald auch aggressivere Überlegungen ins Spiel. Im Jahr 2060 unterhält auch Brasilien ein eigenes Raumfahrtprogramm, wenn auch kein sonderlich umfassendes, und vor allem keines, mit dem es geopolitische Absichten verfolgen würde. Länder wie Israel, Indien, Korea und der Iran unterhalten in begrenztem Umfang eigene Raumfahrtprogramme, doch keines verfügt über die Ressourcen oder die Absicht, den Vereinigten Staaten die Vorherrschaft im Weltraum streitig zu machen. Daher stehen den Vereinigten Staaten am Ende des Ersten Weltraumkriegs alle Möglichkeiten offen, und sie nutzen sie. Sie erleben ein goldenes Zeitalter, das etwa mit dem Jahr 2070 endet.
Kapitel 13
Der Kampf um das Zentrum der Welt
Von Beginn dieses Buchs an habe ich den nordamerikanischen Kontinent als Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems beschrieben. Bislang habe ich Nordamerika mehr oder weniger mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleichgesetzt, da diese eine unangefochtene Vormachtstellung auf dem Kontinent einnehmen. Der Ausgang des Ersten Weltraumkriegs zeigt, dass in Eurasien auf absehbare Zeit keine ebenbürtige Macht entstehen wird. Außerdem bestätigt und aktualisiert er ein entscheidendes geostrategisches Prinzip: Wer den Atlantik und den Pazifik beherrscht, kontrolliert den Welthandel, und wer den Weltraum dominiert, der beherrscht die Weltmeere. Nach dem Krieg sind die Vereinigten Staaten die unangefochtene Vormacht im Weltall und damit auf den Weltmeeren. Doch die Wirklichkeit ist wie immer etwas komplizierter. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts sehen sich die Vereinigten Staaten mit einer Schwachstelle konfrontiert, die sie zweihundert Jahre lang unter Kontrolle zu haben schienen. Ihr erstes geopolitisches Gebot, auf dem alle weiteren basieren, verlangt, dass sie die führende Macht auf dem nordamerikanischen Kontinent sein müssen. Seit dem Amerikanisch-Mexikanischen Krieg und dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo aus dem Jahr 1848, der diesen beendete, hatten sie praktisch die absolute Vorherrschaft. Dies schien seither geradezu ein Naturgesetz zu sein. Zum Ende des 21. Jahrhunderts ist dies allerdings nicht mehr der Fall. Die Frage nach dem Verhältnis von Mexiko und den Vereinigten Staaten stellt sich ein weiteres Mal, und diesmal in äußerst komplexer Art und Weise. Nach zweihundert Jahren ist Mexiko nun in einer
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Position, die territoriale Integrität der Vereinigten Staaten und damit das gesamte Machtgleichgewicht auf dem Kontinent in Frage zu stellen. Wenn Ihnen dies weit hergeholt erscheinen sollte, werfen Sie noch einmal einen Blick in das einleitende Kapitel, bedenken Sie, wie sehr sich die Welt innerhalb von nur zwanzig Jahren verändert, und erinnern Sie sich, dass wir über Ereignisse sprechen, die ein dreiviertel Jahrhundert in der Zukunft liegen. Die neue mexikanische Herausforderung hat ihre Wurzeln in der Wirtschaftskrise der 2020er Jahre, die mit den neuen Einwanderungsgesetzen der 2030er Jahre behoben wird. Diese Gesetze begegnen dem Arbeitskräftemangel in den Vereinigten Staaten mit einer aggressiven Einwanderungsförderung. Es kommt zu einem massiven Zustrom von Einwanderern aus allen Ländern der Erde, darunter natürlich auch aus Mexiko. Die neuen Einwanderergruppen verhalten sich wie alle anderen vor ihnen. Allein die Mexikaner fallen aus dem Rahmen, aber nicht etwa aufgrund ihrer Kultur oder ihres nationalen Charakters, sondern allein aus geografischen Gründen. Dies und die zunehmende Bedeutung Mexikos als Wirtschaftsmacht sorgen für eine Verschiebung des Machtgleichgewichts in Nordamerika. In der Vergangenheit verteilten sich Einwanderer in einer typischen Klumpenbildung über das Territorium der Vereinigten Staaten und lebten in nationalen Enklaven zusammen. Einzelne Nationalitäten konnten zwar einen Stadtteil dominieren und Einfluss auf dessen Umfeld ausüben, doch zumindest seit Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten sie nie eine Region oder gar einen ganzen Bundesstaat. Die zweite Generation wurde jeweils kulturell assimiliert und verteilte sich über das ganze Land. Das Leben in der nationalen Enklave war weniger attraktiv als die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die ihnen im Rest des Lands offenstanden. Minderheiten bildeten nie einen schwer verdaulichen Brocken – mit Ausnahme der Afroamerikaner, die nicht freiwillig nach Amerika gekommen waren, und der Ureinwohner, die bei Ankunft der Einwanderer bereits auf dem Kontinent gelebt hatten. Die übrigen kamen, bildeten zunächst ihre Enklaven, verteilten sich dann und fügten der Gesellschaft eine weitere kulturelle Schicht hinzu.
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Dies war immer die Stärke der Vereinigten Staaten. In Europa haben sich beispielsweise die Muslime stets ihre religiösen und nationalen Identitäten bewahrt, mit denen sie sich von der übrigen Bevölkerung unterschieden, während ihnen der Rest der Gesellschaft nie besondere Assimilationsanreize gab. In den Vereinigten Staaten wurden die Angehörige der Islam dagegen wie alle anderen Einwanderer auch im Laufe von einigen Generationen zu Amerikanern, sie akzeptierten die Werte ihrer neuen Heimat und behielten ihre Religionszugehörigkeit eher als eine Art kultureller Verbindung zur Vergangenheit bei. Dies stellte eine enge Bindung der Einwanderer mit ihrem neuen Heimatland her und verursachte einen Graben zwischen der ersten Immigrantengeneration und den nachfolgenden (und damit auch zwischen den amerikanischen Muslimen und ihren Glaubensbrüdern in aller Welt). Die mexikanischen Einwanderer, die mit Beginn der 2030er Jahre ins Land kommen, verhalten sich jedoch anders. Sie verteilen sich zwar auch wie frühere Einwanderergenerationen über das gesamte Land und werden zum Teil in die amerikanische Gesellschaft integriert. Doch anders als alle anderen Einwanderergruppen sind die Mexikaner nicht durch Ozeane von ihrer alten Heimat getrennt. Auch wenn sie die Grenze zu den Vereinigten Staaten überqueren, bleiben ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu ihrer Heimat erhalten. Dies schafft eine vollständig andere Dynamik. Die neue Heimat ist keine Diaspora, für einen großen Teil der mexikanischen Einwanderer ist es lediglich ein kleiner Schritt in ein Grenzland zwischen zwei Nationen, das große Ähnlichkeit mit dem zwischen Deutschland und Frankreich liegenden Elsass-Lothringen hat. Es ist ein Gebiet, in dem sich die Kulturen vermischen, selbst wenn es durch eine Grenze geteilt ist. Dies verdeutlicht die folgenden Karte, die auf Daten des Statistischen Bundesamts der USA beruht und aus der die Verteilung der hispanischstämmigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000 hervorgeht. Schon damals ist es entlang der Grenze vom Pazifik bis zum Golf von Mexiko zu einer offensichtlichen Ballung von mexikanischstäm-
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KANADA
USA abgetreten an die US mit dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo 1848
Prozentsatz hispanischer Einwohner 61 – 100 36 – 60 16 – 35 6 – 15 0–5
Republik Texas Eingliederung in die USA 1845
Gadsden-Kauf 1853
MEXIKO
Golf von Mexiko
Verteilung der hispanischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ( 2000)
migen Einwohnern gekommen. Die Counties entlang der Grenze sind zu einem Fünftel bis zwei Drittel mexikanisch (dieser Begriff bezieht sich in der Folge nicht auf die Staatsangehörigkeit, sondern auf die Herkunft). In Texas und Kalifornien reicht diese Konzentration sogar bis weit ins Landesinnere hinein, doch es sind vor allem die Grenzcounties, die sich in mexikanischer Hand befinden. Auf der Karte habe ich das Gebiet eingezeichnet, das ursprünglich zu Mexiko gehörte: Texas und die sogenannte Mexican Cession, das Gebiet, das Mexiko im Jahr 1848 an die Vereinigten Staaten abtreten musste. Im Jahr 2000 hat sich die mexikanische Bevölkerung just in diesen ehemals mexikanischen Staaten konzentriert. Es gibt zwar auch außerhalb dieser Region mexikanische Inseln, doch es sind auffallend wenige, und die Mexikaner dort verhalten sich eher wie die Einwanderer aus allen anderen Teilen der Welt. Im Grenzland sind die Mexikaner jedoch nicht von ihrer Heimat getrennt. In vieler Hinsicht
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ist die Grenzregion so etwas wie eine Fortsetzung Mexikos in die Vereinigten Staaten hinein. Mit der sich verändernden Bevölkerungssituation wird die Grenze zunehmend als willkürlich und illegitim wahrgenommen. Die Einwanderung findet von der ärmeren in die reichere Region statt, nicht umgekehrt. Die kulturelle Grenze Mexikos verschiebt sich nach Norden, während die politische Grenze fest bleibt. Dies ist die Situation im Jahr 2 000 gewesen. Im Jahr 2060, nach drei Jahrzehnten einer aggressiven Einwanderungspolitik, werden die Regionen, die heute zu 50 Prozent von Mexikanern bewohnt sind, nahezu vollständig in mexikanischer Hand sein, und wo heute 25 Prozent aller Einwohner Mexikaner sind, werden es 50 Prozent sein. Die Karte aus dem Jahr 2000 wird um ein bis zwei Töne dunkler werden. Das Grenzland, das weit in die Vereinigten Staaten hineinreicht, wird überwiegend von Mexikanern bewohnt. Mexiko hat die Probleme der letzten Phase seines Bevölkerungswachstums gelöst, indem es seine nicht-politischen Grenzen in die ehemals mexikanischen Gebiete hinein verschoben hat – und zwar mit Zustimmung der Vereinigten Staaten.
Die Krise des Jahrs 2080 Die Einwanderungswelle und die Folgen des Kriegs lösen einen Wirtschaftsboom aus, der etwa von 2040 bis 2060 dauert. Die Verfügbarkeit von Land und Kapital sowie eine der dynamischsten Arbeitnehmerschaften der industriellen Welt sind Wasser auf die Mühlen der Wirtschaft. Die relative Unkompliziertheit, mit der die Vereinigten Staaten Einwanderer aufnehmen, verschafft ihnen einen Vorteil gegenüber anderen Industrienationen. Doch der Aufschwung hat eine weitere Dimension, die wir uns ansehen wollen, ehe wir zu Mexiko zurückkehren: die technologische Entwicklung. Während der Krise des Jahrs 2030 suchen die Vereinigten Staaten nach Möglichkeiten, den Arbeitskräftemangel zu kompensieren, unter anderem durch die Entwicklung von Technologien, mit denen sich
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menschliche Arbeitskräfte ersetzen lassen. In den Vereinigten Staaten verlief die technologische Entwicklung überwiegend nach folgendem Muster ab: 1. Universitäten und einzelne Erfinder betreiben Grundlagenforschung und entwickeln erste Pilotprojekte. Häufig stellen diese einen konzeptionellen Durchbruch dar und werden in bescheidenem Umfang kommerziell genutzt. 2. Veranlasst durch militärische Notwendigkeiten investiert der Staat große Summen in ein Projekt, um die Entwicklung von spezifischen, militärischen Produkten zu beschleunigen. 3. Der private Sektor nutzt die Technologie kommerziell, und es entsteht eine neue Branche. Genau dies geschieht auch auf dem Gebiet der Robotertechnologie. Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Grundlagenforschung betrieben, Wissenschaftlern gelangen entscheidende theoretische Durchbrüche, und es wurden erste kommerzielle Produkte entwickelt. Trotzdem sind Roboter bislang nicht zum festen Bestandteil der Wirtschaft geworden. Doch seit Jahren investiert das Militär in die Grundlagenforschung, DARPA und andere militärische Einrichtungen finanzieren die Robotorentwicklung mit großen Summen. Der Bau eines mechanischen Lastesels zum Transport von Infanteriegerät oder die Entwicklung von unbemannten Flugzeugen und Drohnen sind nur zwei Beispiele von vielen. Ein weiteres Ziel ist die Stationierung von intelligenten Systemen im All, die nicht mehr von der Erde aus kontrolliert werden müssen. Letztlich ist die technologische eine Folge der demografischen Entwicklung. Weniger junge Menschen bedeuten weniger Soldaten, während gleichzeitig die strategischen Verpflichtungen der Vereinigten Staaten eher zu- als abnehmen. Mehr als jede andere Nation benötigen sie daher Roboter zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen. Zum Zeitpunkt der gesellschaftlichen und politischen Krise um das Jahr 2030 werden erste Roboter vom Militär erprobt und sind kommerziell nutzbar. Im Jahr 2030 kommt es noch nicht zu einem massenhaften Einsatz von Robotern, die Technik ist noch nicht in der
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Lage, die Einwanderung zu ersetzen. Sie befindet sich etwa in dem Stadium, in dem sich die Computertechnik im Jahr 1975 befand. Der massenhafte Einsatz der Robotertechnologie wird noch bis in die 2040er Jahre auf sich warten lassen, und erst um das Jahr 2060 wird man von einer Roboterrevolution sprechen können. Ironischerweise spielen ausgerechnet zugewanderte Spezialisten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Technologie, deren Zweck darin besteht, die Zuwanderung überflüssig zu machen. In dem Moment nämlich, in dem die Robotertechnologie die Gesellschaft erreicht, tritt sie in Konkurrenz zu den Einwanderern, die am unteren Ende der wirtschaftlichen Pyramide stehen und unqualifizierte Tätigkeiten verrichten. Einmal mehr wird die Lösung eines früheren Problems zum Auslöser für ein weiteres. Im Jahr 2080 ist es soweit. Die offensive Einwanderungspolitik ist fester Bestandteil der amerikanischen Kultur und Politik. Nach wie vor locken Headhunter Einwanderer mit Anreizen in die Vereinigten Staaten. Was anfangs eine Notlösung war, ist zu einer festen Einrichtung geworden. Doch um das Jahr 2060 ist dank der Einwanderung und der neuen Technologien der Arbeitskräftemangel behoben. Die letzten Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge sind längst verstorben, und die Bevölkerungsstruktur der Vereinigten Staaten erinnert wieder eher an die vertraute Pyramide. Fortschritte auf dem Gebiet der Robotertechnik machen ein ganzes Segment von Einwanderern überflüssig. Schon immer haben neue Technologien versprochen, Arbeitskräfte einzusparen. Meist war das Gegenteil der Fall, und es entstanden neue Arbeitsplätze rund um diese Technologie. Allerdings war meist eine Verschiebung von unqualifizierter hin zu qualifizierterer Arbeit zu beobachten. Dies trifft auch auf die Robotertechnik zu. Irgendjemand muss die Roboter schließlich entwickeln und warten. Doch die Robotertechnik unterscheidet sich grundlegend von allen früheren Technologien: Die Einsparung von Arbeitskräften ist kein Nebenprodukt, sondern ihr ausdrückliches Ziel. Sie wurde entwickelt genau mit der Absicht, menschliche Arbeitskräfte durch eine günstigere technische Lösung zu ersetzen. Ihr Zweck besteht erstens in der Übernahme
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der Aufgaben der nicht mehr verfügbaren Arbeitskräfte, zweitens in der Verlagerung von verfügbaren Arbeitskräften in die Robotertechnologie und drittens – und hier beginnt das Problem – in der direkten Verdrängung menschlicher Arbeitskräfte. Mit anderen Worten: Roboter sollen fehlende Arbeitskräfte ersetzen, doch sie schaffen neue Arbeitslosigkeit unter denjenigen Arbeiternehmern, die ersetzt werden und nicht ausreichend qualifiziert sind, um in die Robotertechnologie zu wechseln. Daher kehrt die Arbeitslosigkeit um das Jahr 2060 wieder zurück und steigt in den kommenden beiden Jahrzehnte erneut an. Kurzfristig kommt es zu einem Bevölkerungsüberschuss. Bestand im Jahr 2030 das Problem im Umgang mit dem Bevölkerungsmangel, geht es in den Jahrzehnten zwischen 2060 und 2080 darum, mit dem Arbeitskräfteüberschuss fertig zu werden, der sich aus der übermäßigen Einwanderung und der strukturellen Arbeitslosigkeit ergibt. Dazu kommen die Fortschritte in der Genmedizin, die die Lebenserwartung zwar vermutlich nicht dramatisch steigen lassen, jedoch dafür sorgen, dass die Menschen länger produktiv bleiben. Doch auch ein erheblicher Anstieg der Lebenserwartung ist nicht ganz ausgeschlossen. Roboter-, Gen- und andere Technologien werden im Zusammenspiel einerseits Arbeitskräfte ersetzen und andererseits die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte ansteigen lassen, weil sie die Arbeitsproduktivität des einzelnen Arbeitnehmers steigern. Da alles bringt eine Zeit zunehmender gesellschaftlicher Unruhen mit sich. Auch auf dem Energiesektor kommt es zu einer Revolution. Roboter, die sich selbstständig fortbewegen und Information verarbeiten, sind noch größere Energieschlucker als Autos. Dies ist einer der Auslöser der zuvor angesprochenen Energiekrise und leitet das Ende der fossilen Brennstoffe ein, die das europäische Zeitalter dominierten. Die Vereinigten Staaten sind gezwungen, ihre Energie aus dem All zu beziehen. Um das Jahr 2050 sind erste weltraumgestützte Solarkraftwerke im Einsatz, und die Krise des Jahrs 2080 beschleunigt diese Entwicklung. Ein deutlicher Rückgang der Energiepreise ist Voraussetzung für die breite Umsetzung der Roboterstrategie, und diese wiederum ist erfor-
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derlich, um auch in Zeiten des Bevölkerungsrückgangs die wirtschaftliche Produktivität aufrecht erhalten zu können. Wenn die Bevölkerung nicht wächst, muss die Technologie einspringen, und dazu ist billigere Energie nötig. Daher unternehmen die Vereinigten Staaten nach 2080 erhebliche Anstrengungen, in großem Umfang Energie mit Hilfe von weltraumgestützten Sonnenkraftwerken zu gewinnen. Das Projekt ist kostspielig, doch wenn die Privatwirtschaft gegen Ende des Jahrhunderts den Nutzen aus den gewaltigen staatlichen Investitionen ziehen kann, sinken die Energiepreise deutlich. Erinnern Sie sich zum Vergleich an die Evolution der Personalcomputer zwischen 1990, als kaum ein Haushalt oder Büro über E-Mail verfügte, und dem Jahr 2005, als täglich Milliarden E-Mails rund um den Erdball geschickt wurden. Als eine der wenigen Industrienation erleben die Vereinigten Staaten vorübergehend einen Bevölkerungsüberschuss. Das wirtschaftliche Gebot der vorangegangenen fünfzig Jahre – die Förderung der Einwanderung mit allen verfügbaren Mitteln – hat sich überlebt und wird nun zum Problem. Der erste Schritt zur Lösung der Krise ist daher eine Begrenzung der Einwanderung, ein traumatischer Kurswechsel, der eine ähnliche innere Krise auslöst wie die Öffnung der Einwanderungspolitik fünfzig Jahre zuvor. Nach der Verhängung des Einwanderungsstopps müssen die Vereinigten Staaten zunächst das wirtschaftliche Ungleichgewicht bewältigen, das sich durch den Bevölkerungsüberschuss ergeben hat. Entlassungen und Arbeitslosigkeit betreffen vorrangig die unqualifizierten Arbeitnehmer und hier vor allem die mexikanische Bevölkerung im Grenzland. Es kommt zu ernsthaften außenpolitischen Problemen. Wenn wir den rapiden Anstieg der Energiepreise hinzunehmen, haben wir die Auslöser für die Krise der 2080er Jahre.
Die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos Heute belegt die mexikanische Wirtschaft weltweit Rang 15. Von der wirtschaftlichen Kernschmelze des Jahrs 1994 hat sich das Land er-
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staunlich gut erholt. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von kaufkraftbereinigt knapp 13 000 US-Dollar pro Kopf und Jahr ist Mexiko heute das reichste Land Lateinamerikas und zählt zu den Schwellenländern. Außerdem ist Mexiko kein kleines Land: Mit einer Bevölkerung von 110 Millionen hat es mehr Einwohner als die meisten europäischen Nationen. Sollte seine Wirtschaft über die kommenden sechs oder sieben Jahrzehnte weiter wachsen, würde Mexiko zu einer der führenden Volkswirtschaften der Welt aufsteigen. Angesichts seiner politischen Instabilität, der zunehmenden Auswanderung und seiner langen Geschichte wirtschaftlicher Probleme fällt es möglicherweise schwer, sich Mexiko heute als eine der mächtigsten Nationen der Welt vorzustellen. Andererseits finden es die meisten Beobachter mindestens ebenso unglaublich, dass Mexiko es überhaupt unter die fünfzehn führenden Wirtschaftsnationen geschafft hat. Es gibt einige Faktoren, die dafür sprechen, dass die mexikanische Wirtschaft auch in Zukunft weiter wachsen wird. Der erste Faktor ist das Öl. Seit mehr als einem Jahrhundert ist Mexiko ein wichtiger Erdölproduzent und -exporteur. Manche Beobachter halten dies eher für ein Argument gegen Mexikos weiteren Aufstieg, denn Ölexporte hindern oder demotivieren viele Nationen, andere Industriezweige aufzubauen. Dazu sollte man allerdings wissen, dass der Energiesektor trotz der Ölpreisexplosion seit 2003 einen immer kleiner werdenden Teil der mexikanischen Volkswirtschaft ausmacht. War das Erdöl im Jahr 1980 noch für 60 Prozent aller Exporte des Lands verantwortlich, waren es im Jahr 2000 nur noch 7 Prozent. Mexiko verfügt über weitere Reserven, doch sein Wachstum hängt nicht von Ölexporten ab. Der zweite Faktor ist die Nähe zu den Vereinigten Staaten. Mit oder ohne das Freihandelsabkommen NAFTA hat Mexiko den besten Zugang zum größten und dynamischsten Markt der Welt. Obwohl die NAFTA natürlich die Exportkosten senkt und die Beziehung zwischen den Institutionen beider Staaten effizienter gestaltet, hat Mexiko schon allein durch die räumliche Nähe zu den Vereinigten Staaten einen wirtschaftlichen Vorteil, so groß die geopolitischen Nachteile dieser Lage auch sein mögen.
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Ein dritter Faktor sind die erheblichen Mengen an Bargeld, die legal und illegal in den Vereinigten Staaten lebende Einwanderer an ihre Familien in Mexiko schicken. Diese Überweisungen sind massiv gestiegen und sind inzwischen die zweitwichtigste Quelle von Einnahmen aus dem Ausland. In den meisten Ländern stellen ausländische Investitionen das wichtigste Mittel zur Entwicklung der Wirtschaft dar. In Mexiko entspricht die Höhe der Überweisungen der Höhe der ausländischen Investitionen. Das hat zwei Folgen. Werden die Überweisungen auf der Bank angelegt, stellen sie eine zusätzliche Quelle für Investitionskapital dar. Außerdem sind sie eine Art soziales Sicherungssystem für die Unterschicht, aus der die meisten Empfänger der Überweisungen stammen. Der Geldfluss aus dem Ausland hat in Mexiko ein Wachstum der technologiegestützten Industrien und Dienstleistungen ermöglicht. Dienstleistungen machen heute 70 Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts aus, die Landwirtschaft dagegen nur 4 Prozent. Der Rest stammt aus der Fertigungsindustrie, der Ölindustrie und dem Bergbau. Der Tourismussektor ist für einen relativ großen Anteil der Dienstleistungen verantwortlich, doch insgesamt ist die Mischung typisch für ein Schwellenland. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen hat eine inte-
Industrienationen Schwellenländer Entwicklungsländer
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USA
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Pazifischer Ozean
Industrienationen Schwellenländer Entwicklungsländer
MITTELAMERIKA
Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Mexiko
ressante Messgröße namens Human Development Index (HDI) entwickelt, die anhand von Faktoren wie Lebenserwartung und Alphabetisierungsquote weltweit den Lebensstandard misst. Auf der folgenden Karte sind die führenden Industrienationen schwarz, die Schwellenländer grau und die Entwicklungsländer hellgrau eingefärbt. Wie auf der Karte auf Seite 268 zu erkennen ist, hat Mexiko hinsichtlich dieser Entwicklungsparameter inzwischen zu Europa und den Vereinigten Staaten aufgeschlossen. Das heißt nicht, dass es schon mit den führenden Industrienationen auf einer Stufe steht, doch es ist auch bei Weitem kein Entwicklungsland mehr. Wenn wir uns den HDI jedoch genauer ansehen, stoßen wir auf eine interessante Erkenntnis. Mexiko als ganzes befindet sich mit einem Index von 0,7 in derselben Gruppe wie Europa und die Vereinigten Staaten. Doch innerhalb Mexikos ergeben sich drastische Unterschiede. Während die dunkel gefärbten Bundesstaaten durchaus mit einigen europäischen Nationen mithalten können, befinden sich die heller gefärbten auf einer Stufe mit den armen Staaten Nordafrikas.
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In einem Land, das einen schnellen Entwicklungsprozess durchläuft, ist eine derart extreme Ungleichheit durchaus nichts Ungewöhnliches. Sie erinnert an Beschreibungen aus den Romanen von Charles Dickens oder Victor Hugo. Diese Autoren beschrieben die typische Entwicklung im Europa des 19. Jahrhunderts: rasches Wirtschaftswachstum inmitten einer sich verschärfenden Ungleichheit. Im modernen Mexiko lässt sich dieser Gegensatz innerhalb von Großstädten wie Mexiko-Stadt oder Guadalajara finden. Er zeigt sich jedoch auch in extremen Unterschieden zwischen den Regionen. Ungleichheit ist nicht gleichbedeutend mit Unterentwicklung, sie ist vielmehr ein typisches Nebenprodukt der Entwicklung. Interessanterweise haben die Staaten entlang der Grenze zu den Vereinigten Staaten, die Touristenregionen auf der Halbinsel Yucatan sowie Mexiko-Stadt den höchsten Entwicklungsstand. Je weiter man sich von der Grenze zu den Vereinigten Staaten entfernt, desto niedriger fällt der HDI aus. Daraus lässt sich auch eine ernsthafte Gefahr für Mexiko ablesen: durch die Ungleichverteilung motivierte Unruhen im Süden. Diese Ungleichheit wird im Laufe der weiteren Entwicklung des Lands eher zu- als abnehmen. Es gibt jedoch noch einen weiteren wichtigen Faktor, der das mexikanische Wirtschaftswachstum beflügelt: das organisierte Verbrechen und der Drogenhandel. Im Allgemeinen gibt es zwei Arten von Verbrechen. Die erste ist eine einfache Form der Umverteilung und des Konsums: Jemand stiehlt Ihren Fernseher und verkauft ihn. Die zweite schafft große Mengen an Kapital. Die amerikanische Mafia, die in den 1920er Jahren den illegalen Alkoholhandel kontrollierte, investierte ihre Einnahmen in legalen Unternehmen, sodass das Geld Eingang in den allgemeinen Kapitalfluss fand und seine Herkunft keine Rolle mehr spielte. In Fällen wie diesen stimulierte das Verbrechen die Wirtschaft. Handelt es sich um grenzüberschreitenden Transfer zwischen zwei Nationen, dann bedeutet dies einen wirklichen Anschub für die Wirtschaft. Das Geheimnis besteht darin, dass die Illegalität den Preis des Produkts künstlich in die Höhe treibt. Dies motiviert die Gründung von Kartellen, die Konkurrenz verhindern, die Preise hoch halten und den Geldtransfer erleichtern sollen.
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Im Fall des modernen Drogenhandels sorgt der Verkauf von Rauschmitteln zu künstlich überteuerten Preisen an Konsumenten in den Vereinigten Staaten für eine Anhäufung riesiger Mengen an Kapital in Mexiko. Die Summen sind derartig gewaltig, dass sie investiert werden müssen. Komplexe Geldwäscheoperationen sollen dafür sorgen, diese Gelder in legalen Geschäften unterzubringen. Die nächste Generation erbt mehr oder minder legale Vermögen. Die Angehörigen der dritten Generation sind wirtschaftliche Aristokraten. Das ist natürlich eine fahrlässige Vereinfachung. Sie übersieht, dass in Mexiko beheimatete Dealer ihr Geld oft nicht zuhause investieren, sondern in den Vereinigten Staaten oder anderswo. Doch wenn die mexikanische Wirtschaft zunehmend produktiv wird und wenn sich die Regierung so weit korrumpieren lässt, dass sie Geldwäschegeschäfte duldet, dann ist eine Investition der Gewinne aus dem Drogenhandel durchaus sinnvoll. Hören Sie genau hin: Das laute Rauschen, das Sie da hören, ist das Geräusch des Investitionskapitals, das die Vereinigten Staaten verlässt und über die Drogenkartelle nach Mexiko strömt. Dieser Prozess hat ein kleines Problem: Er wirkt politisch destabilisierend. Da sich die staatlichen Stellen zu Komplizen machen und die Gerichte und die Polizei nicht effektiv arbeiten, schafft diese Situation Instabilität, die von der Straße bis hinauf in die höchsten Regierungskreise reicht. Wenn so viel Geld im Spiel ist, kann eine Gesellschaft daran zerbrechen. Doch wenn sie ausreichend groß und komplex ist und wenn die fraglichen Summen nur einen Bruchteil des verfügbaren Kapitals ausmachen, wird sie sich schließlich stabilisieren. In den Vereinigten Staaten, wo das organisierte Verbrechen in den 1920er Jahren und danach eine entscheidende Rolle spielte und ganze Regionen destabilisierte, konnten die Gewinne aus kriminellen Aktivitäten schließlich in legalen Unternehmen kanalisiert werden. Ich gehe davon aus, dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Mexiko passieren wird und dass der Drogenhandel schließlich zum Wachstum der mexikanischen Wirtschaft beitragen wird. Was nicht heißen soll, dass Mexiko nicht eine schmerzhafte Periode der Instabilität durchleben wird. In den kommenden Jahren muss
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der Staat beweisen, dass er die Kartelle unter Kontrolle bekommen kann, und Mexiko wird eine schwere innere Krise durchmachen. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts wird Mexiko diese Krise jedoch überwinden und seinen Vorteil aus dem massiven Geldstrom aus den Vereinigten Staaten ziehen können. Ein letzter Faktor ist schließlich die demografische Entwicklung. Die mexikanische Bevölkerung wird weiter wachsen, und das zu einer Zeit, in der die Wirtschaft Arbeitskräfte benötigt, um weiter zu expandieren. Zur Jahrhundertmitte flacht das Bevölkerungswachstum ab, was eine Phase der gesellschaftlichen Stabilisierung und des abnehmenden demografischen Drucks einleitet. Diese Entwicklung ermöglicht auch eine Zunahme der Auswanderung in die Vereinigten Staaten während der 2030er Jahre, die wiederum eine Zunahme der Überweisungen und damit der Kapitalbildung zur Folge hat und das Problem der Überbevölkerung innerhalb Mexikos abmildert. Die Auswanderung ist zwar nicht entscheidend für die Entwicklung des Lands, doch sie stellt eine gewisse Unterstützung dar. Mexiko, das in vieler Hinsicht einen ähnlichen Lebensstandard erreicht wie Europa, durchläuft also eine unvermeidliche Periode der Turbulenzen und des Wachstums auf dem Weg zu Ordnung und Stabilität. Um die Mitte des 21. Jahrhunderts, wenn sich die Vereinigten Staaten im Krieg befinden, hat sich Mexiko zu einer reifen, ausgeglichenen Volkswirtschaft mit einer stabilen Bevölkerung gemausert, es befindet sich unter den führenden sechs oder sieben Wirtschaftsnationen der Welt und schließt außerdem zu den wichtigsten Militärmächten auf. Mexiko ist die führende Wirtschaftsnation in Lateinamerika, es unterhält möglicherweise enge Beziehungen zu Brasilien und stellt eine zunehmende Herausforderung für die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten auf dem nordamerikanischen Kontinent dar.
Die mexikanische Geostrategie In den 1830er und 1840er Jahren, nach der texanischen Rebellion und dem Amerikanisch-Mexikanischen Krieg, verlor Mexiko seinen Nor-
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den. Das gesamte Staatsgebiet nördlich des Rio Grande und der Wüste von Sonora wurde von den Vereinigten Staaten annektiert. Diese nahmen keine ethnischen Säuberungen vor, die mexikanische Bevölkerung blieb und vermischte sich schließlich mit den ankommenden nicht mexikanischen Siedlern. Die Grenze zwischen beiden Staaten ist traditionell durchlässig. Wie zuvor beschrieben entstand ein klassisches Grenzland mit festen politischen, aber unklaren und komplexen kulturellen Grenzen. Mexiko war nie in der Position, die eroberten Gebiete zurückzufordern. Es fand sich damit ab, dass es keine anderer Wahl hatte, als den Verlust seines Nordens zu akzeptieren. Selbst während des Amerikanischen Bürgerkriegs, als der Südwesten der Vereinigten Staaten weitgehend ungeschützt war, unternahm es keinen Versuch, das verlorene Territorium zurückzuerobern: Unter Kaiser Maximilian war das Land schwach und zerrissen und hatte weder den Willen noch die Möglichkeiten zu handeln. Als Deutschland während des Ersten Weltkriegs versuchte, Mexiko zum Kriegseintritt gegen die Vereinigten Staaten zu bewegen, und ihm im Gegenzug Nordmexiko anbot, lehnten die Mexikaner ab. Auch der Versuch Kubas und der Sowjetunion, in Mexiko eine kommunistische Bewegung zu gründen und die Südgrenze der Vereinigten Staaten zu gefährden, scheiterte kläglich. Mexiko war nie in der Lage, etwas gegen seinen Nachbarn im Norden zu unternehmen, und es ließ sich auch nicht von ausländischen Mächten dazu manipulieren. Es hatte schlicht nicht die militärischen Mittel dazu. Der Grund war nicht etwa das Fehlen anti-amerikanischer Ressentiments. Die waren im Gegenteil tief verwurzelt, wie man angesichts dieser Geschichte der mexikanisch-amerikanischen Beziehungen vermuten kann. Doch Ressentiments zu hegen, bedeutet noch nicht, auch nach ihnen handeln zu können. Vielmehr waren die Mexikaner mit komplexen innenpolitischen Auseinandersetzungen beschäftigt. Außerdem wussten sie nur zu gut, wie sinnlos es gewesen wäre, die Vereinigten Staaten herauszufordern. Nach 1848 hatte Mexiko eine ganz einfache geopolitische Strategie: Erstens musste es seine nationale Einheit gegenüber regionalen Be-
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wegungen und Aufständen bewahren. Zweitens musste es sich vor ausländischen Interventionen vor allem seitens der Vereinigten Staaten schützen. Drittens musste es die Regionen zurückfordern, die in den 1840er Jahren von den Vereinigten Staaten annektiert worden waren. Und viertens musste es die Vereinigten Staaten als führende Macht auf dem nordamerikanischen Kontinent verdrängen. Mexiko kam kaum je über sein erstes geopolitisches Ziel hinaus. Seit dem Amerikanisch-Mexikanischen Krieg ging es vorrangig darum, den inneren Zusammenhalt zu bewahren. Nach dieser Niederlage hatte das Land das Gleichgewicht verloren und nie wiedererlangt. Das lag zum Teil an der amerikanischen Politik, die zur Destabilisierung beitrug, vor allem aber erwies es sich als Nachteil, neben einem derart dynamischen Giganten zu leben. Das Kräftefeld der Vereinigten Staaten formte die mexikanische Wirklichkeit stets mehr als die Politik in Mexiko-Stadt. Im 21. Jahrhundert wirkt dieses Kräftefeld nicht mehr destabilisierend, sondern stabilisierend. Die Beziehung zwischen den beiden Nachbarländern hat nun einen Machtzuwachs für Mexiko zur Folge. Wenn die mexikanische Wirtschaft zur Jahrhundertmitte hin an Bedeutung gewinnt, stärkt dies unweigerlich den Nationalismus Mexikos, der sich angesichts der geopolitischen Realität nicht nur in Stolz, sondern auch in Antiamerikanismus äußert. Vor dem Hintergrund der Einwanderungsprogramme, die Mexikaner zur Übersiedlung in die Vereinigten Staaten bewegen sollen, während gleichzeitig die mexikanischen Geburtenraten sinken, wird der Nachbar beschuldigt, eine für Mexiko schädliche Politik zu verfolgen. Das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn ist traditionell gespannt. In den 2040er Jahren gewinnt Mexiko jedoch an Macht und tritt entsprechend selbstbewusster auf. Die Vereinigten Staaten sind natürlich nach wie vor die mit großem Abstand mächtigere Nation, doch der Abstand fällt nicht mehr ganz so extrem aus wie noch fünfzig Jahre zuvor. Zwischen 2040 und 2070 verschiebt sich das Gleichgewicht weiter. Mexiko ist nicht mehr das Problemkind des Kontinents, sondern befindet sich auf dem Weg zu einer ernstzunehmenden Regionalmacht. In den Vereinigten Staaten nimmt man diese Ent-
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wicklung allerdings nicht zur Kenntnis. Während des Ersten Weltraumkriegs befürchtet man in Washington zwar, Mexiko könne sich der Koalition anschließen, doch als es sich aus dem Krieg heraushält, verlieren die Vereinigten Staaten wieder das Interesse. In der Zeit der Euphorie und des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit nehmen die Vereinigten Staaten ihre gewohnt gleichgültige Haltung gegenüber den Interessen ihres Nachbarn ein. Sobald die Vereinigten Staaten erkennen, dass sich Mexiko zur Bedrohung entwickelt, reagieren sie einerseits außerordentlich alarmiert auf die dortigen Ereignisse und die Stimmung unter den Mexikanern, andererseits sind sie jedoch gelassen und sicher, eine ihnen genehme Lösung zu finden. Mit der zunehmenden Stärke Mexiko wachsen auch die latenten Spannungen zwischen beiden Ländern. In den Vereinigten Staaten sieht man die neue Dynamik der mexikanischen Wirtschaft als eine zu begrüßende stabilisierende Kraft sowohl für das Land selbst als auch für die nachbarschaftlichen Beziehungen. Letztlich sieht man Mexiko in Washington jedoch nach wie vor als Teil des amerikanischen Hinterhofs. Auch im Jahr 2080 behalten die Vereinigten Staaten weiter ihre Vormachtstellung auf dem Kontinent. Doch Vormacht ist nicht gleich Allmacht, wie die Amerikaner immer wieder lernen, und so zu tun als ob, kann viel Kraft kosten. Um das Jahr 2080 stehen die Vereinigten Staaten erneut vor einer Herausforderung, und zwar einer, die erheblich komplexer ist als die des Jahrs 2050. Die Konfrontation ist alles andere als herbeigeführt. Sie ergibt sich vielmehr organisch aus den geografischen Gegebenheiten der beiden Länder. Doch anders als in anderen regionalen Auseinandersetzungen sind die Kontrahenten diesmal die Weltmacht und ein Emporkömmling, und es geht um das Kerngebiet des internationalen Systems. Die Konfrontation speist sich aus drei Faktoren: 1. Mexiko steigt zu den zehn führenden Wirtschaftsnationen der Welt auf. Mit einer Bevölkerung von 100 Millionen Menschen wird es überall auf der Welt ernst genommen – nur nicht an der Südgrenze der Vereinigten Staaten.
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2. Die Vereinigten Staaten durchlaufen in den 2070er Jahren eine ihrer zyklischen Krisen, die in den Präsidentschaftswahlen des Jahrs 2080 ihren Höhepunkt erreicht. Neue Technologien und demografische Veränderungen verringern den Bedarf an neuen Zuwanderern. Der innenpolitische Druck wächst, Mexikaner, die lediglich im Besitz einer zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnis sind, wieder nach Mexiko abzuschieben, selbst wenn diese bereits seit fünfzig Jahren im Land leben und Kinder und Enkelkinder haben, die in den Vereinigten Staaten auf die Welt gekommen sind. Dabei handelt es sich überwiegend um unqualifizierte Arbeitskräfte. Die Vereinigten Staaten schieben schließlich sämtliche Mexikaner mit befristeter Aufenthaltserlaubnis über die Grenze ab und belasten die mexikanische Wirtschaft mit den am schwersten vermittelbaren Arbeitnehmern. 3. Trotzdem ist der demografische Wandel im Grenzland unumkehrbar. Mexikaner – ob mit amerikanischem Pass oder ohne – überwiegen in der Region weiterhin. Die in den 1840er Jahren von den Vereinigten Staaten annektierten Gebiete werden kulturell, gesellschaftlich und in vieler Hinsicht auch politisch wieder mexikanisch. Die Ausweisung von Mexikanern mit zeitlich befristeter Aufenthaltserlaubnis mag aus amerikanischer Sicht ein rein bürokratischer Akt sein, doch in den Augen der Mexikaner handelt es sich um eine Form der ethnischen Säuberung. In der Vergangenheit hätte man in Mexiko amerikanische Politikwechsel wie diese duldsam hingenommen. Diesmal liegt der Fall anders. Während sich in den Vereinigten Staaten die Einwanderungsdebatte in den 2070ern zuspitzt und im Jahr 2080 zum zentralen Wahlkampfthema wird, verhält sich Mexiko in noch nie dagewesener Weise. Die Krise in den Vereinigten Staaten fällt mit einem Reifeprozess der mexikanischen Wirtschaft und Gesellschaft zusammen, was zu völlig neuen Konflikten führt. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen (die vor allem die in den Vereinigten Staaten lebenden Mexikaner treffen) sowie eine dramatische Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung im Südwesten der Vereinigten Staa-
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ten führen zu einer Krise, die sich nicht ohne weiteres mit amerikanischer Macht und Technologie aus der Welt schaffen lässt. Die Krise beginnt als eine Angelegenheit der amerikanischen Innenpolitik. Die Vereinigten Staaten sind eine demokratische Gesellschaft, die in weiten Teilen nicht mehr von der englischsprachigen Kultur beherrscht wird. Sie haben sich in eine bikulturelle Nation verwandelt, vergleichbar mit Kanada oder Belgien. Diese zweite Kultur erfährt zwar keine formelle Anerkennung, doch sie ist real, und zwar nicht nur in kultureller, sondern auch in geografischer Hinsicht. Wenn Bikulturalismus einfach ignoriert wird, weil die Mehrheitskultur der Minderheit die formelle Anerkennung verweigert und versucht, den Status quo aufrechtzuerhalten, dann wird er schnell zum Problem. Vor allem dann, wenn die Mehrheitskultur Maßnahmen ergreift, die den Eindruck erwecken, sie zielten auf eine Zerstörung der Minderheitenkultur ab. Und wenn die Minderheitenkultur letztlich nichts anderes ist als eine Fortsetzung der Kultur des Nachbarlandes und wenn diese noch dazu in einer Region lebt, die von diesem Nachbarland beansprucht wird, dann kann die Situation explosiv werden. In den 2070er Jahren stellen die Mexikaner die Bevölkerungsmehrheit in einem dreihundert Kilometer breiten Streifen nördlich der amerikanisch-mexikanischen Grenze, der durch Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas verläuft. Diese Region unterscheidet sich grundsätzlich von anderen Einwanderungsregionen: Kulturell und zum Teil sogar wirtschaftlich handelt es sich um eine Fortsetzung Mexikos. Die Grenze hat sich effektiv nach Norden verschoben. Diese Einwanderer sind alles andere als rechtlose Tagelöhner. Dank der wirtschaftlichen Expansion Mexikos und des amerikanischen Aufschwungs der 2050er und 2060er Jahre sind sie wohlhabend. Sie sind die Mittelsmänner des amerikanisch-mexikanischen Handels, der in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eines der lukrativsten Geschäfte der Welt ist. Die Mexikaner beherrschen nicht nur die Kommunalpolitik, sondern auch die Bundesstaaten Arizona und New Mexico, und sie spielen eine entscheidende Rolle in der Politik von Kalifornien und Texas. Allein die Größe dieser beiden letztgenannten Bundesstaaten verhindert, dass die Mexikaner auch sie vollständig
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beherrschen. In den Vereinigten Staaten ist ein ethnischer Block entstanden, der an das kanadische Quebec erinnert. Wenn eine ethnisch klar definierte Gruppe, die aus einem angrenzenden Territorium stammt, eine kritische Größe erreicht, nimmt sie sich als eigenständige Einheit innerhalb einer Nation wahr. Sie ist der Auffassung, die von ihr bewohnte Region unterscheide sich vom Rest des Lands, und verlangt aufgrund dieses Sonderstatus Zugeständnisse. Das kann soweit gehen, dass sie sich noch ihrem Herkunftsland zugehörig fühlt und der Auffassung ist, sie lebe unter einer Fremdherrschaft. Auf der anderen Seite der Grenze können sich Bewegungen formieren, die den politischen Anschluss dieser Region fordern. Diese Frage spaltet die in den Vereinigten Staaten lebenden Mexikaner. Einige sehen sich in erster Linie als deren Bürger. Andere verstehen sich ebenfalls als Amerikaner, fordern jedoch die Anerkennung eines Sonderstatus. Die dritte und kleinste Gruppe verlangt die politische Eigenständigkeit des Gebietes, in dem sie die Mehrheit stellen. Mexiko selbst ist ähnlich gespalten. Auf beiden Seiten der Grenze gibt es politische Lager, die das ganze Problem für eine innere Angelegenheit der Vereinigten Staaten halten und vor allem darauf bedacht sind, die friedlichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern nicht beeinträchtigt zu sehen. Andere begreifen jedoch die Bevölkerungsprobleme der Vereinigten Staaten als Möglichkeit, das Verhältnis Mexikos zu seinem Nachbarn neu zu definieren. Einige verlangen Zugeständnisse von den Vereinigten Staaten, damit sich Mexiko aus der Frage der Einwanderungspolitik heraushält. Eine Minderheit spricht sich für eine Annexion aus. Es kommt zu zähen politischen Verhandlungen zwischen Washington und Mexiko-Stadt, die beide versuchen, die Situation auf der jeweils anderen Seite der Grenze in ihrem Sinne zu manipulieren. Im Kongress der Vereinigten Staaten sitzen zahlreiche Parlamentarier mexikanischer Herkunft. Viele von ihnen begreifen sich nicht nur als Abgeordnete, die zufällig mexikanischer Herkunft sind und einen bestimmten Staat oder Wahlkreis vertreten. Sie verstehen sich vielmehr als gewählte Vertreter der mexikanischen Minderheit in den Vereinigten Staaten. Wie der Parti Québécois in Kanada begreifen sie
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sich als Sprecher einer eigenständigen nationalen Gruppierung. Sie gründen einen Partido Mexicano und bilden im Kongress eine eigenständige Fraktion. Diese Entwicklung ist einer der Gründe für die Wende in der Einwanderungspolitik, die in den 2070ern Jahren einsetzt und die Wahlen des Jahrs 2080 beherrscht. Einerseits geht es um eine Neudefinition der Zuwanderung, andererseits sorgt allein die Diskussion für eine Radikalisierung im amerikanischen Südwesten. Dies wiederum erschreckt den Rest der amerikanischen Öffentlichkeit. Der Antihispanismus nimmt zu. Die Sorge, die Ergebnisse der texanischen Rebellion und des Amerikanisch-Mexikanischen Kriegs könnten wieder umgekehrt werden, schürt die Ressentiments gegen die im eigenen Land lebenden Mexikaner und gegen Mexiko. Schließlich sorgt die übermächtig werdende Gegenreaktion im Rest der Vereinigten Staaten dafür, dass die Grenzen geschlossen werden, wodurch sich die Lage weiter verschärft. Die angelsächsischen Amerikaner nehmen die unterschiedlichen Positionen innerhalb der mexikanischen Minderheit immer weniger wahr, die radikalsten Figuren beherrschen das Bild, das sich die Öffentlichkeit von Mexiko und der mexikanischen Volksgruppe macht. Es gibt durchaus vernünftige und wohlmeinende Versuche, einen Kompromiss zu finden, doch diese werden von einer, wenn nicht von beiden Seiten als Verrat an den grundsätzlichen Interessen abgelehnt. Die Beteiligten an geopolitischen Auseinandersetzungen sind in den seltensten Fällen rationalen Kompromissen gegenüber aufgeschlossen – das beste Beispiel ist der arabisch-israelische Konflikt. Währenddessen werden mexikanische Staatsangehörige, die zum Teil schon seit Jahrzehnten mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen in den Vereinigten Staaten leben, nach Mexiko abgeschoben. Die Vereinigten Staaten verschärfen die Grenzkontrollen – gar nicht deshalb, um die illegale Einwanderung zu verhindern, an der inzwischen kaum noch ein Mexikaner interessiert ist, sondern um einen Keil zwischen Mexiko und die hierzulande ansässigen Mexikaner zu treiben. Die Regierung verkauft dies als Sicherheitsmaßnahme, doch in Wirklichkeit geht es um die Durchsetzung der 1848 geschaffenen Realitä-
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ten. Diese und andere Maßnahmen sind für die Mehrzahl der Mexikaner zu beiden Seiten der Grenze nicht mehr als ein leidiges Ärgernis, doch sie sind Wasser auf die Mühlen der Radikalen und gefährden den wichtigen Handel zwischen beiden Nationen. In Mexiko wird die Forderung lauter, die Regierung solle Stärke zeigen. Eine immer größer werdende Fraktion fordert, die amerikanischen Annexionen rückgängig zu machen und den Südwesten der Vereinigten Staaten zu besetzen. Diese Gruppe hat zwar keine Mehrheit, doch sie ist auch keine unbedeutende Splittergruppe mehr. Andere schlagen vor, die Vereinigten Staaten sollten die Kontrolle über die betreffenden Gebiete behalten, doch sie verlangen von den Vereinigten Staaten, die Rechte der mexikanischen Einwohner zu garantieren und die Ausweisung von Mexikanern unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu beenden. Eine dritte Gruppe, die aus wirtschaftlichen Interessen Stabilität wünscht und den Status quo aufrechterhalten will, verliert immer weiter an Einfluss. Die Rufe nach einer Annexion sind ebenso laut wie die nach einer Autonomie der mexikanischen Gebiete. Anti-hispanische Stimmen in den Vereinigten Staaten nutzen die Radikalisierung der mexikanischen Politik und behaupten, Mexiko mische sich in die inneren Angelegenheiten der Vereinigten Staaten ein und plane sogar eine Invasion des Südwestens, was radikale Elemente ja in der Tat fordern. Damit wiederum rechtfertigen Extremisten ihre Forderung nach noch schärferen Maßnahmen, etwa der Deportation sämtlicher mexikanischstämmiger Amerikaner unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit sowie einen Einmarsch in Mexiko für den Fall, dass sich die mexikanische Regierung dieser Maßnahme widersetzen sollte. Die Extremisten schaukeln sich in ihrer Rhetorik gegenseitig hoch und bestimmen die Diskussion. Werfen wir einen Blick in die mögliche Zukunft dieses Konflikts und bedenken wir dabei, dass wir über Einzelheiten nur Vermutungen anstellen können. In den 2080er Jahren kommt es in MexikoStadt sowie in Los Angeles, San Diego, Houston, San Antonio, Phoenix und anderen überwiegend mexikanischen Städten der Grenzregion zu anti-amerikanischen Demonstrationen. Zentrales Thema sind die staatsbürgerlichen Rechte der in den Vereinigten Staaten lebenden
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Mexikaner. Es gibt allerdings auch Demonstrationen für eine Besetzung des Südwestens der Vereinigten Staaten durch Mexiko. Radikale mexikanische Separatistengruppen verüben Sabotageakte und kleinere Terroranschläge gegen Einrichtungen der amerikanischen Bundesregierung. Obwohl weder die mexikanische Regierung noch die Regierungen der von Mexikanern dominierten amerikanischen Bundesstaaten und schon gar nicht die Mehrheit der Mexikaner zu beiden Seiten der Grenze diese Terroraktionen unterstützen, werden sie in der Öffentlichkeit als Beginn eines geplanten Aufstandes oder einer Unabhängigkeitsbewegung dieser Region verstanden. Der amerikanische Präsident steht unter immensem Druck, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Er entzieht den betroffenen Bundesstaaten den Oberbefehl über die Nationalgarde und unterstellt sie Washington, um staatliches Eigentum zu schützen. Die Gouverneure von New Mexico und Arizona erklären jedoch, die Nationalgarde falle unter ihre Hoheit, und weigern sich, den Oberbefehl an Washington abzugeben. Sie stellen eigene Sicherheitskräfte zur Bewachung der bundesstaatlichen Einrichtungen ab, doch sie bestehen darauf, dass diese weiter unter ihrem Befehl stehen. Die Angehörigen der Nationalgarde, mehrheitlich Mexikaner, hören weiter auf den Befehl der beiden Gouverneure. Im Kongress werden Stimmen laut, es handele sich um eine Revolte. Der Präsident erklärt diese Argumentation für abwegig, doch er bittet den Kongress um Erlaubnis, die Armee in diesen Staaten zu mobilisieren, was zu einer direkten Konfrontation zwischen Einheiten der Armee und der Nationalgarde führt. Die Situation gerät außer Kontrolle. Das Problem verschärft sich, als der mexikanische Präsident auf Druck von Nationalisten die mexikanische Armee mobilisiert und an die Grenze verlegt. Er rechtfertigt diese Maßnahme mit der Mobilmachung der US-Armee entlang der Grenze und erklärt, er wolle lediglich Grenzverletzungen verhindern und sich mit Washington koordinieren. Das eigentliche Motiv ist jedoch ein anderes. Der mexikanische Präsident befürchtet, die USArmee könne die immigrierten Mexikaner massenhaft festnehmen und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus nach Mexiko abschie-
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ben. Ihn graut vor einer möglichen Flüchtlingswelle, und außerdem will er vermeiden, dass in den Vereinigten Staaten lebende Mexikaner ihren Besitz verlieren. In Reaktion auf die Mobilisierung der mexikanischen Armee werden die Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Alarmbereitschaft versetzt. Die US-Armee hat keine Erfahrung mit der Kontrolle einer feindlich gesinnten Bevölkerung, schon gar nicht, wenn es sich um amerikanische Staatsbürger handelt. Andererseits hat sie sehr große Erfahrung in der Zerstörung feindlicher Armeen. Daher beginnen die Weltraumstreitkräfte und die Bodentruppen mit den Vorbereitungen für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der mexikanischen Armee auf der anderen Seite der Grenze. Ein Treffen zwischen beiden Präsidenten entschärft die Lage, und es wird deutlich, dass beiden Seiten einen Krieg genausowenig wollen, wie sie die Krise im Südwesten der Vereinigten Staaten forciert haben. Doch in den Verhandlungen wird ein Problem deutlich: Beide Seiten wollen zum Status quo ante zurückkehren, doch der mexikanische Präsident sieht sich immer mehr in der Rolle des Verhandlungsführers für die amerikanischen Staatsbürger mexikanischer Herkunft. Am Ende ist er es, der für die Mexikaner in der Mexican Cession spricht. Die Krise der 2080er Jahre wird entschärft, ohne dass ihre Ursachen beseitigt würden. Das Grenzland bleibt strittig, eine politische und gesellschaftliche Lösung ist nicht in Sicht, und eine radikale Separatistenbewegung, die von mexikanischen Nationalisten finanziert wird, sorgt weiterhin für dauerhafte Spannungen. Um das Jahr 2090 provozieren diese Nationalisten eine neue Krise. Nach einer Verfassungsänderung dürfen nun auch Auslands-Mexikaner, die keine Staatsbürgerschaft besitzen, an mexikanischen Wahlen teilnehmen. Der mexikanische Kongress richtet Wahlkreise außerhalb Mexikos ein, sodass beispielsweise nach Argentinien emigrierte Mexikaner ihren eigenen Abgeordneten wählen können, der im Parlament ausdrücklich deren Interessen vertritt. Aufgrund der großen Zahl der Wähler wird die Mexican Cession – um die es ja bei der Verfassungsänderung eigentlich ging – in etliche Wahlkreise eingeteilt, sodass beispielsweise die Großräume Los Ange-
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les zwanzig und San Antonio fünf Abgeordnete in das Parlament von Mexiko-Stadt schicken. Da die mexikanischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten diese Wahlen aus privaten Mitteln bestreiten, ist unklar, ob dieses Vorgehen gegen die amerikanische Verfassung verstößt. Es geht ein Aufschrei durch den Rest des Lands, doch Washington hat Angst, einzuschreiten. So kommt es, dass die in den Vereinigten Staaten lebenden Mexikaner im Wahljahr 2090 zugleich Abgeordnete in die Parlamente von Mexiko-Stadt und Washington entsenden. In einigen wenigen Fällen ist es sogar ein und dieselbe Person, die in beiden Parlamenten sitzt. Das ist ein geschickter Schachzug, der die Vereinigten Staaten in die Defensive drängt, ohne dass sie im Gegenzug eine vergleichbare Maßnahme ergreifen könnten. In den 2090er Jahren sehen sich die Vereinigten Staaten innenwie außenpolitisch einer schwierigen Lage gegenüber. Mexiko rüstet im konventionellen Bereich auf und ist am Boden bald im Vorteil. Die US-Armee ist nicht sonderlich groß, und die Kontrolle einer Stadt wie
Los Angeles erfordert nach wie vor ganz einfache Infanteristen. In Reaktion auf die Besatzung durch die Armee im Jahr 2080 entstehen mexikanische Paramilitärs, die sich auch nach Abzug der USTruppen nicht auflösen. Da diese bewaffneten Gruppen im Falle eines Konflikts die US-Truppen an der stark militarisierten Grenze vom Nachschub abschneiden könnten, stellen sie durchaus eine Gefahr dar. Die Vereinigten Staaten könnten zwar möglicherweise die mexikanische Armee zerschlagen, doch damit würden mitnichten ihren eigenen Südwesten befrieden, von Mexiko ganz zu schweigen. Etwa um diese Zeit legt Mexiko ein eigenes Satellitenprogramm auf und baut unbemannte Flugzeuge. Währenddessen schaut die Welt zu. In Mexiko hofft man auf Unterstützung aus dem Ausland. Brasilien, das inzwischen selbst zu einer ernstzunehmenden Macht geworden ist, erklärt seine Solidarität mit Mexiko. Der Rest der Welt würde es zwar mehr oder weniger offen begrüßen, wenn sich die Vereinigten Staaten in Mexiko eine blutige Nase holten, doch niemand will sich aktiv beteiligen und die Supermacht herausfordern. Mexiko steht allein da und begnügt sich vorerst damit, den Amerikanern an der Grenze Schwierigkeiten zu berei-
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ten und darauf zu warten, dass anderswo ein Herausforderer auf den Plan tritt: Polen etwa, das inzwischen ernsthaften Groll gegen die Vereinigten Staaten hegt, oder aufstrebende Mächte wie Brasilien, die an der Entfaltung ihrer Aktivitäten im Weltraum gehindert werden. Mexiko wird nicht gegen die Vereinigten Staaten in den Krieg ziehen, ehe es nicht militärisch ebenbürtig ist. Es benötigt eine Koalition, doch deren Aufbau erfordert Zeit. Mexiko hat jedoch einen großen Vorteil: Die Vereinigten Staaten sind mit inneren Unruhen konfrontiert, die einen Teil ihrer Energie beanspruchen und ihre Handlungsoptionen einschränken. Ein militärischer Sieg und eine Besetzung des Nachbarlands würde das Problem nicht lösen, sondern es womöglich noch verschlimmern. Die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko verläuft faktisch nun durch Mexiko selbst, denn dessen reale, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen befinden sich inzwischen Hunderte von Kilometern nördlich der eigentlichen politischen Grenze. Dieses Problem bleibt auch dann bestehen, wenn die Vereinigten Staaten Mexiko militärisch besiegen sollten. Alles läuft auf ein Patt hinaus. Es stellt sich die Frage, die die Vereinigten Staaten seit ihrer Gründung beschäftigt hat: Was ist die Hauptstadt des nordamerikanischen Kontinents – Washington oder Mexiko-Stadt? Anfangs sah es ganz so aus, als würde es Mexiko-Stadt werden. Ein paar Jahrhunderte später war es plötzlich Washington. Nun ist die Frage erneut auf dem Tisch. Sie lässt sich zwar aufschieben, aber nicht vermeiden. Vor einer ähnlichen Frage standen Spanien und Frankreich im 17. Jahrhundert. Einhundert Jahre lang hatte Spanien die europäischen Atlantikstaaten und die Welt beherrscht. Dann trat eine neue Macht auf den Plan. Wer würde sich durchsetzen: Frankreich oder Spanien? Fünfhundert Jahre später, am Ende des 21. Jahrhunderts, haben die Vereinigten Staaten die Welt mehr als ein Jahrhundert lang beherrscht. Nun entwickelt sich plötzlich Mexiko zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten. Wer wird sich durchsetzen? Die Vereinigten Staaten kontrollieren den Weltraum und die Ozeane, doch Mexiko stellt sich ihnen auf dem Boden entgegen – und vor allem (wozu eben nur Mexiko in der Lage ist) auf amerikanischem Boden. Auf diese He-
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rausforderung ist das amerikanische Militär am allerwenigsten vorbereitet. Daher stellt sich am Ende des 21. Jahrhunderts die Frage: Nordamerika ist der Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems – aber wer herrscht in Nordamerika? Diese Frage wird erst im 22. Jahrhundert beantwortet werden.
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Es mag unwahrscheinlich klingen, dass ein erstarktes Mexiko irgendwann die Machtposition der Vereinigten Staaten gefährden könnte. Doch wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Buch erläutert habe, hilft der gesunde Menschenverstand bei der Prognose zukünftiger Entwicklungen nicht weiter – sehen Sie sich nur die erstaunlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts an und stellen Sie sich vor, Sie hätten diese mit gesundem Menschenverstand vorhersehen sollen. Ein Teil der Menschen, die heute zur Welt kommen, wird das 22. Jahrhundert noch erleben. Als ich in den 1950er Jahren aufwuchs, war das 21. Jahrhundert für mich keine Realität, die ich irgendwann erleben würde, sondern Science-Fiction. Inzwischen hat sich das 21. Jahrhundert jedoch als sehr konkrete Angelegenheit herausgestellt, und ich werde noch einen guten Teil meines Lebens in ihm verbringen. Der Weg hierher, die Geschichte mit ihren Kriegen sowie ihren technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen, hat mein Leben geprägt. Ich bin zwar Zeuge vieler und zumeist unerwarteter Kriege geworden, aber schließlich bin ich doch nicht in einem Atomkrieg mit den Sowjets ums Leben gekommen. Unser Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat wenig mit dem der Jetsons zu tun (dieser Zeichentrickfiguren, von denen keiner so genau weiß, in welcher Zukunft sie angesiedelt worden sind), doch ich schreibe auf einem Computer, den ich in einer Hand halten und mit dem ich in Sekundenschnelle Information aus aller Welt abrufen kann – und das ganz ohne Kabel. Die Vereinten Nationen haben zwar nicht sämtliche Menschheitsprobleme gelöst, doch der Status von Afroamerikanern und Frauen hat sich radikal verändert. Es liegen Welten zwischen dem, was ich ir-
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gendwann einmal erwartet habe, und dem, was tatsächlich eingetreten ist. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert lassen sich Entwicklungen ausmachen, die absehbar oder zumindest wahrscheinlich waren, und solche, die sich nicht vorhersehen ließen. Man konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Menschen die Welt nach wie vor in Nationalstaaten aufteilen würden. Man wusste, dass die Kriege immer mehr Opfer fordern würden. Alfred Nobel warnte, dass seine Erfindung des Dynamits den Krieg in einen endlosen Schrecken verwandeln würde, und er behielt Recht. Auch die Revolution auf den Gebieten der Kommunikation und der Mobilität war absehbar, denn schließlich gab es bereits Autos, Radios und Flugzeuge. Die tatsächlichen Entwicklungen waren zwar komplex, aber nicht unbedingt unvorhersehbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb der Science-Fiction-Autor H.G. Wells die Waffen, mit denen künftige Generationen Krieg führen würden. Es genügte, sich das anzusehen, was es bereits gab beziehungsweise was sich in Planung befand, und es auf die Kriege der Zukunft zu projizieren. Doch nicht nur die Technologie ließ sich vorhersehen. Kriegsplaner des US Naval College und des japanischen Kriegsministeriums konnten einen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan in groben Zügen vorhersagen. Vor den beiden Weltkriegen zeigten deutsche Generäle mögliche Kriegsverläufe und deren Risiken auf. Winston Churchill sah die Folgen des Zweiten Weltkriegs vorher, und zwar sowohl den Verlust des Britischen Weltreichs als auch den Kalten Krieg. Natürlich konnte niemand die Zukunft bis ins Details vorhersagen, doch die groben Züge des 20. Jahrhunderts ließen sich durchaus erahnen. Genau das habe ich in diesem Buch versucht: mit Hilfe der Geopolitik das 21. Jahrhundert zu erahnen. Ich habe mit dem Unveränderlichen angefangen: dem Fortbestehen der Menschheit zwischen Himmel und Hölle. Dann habe ich den langfristigen Trend gesucht und ihn im Niedergang Europas als Mittelpunkt der westlichen Zivilisation sowie im Aufstieg Nordamerikas und der Vormacht auf dem nordamerikanischen Kontinent, den Vereinigten Staaten, gefunden.
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Vor dem Hintergrund dieser profunden Verschiebung innerhalb des internationalen Gefüges war es einfach, den Charakter der Vereinigten Staaten – stur, unreif und genial – sowie die Reaktionen der Welt auf dieses Land – Angst, Neid und Widerstand – vorzusehen. Danach konnte ich mich auf zwei Fragen konzentrieren: erstens, wer würde Widerstand leisten, und zweitens, wie würden die Vereinigten Staaten darauf reagieren. Der Widerstand erfolgt in Schüben, analog zu den kurzen, wechselhaften Epochen des 20. Jahrhunderts. Zunächst ist es der Islam, dann Russland, danach ein Bündnis aufstrebender Mächte (Türkei, Polen, Japan) und schließlich Mexiko. Um die jeweilige amerikanische Reaktion zu verstehen, habe ich die FünfzigJahres-Zyklen betrachtet, die ich in der mehr als 200-jährigen Geschichte der amerikanischen Gesellschaft ausgemacht hatte, und habe versucht, mir vorzustellen, wie die Jahre 2030 und 2080 aussehen würden. Auf diese Weise konnte ich darüber nachdenken, inwieweit sich der dramatische gesellschaftliche Umbruch, der bereits heute im Gange ist – das Ende der Bevölkerungsexplosion nämlich –, auf die Zukunft auswirken würde. Und ich konnte analysieren, welche Rolle bereits vorhandene Technologien in gesellschaftlichen Krisen spielen werden, und auf diese Weise die Entwicklungen der Roboter- und der weltraumgestützten Solartechnologie skizzieren. Je detaillierter man eine Entwicklung prognostiziert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seiner Vorhersage danebenliegt. Doch ich habe meine Aufgabe eher darin gesehen, meinen Lesern ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie das 21. Jahrhundert aussehen und wie es sich anfühlen wird. Natürlich werde ich mich in vielen Einzelheiten irren. Ich könnte mich beispielsweise darin täuschen, wer die zukünftigen Mächte sein und in welcher Form sie Widerstand gegen die Vereinigten Staaten leisten werden. Doch ich bin mir sicher, dass deren Rolle innerhalb des internationalen Gefüges das zentrale Thema des 21. Jahrhunderts sein wird und dass andere Nationen sich dieser Vormacht widersetzen werden. Wenn dieses Buch eine zentrale Aussage hat, dann die, dass die Vereinigten Staaten heute alles andere als im Niedergang begriffen sind, sondern dass sie ihren Aufstieg gerade erst begonnen haben.
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Dieses Buch soll in keiner Hinsicht als Huldigung an die Vereinigten Staaten verstanden werden. Ich bin ein Anhänger der amerikanischen Demokratie, doch die Vereinigten Staaten verdanken ihre Macht weder der Verfassung noch den Federalist Papers. Die verdanken sie vielmehr Andrew Jacksons Schlacht von New Orleans im Jahr 1815, der Niederlage des mexikanischen Generals Antonio López de Santa Anna in der Schlacht von San Jacinto im Jahr 1836, der Annektierung Hawaiis im Jahr 1898 und der Übergabe der britischen Flottenstützpunkte in der westlichen Hemisphäre an die Vereinigten Staaten im Jahr 1940 sowie ihren einmaligen geostrategischen Vorteilen, die ich in diesem Buch ausführlich dargestellt habe. Ein Thema habe ich nicht angesprochen. Vermutlich haben Sie bemerkt, dass ich nicht auf das Thema der Erderwärmung und des Klimawandels eingehe. Sie könnten das für fahrlässig halten. Ich bin überzeugt, dass sich die Erdatmosphäre erwärmt, und dass diese Erwärmung von Menschen gemacht ist. Doch Karl Marx schrieb: »Die Menschheit [stellt sich] immer nur Aufgaben, die sie lösen kann.« Ich weiß nicht, ob sich das auf jedes Problem übertragen lässt, doch in diesem Fall scheint es zuzutreffen. Zwei Kräfte werden der Erderwärmung entgegenwirken. Erstens wird das Ende der Bevölkerungsexplosion dafür sorgen, dass in den kommenden Jahrzehnten die Nachfrage nach fast sämtlichen Gütern und Dienstleistungen zurückgeht. Zweitens führen die steigenden Kosten für die Förderung und den Einsatz von fossilen Brennstoffen zu einer intensivierten Suche nach Alternativen. Die naheliegende Alternative ist die Sonnenenergie, doch erdgestützte Sonnenkraftwerke bringen meiner Ansicht nach zu viele ungelöste Probleme mit sich, die sich mit weltraumgestützten Solaranlagen umgehen lassen. Aufgrund der demografischen und technologischen Veränderungen der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird sich das Thema Erderwärmung erledigen. Mit anderen Worten, der Bevölkerungsrückgang und die Stromproduktion im Weltall werden das Problem des Treibhauseffekts lösen. Diese Entwicklung ist schon heute vorstellbar, und sie wird sich als ungeplante Folge anderer Entwicklungen einstellen. Diese ungeplanten Folgen sind Protagonisten dieses Buches. Wenn
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wir freie Entscheidungen treffen und diese eins zu eins umsetzen könnten, wäre jede Zukunftsprognose unmöglich, denn der freie Wille entzieht sich definitionsgemäß jeder Vorhersage. Doch wir sind erstaunlich unfrei. Es steht beispielsweise jedem von uns offen, zehn Kinder zu bekommen, doch kaum einer entscheidet sich für diese Möglichkeit. Die räumlichen und historischen Gegebenheiten, unter denen wir leben, schränken unsere Handlungsmöglichkeiten erheblich ein. Und die Handlungen, für wie wir uns schließlich entscheiden, haben eine Reihe von Folgen, die wir nicht eingeplant haben. Als die NASA einen Mikrochip entwickelte, um einen Bordcomputer für eine Raumkapsel zu bauen, hatte sie nicht vor, den iPod zu erfinden. Meine Methode besteht daher darin, mir die Zwänge anzusehen, denen Menschen und Nationen unterliegen, zu beobachten, wie sie in Reaktion auf diese Zwänge handeln, und zu verstehen, welche ungeplanten Folgen diese Handlungen haben. Es bleiben unendliche viele Unbekannte, und keine Prognose eines ganzen Jahrhunderts kann vollständig oder gar vollständig richtig sein. Doch wenn es mir gelungen ist, ein Verständnis für wichtigsten Zwänge, die wahrscheinlichsten Reaktionen auf diese Zwänge und das Resultat dieser Handlungen im allgemeinsten Sinne zu vermitteln, dann bin ich zufrieden. Persönlich finde ich es mehr als merkwürdig, ein Buch zu schreiben, von dem ich nie wissen werde, ob seine Vorhersagen eintreten oder nicht. Daher schreibe ich dieses Buch für meine Kinder und noch mehr für meine Enkel, die es wissen werden. Wenn dieses Buch ihnen eine Orientierung bietet, dann war meine Arbeit zu etwas nütze.
Dank
Dieses Buch wäre weder denkbar noch realisierbar gewesen ohne meine Kollegen bei Stratfor. Mein Freund Don Kuykendall hat mich während der gesamten Vorarbeiten unterstützt. Scott Stringer hat mit Geduld und Kreativität die Karten gezeichnet. Sämtliche Kollegen bei Stratfor haben geholfen, dieses Buch zu verbessern. Vor allem danke ich Rodger Baker, Reva Bhalla, Lauren Goodrich, Nate Hughes, Aaric Eisenstein und Colin Chapman. Dank auch an Peter Zeihan, dessen pedantische und vernichtende Kritiken mich genauso weitergebracht wie zunächst einmal geärgert haben. Jenseits der Stratfor-Familie möchte ich John Mauldin und Gusztav Molnar danken, von denen ich gelernt habe, die Dinge anders zu sehen. Susan Copeland stellte sicher, dass ich nicht nur meine Arbeiten an diesem Buch, sondern auch eine Menge anderer Dinge erledigte. Schließlich danke ich meinem Literaturagenten Jim Hornfischer und meinem Lektor Jason Kaufman bei Doubleday, die alles getan haben, um meine Texte verständlich zu machen. Rob Bloom stellte schließlich sicher, dass das Buch fertig wurde. Dieses Buch hat viele Eltern, doch für seine Fehler und Schwächen bin allein ich verantwortlich.