Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 11
Die Macht des Kristallmondes von Michael H. Buchholz
Im März 1225 Neuer Galakti...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 11
Die Macht des Kristallmondes von Michael H. Buchholz
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort.
Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt. Sie können fliehen und erreichen die Taneran-Schlucht am Rand von Mertras, dem Land der Silbersäulen. Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen sie ihre beschwerliche Reise zur Gebirgsfestung Grataar fort. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und befreit Litrak aus seinem Gefängnis. Auf der Flucht aktiviert der Kristallene verborgene Aggregate, die die Stadt im Eis zum Leben erwecken. Ein Ruck geht durch den Eisboden. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechenden Eisbrocken erschlagen zu werden. Sie retten sich in die Mitte der Stadt in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. Eine Transition versetzt Atlan und Tamiljon in eine unbekannte Gegend und nicht, wie erhofft, in den »Canyon der Visionen«. Lethem da Vokoban und seine Begleiter trauen ihren Augen nicht, als die totgeglaubte Li da Zoltral plötzlich auftaucht. Viel Zeit, um sich von dem Schock zu erholen, bleibt ihnen nicht. Gemeinsam versuchen sie, die Oberfläche der Technostadt zu erreichen. Der 2. Pilot der TOSOMA wird mit seinen Gefährten von der alles umfassenden Schwärze verschlungen. Vinara II löst sich auf, der Weltuntergang ist nicht mehr aufzuhalten. Währenddessen scheint Atlans Kampf gegen die Braune Pest auf Vinara V aussichtslos. Die Stadt Yandan steht kurz vor der Zerstörung, überall breiten sich braune Flecken aus. Der Unsterbliche steuert ein Obsidiantor an, die einzige Rettung … Mit Xyban-K'hir finden Atlan und Tamiljon einen Verbündeten beim Kampf gegen den Untoten Gott Litrak. Das Pflanzenwesen hat wichtige Informationen für den unsterblichen Arkoniden.
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Michael H. Buchholz
Prolog Mein Zellaktivator pochte in einem furchterregenden, beinahe schon schmerzhaften Rhythmus; er sandte Stoßwelle um Stoßwelle an belebenden Impulsen durch meinen Körper, pumpte Vitalenergie in nie gekannter Menge in mich hinein – und doch war ich längst auf meine Knie niedergesunken und schaffte es gerade noch, mich mit den Ellenbogen aufzustützen. Sämtliche Kraft schien mir binnen weniger Sekunden aus allen Muskeln gesogen worden zu sein. Ich hob mühsam eine Hand, wollte rufen, Tamiljon warnen, irgendetwas tun; doch ich brachte nur ein hilfloses Röcheln zustande.
1. Atlan: 30. April 1225 NGZ Vinara – Canyon der Visionen Das Knistern der Luft wuchs bedrohlich an, steigerte sich in genau dem Maße, wie mir das Atmen immer schwerer fiel. Kristallflitter tanzten wild vor meinen Augen, vollführten einen die Sinne verwirrenden Reigen in dem grellweißen Licht, das von dem schräg links vor mir sich am Boden ausbreitenden Juwelenfeld ausging … Zuckende Reflexe, wirbelnde Schatten. Zwei ineinander verkrallte Gestalten, die verbissen miteinander rangen. Tamiljon und Litrak. Ein Sterblicher und ein angeblicher Gott. Steine kollerten, Kies und Erdbrocken spritzten weg, als die beiden Kämpfenden einen kleinen Hügel hinunterrollten, genau in Richtung des Juwelenfeldes. Etwa sechs, acht Meter. Dann fanden Tamiljons Stiefel rutschend Halt. Er stieß Litrak so heftig von sich, dass dessen Gottesanbeterinnengestalt sich dabei mehrfach überschlug und gegen einen einzelnen, scharfkantigen, etwa mannshohen Felsen krachte. Keuchend bückte der Schwarzhäutige sich, nahm Anlauf und
rammte dem ehemaligen Untoten Gott den haarlosen Kopf mitten gegen die schmale Brust. Litrak schrie. Etwas knackte unüberhörbar in dem beinahe durchsichtigen Insektenkörper. Tamiljon brüllte auf, umfasste die vorgestreckten, mit Dornen versehenen Fangbeine des Gegners, bog sie unter großer Anstrengung zurück – und ließ sie augenblicklich wieder los, wich dem plötzlich vorschnappenden Mund mit den scharfen Beißwerkzeugen aus. Litrak wimmerte; einer der großen Flügel hing in einem grotesken Winkel herab. Trotz seiner Verletzung sprang er auf, umklammerte im nächsten Moment mit allen Beinpaaren den Oberkörper seines Kontrahenten. Tamiljons Arme wurden eng an den Leib gepresst. Der Schwung warf ihn hintenüber. Sein Kopf verfehlte knapp die Kante des Felsens und schlug mit umso stärkerer Wucht gegen einen am Boden liegenden Brocken. Nun war er es, der vor Schmerzen schrie. Litrak hockte wie ein chitinener Albtraum auf seiner Brust. Aus dem zu einem wütenden Fauchen aufgerissenen Mund rieselten feinste Kristalle. Tamiljon bekam irgendwie die Arme frei, wälzte sich halb herum, konnte Litrak aber nicht abschütteln. Wieder rollten sie ineinander verkrallt über den Boden. Immer näher heran an die gleißenden Juwelen. Ich spürte, dass von den hier verstreuten Juwelen eine nicht einschätzbare Gefahr ausging. Sardaengars beschwörende Warnung, die er mir mittels einer Holoprojektion in der Silbersäule gegeben hatte, war unmissverständlich gewesen: »Sollte Litrak jemals der Falle entkommen, wird dieser Bereich der Taneran-Schlucht sein erstes Ziel sein.« Litrak durfte nach allem, was ich wusste oder zumindest teilweise verstand, die Juwelen auf keinen Fall erreichen. Ihr Leuchten flackerte immer stärker auf, je näher die beiden Kämpfenden dem Feld der bis zu kopfgroßen Kristalle kamen. Ich sah Licht aufblitzen, ohne die genaue Quelle
Die Macht des Kristallmondes ausmachen zu können; vereinzelte Strahlen zuckten in Richtung der beiden Gestalten, wurden schillernd von den Flügelpaaren Litraks zurückgeworfen. Zu meinem Entsetzen hörte ich Tamiljon lachen. Es klang wie das hysterische Kichern eines Irrsinnigen. Wieder zuckten Lichtstrahlen aus dem Juwelenfeld empor, begleitet von einem unwirklichen Knacken und Knistern, das immer mehr in ein stakkatohaftes Knattern überging. Wie Überladungsblitze griffen Lichttentakel nach dem Körperknäuel, das Tamiljon und Litrak bildeten. Die Luft vibrierte; ich glaubte Ozon zu riechen. Ich sah Teile von Tamiljons Kleidung verschwinden. Es wirkte, als würde sein Äußeres im Licht der Juwelen regelrecht verdampfen. Zuerst lösten sich nur einzelne, kaum fingergliedgroße Stellen auf, doch dann wuchsen die entstehenden Löcher rasend schnell aufeinander zu. Selbst harte und schwerere Kleidungsteile wie die Ärmelabschlüsse oder die verstärkten Schulterpolster waren von dem unerklärlichen Phänomen betroffen. Als würden sie von einer Säure weggefressen oder von einem Desintegrator aufgelöst, verschwanden der lederne Overall, die Taschen daran, die Unterwäsche, zuletzt der handbreite Gürtel und die wadenhohen Schnürstiefel. Auch das Nanomodulhalsband zerfiel, als hätte es nie existiert. Darunter kam Tamiljons pechschwarze Haut zum Vorschein, doch nicht sie allein. Ich sah es jetzt überall auf seinem Körper glitzern wie von Diamantstaub. Wieder waberte Licht in wahren Kaskaden heran, traf die Kämpfenden, umlohte sie als bläulich weiß gleißende Flamme. Tamiljon lachte abermals furchterregend, während Litrak hilflos mit den Flügeln schlug und dabei erbärmlich schrie. Obwohl ich beide Körper für den Moment nur noch als Silhouette wahrzunehmen vermochte, konnte ich Litraks Umrisse im Licht der Juwelen schrumpfen sehen. Die ersten funkelnden
5 Edelsteine befanden sich nur noch etwa zwei oder drei Meter von den sich am Boden Wälzenden entfernt. Wieder wollte ich mich aufrichten, wieder wollte ich – irgendwie – die Kämpfenden aus dem Bereich des Juwelenfeldes zerren, und wieder war es, als entzöge mir eine unsichtbare Macht meine gesamte Kraft. Tamiljon war es nicht allein; viel mehr noch als er schwächten mich die über den Boden verstreuten Edelsteine. »Weiter … nach rechts …« Das war alles, was ich krächzend herausbrachte. Die Juwelen galten in den alten Legenden als die Hinterlassenschaft einer der Auseinandersetzungen zwischen dem »Uralten Sardaengar« und dem »Ewigen Litrak«. Wer den Juwelen zu nahe käme, hieß es, verlöre sich in einem undurchdringlichen Gespinst aus von ihnen ausgehenden Visionen, Träumen und Halluzinationen. Nur diejenigen, die sich den Juwelen nicht allzu sehr genähert hatten, waren bisher mit dem Leben davongekommen – doch sie waren binnen kürzester Zeit zu Greisen gealtert, denn die Juwelen raubten jedem Wesen dessen Lebenskraft. Die Visionen hatte ich erlebt, den Verlust der Vitalenergie erfuhr ich in diesen Augenblicken. Nur mein Zellaktivator schützte mich davor, hier und jetzt zu sterben. Noch … Hilflos musste ich mit ansehen, wie Tamiljons glitzernde Arme den nun nur noch knapp einen halben Meter großen Körper des Ewigen Litrak packten. Obwohl der frühere Untote Gott mit allen Bein- und Flügelpaaren zappelte und sich zu befreien versuchte, kam Tamiljon hoch und trug den sich heftig wehrenden Insektenkörper mit drei, vier ebenso raschen wie unerwarteten Schritten auf das Juwelenfeld zu. »Nein. – Tamiljon … Nicht!« Er trug ihn hinein! Obwohl wir in den Canyon der Visionen gekommen waren, um genau das zu verhindern. Litrak durfte die Juwelen niemals erreichen! Doch es war bereits geschehen.
6 Ich schrie unwillkürlich auf – und schloss im nächsten Moment die geblendeten Augen. Das Knistern schwoll zu einem ohrenbetäubenden Krachen an. Ein Vulkan aus purem Licht eruptierte, explodierte, schleuderte seine gleißende Glut nach allen Seiten. Tamiljon stand hoch aufgerichtet zwischen den faust- und kopfgroßen Juwelenbrocken; er stierte förmlich auf den durchscheinenden Insektenkörper in seinen Armen. Der Schwarzhäutige bebte vor Anstrengung. Und als sei dieses Beben dafür verantwortlich, lösten sich erste Kristallstücke aus dem Körper des Ewigen Litrak und fielen klickend zu Tamiljons Füßen nieder. Dann rieselten weitere Kristallsplitter herab, und plötzlich prasselten sie zu Boden wie haltlos fallende Murmeln, denen das Netz zerrissen wurde. Klackernd rollten sie zwischen die Brocken des Juwelenfeldes. Litrak, der Ewige Litrak, der Untote Gott im Eis – er war nicht mehr. Tamiljon schwankte. Verständnislos starrte er auf seine nun leeren, diamantbestaubten Hände. Wie ein verzerrtes Spiegelbild von mir sackte er auf die Knie, wühlte suchend in den Juwelen herum. Lachte, keuchte – und erstarrte. Mit vor Unglauben weit aufgerissenen Augen sah ich, wie die Juwelen um ihn herum sich zu bewegen begannen. Die Kristalle, die eben noch Litraks insektoiden Körper gebildet hatten, verschmolzen mit denen, die schon zuvor dort gewesen waren. Das gesamte Juwelenfeld kam innerhalb weniger Sekunden in Wallung. Die Kristalle rollten, rutschten und schoben sich aufeinander zu, übereinander hinweg, ineinander hinein. Sie verschmolzen, bildeten eine einzige glitzernde, homogene Masse, die nur einem Ziel entgegenstrebte: Tamiljon. Der »Juwelenbrei« erreichte seine Unterschenkel, floss daran hoch, leckte an den Oberschenkeln … Ich kam in einer verzweifelten Anstrengung auf die Füße. Halb rutschend taumelte ich den Abhang hinunter, spürte das
Michael H. Buchholz schmerzhafte Hämmern des Zellaktivators, hörte das rasende Rauschen des Blutes in den Ohren. Dann glitt ich wieder aus, schaffte es, mich an dem mannshohen Felsen hochzuziehen, taumelte weiter und kam doch zu spät. Tamiljons Körper glitzerte nicht mehr wie nur von Diamantstaub bedeckt. Er erstrahlte tatsächlich von einer ihn überall umhüllenden, vielleicht einen halben bis mehrere Zentimeter dicken »Kruste« von Diamanten. Arme, Hände, Beine, sein kräftiger Rumpf und auch der Hals und Kopf waren mit einer bläulich weißen Kristallschicht überzogen, in denen millimetergroße Facetten in feurigem Glanz funkelten. Das Gesicht war nahezu frei geblieben; doch über den haarlosen Schädel zog sich eine dünne Kristallschicht bis in den Nacken. Von den Fußknöcheln reichte ein fingerdicker Wulst aus Kristallen bis zur Hüfte herauf; ebensolche Wülste zogen sich an den Außenseiten der Arme vom Handrücken bis zum Schultergelenk. Der Rücken- und Brustbereich erinnerte an einen starren Harnisch, der ihm aus massiven Kristallen gewachsen war. Und doch täuschte der Eindruck der Starre. Mit weit aufgerissenen Augen stierte Tamiljon mich an, und ich sah, dass er sich trotz des ihn umhüllenden Kristallpanzers bewegen konnte. Er streckte mir einen Arm entgegen und versuchte sich aufzurichten. »Atlan«, hörte ich ihn flüstern. »Mir geht es … Ich kann …« Was immer er hatte sagen wollen, es verlor sich in einem ächzenden Stöhnen. In Zeitlupe kippte Tamiljon zur Seite und fiel mit einem hässlichen Knirschen in den steinigen Sand, noch ehe ich bei ihm war, um ihn zu stützen. Scheinbar tot blieb er am Boden liegen. Ich ließ mich erschöpft neben ihn fallen. Mein Zellaktivator arbeitete nun nicht mehr wie verrückt; er sandte wieder erträglichere, beruhigendere, sanftere Impulse, und ich fühlte, dass meine Kraft bald zurückkehren würde. Für den Moment allerdings war ich matt
Die Macht des Kristallmondes und erschlagen wie selten zuvor in meinem Leben. Ich fluchte leise; bis fast auf den Tag genau hätte ich vor 51 Jahren noch meinen Zellaktivator samt der Halskette abnehmen und Tamiljon auflegen können. Wie stets, wenn ich in den langen Jahrtausenden zuvor Hilfe hatte spenden wollen, hatte das unbegreifliche Gerät aus den Werkstätten der Kosmokraten anderen Linderung und Heilung gebracht. Seit jenem Tag aber, seit jenem schicksalhaften 21. Mai 1174 NGZ, trug ich den zum Chip umgewandelten Zellschwingungsaktivator unterhalb des linken Schlüsselbeins eingepflanzt – auf Beschluss der Superintelligenz ES, wie alle anderen Aktivatorträger auch. Ob dies wirklich so weise entschieden worden war? Ich wusste es nicht zu sagen. In diesem Moment hätte ich viel für das alte Gerät gegeben.
* Während ich, allmählich ruhiger atmend, neben Tamiljons ausgestrecktem Körper lag, sah ich mich um. Da die wilden Lichterscheinungen mit Litraks Ende verschwunden waren, bemerkte ich erst jetzt, dass inzwischen Stunden vergangen sein mussten. Längst war es Nacht geworden; doch es wurde nicht mehr richtig dunkel. Der Kristallmond Vadolon stand doppelt lunagroß als leuchtendes Fanal im Süden über dem Canyon der Visionen. Sein wie in Myriaden geschliffener Facetten reflektiertes Licht warf scharfkantige Schatten bis auf den Grund der gezackten, breiten Schlucht, die an den Grand Canyon auf Terra erinnerte. Schrunde, Klüfte, Terrassen, Einbrüche, Abstürze und Felsnadeln bestimmten das Bild. Lotrechte Felswände, Risse, Simse und schroffe Überhänge zogen sich hin, so weit der Blick reichte. An der tiefsten Stelle der Schlucht, rund fünfhundert Meter unterhalb der Ebene, mäanderte das schmale Wasserband des kleinen Flusses Taneran.
7 Zusätzlich zum Mondschein irrlichterte es aus dem silbrig glänzenden Obsidianring, der sich von Horizont zu Horizont über den Himmel schwang. Immer wieder sah ich stecknadelkopfgroße Explosionen auf der Mondoberfläche auflodern – Trümmer des Obsidianrings, die mit Vadolon kollidierten. »Wir müssen hier weg. Bald ist es zu spät«, murmelte ich und beobachtete eine rasend schnelle Leuchtspur am Himmel. Willkommen im Klub der Einsichtigen, meldete sich plötzlich lakonisch der seit Stunden schweigsame Extrasinn zurück. Ein kaum hörbares Rumoren lag in der Luft, untermalt von fernem Grollen und Donnern. Jenseits der Felshänge des Canyons und hinter den Bergen erkannte ich ein düsteres Glühen; ein unheilvolles Glosen, das ich im Laufe meines Lebens fürchten gelernt hatte: So sahen eruptierende Vulkane aus der Ferne aus. Ein jäher Wind brachte den Geruch nach Asche mit sich; dort, woher das Grollen und der Wind zu stammen schienen, ballten sich gewaltige Wolkentürme zusammen, hinter denen es schwefelgelb wetterleuchtete. Binnen weniger Minuten frischte der Wind fast bis zu Sturmstärke auf. Schwarze Wolken quollen über den Rand des Canyons und entließen schmierige, rußige Tropfen. Ich beugte mich über Tamiljon und versuchte ihn wieder zu beleben – vergebens. Seine Arme und Beine ließen sich bewegen und wurden von der Kristallschicht nicht behindert. Die Kristalle schienen an den Gelenken ineinander zu fließen oder waren für den Moment der Bewegung nachgiebig, um gleich darauf wieder zu erhärten. Der Extrasinn blieb stumm. Ich massierte Tamiljons Brust, bis ich mich an einem der Kristalle schnitt. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung verlief ebenso ergebnislos wie das letzte aller Wiederbelebungsmittel – Tamiljon steckte die Ohrfeigen weg, als hätte ich sie ihm nicht gegeben. Als der warme Regen heftiger wurde, glaubte ich, Tamiljons Brust bewege sich
8 von allein. Aber es mochte auch der Schlamm sein, der mit dem Regen an uns niederfloss und der meine Augen täuschte. Ich fühlte nach seinem Puls, doch fand ich ihn ebenso wenig, wie ich Tamiljons Atem spürte. Er lag weiter da wie tot, und ich konnte lediglich seinen Kopf mit meinem vorgebeugten Oberkörper vor dem prasselnden Schlammregen schützen. So plötzlich, wie der Regen gekommen war, zog er vorüber. Tamiljon und ich sahen aus, als hätten wir uns im tiefsten Schlamm gewälzt. Von allen Seiten rauschte das schmierige Wasser herab und sammelte sich in Tümpeln, an den tieferen Stellen des Canyons ergoss es sich in den Taneran. Mittlerweile schwoll das Flüsschen bedenklich an, und obwohl wir uns gut zweihundert Meter von seinem Ufer entfernt befanden, hörte ich das Schäumen der Wellen. »Noch ein oder zwei dieser Wolkenbrüche, und ich werde dich schwimmend bergen müssen«, murmelte ich. »Bloß wohin?« Am Himmel zogen etliche Lichtfäden sich kreuzende, feurige Spuren, gefolgt von drei breiten, glühenden Meteoritenbahnen. Ein wiederholtes helles Sirren schnitt durch die Atmosphäre, gefolgt von mehrfachem, scharfem Knall. Noch während ich den allmählich verwehenden Feuerspuren nachsah, bebte der Grund des Canyons. Einschlag, kommentierte der Extrasinn. Was immer du vorhast, beeil dich damit. Diese Welt liegt im Sterben. Hinter uns rutschte bröckeliges Gestein mit lautem Getöse den Steilhang hinab. Wieder setzte ein kurzes Beben ein, weiteres Geröll rieselte nach; und dort, wo die feurigen Meteoriten hinter dem Horizont verschwunden waren, glühte es, unter tief hängenden, heranquellenden Staubwolken, rot wie Blut. Die teils rötlichen, teils braunen Steilwände des Canyons erzeugten in dem flackernden Leuchten ein verwirrendes Schattenspiel. Bizarre Schwärze sprang unvermutet hinter eben noch scharf umrissenen Felshängen hervor. Es war, als winde sich der Cany-
Michael H. Buchholz on wie eine viele hundert Kilometer lange Riesenschlange. Ein nahes Donnern rollte die Schlucht entlang, echote beinahe minutenlang, ehe es verebbte. Wieder ein Sirren, eine neue Glutbahn, diesmal weiter entfernt – ein Meteorit, der fast genau im Norden zerbarst. Abermals hatte uns ein Einschlag verfehlt. Als der ohrenbetäubende Knall die Wände des Canyons erbeben ließ, bildeten sich in dem großen Tümpel unzählige konzentrische Ringe. In diesem Moment schälten sich aus dem Nichts heraus verschwommene Gestalten …
2. Lethem: 30. April 1225 NGZ Irgendwo Ich … ich bin … ich bin ich … Lethem klammerte sich an diesen Gedanken wie ein Ertrinkender an ein zu leichtes Stück Holz. Der Schmerz war die Schwärze – war der Schmerz die Schwärze … Die Wand war jenseits von Eben. Und der schwarze Schmerz war – was? Zu unerträglich, um bewusstlos zu werden? Ich bin … ich bin ich … ich bin nicht … Nicht was? Nicht – tot? Verwundert stellte Lethem fest, dass er dachte. Gleichwohl sich der Schmerz, unter dem er seit dem Moment litt, da ihn die Wand aus obsidiandunkler Finsternis verschluckt hatte, immer weiter steigerte, immer höhere Sphären erklomm, deren namenloses Leiden jenseitig war … Obwohl dies alles geschah, gab es kein Ende, keinen Abbruch, keine Stille, keinen Tod. Es gab … Zeit. Momente, die quälend langsam verstrichen – angefüllt mit unsäglicher Pein, doch immerhin angefüllt mit etwas, das er erleben konnte. Lethem klammerte sich an den Schmerz, bekam Angst, ihn zu verlieren, fürchtete sein Nachlassen, weil dieser Schmerz alles war, was er noch hatte. Weil er das Einzige war,
Die Macht des Kristallmondes was er erleben konnte. Völlige Finsternis umgab ihn. Und der Schmerz war die Schwärze – war der Schmerz inmitten der Schwärze. Der vertrauter wurde mit jedem Moment und ihn an irgendetwas erinnerte … Transition!, dachte Lethem. Es ist eine Art Transition. Ich fühle alles, weil ich nichts mehr bin. Einmal, nur ein einziges Mal, während seiner Ausbildung als Raumpilot hatte er, Arkons Göttern zum Dank, eine sehr weite Transition ohne Strukturabsorber durchführen müssen. Und jene Entzerrungsschmerzen waren mit diesen hier nicht vergleichbar – o nein! –, aber verwandt gewesen … Doch wenn dies hier eine Transition war, dann dauerte sie ewig. Lethem hatte zwar jedes Zeitgefühl verloren, er vermochte die Anzahl der durchlittenen Momente nicht in Sekunden, Minuten oder Stunden zu denken, aber da war, inmitten all der Schwärze, ein Eindruck von zurückgelegter Distanz… Der Übergang geschah so abrupt, dass Lethem ihn als Nullzeit, als eine Art Ruck empfand. Plötzlich fühlte er seinen Körper wieder, und es war ein so unglaubliches, fast berauschendes Gefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte und für das er keinen Namen kannte. Er stolperte unwillkürlich und spürte fassungslos, dass er stolperte. Er sah seine Hände an und fühlte sie; nichts war ihm wichtiger, als dem Schlagen des eigenen Herzens unter seiner Knochenplatte zu lauschen. Dann wurde er sich seiner Umgebung bewusst. Er stand am Grund der TaneranSchlucht. Oder doch nicht? Die Geländeformation war die gleiche: eine breite, gewundene, viele hundert Meter tiefe Schlucht, ausgewaschen in Millionen von Jahren, dem Grand Canyon Terras zum Verwechseln ähnlich. Und doch ließ etwas an dem Bild Lethem zweifeln. Dies war nicht die Taneran-Schlucht. Zumindest nicht jener Abschnitt, den er kannte. Handelte es sich um den Canyon der Visionen? Erst jetzt bemerkte Lethem die vor ihm
9 liegende Gestalt. Sie war nass und schlammbesudelt; aber dort, wo die Nässe den Schlamm fortgewaschen hatte, erblickte Lethem Kristalle. Fast die gesamte Hautoberfläche des reglos liegenden Mannes schien mit Kristallen bedeckt zu sein. Ein zentimeterdicker Panzer verbarg Rücken und Brustbereich, wulstartige Kristallstränge mit kleinen Verästelungen zogen sich entlang der Beine und Arme, und selbst der völlig haarlose Schädel funkelte und schimmerte im Licht des gleißenden Mondes. Also bin ich zurück auf Vinara, dachte Lethem mechanisch. Die wenige Haut, die zwischen den Kristallgewächsen des Mannes noch sichtbar blieb, war pechschwarz. Wer war er? Wie kam er hierher? Ein Geräusch hinter der am Boden liegenden Gestalt ließ Lethems Blick nach oben zucken. Dann erst gewahrte er den zweiten Mann, der hinter dem leblosen Wesen stand. Und Lethem erkannte, wie sehr sein Verstand durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit in Mitleidenschaft gezogen worden sein musste. Denn er glaubte Atlan vor sich zu sehen, in einer völlig verdreckten, abgerissenen Montur. Mit nassen, schlammbedeckten Haaren und rußverschmiertem Gesicht. Ja sicher, dachte er noch, ehe er bewusstlos zusammenbrach. Übergang Der Wechsel kam in der Nacht. Es war das unruhige Scharren der Kornkäfer, das Gamondio geweckt hatte. Er streckte den Kopf ins Freie und gähnte. Das Dung-Feuer vor dem Zelt war ausgegangen. Vedoco, der Wache hatte, war nirgends zu sehen; offenbar sah er bei den Reittieren nach dem Rechten. Wieder vernahm Gamondio Geräusche bei den Dendibos, roch ihre Anspannung, die mit dem leichten Wind herüberwehte.
10 Nervöses Klacken der Geweihe, ängstliches Schnauben. Vielleicht nächtliche Jäger. Treiberechsen? Doch bis auf die Unruhe war alles, wie es sein sollte. Vor dem Lager erstreckte sich die weite Afal-Savanne – Tulig-Gebiet. Der Stamm der Afalharo lagerte jetzt östlich von der Karawanserei Zarband. Gamondio und Dendia waren glücklich, wieder daheim zu sein. Es hatte Trauergesänge gegeben und Gebete; und manchen guten Wunsch hatte er insgeheim jenem Fremden mit den weißen Haaren nachgesandt, der ein Bote oder was auch immer gewesen sein mochte … Und bei aller Trauer über die bei dem Termitenangriff Gefallenen – es war ihnen auf dem Rückweg gelungen, ein paar wilde Dendibos zu fangen, junge, kräftige Tiere, zwei Weibchen und drei Bullen. Günstige Zeichen für die Zukunft, sollte man meinen. Wenn da nicht Dendias Visionen von der schwarzen Schlange gewesen wären, die die Sonne zu verschlingen drohte. Dann erst bemerkte der noch schlaftrunkene Gamondio die Helligkeit, sah die scharf gezeichneten Schatten, die von einem unwirklichen Licht in seinem Rücken erzeugt wurden. Ungläubig trat er ein paar Schritte zur Seite und starrte den riesenhaften Mond an, der am Himmel stand und wie ein Edelstein funkelte. Einen Mond, der nicht dorthin gehörte. Nicht an diesen Himmel. Nicht an den Himmel seiner Heimat. Und er sah das weiß glitzernde Band, das sich von Horizont zu Horizont über das gesamte Firmament spannte. Sah, wie sich immer wieder Bruchstücke daraus lösten. Der Horizont schien an manchen Stellen in einem düsteren, unheilverkündenden Rot zu glühen. Pechschwarze Wolken schoben sich heran, und in der Ferne rumpelte es wie bei einem sich nähernden Gewitter. Heiß war der Wind. Und feurige Speere stürzten vom Himmel. Brandgeruch lag in der Luft. Das war ganz und gar nicht, wie es sein sollte.
Michael H. Buchholz »Dendia!«, brüllte er, um die Schamanin im Zelt zu wecken. Dann eilte er hinüber zu den Dendibos. Er fand die Tiere unbeaufsichtigt vor, nervös und einer Panik nahe. »Verdorbener Dendibokot! Wo steckst du, Vedoco?« Der Häuptling der Tulig rief nach ihm. Immer wieder. Er hastete von Zelt zu Zelt, rief und suchte. Doch der junge Krieger blieb unauffindbar. Als hätte es ihn nie gegeben. Und auch nicht Dendia, Amia, Fideco, Riselmo, Viegia und die meisten anderen Stammesangehörigen. Etwas hatte sie – verschwinden lassen. Ihre Zelte waren leer. Das Lager war zum größten Teil verwaist. Jemand kam langsam herbei und legte dem verzweifelten Häuptling eine runzlige Hand auf die Schulter. Es war Hirquio, der Älteste des Stammes. Er schüttelte stumm den Kopf. Verzog das faltige Gesicht. Jedes Suchen war sinnlos. Die Endzeit war gekommen. Wie Dendia es prophezeit hatte. Und über ihren Häuptern stand drohend der fremde Mond.
3. Atlan: 30. April 1225 NGZ Vinara – Canyon der Visionen Was ich sah, konnte nicht sein. Wieder machte der Canyon der Visionen seinem Namen alle Ehre. Er überschwemmte mich mit Trugbildern meiner eigenen Fantasie. Ich sah die Gestalten aus einem Flirren, aus wogender, undurchsichtiger Luft hervortreten. Verschwommene Konturen wurden zu festen Körpern. Da war ein riesenhafter Springer mit schulterlangem rotem Haar, zu Dutzenden Zöpfen geflochten, mit einer zweischneidigen Axt in der Hand … Da war ein Luccianer, massig und muskulös … Meine Vision machte aus ihm Zanargun, den Leiter der Abteilung Außenoperationen der TOSOMA. Da war auch ein schwitzender Terraner,
Die Macht des Kristallmondes der bis auf das letzte seiner dunkelblonden Haare unserem Scaul Falk glich. Seine Aufgabe war die Überwachung der internen Schiffskommunikation … Und da war ein Arkonide, der in meiner Vision zu Lethem da Vokoban wurde, dem 2. Piloten der TOSOMA … Wie ein Kind starrte er auf seine Hände, als sähe er sie zum ersten Mal. Trugbilder. Halluzinationen. Illusionen. Immerhin Visionen mit Spiegelbildern, wisperte der Extrasinn. Erst jetzt registrierte ich bewusst die Reflexionen der Gestalten im Wasser des großen Tümpels. Waren sie womöglich doch echt? Real? Keine Wunschbilder meiner überreizten Nerven? Natürlich sind sie echt, drängte der Extrasinn. Und sie brauchen Hilfe. Tu etwas! Ich trat einen Schritt vor. In diesem Moment brach Lethem zusammen. Neben ihm fiel der unbekannte Springer zu Boden, die Axt entglitt klirrend seinen Pranken. Zanargun schwankte, verdrehte die Augen und kippte hintenüber. Scaul hob halb die Hand zum Gruß, doch auch er vermochte sich nicht auf den Beinen zu halten. Er stürzte der Länge nach in den Tümpel. Was immer sie erlebt und durchgemacht hatten, sie waren am Ende ihrer Kräfte. Noch ehe ich zu einem von ihnen eilen konnte, erschien eine weitere Gestalt. Von wegen echt, gab ich verbittert zurück. Sie natürlich auch, ja? Vor mir stand, in einem golden-metallischen Paillettenanzug, jene Frau mit den kurzen roten Haaren, deren Körper und Geist ich unabhängig voneinander hatte sterben sehen; jene Frau, von der ich wusste, dass sie tot war. Vor mir stand Li da Zoltral! »Da bist du also«, sagte sie. Das konnte nicht sein.
* Keine voreiligen Schlüsse, warnte der Logiksektor. Sie ist so leibhaftig wie die anderen und damit in deinem Sinne echt.
11 Fassungslos sah ich zu, wie die Frau in dem goldfarbenen Anzug neben Scaul niederkniete und den Terraner aus dem knapp knöcheltiefen Tümpel zog. Dann kümmerte sie sich um die anderen Mitglieder der Gruppe, nestelte dabei an einer der schwarzen Taschen, die an ihrem ebenfalls schwarzen Gürtel angebracht waren. »Sie werden bald wieder zu sich kommen«, hörte ich sie sagen, während sie sich von Lethem abwandte. Ihr feuerrotes Haar schimmerte metallen im unwirklichen Licht, als sie ihr Gesicht dem Mond zuwandte. Ein ferner Donner rollte über den Canyon hinweg. »Li!«, brachte ich endlich stockend hervor. »Ich … Liebes, wie bist du …?« Sie ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Frau stieg den kleinen Hügel hinauf, entnahm einem der Etuis ein Gerät, richtete es auf Vadolon, nickte kaum merklich und steckte es zurück. Ich folgte ihr wie in Trance. Da stand sie, den Mond beobachtend, schlank, liebreizend, begehrenswert, der wieder wirklich gewordene Traum beinahe aller halb schlaflosen Nächte, die ich im Vinara-System verbracht hatte. Die Frau, die ich liebte mit einer so selten gekannten Intensität, dass mein Herz sich bei ihrem Anblick zusammenzog – und das wollte bei einem Unsterblichen schon etwas heißen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, nicht eine wagte ich zu stellen. Da stand sie und war doch tot. Zweimal hatte ich ihren Tod miterlebt. Zuerst den ihres Körpers, dann den ihres Geistes im Körper des sterbenden Tamrats. Es war unmöglich. Wie viele Möglichkeiten soll ich dir denn nennen?, fragte der Extrasinn lakonisch. Was wäre dir lieber? Kloning? Eine Zeitreise? Das Produkt eines Multiduplikators der Meister der Insel? Eine perfekte Maske? Nein, gab ich mental zurück. Keine Maske. Das ist Li – und sie ist es wieder nicht. Aber ich spüre, dass es die Li ist, die ich kenne.
12 Was du spürst, sind die unbewussten Reaktionen deines Körpers – auf ihren Körper. Du solltest dich zusammennehmen. Li deutete zum Himmel. »Da! Jetzt geschieht es.« Im nächsten Moment vergaß ich alle Fragen, die ich stellen wollte und die mir eben noch auf den Lippen gebrannt hatten. Vadolon … Ich erlebte ein Schauspiel, dessen Anblick zweifellos spektakulär war; und dessen Auswirkungen katastrophal werden konnten. Und aller Wahrscheinlichkeit nach auch werden würden. Das weiß glitzernde Band, das sich von Horizont zu Horizont spannte, geriet in Bewegung. Der leuchtende oder in Licht verwandelte ehemalige Obsidianring zog sich mit atemberaubender, weil allen Naturgesetzen widersprechender Geschwindigkeit zusammen, ballte sich zu einer Wolke, die zu pulsieren begann. Dann bildete sich ein weiß glühender Faden, der wie eine Peitsche zum Kristallmond fuhr. Binnen weniger Sekunden schwoll der Faden zu einem tornadoähnlichen Trichter an, in den das gesamte Licht oder alles Obsidian – oder was auch immer die Wolke darstellte –, gesogen wurde. Beide, Wolke und Mond, verschmolzen miteinander in einer gewaltigen Reaktion, an deren Ende der Mond doppelt so hell erstrahlte. Die Nacht über dem Planeten verschwand übergangslos. Helligkeit flutete hernieder. Vadolon glich nun einer kalten Sonne, war nur noch grellweißes, blendendes Licht. Es war mir unmöglich, die noch vor wenigen Minuten deutlich erkennbaren Facetten zu unterscheiden. »Die Psi-Materie reagiert.« Lis Tonfall ließ keinen Zweifel aufkommen. Es war keine Vermutung, sie traf eine Feststellung. Offenbar wusste sie genau, was geschah. »Es war die Vergessene Positronik«, fuhr sie in sachlichem, beinahe kaltem Tonfall fort. »Sie ist mit dem Kristallmond kollidiert; alle ihre Versuche, eine der Versetzungen einzuleiten, sind gescheitert. Am Ende stürzte sie dem psi-materiellen Gigantkristall
Michael H. Buchholz mit hoher Fahrt entgegen. Die heftige Kollision brach dabei riesige Brocken heraus. Der kinetische Impuls war stark genug, die Plattform und den Mond miteinander zu verschmelzen.« Li sah mich an, wie sie einen beliebigen Fremden angesehen hätte. Ich ließ die Hände sinken, die ich erhoben hatte, um sie in die Arme zu schließen. »Fehlfunktion!« Sie verzog verächtlich die Mundwinkel und wandte sich brüsk ab. Erst als sie weitersprach, merkte ich, dass sie damit nicht mich, sondern den Mond gemeint hatte. Wir begannen, den kleinen Abhang wieder hinunterzugehen. »Eine Kettenreaktion. Eine Fehlfunktion zog die andere nach sich! Das Backup-System wurde instabil. Verstehst du?« »Ehrlich gesagt, nein. Hat Samkar dich … Ich meine … Wie konntest du …?« Lass sie weiterreden!, forderte der Extrasinn scharf. Und begreif es endlich. Das ist nicht deine Li. Die Frau, die du kanntest, ist tot. Aus dieser Hülle spricht allein das von Samkar aufgepfropfte Bewusstsein. »An sich sind die Zusammenhänge ganz einfach. Das Backup-System hat die Spiegelwelten initiiert und stabilisiert. Es hat auch die Technostädte gesteuert und überwacht. Nachdem sich infolge der Fehlfunktionen deren Ausfälle allerdings häuften, gelang es auch dem Backup-System nicht mehr, die vier Spiegelwelten zentral zu halten. Die in ihnen gespeicherte Kraft der Psi-Materie wurde aufgegeben – eine Ventilfunktion, wenn du so willst.« »Was meinst du mit aufgegeben?« »Die Welten sind untergegangen. Sie wurden aufgelöst. Sind nicht länger existent. Such dir einen Begriff aus. Jeder passt und passt doch wieder nicht. Gelöscht trifft es vielleicht noch am ehesten. Oder eben – aufgegeben.« Sie machte eine abwertende Geste, als hätte eine namenlose Instanz die Planeten einfach weggewischt. »Aber …« Meine Gedanken begannen zu rasen. »Dann sind all die vielen Millionen
Die Macht des Kristallmondes Lebewesen dort – sämtliche Intelligenzen wie Akonen, Blues, Cheborparner, Überschwere und all die anderen – tot?« Ich packte ihre Oberarme und riss sie zu mir herum. Und schrie ihr ins Gesicht: »Einfach nicht länger existent? Mal eben so untergegangen? Gelöscht, ja? Aufgegeben?« »Fehlfunktion«, sagte sie abermals und zuckte die selbst unter dem Paillettenanzug wohlgerundet anmutenden Schultern. »Auch die Spiegelwesen ließen sich nicht länger stabilisieren.« Mit einer beiläufigen Bewegung drehte sie sich mühelos aus meinem Griff und lehnte sich gegen den mannshohen Felsen, an dem Tamiljon beinahe zerschmettert worden wäre. Sie hob ein Knie an und stützte den schwarzen Stiefel gegen den Stein. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah zum Rand des Canyons hoch. Ein Schwarm Flugsaurier von der Art, die mich und Jorge Javales in den Ruinen von Aziin angegriffen hatten, flog in enger Formation, aber in für uns ungefährlicher Höhe über die Schlucht. Ihre Schreie gingen im neuerlichen heranrollenden Donnern unter. Dort, woher die Echsen gekommen waren, brannte der Horizont. Auf Vinara Vier waren sie zu Hause, wisperte der Extrasinn. Jetzt sind sie hier. »Und was ist mit den Spiegelwesen geschehen?«, fragte ich. Eine lauernde Ahnung wurde fast zur Gewissheit. »Rund neunzig Prozent aller Wesen auf allen Vinara-Welten waren Spiegelwesen«, sagte Li, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Diese Angabe deckt sich mit der von Cisoph Tonk, bestätigte der Extrasinn. Denk an das Gespräch mit Anee. Unwillkürlich nickte ich. »Wenn dich das beruhigt«, sprach Li weiter, »nur sie wurden aufgegeben. Abgeschaltet, wenn dir das lieber ist. Alle anderen, eben die wirklich existierenden Bewohner, wurden hierher nach Vinara versetzt, dem einzigen echten Planeten. Notfallprogramme des Backup-Systems griffen rechtzeitig ein.
13 Alle Originalbewohner wurden – wie auch Lethem, die anderen und ich – hierher zurücktransportiert.« Li stieß sich von dem Felsen ab. »Doch das alles ist völlig irrelevant.« Für einen winzigen Moment huschten wieder die grausame Härte und die stählerne Kompromisslosigkeit über ihr Gesicht, die mich in den Wochen vor ihrem gewaltsamen Ende oftmals an eine zum Töten bereite Killerin hatten denken lassen. So hatte sie mich angesehen, kurz bevor sie mich in der Bewusstseinstransferanlage angegriffen hatte. Im nächsten Augenblick glätteten sich ihre Züge, verschwand diese raubtierhafte Anspannung so schnell, wie sie entstanden war. Mit der Stiefelspitze zeichnete sie einen Kreis in den Sand, und auf diesem Kreis fünf kleinere – eine schematische Darstellung des Vinara-Systems. »Nur Vinara mit seinem Mond Vadolon verdient die Bezeichnung echt«, sagte sie. »Echt allerdings nur insofern, als es die erste und älteste Welt war, die aus der Psi-Materie Vadolons entstand. Doch einmal konkret materialisiert, unterschied sich Vinaras Materie nicht mehr von jeder anderen normalen Materie. Die später nacheinander entstandenen Spiegelwelten dagegen waren anders – sie glichen stabilisierten Materieprojektionen. Der Stabilisierungsvorgang wurde durch die Silbersäulen und die Technostädte aufrechterhalten. Säulen wie Städte wurden ebenfalls einst aus der Psi-Materie des Kristallmondes geschaffen. Ebenso alle sonstigen technischen Einrichtungen wie, unter anderem, die Ovalroboter.« Mit einigen schnellen Fußbewegungen löschte Li vier der kleineren Kreise aus. Ihre Stiefelspitze drückte eine Vertiefung in die Nähe des letzten Kreises: Vadolon. »Ohne die Vergessene Positronik hätte das Planetensystem vielleicht stabil bleiben können; doch ihre Kollision mit dem Kristallmond war der zündende Funke. Nun brennt die Lunte lichterloh, und sie brennt schnell – und wir sitzen direkt auf dem Pulverfass!«
14 Li streckte den Arm aus und machte eine Geste, die alles, den Canyon, den brennenden Horizont, die sich auftürmenden Staubwolken, die fliehenden Flugechsen, umfasste. »Auf Vinara herrscht inzwischen das nackte Chaos. Rund um den Globus schlagen immer mehr Trümmer des Mondes und des auseinander gebrochenen Obsidianbandes ein …« Als wollte ihr die Natur Recht geben, lief ein heftiges Zittern durch den Boden. Li schwankte und taumelte gegen meine Schultern. Ehe ich sie festhalten konnte, hatte sie sich wieder aufgerichtet. Hinter uns ertönte lautes Gepolter. Abermals donnerten lose Steinmassen die Wände des Canyons herab. Diesmal an der Stelle, über der die Flugechsen nach Westen entschwunden waren. Sie lag gut einen halben Kilometer entfernt. Als ich mich wieder zu Li umdrehen wollte, rannte sie bereits zu den anderen Männern hinunter. Lethem richtete sich in diesem Augenblick auf, hockte im Sand und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Die Ellenbogen hatte er auf seine Knie gestützt. Der 2. Pilot der TOSOMA stöhnte leise. Auch die übrigen Männer bewegten sich, erwachten jetzt nahezu gleichzeitig aus ihrer Bewusstlosigkeit. Am schnellsten von allen war der Springer wieder auf den Beinen; nach und nach erhoben sich auch die anderen. Bis auf zwei Ausnahmen. Tamiljon blieb nach wie vor reglos am Boden liegen. Lethem saß neben ihm und starrte mich an wie eine Erscheinung, während ich zu ihm trat. Ich kniete neben dem Arkoniden nieder. Äußere Verletzungen hatte ich bei keinem der hierher Versetzten entdecken können; ihre kollektive Bewusstlosigkeit musste auf den ungewöhnlichen Transportvorgang zurückzuführen sein. »Alles mit dir in Ordnung, Lethem?«, fragte ich, stand dabei auf und reichte ihm die Hand.
Michael H. Buchholz Er ergriff sie und zog sich daran hoch. Kopfschüttelnd musterte er mich von oben bis unten. »Du und wir hier an diesem Ort … Es ist unglaublich. Wie bist du … Nein, warte einen Moment«, unterbrach er sich plötzlich selbst. Er drehte sich wie suchend im Kreis. »Ondaix! Scaul! Zanargun! – Wo ist Kythara?«, platzte er dann heraus.
4. January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara – Viingh, die Insel der Verdammten »Kommt weiter. Nun macht schon!« January Khemo-Massai, der Kommandant der TOSOMA, stand am Fuß eines lang gestreckten, flachen Hügels und wartete, bis auch der Letzte seiner Leute an ihm vorübergeeilt war. Er schlug dem Arkoniden Tassagol aufmunternd auf die Schulter, der mehr humpelte und sprang, als dass er lief. Der Leiter der Abteilung Funk und Ortung hatte sich beim Absturz den rechten Oberschenkel gebrochen und blieb mit seiner Beinschiene immer wieder hinter den anderen zurück. »Schaffst du es noch – eine halbe Stunde?«, erkundigte sich der Terraner, während er neben dem Arkoniden sein Tempo verringerte. Tassagol nickte seinem Kommandanten mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Nimm auf mich keine Rücksicht.« »Blödsinn. Zumindest den Hügel helfe ich dir hinauf.« Khemo-Massai griff nach Tassagols rechtem Arm, schlang seinen linken um dessen Taille und zog ihn mit sich. Glücklicherweise war der quer zu ihrer Richtung verlaufende Hügel mit seinem sanften Anstieg die einzige Erhebung weit und breit; seit dem Aufbruch aus der großen Stadt waren sie nur durch ebenes, grasbewachsenes Gelände gekommen. Immerhin bot seine Kuppe eine gute Aussicht, und ihn zu umgehen hätte viel zu viel Zeit gekostet. »Kommandant!« Der Ruf kam von der
Die Macht des Kristallmondes Spitze ihres kleinen Zuges. Jemand winkte energisch. Es war Cayrys zierliche Gestalt, die schon vorausgeeilt war und nun oben auf der Kuppe stand. Hasdhor da Honghal, der Stellvertretende Leiter der Abteilung Triebwerke und Maschinen an Bord der TOSOMA, erreichte sie soeben und verschnaufte, die Hände auf die durchgedrückten Knie gestützt, den platinblonden Kopf vornübergebeugt. Sechsundsechzig Besatzungsmitglieder liefen hier, er selbst, Khemo-Massai, eingeschlossen. Seit fünf Stunden hasteten sie, ohne Pause, immerzu in südöstlicher Richtung. Sie hatten den untersten Ring der Stadt verlassen können, ohne noch von den Ovalrobotern daran gehindert zu werden. Anschließend hatten sie die weite Bucht des Sees umrundet und waren dann in die mit kurzem Gras bestandene Ebene hinausgelaufen. Dort, wo die Raumschiffswracks in schwer abschätzbarer Zahl verrotteten. In Viinghodor hatte man sie daher die Ebene der Tausend Wracks genannt … Sechsundsechzig unfreiwillige Bewohner der Stufenstadt Viinghodor, der einzigen Stadt der Insel der Verdammten. Gefangene des Technik hemmenden Einflusses – und der allgegenwärtigen Ovalroboter. Bis zu diesem Morgen … Mit ihnen waren unzählige Viin ebenfalls aus der Stadt geströmt, teils ratlos, teils neugierig, teils nur dem Vorbild und dem Gedränge der anderen folgend. Man wusste in Viinghodor um den Wunsch der TOSOMABesatzung, den Planeten Vinara, so schnell es ging, wieder zu verlassen, und anfangs hatte man sie ausgelacht. Die meisten Nachkommen der gestrandeten Raumfahrer hatten sich mit Viinghodor und der Insel der Verdammten arrangiert; es lebte sich vergleichsweise gut hier, einmal davon abgesehen, dass die Ovalroboter jeden Zugang zu den abgestürzten oder notgelandeten Raumschiffen unterbanden. Andererseits versorgten die Roboter die Einwohner der Stufenstadt mit Nahrung und Kleidung und schufen den notwendigen Wohnraum …
15 Es gab nur wenige Viin, die bis dahin Vinara wirklich verlassen wollten. In der Nacht waren die Meteoriten gekommen. Schon seit Wochen hatten die Viinghodorer immer wieder Leuchtspuren am Himmel beobachtet. Unzählige Staubexplosionen in der Ebene hatten tagsüber von kleinen Trümmern gekündet, die dort eingeschlagen waren. Doch bislang war die Stadt verschont geblieben, und alle Warnungen der Leute von der TOSOMA vor einer drohenden Katastrophe wurden von den Viin in den Wind geschlagen. In unmittelbarer Nähe der Stadt waren in der Nacht jedoch drei vergleichsweise große Trümmerstücke niedergegangen. Zwei davon waren kurz nacheinander wie Titanenfackeln außerhalb der Stadt mit einem unheimlichen Schwirren ins Meer gestürzt. Sie hatten, nach einer donnernden Explosion, mittelstarke Flutwellen ausgelöst, deren Gewalt ein beträchtlicher Teil der im Hafen liegenden Schiffe zum Opfer gefallen war. Nahezu alle Gebäude im untersten, ersten Ring waren zerstört oder fortgespült worden; ein weiterer Einschlag hatte nur wenig später die vierte Ebene der Stadt getroffen und heilloses Chaos ausgelöst sowie etliche Tote und Verwundete unter den Viin gefordert. Ob nun diese Einschläge oder andere, entferntere dafür verantwortlich waren, vermochte letztendlich niemand zu sagen – jedenfalls begann plötzlich vinarafremde Technik wieder zu funktionieren. Einige der Geräte, die von den TOSOMA-Besatzungsmitgliedern am Leib oder als Bestandteil ihrer Kleidung getragen worden waren, als sie von den Ovalrobotern abtransportiert wurden, erwachten mit einem Schlag wieder zum Leben. Die Frauen und Männer der TOSOMA hatten es als Erste bemerkt: Ein Multifunktionsarmband, das zufällig noch eingeschaltet gewesen war, rauschte. Uhren begannen wieder zu funktionieren. Taschenpads waren wieder benutzbar. Der rätselhafte Technikausfall war seinerseits ausgefallen, mitten in
16 der Panik und der allgemeinen Hilflosigkeit. Doch nicht nur vinarafremde Technik schien wieder zu neuem Leben erwacht zu sein, sondern die vinaraeigene Technik versagte schlagartig. Mit dem »Ausfall des Technikausfalls« – ein geflügeltes Wort, das dank des überschweren Barden Umrin Zeles Barbinor blitzschnell die Runde machte – waren auch die sonst jede Flucht vereitelnden Ovalroboter verschwunden, und das im wörtlichen Sinn. January Khemo-Massai hatte selbst gesehen, wie sich zwei der Roboter aufgelöst hatten. Von diesem Zeitpunkt an hatte niemand wieder eines der ovalen Maschinenwesen erblickt. Wilde Hoffnung erfüllte von diesem Moment an nicht nur die Besatzung der TOSOMA, sondern nahezu alle Viinghodorer. Umrin hatte es für alle in Worte – oder in ein Lied, wie er es nannte – gefasst: »Auf zu den Raumschiffen. Wir können Vinara vielleicht noch lebend verlassen.« Die Leute der TOSOMA waren die Ersten gewesen, die vor dem Aufgehen Verdrans alles stehen und liegen gelassen hatten und in Richtung der Ebene der Tausend Wracks losgerannt waren. Dass die anderen ihnen folgen würden, war nahezu gewiss. Ein kurzer Hyperfunkkontakt mit Lethem da Vokoban war über Zuunariks Armbandgerät unmittelbar nach dem Aufbruch zustande gekommen; Lethems Gruppe befand sich auf Vinara Zwei. Sollte es gelingen, die TOSOMA wieder in Betrieb zu nehmen, würde man ihn und seine Leute dort abholen. Wo Atlan sich aufhielt, war nach wie vor unbekannt. Sechs Stunden später und vierzig Kilometer weiter drückte Khemo-Massai dem nächsten Arkoniden, an dem er vorbeikam, Tassagols Arm entgegen. Es war der Chefwissenschaftler Rintar da Ragnaari, der den Hügel heraufkeuchte. »Hilf ihm weiter. Solange es geht.« Der stämmige Hyperphysiker besaß Kräfte wie ein Bär und hatte außer Prellungen und Stauchungen keine weiteren Blessuren erlitten. In den rund eineinhalb Monaten seit
Michael H. Buchholz dem Absturz der TOSOMA war er, wie die meisten anderen Besatzungsmitglieder, weitestgehend wiederhergestellt. Khemo-Massai hoffte nur, dass Rintars Ungeschicklichkeit ihn nicht über seine eigenen Füße stolpern ließ und er den tapfer weiterhumpelnden Tassagol mit sich riss. »Dort!« Cayry winkte abermals hektisch und deutete nach vorn. Khemo-Massai legte die letzten Meter im Bergaufspurt zurück. Dann hatte er die Kuppe erreicht und sah, was die Frau meinte. Raumschiffe, so weit das Auge auch reichte …
* Vor ihnen senkte sich das Gelände sanft den Hügel hinab. Das Gras wuchs auf dieser Seite nur noch spärlich, um schon nach etwa sechshundert Metern, nachdem es waagerechten Boden erreicht hatte, in einzelnen bräunlichen Zungen und halb verdorrten Inselchen auszulaufen. Dahinter begann eine sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckende trostlose Staub- und Geröllebene. Es gab bis zu den ersten verlassenen Schiffskörpern absolut nichts, an dem sich das Auge orientieren konnte; keinen noch so armseligen Busch, keine größeren Felsen, keine Geländeunebenheiten. Nur trostlose Weite. Von ihrem Standpunkt, der Hügelkuppe, aus gesehen, ragten die ersten Raumschiffe in etwa zehn Kilometern Entfernung in den Himmel – fast transparent anmutende, bläuliche Schatten im Dunst. Der scheinbare Ring aus Stahl, der in Wirklichkeit nur die äußere Begrenzung der Ebene der Tausend Wracks darstellte, zog sich nach beiden Seiten bis zum Horizont, wurde an den Rändern immer kleiner und verlor sich in zerfasernden, verschwommenen Konturen. Der Wind verfing sich in den künstlichen Schluchten aus korrodierendem Metall und wirbelte immer wieder Staubwolken auf, die es ihnen von hier aus unmöglich machten, Details zu erkennen.
Die Macht des Kristallmondes Wo war die TOSOMA? Als sie von den Ovalrobotern, in Fesselfelder gehüllt, über die Ebene transportiert worden waren, hatten sie alle mehr oder weniger mit ihren Verletzungen zu kämpfen gehabt oder versucht, sich aus den Tentakeln der Roboter zu befreien. Khemo-Massai erinnerte sich an den Transport so gut wie gar nicht; seine schwere Gehirnerschütterung hatte ihm alles Mögliche vorgegaukelt, nur nicht die tatsächlichen Gegebenheiten gezeigt. Nach und nach ließen sich die auf der Kuppe ankommenden Besatzungsmitglieder ins Gras fallen, wo sie gerade standen. Manche lagen nach Luft ringend auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt. Andere hockten nur da und trockneten sich den Schweiß. Sie versuchten, zu Atem zu kommen, hielten ihre Nasen in den kühlen Wind. Wasser wäre jetzt hilfreich, dachte Khemo-Massai, Wasser und ein Bissen zu essen. Ein Imperium für einen Konzentratriegel! Doch den gab es nicht und auch keine Quelle, keinen Tümpel, kein noch so dünnes Rinnsal. Er sah in hochrote, größtenteils erschöpfte Gesichter. Und obwohl jeder einzelne Muskel in ihm nach einer Pause schrie, wusste er, dass die Anstrengung noch nicht vorbei war. Noch hatten sie das Schiff nicht erreicht. Und selbst dann … Er blickte sich fragend um. »Irgendwelche sinnvollen Vorschläge? Cayry?« Die Stellvertretende Kommandantin kniff die nur schwach rötlich schimmernden Augen zusammen. »Wir können unmöglich das gesamte Landegebiet absuchen. Dazu ist es zu groß. Schätzungsweise hundertzwanzig Kilometer im Durchmesser. Ich erinnere mich aber, dass wir nicht zwischen allzu vielen Schiffen hindurchgeflogen sind, ehe die freie Ebene begann. Die TOSOMA muss also irgendwo nahe dem Rand, auf dieser Seite des Feldes niedergegangen sein.« Khemo-Massai sah Hasdhor auffordernd
17 an. »Ich erinnere mich an zwei auffällige Schiffstypen.« Der Ingenieur war durch eine Gehirnerschütterung ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. »Genau weiß ich es nicht mehr, aber ich glaube, die beiden Schiffe standen in entgegengesetzter Richtung. Entgegengesetzt zu der Richtung, meine ich, in die wir dann geflogen sind.« Hasdhor schloss für einen Moment die Lider, rieb den Schweiß aus den Augenwinkeln. Dann nickte er. »Das eine könnte dieser verwaschene Fleck dahinten sein, dort, wo sich die Wolken sammeln – ein riesiger Würfelraumer mit einer Kantenlänge von bestimmt fünf Kilometern. Das andere, da drüben … der hoch aufragende Strich links davon … Das könnte diese Springerwalze sein, die mir aufgefallen ist … Wenn der blaue Schatten daneben dieses seltsame Birnenschiff ist, das sie auf dem Stiel gelandet haben … Dann steht die TOSOMA irgendwo in dieser Richtung. Die vier buckelartigen Erhebungen weiter vorne, um die der Staub wirbelt – was meint ihr, sind das Arkonraumer?« »Exakt«, rief Rintar da Ragnaari, der mit Tassagol eben die Kuppe des Hügels erreichte und die letzten Worte gehört hatte. »Drei Schlachtkreuzer zu je 500 Meter Durchmesser. Bei dem etwas höheren Buckel ganz links handelt es sich um ein Schlachtschiff mit 800 Metern Durchmesser. Alle vier sind Raumer des Robotregenten. Letzte Baugruppe, also schätzungsweise um die 2780 Jahre alt. Und davon links, das nächste, viel kleinere Schiff – das ist die TOSOMA. Könnt ihr euch denn gar nichts merken?« Rintar sah sich mit hochgezogenen Brauen um und tippte sich ebenso bezeichnend wie ausdauernd an die Stirn. Der Kommandant schüttelte lächelnd den kraushaarigen Kopf. Dann nickte er erleichtert. Dank Rintars unausgesetzter Missgeschicklichkeit übersah er immer wieder den auf Iprasa aktivierten Extrasinn des Hyperphysikers und das mit dieser Aktivierung
18 verbundene fotografische Gedächtnis. Der dem uralten Adels-Khasurn der da Ragnaari entstammende Arkonide fuhr sich breit grinsend mit beiden Händen durch das fingerlange Haar. Dabei ließ er Tassagols Arm los, der sich noch immer schwer atmend auf ihn stützte. Tassagol hatte mit dieser plötzlichen Bewegung nicht gerechnet und verlor taumelnd das Gleichgewicht. Schmerzhaft trat er mit seinem geschienten Bein auf und geriet ins Straucheln. In einer gelungenen, wenn auch unfreiwilligen Pirouette stürzte er kopfüber ins Gras und rollte davon. »Au! Verdammt noch mal, Rintar!« Khemo-Massai sprang hinzu und fing den fluchenden Tassagol auf, ehe der wild mit den Armen rudernde Funk- und Ortungsspezialist vollends den Hügel hinunterrollen konnte. »Verzeihung. Ich konnte doch nicht … Ich hatte doch bloß …« Zerknirscht wandte sich Rintar an Tassagol: »Warte, ich werde dir helfen.« Er eilte mit ausgestreckten Armen auf den Gestürzten zu. Dabei sah er aus wie ein Bär, der, hoch aufgerichtet, mit den Tatzen voraus, zum Angriff überging. Khemo-Masaai hätte schwören können, dass Tassagol erbleichte. »Halt ein! Rühr dich nicht von der Stelle! Und bitte, rühr mich nicht an!«, rief der am Boden liegende Arkonide übertrieben flehend. »Erhabener, erbarme dich meiner!« Die umstehenden Besatzungsmitglieder der TOSOMA lachten. Für den Moment machte sich spürbare Erleichterung breit. Mit dem aufbrandenden Gelächter entlud sich die Anspannung, unter der sie alle infolge der in hohem Tempo zurückgelegten Gewaltstrecke standen. In diesem Augenblick blitzte es bei den Raumschiffen auf, und im selben Sekundenbruchteil krachte ein säulendicker Thermostrahl donnernd in den Fuß des Hügels. Glutheiße Luft wurde zur Seite verdrängt, eine kochende Druckwelle von Orkanstärke fegte über die Kuppe hinweg. Gras, Staub und Gestein wirbelten mit davon. Alle
Michael H. Buchholz Schreie gingen im Tosen der brodelnden Luftmassen unter. Wer nicht von den heranfegenden Luftmassen oder dem heftigen Beben von den Beinen gerissen wurde, warf sich flach auf den Boden. Ein jeder riss die Arme über den Kopf, um irgendwie den hochgeschleuderten, orange glühenden Schlackefladen zu entgehen, die unmittelbar darauf, kaum dass der Lärm verklungen war, rund um den Hügel mit hässlichem Zischen niederklatschten und das trockene Gras an unzähligen Stellen in Brand setzten. Übergang Talpeddo stand am Fenster und kraulte Ruras Nacken, ohne zu bemerken, was er tat. Zu verwirrend war der Anblick des Mondes, der sich binnen weniger Atemzüge in eine kalte weiße Sonne verwandelt hatte. Obwohl Nacht hätte sein müssen, herrschte fast heller Tag. Das bedrohliche Band, das wochenlang den Himmel gespalten hatte, war indes verschwunden. Er starrte aus dem Fenster und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Unter ihm breiteten sich die Kugelgebäude der Stadt Helmdor aus, deren eine Seite hell im Licht des blendenden Mondes lag, die andere im tiefsten Schatten. Schwarzer Qualm stieg dort auf, wo sich, jenseits des charakteristischen Bahnhofsgebäudes, die abfahrbereite Dampflokomotive und die lange Kette der Waggons befinden mussten, bis auf den letzten Platz beladen mit Flüchtenden … Ein schriller Pfiff ertönte, gefolgt von dem typischen Zischen, mit dem überschüssiger Dampf aus dem Kessel abgelassen wurde. Esturin Virol neben ihm nahm einen langen Zug aus der Wasserpfeife. »Seltsame Dinge geschehen wahrlich dieser Tage«, murmelte er in den ausgeblasenen Rauch hinein. »Erst wählt dich unser Herr Sardaengar aus, statt mich … Ich verstehe es immer noch nicht. Dann schweigt er wiederum gar völlig … Dazu die seltsamen Zeichen am
Die Macht des Kristallmondes Himmel, es ist …« Talpeddo nickte und ergänzte: »Alles höchst sonderbar, in der Tat.« Er griff in eine Schale, in der kleine Fleischbrocken als Leckereien für Rura lagen. Er warf ihr eins der handtellergroßen Stücke zu, ohne hinzusehen. Es war auch nicht nötig, Rura war in der Lage, jeden Bissen blitzschnell zu fangen. Dieser allerdings platschte hörbar auf den Steinboden. Rura musste sich zudem gebückt haben, denn Talpeddo spürte ihren Hals nicht mehr. Und auch ihren schweren Körper nicht mehr an seiner Seite. Das Zimmer hinter dem kleinen Fenster lag im Dämmerlicht. Auch als er nach Rura tastete, griff er nur ins Leere. »Rura? – Ist Rura bei dir, Esturin?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass er sich völlig allein im Zimmer befand. Nein, nicht ganz. Auf dem Bissen Fleisch hockte eine metallen schimmernde Fliege. Und vor dem Fenster flatterte ein Fledermauswesen zweimal heran und huschte beim dritten Anflug mit einer eleganten Körperdrehung ins Zimmer herein.
5. Atlan: 30. April 1225 NGZ Vinara – Canyon der Visionen Li da Zoltral oder besser das Bewusstsein, das in ihrem Körper lebte und sich seiner bediente, schüttelte den Kopf. »Das geht uns nichts an.« Die Frau sprach keinen der Anwesenden direkt an. »Wo ist Kythara?«, rief Lethem abermals. »Weshalb ist sie nicht ebenfalls materialisiert?« Li drehte sich langsam zu ihm um, musterte ihn kurz und schien das Interesse an ihm oder der Frage schlagartig zu verlieren. Sie wandte sich mir zu. »Wir müssen gehen.« Dann ließ sie auch mich stehen und trat ein paar Schritte zur Seite. Stumm betrachtete sie den Mond, starrte in das gleißende Licht, ohne zu blinzeln.
19 Lethem sprang die Wut förmlich aus den Augen. Er baute sich vor Li auf, ergriff ihren Ellenbogen und riss sie herum. »Ich will wissen, was mit Kythara geschehen ist!«, rief er außer sich. »Was war das für eine schwarze Wand, die uns verschlungen hat? Und wieso sind wir ausgerechnet hier gelandet und überhaupt noch am Leben? Was weißt du darüber?« Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie geschüttelt. Sie streifte seine Hand so beiläufig ab, als besäße er nur die bedeutungslose Kraft eines Kindes und nicht den stahlharten Griff eines austrainierten Kämpfers. Sie seufzte. »Nun, obwohl dies alles vollkommen nebensächlich ist … Also bitte. Durch die Fehlfunktionen des Kristallmondes ist der Technik hemmende Einfluss überall zum Erliegen gekommen. Dein Armbandgerät funktioniert wieder, alle meine Anzugsysteme ebenfalls. Die schwarze Wand ist – vielmehr war – der optische Eindruck der Notfall-Transitionseinrichtung, mit der alle echten Lebewesen zurück nach Vinara transportiert wurden. Es ist allerdings kein Zufall, dass wir gerade hier herausgekommen sind. Dank einiger meiner Anzugsmodule war es mir möglich, die Rematerialisierungskoordinaten zu beeinflussen.« »Woher wusstest du, wo sich Atlan aufhielt?«, fragte Zanargun misstrauisch. »Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, wo sich Atlan befand«, gab sie beinahe gelangweilt zurück. »Das muss dir genügen.« »Nein, das genügt mir keineswegs«, begehrte Zanargun auf und schob den Zweiten Piloten der TOSOMA zur Seite. »Du hättest es uns gleich sagen können, dass …« »Ihr habt nicht gefragt. Also wozu? Wir sind doch hier.« »Wir – ja!«, mischte sich Lethem wieder ein. »Aber, bei Arkons Göttern, wo ist Kythara?« Li wandte sich dem Zweiten Piloten zu. »Die Varganin«, sagte sie langsam und ignorierte mein sichtliches Zusammenzucken, »hat ihre eigenen Methoden. Und ihre eigenen Ziele. Ich bin sicher, dass wir
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Michael H. Buchholz
ihr zu gegebener Zeit wieder begegnen werden. – Sind wir jetzt endlich fertig?« »Nein, Li«, antwortete ich und trat meinerseits auf sie zu. »Noch nicht ganz. Du verheimlichst uns wesentliche Zusammenhänge, und ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren. Lethem hat völlig Recht. Was hat das alles zu bedeuten? Die Fehlfunktionen? Der Technik hemmende Ausfall? Dieser so genannte Zusammenbruch der Stabilisation? Die Auflösung der Spiegelwelten? Was ist mit dem Shainshar-Phänomen? Ist die Braune Pest auch mit hierher transportiert worden?« »Die Wucherungen? Nein, die waren nur ein Spiegel-Phänomen. Mit der Auflösung von Vinara Drei wurden auch diese Erscheinungen aufgelöst. Bist du damit zufrieden?« »Was die Braune Pest anbelangt – ja. Was deine übrigen Erklärungen angeht – nein. Du hast vorhin mehrfach dieses Backup-System erwähnt. Backup von was?« Li da Zoltral blickte auf ihre Stiefel hinab. Sie atmete tief ein und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mich nur an und sagte ausdruckslos: »Du wirst noch gebraucht.« Sie benutzt Samkars Worte!, meldete sich mit einem schmerzhaften Impuls der Extrasinn. Exakt die gleichen Worte, die der kosmokratische Roboter auf der Stahlwelt gesprochen hat. Nie war mir Li fremder erschienen als in diesem Augenblick.
6. January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara – Viingh, die Insel der Verdammten Das trockene Gras brannte sofort lichterloh. »Dort rüber!«, schrie Khemo-Massai. Er sprang auf, kaum dass der Schlackeregen aufgehört hatte. Der Kommandant winkte mit beiden Armen in eine bestimmte Richtung. Weiter nach links. Die Ersten begannen zu laufen, verstanden offenbar, was er meinte. Sie mussten hinter die Kuppe zu-
rück, in Deckung, und vor allem raus aus dem Feuer. Der Wind wehte aus Osten, kam also von links; dorthin würden die Flammen nicht getrieben werden. Khemo-Massai riss noch immer am Boden Liegende hoch, schubste sie in die angegebene Richtung, sah, dass Cayry und die anderen TOSOMA-Offiziere seinem Beispiel folgten. »Hinterher! Du auch. Los, los, los! – Nein. Du da rüber!« Er gab Mayhel Tafgydo einen Stoß und dirigierte sie so zu einer Gruppe von zwei Männern und einer Frau, die ein Stück weit tiefer den Hügel hinab bewegungslos im Gras lagen – außerhalb des Flammenkreises, wahrscheinlich von der Druckwelle mitgerissen. Die AraÄrztin nickte und rannte zurück. »Marren! Du hilfst ihr. Tragt sie zu den anderen. Vorwärts!« Der kleine Tuglante klopfte wütend an seiner schwelenden Kleidung herum, hörte seinen Kommandanten brüllen und vergaß die Anweisung im selben Moment. Er sprang mit Riesensätzen den Hang hinunter, so dass seine langen Zöpfe hinter ihm herflogen. Einer von ihnen glimmte. Khemo-Massai suchte nach Rintar und Tassagol, konnte sie jedoch nirgends finden. Er registrierte im Vorüberhasten, wie AgirIbeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah III. einen Verwundeten aus den Flammen zog; der Hasproner selbst hatte sein zotteliges Aussehen vollständig eingebüßt. Sein Schädel war zwischen den Knochenkämmen nahezu kahl gesengt, der Kinnbart bestand nur noch zur Hälfte. Khemo-Massai wich den größeren Flammen aus, sprang über kleinere Feuer hinweg und hustete, als er weißlich graue Asche aufwirbelte. Er rannte wieder den Hügel hinauf, dorthin zurück, wo sie gestanden hatten. Die beiden Arkoniden hatten sich am weitesten unten auf der der Geröllebene zugewandten Lehne befunden. Aufsteigender Rauch und Staub in der Luft nahmen ihm die Sicht, boten zugleich aber auch so etwas wie Deckung. Geduckt überquerte der Afroterraner die Kuppe und
Die Macht des Kristallmondes verdrängte jeden Gedanken an einen zweiten, diesmal höher gezielten Schuss. Dann hörte er das Stöhnen und Husten, noch ehe er rufen musste. Aus dem Rauch heraus schälten sich Rintars breite Umrisse; er trug Tassagol auf der Schulter. Beider Kleidung war an etlichen Stellen verschmort. Tassagol blutete aus einer hässlichen Stirnwunde, und Rintars ehemals fingerlanges Haar war bis auf die Kopfhaut versengt. »Ist er …?« »Nein, er lebt«, ächzte Rintar. »Er hat nur …« Zwei weitere Thermostrahlen zerfetzten die Luft über der Ebene. Khemo-Massai riss den Hyperphysiker mit seiner Last zu Boden, fürchtete einen neuerlichen Angriff. Doch die Energiebahnen fuhren schräg in den Himmel empor und galten nicht ihnen. Ein dritter Thermostrahl zuckte wenig später fast senkrecht in die Atmosphäre; dann schwieg das unbekannte Geschütz. So schnell sie konnten, trugen sie den Verletzten über die Hügelkuppe zu den anderen.
* »Bericht!« forderte Khemo-Massai eine knappe halbe Stunde später. Sie hockten im dürftigen Schutz des Hügels, die Offiziere in einem Halbkreis um den Kommandanten versammelt. »Vierzehn Verletzte«, sagte Cayry, »keiner schwer verletzt. Die Verwundeten mussten nicht getragen werden.« »Roaltin und Tumusar sind tot«, meldete Mayhel Tafgydo niedergeschlagen. Die Ärztin hatte ihre Jacke zerrissen und aus den Fetzen eine Hand voll notdürftiger Verbände hergestellt. Ihre eigene Schramme an ihrem rechten Unterarm schien sie gar nicht zu bemerken. Der Tuglante hatte die beiden Leichname dort gelassen, wo sie gestorben waren; die daneben liegende, besinnungslose Ashanti hatte er heraufgetragen. Ihre beiden Hände waren gebrochen. Die hagere
21 Ara hatte auch sie behelfsmäßig versorgt. Anisa In'Kasara war inzwischen wieder erwacht. »Was, bitte, war das, Kommandant?«, fragte Zuunarik, der Erste Pilot. »Vermutlich kein gezielter Angriff«, antwortete Hasdhor da Honghal anstelle Khemo-Massais. »Vielleicht eine Fehlfunktion … Immerhin war der Energiefluss durch die Technik der Stadt in den Schiffen nur unterbunden worden. Jetzt laufen möglicherweise einige Aggregate noch – oder fahren wieder hoch.« »Die Schüsse kamen alle von einem Schiff, da bin ich sicher«, warf Rintar ein. »Von welchem, konnte ich leider nicht erkennen.« »Auch Erhabene sind nicht länger allwissend«, seufzte Zuunarik übertrieben. »Dieses Universum schwächelt zusehends, wenn ihr mich fragt.« »Ein Grund für uns, es ihm nicht gleichzutun«, sagte Khemo-Massai leise, mit tödlichem Ernst in der Stimme. Zuunarik hob entschuldigend die Hände. »Wir müssen die Ebene so schnell wie möglich überqueren«, fuhr Khemo-Massai fort. »Hoffentlich waren wir nur rein zufällig beinahe in der Schussbahn.« Er biss sich auf die Lippen. »Kaum vorstellbar, was geschehen wäre, wenn wir nicht oben angehalten, sondern stattdessen weitergegangen wären …« Er verscheuchte rasch den Gedanken und stand auf. »Wir bilden Achtergruppen«, ordnete er an. »Jede Gruppe läuft rasch, geschlossen, einzeln und dabei parallel zu den anderen Gruppen. So bilden wir kein gemeinsames Ziel. Verteilt die Verletzten gleichmäßig. Jeder achtet auf seinen Nebenmann. Zuunarik, Gulokhiz, Cayry, Hasdhor, Marren, Rintar, Mayel und ich führen die Gruppen an. Es sind zehn Kilometer Distanz; ungefähr eine Stunde. Teilt eure Kräfte ein. Keine Pausen mehr. Rintar! Du behältst auf jeden Fall Tassagol bei dir. Noch Fragen?« Nur Zuunarik hob die buschigen Augenbrauen: »Gibt's einen Preis für die Sieger-
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gruppe bei diesem hübschen Rennen?« »Ja«, sagte January Khemo-Massai düster. »Das Leben.«
* Sie bildeten eine über fast einen Kilometer auseinander gezogene Linie. Die Gruppen liefen in einem Abstand von etwa hundert Metern zueinander. In Rufweite. In einer Entfernung, die noch irrationale Sicherheit, noch so etwas wie Zusammengehörigkeit vermittelte. Zwanzig Minuten waren seither vergangen; drei, vielleicht vier Kilometer bereits zurückgelegt. Kein weiterer Angriff bis zu diesem Zeitpunkt. Keine Bewegung voraus. Doch die Angst lief mit ihnen mit. In dumpfem, stetem Trab. Acht Gruppen zu je acht Läuferinnen und Läufern. Zuunarik hatte Recht gehabt: Es war ein Rennen. Irgendwann hatte sich ein gemeinsamer Rhythmus eingestellt, ein Stakkato stampfender Raumfahrerstiefel durch aufwirbelnden Sand und Geröll. Für Gespräche fehlte die Luft. Stattdessen verbissenes, Atem sparendes Schweigen. Und die vergebliche Hoffnung, nicht allzu viel Staub zu schlucken. Die bläulichen Schemen der Schiffe wurden mit jedem Schritt schärfer, gewannen Konturen, bildeten Einzelheiten aus. Immer deutlicher vermochten sie, lemurische, akonische, terranische und arkonidische Kugelraumer zwischen den anderen, völlig fremden Schiffen zu unterscheiden. Sie sahen halb ausgefahrene Geschütztürme, abgebrochene Antennen, geknickte und abgerissene Landestützen, offene Schleusen, in die der Wind haushohe Sandverwehungen getragen hatte. Dreißig Minuten. Keine weiteren Energieentladungen. Khemo-Massai bewegte sich inzwischen wie in Trance. Zuerst die Marathondistanz zwischen der Stadt und dem Hügel und nun der Hindernislauf über die trostlose Ebene. Überall lagen backsteingroße Trümmer her-
um. Zersplittertes Gestein, scharfkantige Nadeln ragten unterarmlang aus dem Staub heraus. Immer wieder stießen sie auf Trichter, die von abgestürzten Obsidianbrocken stammten. Manchen mussten sie ausweichen, die meisten konnten sie durchqueren. Der Kommandant wusste nicht mehr, wo in seinem Körper die Schmerzen aufhörten und wo die Empfindungslosigkeit begann … Schritt um Schritt um Schritt um Schritt. Er spürte die Nässe des Blutes in seinen Stiefeln, biss einmal mehr die aufgedunsenen Lippen zusammen. Der Kommandant warf einen Blick nach links, hinüber zu Cayrys Gruppe. Alles schien in Ordnung zu sein … Rintars Gruppe lief zu seiner Rechten. Khemo-Massai sah den stämmigen Hyperphysiker zusammen mit zwei anderen als Letzten der Gruppe hinterdreinrennen – offenbar trugen sie Tassagol zwischen sich. Er musste darauf achten, dass sie nicht noch weiter zurückfielen. Vierzig Minuten. Er stellte sich vor, wie sie die TOSOMA erreichten. Die Schleuse stürmten. Gleich neben dem Shifthangar gab es Nasszellen. Er würde hineingehen und sich unter die Dusche stellen, würde das köstliche Nass direkt auf sein Gesicht prasseln lassen, würde bis zum Nichtmehrkönnen trinken, immer nur trinken … Fünfzig Minuten. Noch vielleicht zwei Kilometer bis zum seltsamsten aller Raumschiffsfriedhöfe. Alle wurden jetzt langsamer, fielen in einen taumelnden schleppenden Gang zurück. Khemo-Massai gab das Zeichen zum Sammeln. Rintar und die anderen schlossen zu ihnen auf. Vorsichtig gingen sie weiter, traten in den Schatten des ersten Schiffes. Unter den Bäuchen der vielen Schiffskörper ragten noch weitaus ältere Verstrebungen aus dem Sand, rostzerfressene Spanten und löchrige, verbogene Metallwände, um
Die Macht des Kristallmondes die der Wind heulte. Zeichen längst vergessenen Zerfalls. Heftiger Wind pfiff um die sich über ihren Köpfen emporwölbende Schiffswand. Es war ein zylindrisches Raumfahrzeug, eine Scheibe aus stumpf gewordenem Stahl, zweihundert Meter durchmessend und etwa halb so hoch. Als sie wieder aus dem Schatten heraustraten und im hellen Licht blinzelten, sahen sie vor sich die breiten Fußspuren im hellbraunen Sand. Die Ränder der Abdrücke waren an ihrer Vorderseite scharf ausgetreten und tief, obwohl der Wind darüber hinwegstrich und feinen Staub mit sich führte. An der Rückseite waren die Eindrücke nur flach und zu kleinen Wölbungen aufgeworfen. Eine Gruppe von Leuten war hier gerannt, etwa zehn bis fünfzehn Personen, und das vor kürzester Zeit. Die Spur kam von rechts und führte in einer langen gebogenen Linie durch das nächste Schiffswrack hindurch, dessen dreirippiges Restskelett nur noch aus dünnen, aufwärts gebogenen Roststreben bestand, die sich weiter oben zu einer konischen Spitze trafen. Jenseits des so gebildeten Domes ragte ein abgetrennter Landeteller eines arkonidischen Schlachtschiffes zur Hälfte und beinahe senkrecht aus dem trockenen Boden auf; das kreisförmige Konstrukt von der Größe eines halben terranischen Fußballfeldes warf einen langen Schlagschatten nach links; und eben dort hinein verlief die Spur. »Wer, bei allen Raumteufeln, ist hier gegangen?«, fragte Gulokhiz, der Stellvertretende Leiter der Schiffsverteidigung, mit krächzender Stimme. Er keuchte und war wie alle am Ende seiner Kräfte. »Wer außer uns kann hier gegangen sein?« »Jemand, der schneller war als wir«, versetzte Zuunarik lakonisch.
* Hinter dem amputierten Schiffsfuß, in ei-
23 ner Entfernung von etwa sechshundert Metern, lag das arkonidische Schlachtschiff auf den zu einem Gewirr von Spinnenbeinen abgeknickten Landestützen. Die untere Polschleuse befand sich daher direkt am Boden. Sie folgen vorsichtig der Spur, sahen, dass sie bis genau zur Polschleuse und weiter von ihr fortführte, dorthin, wo irgendwo halblinks die TOSOMA stehen musste. »Was nun?«, fragte Zuunarik. »Folgen wir der Spur, oder verschaffen wir uns Zugang zu diesem einstigen Musterbeispiel imperialer Machtentfaltung?« »Was sollen wir uns mit diesem Robotschiff abgeben?«, wollte Hasdhor wissen. »Wir müssen zur TOSOMA.« »Eben«, grinste Zuunarik. Er deutete auf die Polwandung. »Direkt dahinter stehen wenigstens drei Lastplattformen, wenn ich mich recht entsinne, mindestens ein Shift und diverse Gleiter.« Rintar räusperte sich. »Er hat Recht. Auch wenn das Zeug knapp dreitausend Jahre alt ist – es ist arkonidische Wertarbeit. Und die Schleuse ist geschlossen. Es könnte klappen.« »Das ist doch Schwachsinn, mit Verlaub«, ereiferte sich Gulokhiz. »Da drin steht doch nichts mehr so, wie es sollte. Der Schiffskörper ist bei der Notlandung so hart aufgekommen, dass die Landestützen zerborsten sind. Was glaubst du, wie es hinter dieser Schleuse aussieht?« »Miesmacher«, brummte Zuunarik. »Zweckoptimist!«, schnappte Gulokhiz. »Wie kriegen wir die Schleuse auf?«, fragte Khemo-Massai. »Lasst mal den Chefwissenschaftler ran«, meinte Rintar da Ragnaari und baute sich vor der deutlich sichtbaren Schleusenumrandung auf. »Gib mir dein Multifunktionsarmband, Zuunarik.« Er räusperte sich, schaltete das Gerät auf die in den Jahren des Robotregenten übliche Flottenfrequenz und sagte im damals gebräuchlichen Interkosmo: »Hier spricht TaiLaktrote Rintar da Ragnaari, Mitglied des Adels-Khasurn der hochwohlgeborenen
24 Ragnaari-Familie von Arkon. Mit der mir gegebenen Hochrangbevollmächtigung erteile ich der Hauptpositronik des notgelandeten Schlachtschiffes hiermit die Anweisung, die untere Polschleuse unverzüglich zu öffnen.« Siegessicher zwinkerte er den Umstehenden zu. Zuunarik verdrehte die Augen. Und riss sie vor Erstauen auf, als sich der Außenbord-Interkom des Schlachtschiffes aktivierte und es hörbar knackte. Es rauschte und knisterte, und dann sagte eine unmodulierte Automatenstimme: »Abgelehnt. Du kommst hier nicht rein.« »Wie bitte?«, schrie Rintar außer sich. »Wofür hältst du dich? Du kannst jederzeit meine Gehirnwellenströme anmessen. Also tu das gefälligst! Du wirst feststellen, ich bin kein degenerierter Arkonide, sondern erfülle im Gegenteil alle Anforderungen, die der Robotregent zur sofortigen Kommandoübergabe auferlegt hat. Sogar seine eigene Sicherheitsschaltung A-1 würde jederzeit darauf ansprechen. Ich habe einen aktivierten Extrasinn! Ich bin Iprasa-Absolvent, und ich …« »Du kommst hier nicht rein. Außerdem ist der Verschlusszustand angeordnet. Das Schiff ist klar zum Gefecht.« Hoch über ihnen drehte sich knirschend ein Waffenturm aus der Außenwand. Donnernd löste sich ein Thermostrahl und schlug zwei Kilometer entfernt ein. Er traf ein auf die Rückkehr seiner Besitzer wartendes Diskusschiff der Blues. »Du verblödetes Stück Positronik. Du warst das also? Hör sofort mit diesem hirnrissigen Geballere auf! Das ist ein Befehl! Und mach gefälligst diese Schrott-Schleuse auf! Aufmachen!« »Dieses Passwort ist ebenfalls ungültig.« Khemo-Massai zog den innerlich und äußerlich bebenden Hyperphysiker von der Schleuse fort. »Es hat keinen Sinn. Die waren schon immer stur. Komm, wir gehen.« Als sie den zugigen Bereich unterhalb des stählernen Gebirges verlassen hatten und
Michael H. Buchholz sich über ihnen wieder freier Himmel zeigte, atmeten alle erleichtert auf. Die Spur bog nach links ab, umging einen etwa zweihundert Meter hohen, völlig in sich zusammengefallenen Berg aus Metallbruchstücken und zog sich dann schnurgerade hin. Sie führte auf das nächstliegende Schiff – zur TOSOMA! Noch hundertfünfzig Meter, und sie waren am Ziel. Jubelschreie brachen aus, und deshalb achtete niemand auf das ferne Schwirren, dessen Tonhöhe infolge des Dopplereffektes sekundenschnell tiefer und tiefer wurde.
* Niemand sah den gut 700 Meter durchmessenden, flammenden Obsidianbrocken, der weit im Westen, etwa 25 Kilometer entfernt, in einem Winkel von fast 45 Grad auf den Raumschiffsfriedhof mit einer Geschwindigkeit von mehr als 27 Kilometern pro Sekunde zuraste. Die infernalische Wucht, mit der der Meteorit inmitten der rostenden Rümpfe einschlug, war schier unvorstellbar. Sie reichte spielend aus, das getroffene Schiff und alle weiteren in direkter Nachbarschaft zu pulverisieren. Die freigesetzte kinetische Energie entsprach 46 Gigatonnen Vergleichs-TNT. Eine donnernde Explosion brachte Vinara zum Beben. Ja, sie brachte die Insel Viingh so sehr zum Schwanken, dass alle Besatzungsmitglieder etwa sechs Sekunden nach dem Einschlag den Boden unter den Füßen verloren. Ein Detonationsfeuerball von gut 11,5 Kilometern Durchmesser wuchs am westlichen Himmel empor. Das entfesselte Licht, tausendmal so hell wie die Sonne, bestand beinahe 15 Sekunden lang, ehe er in sich zusammenfiel. Ein ungeheurer Detonationspilz trat an seine Stelle, der bis in die Hochatmosphäre Vinaras kletterte. Ein Krater von über neun Kilometern Breite wurde in einem einzigen Augenblick
Die Macht des Kristallmondes in die Ebene der Tausend Wracks gestanzt. Windgeschwindigkeiten von über 600 Metern pro Sekunde entstanden, drückten die Luft nach außen und gegen alles, was sich im Weg der tosenden Massen befand. Die Druckwelle breitete sich konzentrisch aus und warf alles in ihrer Bahn Befindliche buchstäblich über den Haufen. Der arkonidische 500-Meter-Schlachtkreuzer wurde sowohl von dem Beben als auch von der Druckwelle getroffen. Er stand von den drei in einer Reihe gelandeten Schiffen der Einschlagstelle am nächsten. Seine Landebeine knickten ein wie dünne Streichhölzer unter dem Tritt eines Riesen. Der gewaltige Kugelrumpf neigte sich und schlug mit ungeheurem Gedröhn auf den felsenharten Boden. Die Druckwelle erfasste die fallende Arkonitkugel im Moment ihres Abkippens, trieb sie vor sich her, half ihr, sich wie von selbst auf den jetzt senkrecht aufgerichteten Ringwulst zu schwingen. Fassungslos und vor Entsetzen starr, sah die Gruppe um Khemo-Massai, wie der fünfhundert Meter durchmessende Gigant aus verdichtetem Arkonstahl wie ein überdimensionaler Spielkreisel langsam auf ihren Standort zuzurollen begann. Tatsächlich verdankten sie dem Stahlungetüm ihr Leben. Denn es schuf einen fünfhundert Meter breiten Windschatten, der sie davor bewahrte, von dem rings um sie einsetzenden Inferno mitgerissen zu werden. Oberhalb und zu beiden Seiten des auf sie zurollenden Arkonraumers vollzog sich der Weltuntergang – etwa achtzig Sekunden nach dem Einschlag. Dank der herankullernden Arkonitmurmel von der Größe eines Mittelgebirges wurden den Angehörigen der Besatzung der TOSOMA zusätzlich noch exakt 47 Sekunden geschenkt. Dann war der Koloss heran und würde sie und ihr Schiff unter sich zermalmen. »Lauft!« Das war alles, was Khemo-Massai denken – und schreien konnte. Während er rannte, rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben.
25 Übergang Die junge Frau mit den kurz geschnittenen roten Haaren kniete am Ufer des Arocan-Sees, starrte auf die graue Weite hinaus und wischte sich die Tränen aus den Augen. Tod. Überall Tod. Kalitra schauderte. Der Hafenkai, massiver, fester Beton, war fort – einfach fort. Wo früher Fischkutter ein- und ausgelaufen waren, Bootsleute schwere Kisten an Land getragen und in die Lagerhäuser gebracht hatten, ragten nur noch einzelne landeinwärts gebogene Stahlgitter aus dem Wasser. Ein einsamer Schornstein stand windschief wie ein erschlaffender Phallus auf einer Insel aus Mauerresten. Das Dach der riesigen Fabrik, in der das gewaltige Luftschiff LITRAK gebaut worden war, lag zur Hälfte im See, abgerissen wie ein bedeutungsloser Fetzen Papier; die rechte Seitenwand der Stahlkonstruktion war eingeknickt, als wäre sie nur Teil einer billigen Schilfhütte gewesen. Der Rest der Halle bog sich, aller Fensterscheiben beraubt und seltsam verdreht, beinahe auf die Seite – ein waidwundes Stück der Ingenieurkunst, das sich nie mehr seinem ursprünglichen Zweck hingeben würde. Die Gewalt der inzwischen verebbten Flutwelle hatte vor nichts und niemand Halt gemacht. Die Stadt Aroc glich einem schlammüberzogenen Trümmerfeld. Viele der aus brüchigem Sandstein errichteten, tausendmal mit Lehmschlag geflickten Häuser hatten allein schon dem Druck der Wassermassen nachgegeben. Höhere Gebäude waren eingestürzt, nachdem die Kellerräume voll gelaufen und die Fundamente unterspült worden waren. Die Herberge ihres Onkels existierte nicht mehr; weder die Herberge noch die übrigen Gebäude der Straße. Alles war zerbrochen und in sich zusammengesunken. Dieser Bereich der Stadt hatte sich in einen über viele Straßenzüge erstreckenden stinkenden Tümpel aus Schlamm und darin schwappendem Unrat verwandelt. Überall trieben Leichen im Wasser auf den freien Flächen, die früher
26 Straßen und Plätze gewesen waren und nun vermodernden Kanälen glichen. Kutron war tot; Nachbarn hatten Kalitras Onkel aus den Trümmern geborgen. Er war ertrunken wie die meisten in der Stadt. Viele andere waren von Soldaten beim Plündern erschossen worden, in bedingungsloser Erfüllung ihrer angeblichen Pflicht. Kalitra dachte an den gut aussehenden Fremden, der für kurze Zeit Gast in der Herberge gewesen war. Sie hatte den charismatischen Mann mit den langen weißen Haaren angefleht, mit ihm mitkommen zu dürfen. Doch er hatte abgelehnt. Sie hatte alle Selbstbeherrschung aufbringen müssen bei ihrem Abschiedskuss. Sie hatte sogar so getan, als wären sie nur gute Freunde, hatte sich jeden Vorwurf und jede Wehklage verbissen. Obwohl eine Ahnung ihr zuschrie, dass dies alles falsch war … »Kutron braucht dich jetzt«, hatte Atlan gesagt. Ob er wohl wusste, wo immer er mittlerweile auch sein mochte, wie es hier aussah? Und dass Kutron ganz gewiss niemanden mehr brauchte? Neuerliche Tränen trübten ihren Blick, und sie überließ sich gänzlich ihrem Schmerz. Kalitra bemerkte die vier Soldaten erst, als einer von ihnen sein Gewehr geräuschvoll durchlud. Sie fuhr herum, da standen sie: leichenblasse Kerle mit unrasierten Gesichtern, in schmutzigen dunkelblauen Uniformen, die roten Zierstreifen an den Hosenbeinen vor Nässe und Schlammspritzern fast nicht mehr erkennbar. Die Pickelhauben hatten sie in den Nacken geschoben, ihre Gewehre erhoben und auf sie gerichtet. »Komm her, Mädchen«, grinste der eine. »Du kannst uns einen lang entbehrten Gefallen tun.« Das Gelächter seiner Kameraden ließ nicht den geringsten Zweifel daran, welcher Art dieser Gefallen sein sollte. Weit und breit war niemand sonst am Ufer. Zwei der Soldaten packten sie an den Armen. Der bisherige Sprecher leckte sich die Lippen; der vierte Soldat fuhr sich mit seiner schmutzigen Hand durch die strähnigen
Michael H. Buchholz Haare. »Keine Angst, meine Kleine«, rief er ihr über das Gelächter seiner Spießgesellen hinweg zu. Kalitra wand sich unwillkürlich in dem Griff der Soldaten, doch deren Fäuste waren wie Eisenklammern, und sie wusste, dass es kein Entkommen gab. Sie war keine Kämpferin, und sie ahnte, dass jeder Widerstand die Grobheit der Männer nur verschlimmert hätte, ihre aufbrechende Wildheit nur weiter aufstacheln würde. Der Gestank tagealten Schweißes geriet ihr in die Nase, und ihr wurde übel, als der vierte ihr Gesicht zu tätscheln begann. Kalitra schrie um Hilfe, obwohl sie es nicht hatte tun wollen und obwohl sie wusste, dass niemand es hören würde. Sie schrie noch immer, als die schwarze Wand heranraste. Kalitra keuchte und würgte vor Entsetzen, als sie im Licht eines gleißenden, nie zuvor gesehenen Mondes kniete und nicht verstand, woher er gekommen war – und wohin die vier Männer verschwunden waren. Als hätte es sie nie gegeben.
7. January Khemo-Massai: 30. April 1225 NGZ Vinara – Viingh, die Insel der Verdammten Die Schleuse stand offen. So, wie sie verlassen worden war. Die Notbeleuchtung war eingeschaltet. Also gab es im Schiff wieder Energie! »Syntron!«, brüllte January Khemo-Massai, noch während er die unsichtbar in der Schleusenwandung verborgenen Individualschwingungs-Tasterbereiche passierte. Sie dienten der Feststellung der Mannschaftsidentitäten. »Legitimation Khemo-Massai, January. OB-Kode AB0102-Coma. Aktivzustand. JETZT!« Schlagartig wechselte der Beleuchtungsmodus. Warme Helligkeit flutete den Raum. Das charakteristische Summen hochfahrender Aggregate schwoll an. Auf terranischen
Die Macht des Kristallmondes Schiffen gab es Forced-Landing-Holos in jeder Schleuse. Ein entsprechendes Display neben dem zentralen VEX-Liftschacht zeigte auf arkonidischen Raumern die wesentlichen Statuswerte nach Notlandungen oder einer vorübergehenden Schiffsevakuierung. Schiffszustand: allgemein schlecht. Beide Gravitraf-Speicher: Restenergien vorhanden, 0,015 Prozent. Sekundäreinheiten: beide GravopulsProjektoreinheiten für einmaligen Notstart verfügbar. Primäreinheit: Metagrav/Unterlicht/Überlicht nicht verfügbar. Schiffssicherheit: instabil. Schutzschirmstaffeln: nur Prallschirm für 90 Sekunden eingeschränkt verfügbar. Lebenserhaltung: 17 Prozent. Der mehrheitliche Teil der übrigen Angaben leuchtete nicht einmal rot, sondern zeigte dunkles Blau für Ausgefallen/Inaktivität. Einige wenige flackerten in grellem Orange, nicht eine einzige erbrachte Grünwerte. Die Schleusenkammer füllte sich in Sekundenschnelle. Leiber rempelten gegeneinander. Viele stürzten und rappelten sich sofort wieder auf. Die Besatzung des Schweren Jagdkreuzers warf sich förmlich durch das Außenschott, rollte fort, machte Platz für die Nachfolgenden. Ein Heulen, ein der Hölle entwichenes Geräusch, wie Rhemo-Massai noch nie zuvor eines gehört hatte, drang durch die Schleusenöffnung herein und erschütterte die im Innern des Schiffes befindliche Luft. Es kam ihm vor, als ob der gesamte Planet in diesem Moment wie ein misshandeltes Lebewesen schrie. Rintar ließ sich neben dem Eingang fallen. Er begrub Tassagol unter sich. Zuunarik taumelte herein. Mayhel Tafgydo folgte. Khim Ganduum, Phazagrilaath und Gulokhiz hechteten hinterher. Über sie hinweg sprang Anisa In'Kasara, die Ashanti mit den gebrochenen Handgelenken. Das Raumschiff TOSOMA erbebte unter den tobenden Gewalten. Ein prasselndes Bersten ertönte. Metall
27 verbog sich kreischend irgendwo außerhalb des Schiffes. Ein Trommelfeuer aus gegen das Schiff prallenden Gegenständen setzte ein. Die Kugelwandung, obwohl aus beschussverdichteten Ynkon-Legierungen bestehend, schwang wie ein einziger riesiger, misstönender Gong. Der Stahlboden der Kammer nahm die Vibrationen auf und tanzte, einer in Wellen versetzten Blechplatte gleich. Khemo-Massai hielt sich an einem Geländer fest und warf einen hastigen Blick aus der immer noch offenen Schleuse. Wie eine riesige Wand walzte der alles unter sich zermalmende Ringwulst des Robotraumers heran … Davor der sich soeben über den Schleusenrand schnellende Tuglante … Nach ihm galoppierte Agir-Ibeth NirAdar-Nalo Nilmalladah III. heran, sprang mit wirbelnden Hufen in die Bodenschleuse und stürzte über den am Boden liegenden Marren Charyna. »Schutzschirme hoch!« »Prallfeld steht. Baut kontinuierlich ab … 99 Prozent … 98 …« Das Heulen und Krachen erstarb. Ein hartnäckiges Klingeln blieb in den Ohren, übertönte das Rauschen des eigenen Blutes. »Individualzählung?« Es war Cayrys Stimme. »Vierundsechzig Personen an Bord«, kam die wohlmodulierte Stimme des LogikProgramm-Verbundes. »Alarmstart!«, brüllte Kommandant Khemo-Massai. »Schnell weg hier, verdammt noch mal!« »Bestätigt«, antwortete der LPV in das Zischen der sich schließenden Schleuse hinein. »Und ›up, up and away‹, wie du immer zu sagen pflegst, Kommandant. Höhe eintausend … viertausend und steigend … Übrigens – willkommen zurück an Bord. Hattet ihr einen angenehmen Aufenthalt? Wohin soll es denn jetzt gehen? Ich frage nur, weil wir nicht allzu weit kommen werden. Wir sind nämlich ziemlich am Ende, sozusagen.« January Khemo-Massai und Cayry starrten sich an, als gäbe es kein Morgen.
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Dann brachen sie in ein Lachen aus, das sie wohl niemals mehr würden vergessen können. Niemals, solange sie lebten.
8. Atlan: 30. April 1225 NGZ Vinara – Canyon der Visionen Das schrille Summen von Lethems Multifunktionsarmband wirkte in dieser Umgebung so fremd wie Schneefall in der Wüste. Oder so fremdartig wie diese Li, dachte ich verbittert. Gab es etwas Schlimmeres, als eine Liebe an den Tod zu verlieren und sie dann immer wieder leibhaftig und begehrenswert vor sich zu sehen? »Ja?«, meldete sich Lethem. Nein, wisperte der Extrasinn. Aber es gibt weitaus Dümmeres. Zum Beispiel einen gewissen arkonidischen Narren, der, nach durchaus kompetenter Ansicht, noch gebraucht wird. Kümmere dich endlich darum, von hier zu verschwinden. »Hier ist die TOSOMA, Khemo-Massai spricht. – Lethem?« »Ja, ich bin's.« »Gott sei Dank«, dröhnte die tiefe Stimme des Kommandanten aus dem Akustikfeld. »Wir dachten schon, ihr wärt zusammen mit den vier Planeten draufgegangen. Wo seid ihr?« Ich war mit einem Satz bei dem Zweiten Piloten. »January? Hier spricht Atlan.« Eine Zeit lang drang nichts als Rauschen aus dem Akustikfeld. Dann setzte eine wahre Kakophonie aus Rufen, Schreien, Jubeln und Klatschen ein. Endlich drang wieder die Stimme des Kommandanten durch: »Lethem? Stimmt das? Ihr habt ihn endlich gefunden?« »Ich glaube es selbst immer noch nicht. Aber ja, er ist es.« »January«, sagte ich drängend. »Fliegt ins Zentrum des Kontinents, zum Ograhan-Gebirge. Östlich davon findet ihr einen breiten und tiefen Einschnitt, einen zweiten Grand Canyon. Er ist nicht zu verfehlen. Im südli-
chen Bereich dieser Schlucht sind wir.« Li legte mir ihre Hand auf den Arm. »Das ist nicht nötig. Sie sollen direkt zu Sardaengars Gebirgsbastion fliegen. Etwa vierhundert Kilometer nordwestlich unseres Standortes. Wir werden sie dort erwarten.« »Hast du mitgehört, January?«, fragte ich. »Ja«, kam die zögerliche Antwort. »Wer war das? Das klang ganz nach Li …« »Es ist Li, Kommandant«, sagte Lethem an meiner Stelle. Auf meinen fragenden Blick fügte Li hinzu: »Wir nutzen den MikroStrukturfeldkonverter meines Anzugs.« »Den was?«, rief jemand in der TOSOMA. »Den mechanischen Teleporter«, erklärte ich. »Eine Technik der Hathor, wie sie auch vor langer Zeit die Hüter des Lichts eingesetzt haben.« Erinnerungen an Tengri Lethos, Baar Lun und Andromeda stiegen in mir auf. Andromeda. Die Meister der Insel. Mirona und … Der Hathor und anderer, unterbrach der Logiksektor scharf meine davoneilenden Gedanken. Es war immer auch eine Technik der Kosmokraten. »Verstanden« sagte Khemo-Massai. »Wir kommen. Es wird aber noch etwas dauern. Wir müssen uns zuvor noch um ein paar Dinge kümmern. Atlan?« »Ja?« »Ist dieser … Teleporter, den ihr da benutzen wollt, ist er – sicher?« Li warf die Arme in die Höhe und fasste sich mit beiden Händen an die Stirn. »Zweifellos, January«, antwortete ich lächelnd. »Wir meinen hier nur … In letzter Zeit hattest du mit deinen mechanischen Ferntransporten nicht gerade allzu viel Glück, nicht wahr?« Er schaltete ab, und ich sah in die breit grinsenden Gesichter von Zanargun, Scaul Falk und Lethem. Selbst der hünenhafte Springer, der sich bis jetzt nur schweigend auf seine Axt gestützt hatte, lachte dröhnend
Die Macht des Kristallmondes mit. Obwohl ich sicher war, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, worüber.
* Li deutete auf Lethem. »Du zuerst.« Er nickte und stellte sich neben sie. Die Frau mit den roten Haaren strich über bestimmte Pailletten ihres Anzuges. Ein zwanzig Zentimeter starker und zwei Meter durchmessender Ring aus blassrosafarbener Energie baute sich etwa in Hüfthöhe der beiden auf. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Wenige Sekunden später erschien Li an derselben Stelle wieder. Sie nahm in gleicher Weise Zanargun mit sich, dann folgten Scaul Falk und der Springer. Sie materialisierte abermals. »Bist du bereit?« »Zuerst Tamiljon«, bat ich. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, eine Bewegung, die der enge goldene Paillettenanzug deutlich wiedergab. Sie ging zu dem leblos am Boden Liegenden und stellte sich über ihn. Der rosafarbene Ring entstand erneut; beide verschwanden. Dann war ich an der Reihe. Als der energetische Ring aufwallte, erwartete ich unwillkürlich einen Entzerrungsschmerz. Doch schien die im Anzug verwendete Technik über derlei rückständige Effekte offenbar weit erhaben zu sein. Ich spürte absolut nichts; der Transport erfolgte in einer für meine Sinne nicht nachvollziehbaren Zeit. Eben noch blickte ich zum Rand des Canyons hinauf, im nächsten Moment stand ich in einem mir völlig unbekannten, wild zerklüfteten Bergland. Wohin ich auch schaute, überall, in allen Tälern, auf den Bergspitzen rechts und links und noch mehr auf der weiten Hochebene zu Füßen der Berge, wuchsen dumpfsilberne Säulen in den Himmel. Sie alle hatten die mir bekannten Maße: 25 Meter dick, ragten sie kerzengerade 150 Meter in die Höhe. Zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden.
29 Unwirklich und geradezu gespenstisch muteten die Lichterscheinungen an den glatt abgeschnittenen oberen Kanten der Säulen an. Zuckende Lichtfäden faserten in die Atmosphäre hinauf und schienen alle dem gleißenden Licht des Kristallmondes zuzustreben. Wir selbst befanden uns auf einer hoch gelegenen, schmalen Felsenrampe, die in einen scharfen Grat überging und dann jäh zu Tal stürzte. »Willkommen in Mertras«, begrüßte Lethem mich finster. »Was ist los?« Er deutete stumm hinter mich. Das Gelände senkte sich ein wenig. Schon nach rund zweihundert Metern ging die etwa fünfzig Meter schmale Felsenrampe in einen sich öffnenden, weiten Bergkessel über. Das Ganze glich einer Pfanne mit kurzem Griff, wobei der Griff von der Rampe geformt wurde, während der beinahe kreisrunde Kessel die mit Steppengras bedeckte Pfannenfläche bildete. Beiderseits der leicht abwärts geneigten Rampe ging es bestimmt hundert Meter steil in die Tiefe. Unten wuchsen tannenähnliche Nadelbäume, deren Spitzen etwa bis zur Hälfte der Rampenhöhe heraufreichten. Irgendwo plätscherte ein Wasserlauf. Der »Pfannenkessel« hatte schätzungsweise einen Durchmesser von sechs Kilometern; gezackte Bergspitzen, einige mit weißen Schneebrettern versehen, bildeten seinen Rand. Ich sah sofort, was der Zweite Pilot der TOSOMA meinte. »Darf ich vorstellen, Atlan – unser Problem«, sagte er. Vor uns, beinahe exakt um den Mittelpunkt des Kessels zentriert, stand eine strahlend weiße Schirmglocke. Ein energetischer Schutzschirm, weiß wie bestes Meissener Porzellan. Die Glocke wölbte sich mindestens 2,5 Kilometer in den Himmel und erreichte einen Bodendurchmesser von gewiss nicht weniger als fünf Kilometern. »Darunter liegt Grataar, auf einem Zentrumsberg im Kern des Kessels«, sagte Li.
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Michael H. Buchholz
»Sardaengars Gebirgsbastion. Näher heran konnte ich uns nicht teleportieren. Wahrscheinlich Sekundäreffekte der Schirmfeldstrahlung.« Lethem atmete tief ein und sank auf die Fersen. Ratlos zerzupfte er einen aus einer Felsritze wachsenden Grashalm. »Das heißt wohl: bis hier hin und nicht weiter«, knurrte er und biss sich auf die Oberlippe. »Endstation Sehnsucht«, murmelte Scaul. »Dendibokot«, brummte Ondaix. »Naatexkrement«, widersprach Zanargun. »Das riecht schlimmer.« »Hast du eine Ahnung«, sagte ich und dachte mit Schaudern an Gantschula. Und mit plötzlich einsetzender Traurigkeit auch an Jorge Javales, den toten Archivar. Wortlos begann ich mit dem Abstieg.
es erneut zu versuchen. Mit Ondaix' Axt und bloßen Händen gruben wir schließlich nahe dem Schirm vorsichtig ein Loch. Schon bald zeigte sich, was ich längst vermutet hatte. Die weiße Glocke setzte sich auch unterhalb der Grasnarbe im festen Erdreich fort. Damit waren unsere bescheidenen Mittel nahezu erschöpft. Es sei denn, Lis goldener Paillettenanzug hatte noch einen sprichwörtlichen Trumpf im Ärmel. Eine Hoffnung, die Li verneinte. »Und was jetzt?«, fragte ich reihum, da auch der Extrasinn ratlos blieb. »Wir warten«, sagte Lethem dumpf. »Auf die TOSOMA.«
*
Ondaix und Zanargun machten sich auf, Feuerholz und Wasser zu besorgen. Lethem und Scaul setzen sich zu Tamiljon ins Gras. »Kannst du etwas für ihn tun?«, fragte ich Li. »Was ist mit ihm geschehen?« Ich schilderte ihr und den beiden Besatzungsmitgliedern kurz den Kampf zwischen ihm und dem veränderten Wesen, das einst Litrak gewesen war. Li entnahm einer ihrer unergründlichen Anzugtaschen ein flaches, tropfenförmiges Gerät, hielt es über verschiedene Körperstellen, machte mehrmals besonders über den dicksten Kristallwucherungen Vergleichsmessungen. »Er lebt, so viel steht fest«, lautete ihre Diagnose. »Schwache Herz- und Lungenfunktion sind vorhanden, Gehirnwellenaktivitäten zeichnen im Deltabereich. Er befindet sich im Tiefschlaf. Keine REM-Phasen wie bei Terranern und Arkoniden, also vermutlich keine Träume. Mehr kann ich nicht sagen. Was die Auswirkungen der Kristalle auf seinen Metabolismus betrifft – frag mich was Leichteres. Er wird irgendwann aufwachen, denke ich. Lassen wir ihm seinen Genesungsschlaf.« Ich nickte, winkte sie zu mir und ging mit
Eine halbe Stunde später standen wir ratlos vor der weißen Schirmglocke. Zanargun und Ondaix hatten Tamiljon die Rampe hinab und über den grünen Talboden getragen. Er lag nun ein Stück weit entfernt im weichen Gras. Eine geringe Elektrizität ließ die Luft knistern und uns, wenn wir dem Schirmfeld bis auf Armeslänge nahe kamen, die Haare zu Berge stehen. Ondaix warf zur Probe einen großen Steinbrocken gegen den Schirm – ergebnislos. Der Stein prallte ohne Begleiterscheinung ab und blieb im Gras neben der Energieglocke liegen. Messungen mit Lethems Armbandscanner zeigten nur energetische Aktivität an sich an. Sie gaben uns keinerlei Aufschluss über die Art der hier verwendeten Energieform. Ich tippte auf eine Kombination aus Prallfeld und stabilisierter Formenergie. Was alles nichts nutzte. Gegenstände konnten den Schirm nicht durchdringen, ebenso wenig Lebewesen. Den Schirm zu berühren wagte nur Zanargun – obwohl er es zu verbergen suchte, sah ich ihm an, dass die Berührung ziemlich schmerzhaft gewesen war. Er lehnte es ab,
*
Die Macht des Kristallmondes ihr zu einer Ansammlung von mit Moosen bedeckten Felsen hinüber. Ein Gebüsch mit harten Blättern und langen Dornen hatte sich dahinter ausgebreitet. Auf den Felsblöcken setzten wir uns nieder. Metallisch schimmernde Fliegen umschwirrten das Gebüsch. Sie erinnerten mich an die Insekten in der Versammlungshalle der Ordensleute in Malenke. Unwillkürlich sah ich mich gleichfalls nach jagenden Fiederwesen um, doch das einzige größere Lebewesen außer Li und mir war eine Art Eidechse, die immer wieder unter einem der Steine hervorhuschte und mit ihrer langen blauen Zunge nach den Fliegen schlug. Ein oder zwei blieben jedes Mal kleben. Um uns machten die Fliegen einen großen Bogen; offenbar mochten sie unsere arkonidischen Körperausdünstungen nicht. Oder es war der Schlamm, den der schmierige Regen mit sich gebracht hatte und der jetzt als krustige Schicht in meinen Haaren und in den Falten meiner Kombination festgetrocknet war. Er stank wahrscheinlich heftig genug, um sie zu irritieren. Ondaix und Zanargun waren nur noch kleine Punkte in der Nähe der Felsenrampe, über die wir den Talkessel betreten hatten. Noch immer zuckten die Leuchterscheinungen aus den überall im Bergland verteilten Silbersäulen; obwohl es heller Tag war, stand Vadolon heller als die Sonne Verdran am Himmel und saugte die Lichtfäden der Säulen an. »Du«, begann ich das längst fällige Gespräch, »bist nicht Li.« Die junge Frau mit dem kurz geschnittenen roten Haar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich habe keinen anderen Namen als den des Erstbewusstseins. Ich erwachte in ihr. Und ich habe seitdem nie etwas anderes sein können als ein Teil von – ihr. Ich vermisse sie«, fügte sie überraschend hinzu. »Sie war so … anders.« Ich holte tief Luft. »Sie war die Li, die ich liebte«, entfuhr es mir heftiger, als ich es beabsichtigt hatte. »Du bist ein Fremdkörper,
31 ein Parasit, der ihren Körper gestohlen hat.« Die Frau, die so verblüffend der Tochter des Wirtes in Aroc ähnelte, sah mich nur an. Der flüchtige Gedanke an Kalitra ließ mich müde den Kopf schütteln. Dort war eine begehrenswerte junge Frau gewesen, die sich ohne Hoffnung in mich verliebt hatte. Und hier saß mir ihr Ebenbild gegenüber, der Körper jener Frau, die ich geliebt hatte – und die ich gleich zweimal hatte sterben sehen müssen. Und wegen dieser meiner Liebe war es mir wiederum unmöglich gewesen, Kalitras Liebe zu erwidern. »Ich erwachte«, fuhr die Frau an meiner Seite fort. »Ich erwachte und wusste um meinen Auftrag. Ich war als Beobachterin erweckt worden, und als Beobachterin war ich stets anwesend. Ich … ich beobachtete, wie ihr – wie du und sie – euch näher kamt. Ich habe sie um ihre Gefühle für dich beneidet, wenn ich sie auch nicht teilte. Sie hat dich wirklich geliebt. Doch jetzt ist sie … ist ihr Bewusstsein … verweht.« »Wer hat dich beauftragt? Waren – sie es?« Ihre rötlichen Augen suchten die meinen, lasen darin die Bestätigung des Begriffs Kosmokraten. Die fremde Li nickte. »Samkar hat mich in ihrem Namen geschickt.« Sie deutete auf den bewusstlosen Tamiljon und sagte: »Litrak und Sardaengar müssen unter allen Umständen aufgehalten werden. Sonst … Es ist die Hypertronik des Backup-Systems. Sie versucht in sturer Erfüllung der Basisprogrammierung die Macht über beide zu gewinnen. Verstehst du, Atlan? Nur beide zusammen, Litrak und Sardaengar, im Kristallmond vereint, könnten die noch fehlende Hochrang-Berechtigung einspeisen und das vorhandene Potential nutzen.« Die Psi-Materie und die Biophoren, suggerierte der Logiksektor mit ungewohnter Heftigkeit. Angesichts der damit verbundenen Gefahr für diesen Teil der Galaxis, wenn nicht sogar für die ganze Milchstraße, überfiel mich ein inneres Frösteln. »Und weiter? Es ist sicher
32 kein Zufall, dass der Durchmesser des Kristallmondes exakt einem Sporenschiff der Mächtigen entspricht?« »Nein«, antwortete das fremde LiBewusstsein. »Die Hyperspeicher der Onund Noon-Quanten sind durchlässig geworden. Zu viel Zeit ist inzwischen vergangen. Zu viele Fremdeinflüsse konnten ihre Wirkungen entfalten. Und nun ist zu allem Übel auch noch die Vergessene Positronik mit dem Kristallmond kollidiert und …« Li stand auf und machte eine Geste, die den gesamten irrlichternden Himmel über unseren Köpfen umfasste. »Es war vor langer Zeit – und ich meine wirklich vor sehr langer Zeit. Vor Hunderten von Millionen Jahren … Niemand kannte damals die erste Gruppe der Sieben Mächtigen. Sie gab es nicht und auch noch nicht die spätere Praxis, nacheinander die Phasen Eins und Zwei ablaufen zu lassen.« Ich nickte und erinnerte mich dank meines fotografischen Gedächtnisses an die entsprechenden Zusammenhänge, die Perry Rhodan, mir und dem übrigen Kreis der potenziell Unsterblichen mit der Entdeckung der PAN-THAU-RA allmählich offenbar geworden waren. BARDIOC und der Diebstahl des Sporenschiffes … LAIRE und das Allesrad … Schon viel früher waren wir nach unserer Rückkehr aus NGC 4594 – einer Galaxis, die volkstümlich ihrer Form wegen auch Sombrero-Galaxis hieß – mit der MARCO POLO in der heimatlichen Milchstraße auf den von den Karduuhls übernommenen Schwarm gestoßen. Auf einen, der Dummheit anstatt wie vorgesehen Intelligenz verbreitet hatte und … Die Kosmokraten verfolgten damals, wie wir nach und nach herausfanden, seit Jahrmillionen einen kosmischen Langzeitplan. Zuerst sandten sie die so genannten Sporenschiffe aus: Gigant-Raumschiffe von den Dimensionen eines kleinen Mondes, mit dem bekannten Durchmesser von 1126 Kilometern. Diese betrieben – als Phase Eins – zunächst Lebensformung: Die jeweiligen
Michael H. Buchholz Mächtigen verteilten als deren Kommandanten die in den Sporenschiffen mitgeführten Biophoren in bisher nicht mit Leben erfüllten Galaxien. Später ließen die Mächtigen dann im Auftrag der Kosmokraten eine bisher unbekannte Anzahl von Schwärmen bauen, deren Aufgabe – als Phase Zwei – es war, die Entstehung von Intelligenz in den in Phase Eins vorgeformten Gebieten des Kosmos zu fördern und zu verbreiten. Hierzu flog der betreffende Sternenschwarm – eine von einem undurchdringlichen Schmiegschirm umhüllte Ansammlung von Sonnen und Planeten – die ausgewählten Galaxien an und beeinflusste die fünfdimensionalen Feldlinien der Graviationskonstante. Durch diese Manipulation stieg die Intelligenz in dem betreffenden Raumsektor auf den gewünschten Wert an – oder sie ließ, wie im Falle des fehlgeleiteten und der Kontrolle der Cynos entrissenen Schwarms im Jahr 3440 a.D., alle Lebewesen in einem bestimmten Radius verdummen. »Lange vor der Zeit der Sporenschiffe«, erzählte Li weiter, »benutzten die Kosmokraten ein anderes Verteilsystem. Sie schickten die Urschwärme aus.« »Die was?«, rief ich verblüfft. »Es waren übergroße Vorläufer der späteren Normal-Schwärme. Diese legendären Urschwärme zogen vor Hunderten von Millionen Jahren durch das All, ein jeder selbst so groß wie eine eigene Kleingalaxis. Auch sie waren in einen Schmiegschirm gehüllt. Diese Riesenschwärme nahmen beide Aufgaben wahr. Sie verteilten die On- und Noon-Quanten im Universum und sorgten dann durch Veränderung der 5-D-Gravitationskonstante für die Intelligenzsteigerung. Oft hielten sie sich für hunderttausend Jahre oder länger in der jeweiligen Galaxis auf, ehe sie ihre Reise fortsetzten.« Li machte eine kreisförmige Bewegung. »Die ganze Obsidian-Kluft ist an sich nichts anderes als das Backup-System eines solchen Urschwarms. Sie ist das Backup-Sy-
Die Macht des Kristallmondes stem von Litrakduurn, dem ›Platz des Litrak‹.« Plötzlich schoben sich für mich Hunderte bisher getrennter Puzzlesteinchen an ihre richtigen Stellen. »Und dieses Backup-System hat die Aufgabe …«, rief ich ahnungsvoll. »… Litrakduurn neu zu initialisieren«, ergänzte Li mit spürbarem Schaudern. »Es hat die Aufgabe, den kompletten Urschwarm, im Fall seiner Auflösung, neu entstehen zu lassen.« Mir schwindelte angesichts der sich daraus ableitenden Implikationen. Und, noch schlimmer, der ihrerseits sich daraus ergebenden Konsequenzen. Narr! Ahnst du, warum dieses Monstrum ausgerechnet ›Platz des Litrak‹ heißt?, fragte der Extrasinn aufgebracht. »Also ist Litrak«, führte ich den Gedanken meines Logiksektors weiter, »nein, dann war Litrak niemand anders als …« »… der Kommandant des einstigen Urschwarms Litrakduurn«, vollendete Li da Zoltral. »Du hast es endlich erfasst.« Sie kniete sich vor mir nieder, umfasste meine Schultern und schaute mir direkt in die Augen. »Und: Er war es nicht nur, Atlan«, sagte sie eindringlich. »Er ist es noch immer!«
* Stunden später. Wir lagerten, gut hundert Schritte von der Energiekuppel entfernt, in der Nähe der Felsen. Ondaix und Zanargun kehrten mit reicher Beute zurück. Der an eine Schwerkraft von 1,5 Gravos gewöhnte Luccianer trug einen schwankenden Stapel Brennholz, höher aufragend als er selbst, mit beinahe spielerischer Leichtigkeit vor sich her. Der Springer schleppte auf seinen breiten Schultern ein schon abgezogenes Stück Wild heran. Das Fell des gehörnten, gemsenähnlichen Tieres hatte er zu einem primitiven Wassersack umgearbeitet, der an seinem Gürtel baumelte und in dem es verheißungs-
33 voll gluckste. Zanarguns hellgrüne Augen strahlten. »Ondaix hier«, schwärmte er, während Lethem ein Feuerbesteck aus seiner Tasche zog und im Nu eine kleine helle Glut entfachte, in die er eine Zeit lang heftig hineinblies, »Ondaix ist ein wahrer Meister in der Kunst, eine Axt zu führen. Er wirft sie auf dreißig Schritt, blitzartig und zielgenau. Ihm verdanken wir unseren Braten.« Der rothaarige Springer schüttelte den Kopf so heftig, dass seine kleinen Zöpfe flogen. »Zanargun«, rief er begeistert, »hat Augen und Ohren, die schier unglaublich sind. Er hatte den Bock schon erspäht, als mir noch nicht mal klar war, dass hier überhaupt Tiere zu finden sein würden. Ihm verdanken wir unseren Braten.« »Noch«, sagte Lethem, »ist es kein Braten; und wenn ihr noch lange redet, wird er sich wahrscheinlich seinen Kopf wieder aufsetzen, sein Fell wieder anziehen und sich heimlich aus dem Staub machen. Steckt ihn endlich auf einen Spieß.« »Und gib mir endlich was von dem Wasser«, verlangte Scaul Falk. »Ich vergehe vor Durst.« Er griff sich den aus dem Fell gefertigten Wasserschlauch, drehte und wendete ihn unschlüssig und besah sich am Ende das pralle Ding mit den vier abstehenden Beinhüllen ein wenig ratlos. Bei all seiner Lebenserfahrung schien ihm diese spezielle Kenntnis zu fehlen. »Äh, wo ist die Öffnung?«, fragte er und sah in die Runde. »Gib her«, lachte ich. In den Jahren meiner Abgeschiedenheit auf Terra hatte ich gewiss aus Tausenden von Wasserschläuchen getrunken. Ich löste vorsichtig das Band aus Fell, das die beiden erfolgreichen Jäger um den linken Hinterlauf geschnürt hatten, und hob den Wassersack über den Kopf. Aus der freien Beinöffnung sprudelte das Wasser direkt in meinen Mund. Die anderen drei Geläufe, der Hals und die Afteröffnung waren mit Darm fest zusammengezurrt worden, so dass der Fellsack einigermaßen dicht blieb.
34 Erst jetzt merkte ich, wie durstig ich selbst war. Ich zeigte Scaul, wie er das Bein mit einer Hand umfassen musste, um den Wasserstrahl zu regulieren, dann ging der Fellsack von Hand zu Hand oder besser, von Mund zu Mund. Alle löschten dankbar ihren Durst; nur Zanargun verzog das Gesicht. »Jetzt einen Kaffee«, seufzte er sehnsüchtig. »Man kann ja über euren Hinterweltplaneten unterschiedlichster Meinung sein, aber wenn schon für nichts sonst, Scaul, – auf Grund eures Kaffees muss man euch Terraner loben. Nein, ohne Frage, er ist wirklich einsame Spitze. Was würde ich jetzt wählen? Die Würze Südafrikas? Vielleicht die natürliche Milde Arabiens? Oder das Temperament Mexikos? Gar den Duft Sumatras, behutsam gemischt mit der Wildheit Äthiopiens? Oder doch lieber das Aroma Costa Ricas oder die herbe Süße Kolumbiens, ganz zu schweigen von dem unvergleichlichen Geschmack Brasiliens? – Gebt mir eine Tasse Kaffee, aber heiß muss er sein, schwarz und stark!« Verblüfft starrten alle den sonst so wortkargen Luccianer an, der mit geschlossenen Augen so tat, als hätte er einen gefüllten Becher in der Hand, während er sich mit der anderen den nicht vorhandenen Dampf zuwedelte. Lethem, Ondaix, Zanargun und Scaul hatten noch Reste ihres in Helmdor erworbenen Proviants bei sich, die sie mit mir teilten. Li wollte weder davon noch von dem Braten etwas; sie bediente sich der Konzentrat-Vorräte ihres Anzuges. Wir stärkten uns reichlich und hatten noch genug für ein Frühstück übrig. Vadolon ging am Nachmittag unter. Zwei Stunden darauf versank Verdran in einer bleifarbenen Wolken- oder Staubschicht. Doch auch diesmal wurde es nicht richtig dunkel. Grünliche Leuchtbänder waberten wie irdisches Nordlicht. Die Silbersäulen spien ihre Lichtfäden in die Wolken; und auch die weiße Wand des glockenförmigen Schirms schimmerte wie von hinten beleuchteter Nebel, als die Nacht vollständig
Michael H. Buchholz hereingebrochen war. Im Osten, weit jenseits der Taneran-Schlucht, glomm der gesamte Horizont in düsterem Rot. Die anderen hatten sich nach dem Essen hingelegt und schliefen. Nur Li und ich saßen noch am Feuer. Dank meines Zellaktivators machte es mir am wenigsten aus, auch weiterhin auf Schlaf zu verzichten. Li schien von einer inneren Unruhe wach gehalten zu werden. Oder vielleicht brauchte sie wegen einer regenerativen Funktion ihres Anzugs auch keinen Schlaf. Sie sprach nicht darüber. Die Nacht hier oben im Bergland war still. Das leise Säuseln der Blätter machte die Stille noch tiefer. Beinahe jede Minute überquerten Leuchtspuren, kosmischen Brandpfeilen gleich, unseren Lagerplatz; doch sie flogen in großer Höhe. Weder hörten noch sahen wir Spuren von Einschlägen. Das Feuerwerk aus Obsidiantrümmern schien eine Atempause einzulegen. Unser Lagerfeuer war irgendwann zu einem rot schimmernden Auge im Halbdunkel der karstigen Grasebene niedergebrannt. Hin und wieder flammte am Rand der Feuerstelle ein dürrer Zweig auf, krümmte sich verglühend und verlosch. »Was ist mit Litrakduurn passiert?«, fragte ich leise, um die Schlafenden nicht zu wecken. Li antwortete nicht gleich. Sie bohrte mit einem Aststück in der Asche herum, dachte offenbar nach. »Einzelheiten kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass Litrakduurn vor rund 546 Millionen Jahren mit der Milchstraße kollidierte. Vielleicht ein Unfall, vielleicht ein Versagen der Technik, vielleicht ein Angriff der Chaotarchen. Was auch immer die Ursache war, die Katastrophe war umfassend. Die Schwarmstruktur drohte zu zerfallen, nachdem der Schmiegschirm sich aufgelöst hatte. Soweit ich weiß, versuchte Litrak, ein Notsystem zu aktivieren. Dies befand sich in einer zeitlosen Stasisblase, die im Hyperraum als Miniaturuniversum eingelagert war.« »Vadolon«, vermutete ich. Li senkte zur
Die Macht des Kristallmondes Bestätigung die Augenlider. »Litrak hatte sozusagen Pech im Pech«, meinte sie. »Um die Aktivierung des Notsystems überhaupt starten zu können, bedurfte es eines Bewusstseinstransfers in den zentralen Rechner. Es gelang ihm aber nur, einen Teil seines Bewusstseins in den Kristallmond zu laden. Dabei wurde sein echter Körper zerstört. Sein Restbewusstsein war seither verwirrt, hatte sich zum Teil sogar verflüchtigt. Wie auch immer, es reichte nicht aus, um das Backup-System zu aktivieren.« »Aber wenn der Körper zerstört war, dann …« »Dann bedeutete das seinen Tod – in gewisser Weise. Der Original-Litrak starb. Und das im Wissen, einerseits versagt zu haben und andererseits von den Kosmokraten im Stich gelassen worden zu sein.« »Sieh einer an. So etwas kommt vor?«, fragte ich ironisch. Li betrachtete mich einen Moment irritiert. »Immerhin brachten Litraks Bemühungen ein gewisses Ergebnis. Wenn auch nicht das erwünschte. Aber die Obsidian-Kluft wurde als Schutzfunktion gegen Übergriffe von außen geformt – zum Schutz vor den überschlagenden Kräften des sich außerhalb auflösenden Urschwarms. Der ObsidianWall, jene Masse entlang der Außenhülle der riesigen Hohlblase, bildete eine Art ›Tresor‹ für die im Mond befindliche Fracht der On- und Noon-Quanten. Das gesamte Miniaturuniversum, eben die ObsidianKluft, sollte verhindern, dass sich die Onund Noon-Quanten unkontrolliert freisetzen konnten. Dummerweise is die Undurchdringlichkeit dieser Barriere nicht mehr absolut. Sie ist mit der Zeit löchrig geworden, wenn du so willst.« Nur deswegen bist du und sind alle anderen Raumfahrer überhaupt in der Lage gewesen, hierher zu gelangen, wisperte der Extrasinn. »Vadolon, der Kristallmond …«, sinnierte Li. »Seine starre Backup-Programmierung erwies sich als Hindernis. Litrak bekam ihn
35 nicht unter Kontrolle. Zu kleinem Zeitpunkt. Im fehlte das dazu nötige Wissen. Sein Restbewusstsein verfügte nur noch über einen Bruchteil seiner früheren Kenntnisse.« »Und Sardaengar? Wie kam er ins Spiel?« Li warf ihr Aststück in den letzten Rest Glut. Ein Funkenregen stob auf; kleine Flammen leckten an dem Holz und fanden neue Nahrung. Der flackernde Lichtschein ließ Lis glänzende Haare selbst wie ein auf ihrem Kopf entfachtes Feuer erscheinen. »Mit Sardaengar wurde ein Cyno mit dem Status eines Mago in die Obsidian-Kluft verschlagen. Nie war es beabsichtigt, aber es geschah. Es baute sich allmählich eine unbewusste Verbindung zwischen dem Kristallmond und Sardaengar auf. Das Backup-System erkannte Sardaengars Potenzial, oder es erkannte seine Schwarm-Führungsqualitäten an – ich weiß es nicht. Immerhin wurden die Cynos nicht ohne Grund von den Mächtigen zur Führung zum Beispiel des dir bekannten Schwarms bestimmt … Jedenfalls kam das Backup-System zu folgendem Schluss: Eine Kombination aus Sardaengar und Litrak würde als Ergebnis Litraks Schwäche ausgleichen und die fehlende Hochrang-Berechtigung ergeben.« »Und der Urschwarm Litrakduurn würde wieder neu entstehen.« »Exakt. Aber Sardaengar wehrte sich. Er bekämpfte den durch den Mond wieder materialisierten Litrak mit aller Macht. Er konnte ihn schließlich sogar für lange Zeit an die Eisgruft fesseln – als ›Untoter Gott‹ im Eis.« »Aber das bedeutet ja …«, entfuhr es mir. Scaul knurrte im Schlaf und warf sich auf die andere Seite. Leiser fuhr ich fort: »Das bedeutet: Wir verdanken es allein Sardaengar, dass es die Milchstraße heute noch gibt. Hätte er Litrak nicht bekämpft, hätte sich der Urschwarm neu initialisiert, eine Kleingalaxis inmitten der unseren wäre neu entstanden …« »… und dieser – womöglich unkontrollierte – Entstehungsprozess hätte die Milchstraße schlichtweg zerfetzt«, vollendete das
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Beobachterbewusstsein in Li da Zoltrals Körper. Ich hatte den von den Schwarmgötzen übernommenen Normal-Schwarm gesehen, die Materialisation an Bord der MARCO POLO erlebt. Einen sich wieder rekalibrierenden Riesenschwarm, verbunden vielleicht mit nicht schockgedämpften Massentransitionen in der Größenordnung einer Kleingalaxis, vermochte ich mir kaum vorzustellen. Geschweige denn, was dies für das Schwerkraftgefüge unserer Galaxis bedeutet hätte. ›Das Ende aller Geschichten‹, half der Extrasinn aus. So umschrieb jedenfalls der von dir so geschätzte arkonidische Philosoph Moraht-Them in seinen »Büchern des Kristallenen Wassers« den totalen Weltuntergang. »Vor 546 Millionen Jahren«, überlegte ich leise. »Dann kann wohl die so genannte Kambrische Explosion vor rund 542 Millionen Jahren auf Litraks Urschwarm zurückgeführt werden. Damals kam es zu einer schlagartigen Ausbreitung des Lebens auf Terra, aber auch auf den meisten anderen Welten der Milchstraße. Innerhalb von 40 Millionen Jahren entwickelten sich komplexe Vielzeller mit harten Schalen, und die Artenvielfalt stieg ebenso rätselhaft wie dramatisch an.« Li nickte, während sich der von ihr ins Feuer geworfene Astrest knackend krümmte. »Genau so war es. Litrakduurn wurde, nachdem er seinen Schmiegschirm verloren hatte, mit der Zeit von der Milchstraße förmlich aufgefressen. Der heutige Rest ist der dir bekannte Kugelsternhaufen Omega Centauri.«
* Litrak erging es wie so vielen Dienern der Kosmokraten, fasste der Logiksektor meine Emotionen zusammen. Sobald sie in Not geraten, sind sie völlig auf sich gestellt. Wem sagst du das?, fragte ich mein mentales zweites Ich.
Dir, einem in Ungnade gefallenen ExRitter der Tiefe, gescheiterten SeinerzeitAuserwählten und unbelehrbaren Ausnahme-Narren, warnte der Extrasinn. Lass dich nicht wieder vor ihren Karren spannen. Wobei, gab ich zurück, der Karren dieses Mal zu groß sein dürfte, um ihn noch aus dem Dreck zu ziehen. Ich verspürte eine tiefe, traurige Betroffenheit über die Gleichgültigkeit, mit der die Kosmokraten und ihre Beauftragten – wieder einmal – ihre Helfer behandelt hatten. Obwohl ihnen zweifelsohne bekannt gewesen war, dass Litrak und Abermillionen Wesen der verschiedenen Schwarmvölker gestrandet waren, hatten sie nichts, aber auch gar nichts zu ihrer Befreiung oder Rettung unternommen. Sie hatten sich einen Dreck um ihre gescheiterten Helfer geschert, derweil diese wahrscheinlich und voll banger Hoffnung auf Hilfe gewartet hatten. Welche Tragödien mochten sich abgespielt haben … Erst als das Notfallsystem – eine technische Komponente – die Lage falsch interpretierte und vor allem wegen der Biophoren eine gewaltige Gefahr darzustellen begann, erst dann hatten die Kosmokraten es für nötig befunden einzugreifen. »Vielleicht erkennst du das Muster nicht, Li«, sagte ich. »Mir fällt auf, wie gleichgültig deinem Auftraggeber Samkar das Schicksal Litraks war. Ich weiß, wie gleichgültig unter anderem Samkars Ebenbild LAIRE agierte. Wie die sieben Mächtigen leiden mussten und aufgegeben wurden. Was ist, wenn du scheiterst, wenn du nicht schaffst, was immer dein Auftrag auch von dir verlangt? Wirst du dann auch einfach ›aufgegeben‹, oder wird er dir helfen?« Li sah mich mit ihren großen Augen an. »Ich weiß darauf keine Antwort. Samkar hat sich mir nie offenbart. Ich weiß es nicht. Er hat mir nur einen Auftrag erteilt.« Sie schüttelte sich, als müsse sie eine unsichtbare Hand von ihrer Schulter verscheuchen. »Und du?«, fragte sie leise. »Wirst du mir helfen?« Ich blickte ihr lange in die Augen, suchte
Die Macht des Kristallmondes darin nach der Li, die ich gekannt und geliebt hatte und die nicht mehr in diesen Körper war. Ich sah in ihren Augen mein winziges Spiegelbild, bemerkte in den Mundwinkeln ihrer sinnlichen Lippen ein kaum wahrnehmbares Lächeln, beobachtete das Spiel der erlöschenden Glut in ihren Haaren. Und nickte. »Natürlich helfe ich dir.« Na bitte, was habe ich gesagt?, empörte sich der Extrasinn. Was verstehst du an dem einfachen Wort »Narr« eigentlich nicht?
9. January Khemo-Massai: 30. April und 1. Mai 1225 NGZ Orbit um Vinara – an Bord der TOSOMA Die vorhandene Restenergie reichte, um den Jagdkreuzer in einen geostationären Orbit um Vinara zu bringen. In einer Höhe von rund 34.500 Kilometern versiegte der Fluss zu den Gravopuls-Projektoren. Die TOSOMA kam zum relativen Stillstand. In Windeseile hatten sie die wichigsten Stationen bemannt. Tassagol hatte trotz seiner Verletzung so lange an der Funkanlage gearbeitet, bis er einen kurzen Kontakt zu Lethems Multifunktionsarmband hatte herstellen können. Die Nachricht, dass Atlan vom Expeditionsteam gefunden worden war und lebte, war jubelnd aufgenommen worden und hatte sich blitzartig im gesamten Schiff verbreitet. Und hatte mehr Arbeitseifer freigesetzt, als es das bestgeführte Motivationsgespräch jemals vermocht hätte. Die Besatzung stürzte sich geradezu in die Aufgabe, die TOSOMA aus ihrer technischen Lethargie zu erwecken. Nach und nach trafen Meldungen aus allen Bereichen des Schiffes in der Zentrale ein. Auf dem Mittelpunktpodest mit seinen Hochrangkontrollen nahm Khemo-Massai die Meldungen entgegen. Stirnrunzelnd studierte er das sich abzeichnende Bild. In einem Holo liefen die eingehenden Werte zusammen.
37 Schiffszustand: allgemein schlecht; festgestellte Schäden – allgemeine Übersicht: Energieversorgung: beide Gravitrafspeicher entleert. Beschädigungen durch Überlastung/ Spontanenergieausfall in den internen Netzgittern. Beschädigungen am Hypertropzapfer. Beschädigungen der Außenhülle im gesamten Beibootgürtel: Ausschleusung ist zur Zeit nicht durchführbar. Ausfall der Fernortung. Ausfall sämtlicher Taster. Teilausfall Antigrav-Antriebskomponenten. Teilausfall des Transitionstriebwerks. Ausfall Schildniveau II. Ausfall Schildniveau III. Ausfall Nugas-Speicherkugel. Beschädigungen des SchwarzschildHilfskraftwerks. Geringe Beschädigungen an den Korrekturtriebwerken. Und so weiter. Khemo-Massai rieb sich die schmalrückige Nase. »Na dann, an die Arbeit, Leute«, sagte er mit einem Stoßseufzer. »Bringen wir unsere Lady wieder in Schwung.«
* Die erste gute Nachricht kam aus dem Maschinenraum. Hasdhor da Honghal meldete die automatischen Reparatursysteme betriebsbereit. Die zweite gute Nachricht überbrachte Mayhel Tafgydo von der medizinischen Abteilung. »Wir haben Olylyn Salryn gefunden« berichtete sie. »Sie lebt. Sie ist zwar stark dehydriert und immer noch ohne Bewusstsein, aber sie wird durchkommen.« Khemo-Massai atmete auf. Die intelligente Morann-Wanderpflanze war nicht mit von den Ovalrobotern entführt und von allen bereits für tot gehalten worden. Offenbar hatten die Maschinenwesen Olylyn Salryn für eine Zierpflanze gehalten und deshalb unbeachtet an Bord zurückgelassen. Die letzte
38 Meldung hatte gelautet, beim Absturz sei Olylyn schwer gestürzt und ins Koma gefallen. Die Wanderpflanze war ein vollwertiges und wertvolles Mitglied der Besatzung und fungierte in der Hierarchie der TOSOMA zur Zeit als Stellvertretende Leiterin der Bordklinik. Nach und nach fuhren die Aggregate hoch. Die Leute arbeiteten in allen Abteilungen mit einem Hochdruck, der Khemo-Massai angesichts der zurückliegenden Strapazen allen Respekt abnötigte. Er ordnete immer wieder Pausen an, nahm selbst, nach etlichen Gläsern Wasser, dankbar einen Becher Kaffee entgegen, brachte aber wider Erwarten keinen Bissen Nahrung hinunter. Stunden verrannen … Dann meldete die Ortungszentrale eingeschränkte Betriebsbereitschaft. Erste Sonden konnten abgesetzt werden und lieferten Informationen über die Situation auf Vinara. Nahezu überall herrschten chaotische Zustände. Die Natur duckte sich unter weiteren Einschlägen und befand sich in den meisten Teilen des Planeten in Aufruhr. Rund um den einzigen Kontinent tobten auf den Wassern des Ozeans Stürme jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Bis in die oberen Schichten der Atmosphäre hinaufreichende Tornados saugten Wasserhosen an; gigantische Flutwellen liefen mit mörderischer Geschwindigkeit auf die Küstenbereiche zu. »Und inmitten all dessen stecken Atlan, Lethem und die anderen fest«, murmelte Khemo-Massai niedergeschlagen. Doch für eine Landung und einen anschließenden Start fehlten zur Zeit noch alle Voraussetzungen. Ein Phänomen war unerwartet und blieb unerklärlich: Überall auf dem Kontinent materialisierten Millionen von Lebewesen, derweil die vier mondlosen Planeten verschwunden waren. Nur noch Vinara drehte sich mit seinem Mond um die einsame, 91,635 Millionen Kilometer entfernte Sonne. Der den Planeten umgebende Obsidiangürtel war offenbar zu weit über neunzig
Michael H. Buchholz Prozent auf den Kristallmond gestürzt; dies ergaben vergleichende Tastermessungen. Die Vergessene Positronik war zudem mit dem Mond kollidiert. Allerdings verhinderten starke energetische Emissionen auf der Mondoberfläche genauere Detailmessungen, ob und inwieweit sie dabei beschädigt oder gar zerstört worden war. Immer wieder konsultierte der Kommandant das den Lagebericht abzeichnende Holofeld. Der derzeitige Zustand, am Abend des 30. April 1225, lautete: Schiffszustand: allgemein hoch eingeschränkt betriebsbereit. Khemo-Massai atmete abermals auf. Es ging voran. Langsam zwar, aber immerhin. Er merkte nicht, dass er irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen war, und auch nicht, wie ihn Medorobots in seine Kabine trugen.
10. Atlan: 1. Mai 1225 NGZ Vinara – Mertras, das Land der Silbersäulen Sintflutartiger Regen weckte uns in der Stunde der Morgendämmerung. Ein heftiger Wind blies aus Osten, Donnergrollen lag in der Luft. Graue, beinahe schwarze Wolken zogen in geringer Höhe über das Bergland und prallten gegen das weiß strahlende Hindernis der Schirmglocke. Auch dieser Regen trug die Anzeichen eines misshandelten Planeten mit sich. Dunkler Aschenschlamm, durchmischt mit rötlicher Erde, schmierte über unsere Gesichter und Kleidungsstücke. Der Wind stank nach Fäulnisgasen. Lis Paillettenanzug entfaltete einen kugelförmigen Transparenthelm, als Einzige von uns blieb sie trocken. Mein eigener leichter Schutzanzug hatte ursprünglich ebenfalls eine Helmkapuze besessen, doch die Anstrengungen und der lange, wechselnde Aufenthalt auf den Vinarawelten hatten bei ihm einen hohen Tribut gefordert: Die Kombina-
Die Macht des Kristallmondes tion war inzwischen an vielen Stellen zerrissen und vor allem ihrer technischen Funktionen fast vollständig beraubt. Meine Kapuze hatte ich, wie auch einen Teil des Ärmels, bei der Bekämpfung des Luftschiffbrandes verloren. Unser Lagerplatz verwandelte sich binnen Minuten in eine Mulde aus Matsch, in der sich der Regen sammelte, der von der senkrechten Wand der aufragenden Schirmglocke in wahren Sturzbächen herabströmte und überall in dem »Pfannenkessel« Pfützen zu bilden begann. Lethem fluchte, Zanargun und Scaul Rellum Falk ebenso. Ondaix tat das einzig Vernünftige: Er barg die Reste des Bratens unter seinem weiten Überwurf. Als erste Blitze krachend in die Schirmglocke einschlugen, zogen wir uns ein Stück von der weiß schimmernden Wand zurück. Den ersten Blitzen folgten weitere; die umliegenden Berge warfen das ohrenbetäubende Donnern in vielfachen Echos zurück. Aus Lethems Multifunktionsarmbandgerät ertönten nur elektronisches Prasseln und statisches Rauschen. Ein Kontakt mit unserem Schiff kam entweder durch die Entladungen der Blitze oder durch die mit der Schirmglocke verursachten Interferenzen nicht zustande. Als der Regen nach Stunden endlich nachließ, saßen wir auf einer von vielen kleinen Erhebungen inmitten eines aus zahllosen Pfützen ineinander gelaufenen Sees. Ein winziger Punkt, den ich irgendwann am Horizont bemerkte, kam langsam näher. Dann hörten wir das für den Schwebeflug der TOSOMA charakteristische Summen, und der Schwere Jagdkreuzer senkte sich über unseren Köpfen herab.
* Zuerst steckten sie uns in die Desinfektionskammern. Anschließend bekamen wir frische Wäsche und Bordkombinationen. Tamiljon wurde gesäubert und in die Bordklinik gebracht, wo sich Mayhel Tafgydo
39 um ihn kümmerte. Wir anderen betraten die Zentrale. Es gab eine kurze, aber herzliche Begrüßung; für längere Gespräche war keine Zeit. January Khemo-Massai meldete das Schiff bedingt einsatzbereit. Beim Absturz war niemand getötet worden, auch nicht während der Zeit des Zwangsaufenthaltes in der Stufenstadt. Doch tags zuvor, bei einem unvorhersehbaren Angriff eines gestörten arkonidischen Robotraumers, hatte es zwei Tote gegeben, die nun auf der Verlustliste standen. »Setze Horgald Massarem und Veloz da Metztat hinzu«, murmelte ich dumpf. »Und Jorge Javales.« Lethem da Vokoban nickte traurig und zählte die im Einsatz gefallenen Mitglieder seiner Gruppe auf. Alle in der Zentrale senkten den Blick. Li legte mir eine Hand auf den Arm und sah mich ungeduldig an. »Wir werden ihrer später gedenken«, sagte ich. »Jetzt müssen wir uns vorrangig der weißen Kuppel widmen. Sind die Waffen einsatzbereit?« »Nur bedingt«, antwortete der Kommandant. »Keine Transformgeschütze, keine Paralysatoren. Vier der acht MVHDoppeltürme sind noch nicht wieder repariert. Infolge des Technik hemmenden Einflusses sind die betreffenden FormenergieVerschlussfelder kollabiert. Mechanische Beschädigungen traten auf, als …« »Keine Details«, unterbrach ich ihn. »Wir versuchen es mit dem, was geht.« Mit wenigen Worten setzte ich ihn ins Bild. Unser Ziel war, in den Bereich unterhalb der weißen Schirmglocke einzudringen. Der Schirm musste zusammenbrechen, doch Grataar, Sardaengars Gebirgsbastion, durfte nicht beschädigt werden. Gulokhiz hatte mitgehört und meldete die verfügbaren Waffen klar. Zuunarik brachte die TOSOMA auf eine Höhe von 8000 Metern über den Scheitelpunkt der Schirmglocke. Der Kommandant sah mich fragend an.
40 Ich nickte. »Feuer!«, befahl er. In hundertfacher Vergrößerung verfolgten wir auf der Panoramagalerie den Glutorkan, den Gulokhiz entfesselte. Die Desintegratoren und Konstantriss-Nadelpunkt-Kanonen setzte er zunächst nacheinander, dann gleichzeitig ein. Das Ergebnis war nicht einmal mager; es war überhaupt kein Ergebnis nachzuweisen. Weder normaloptisch noch durch Tasteroder Ortungswerte. Einzelschüsse blieben wirkungslos, ebenso minutenlanger Salventakt. Gulokhiz gab entnervt Dauerfeuer, doch die weiße Schirmglocke zeigte weiterhin keinerlei Verfärbung, kein Aufwallen, kein noch so geringes Flackern. Weder die molekulare Bindungskräfte neutralisierenden Desintegratorstrahlen drangen in die Kuppel ein, noch schafften es die KNK-Geschütze, die weiße Glocke auch nur anzukratzen. Immerhin Waffen, die normalerweise sogar Paratronschirme zu durchschlagen vermochten. »Wir brauchen die Intervallstrahler«, stieß Gulokhiz wütend hervor. »Ausgerechnet die sind defekt.« Er ließ die Geschütze verstummen. Li fuhr herum. »Und was jetzt? Wir müssen da hinein.« »Hat jemand einen Vorschlag?«, fragte ich unwirsch. »Irgendeinen? Ich nehme heute sogar schlechte entgegen.« Zanargun, der Leiter der Abteilung Außenoperationen und Chef der Landungstruppen, hob die Hand. »Erst mal entspannen, Atlan«, sagte er ruhig. »Erst mal Kaffee.« Er hob einen dampfenden Becher von dem Tablett eines Servorobots und reichte ihn mir. »Du wirst sehen, dann …« Zanargun wurde von dem einsetzenden Ortungsalarm unterbrochen. »Objekt nähert sich«, meldete Tassagol. »Walzenförmig. Ein Springerschiff – nein«, korrigierte er sich sofort. »Es ist eine Walze der Überschweren. LPV-Abgleich zeigt Deckung mit Modellen, wie sie zwischen 400 bis 430 NGZ auf Paricza gebaut wur-
Michael H. Buchholz den.« Khemo-Massai wechselte einen Blick mit Lethem, dann mit Zuunarik. »Funkkontakt«, sprach Tassagol weiter. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Lass hören!«, befahl Khemo-Massai. Plötzlich erfüllte heller Saitenklang die Zentrale. Und eine tiefe Stimme intonierte: »Ich laufe, lauschend, wo Lethem sich labt, ich zittere, zeternd, wo Zanargun zagt, ich kalkuliere, keuchend, wo Khemo so klagt, und finde, frohlockend, dass Falk fabuliert.« Ein dröhnendes Gelächter aus etlichen Überschwerenkehlen überschüttete die Anwesenden. »Umrin!«, riefen Lethem und Khemo gleichzeitig. »In der Tat, meine Freunde«, kam die Stimme des Barden aus den Akustikfeldern. Zugleich bildete sich ein Holo, in dem der Überschwere vor dem Hintergrund altertümlicher Konsolen erschien. »Wie es scheint, habt ihr ein gewisses Problem. Darf ich euch die Hilfe der TEM Neun anbieten? Ausnahmsweise einmal umsonst, wo doch die Lithras-Perlen so im Kurs gefallen sind …« »Wie habt ihr … wie bist du …?« Khemo-Massai fand nur sehr mühsam Worte. Umrin Zeles Barbinor lachte. »In den Besitz der TEM gekommen, meinst du? Gar nicht, denn rechtmäßig gehört sie immer noch der Familie meines Freundes Temicron, den ihr hier seht.« Ein zweiter Überschwerer stapfte ins Bild und grinste ihnen entgegen. »Seit 821 Jahren wird in seiner Familie ein Kodegeber als wichtigstes Erbstück weitergegeben. Temicron als Erbe wusste damit umzugehen. Als ich euch davonlaufen sah, rief ich Temicron und seine Freunde herbei, und wir machten uns gleichfalls auf den Weg. Kann sein, dass wir dabei ein wenig schneller unterwegs waren als ihr mit euren dünnen Beinchen … Als der Schuss den Hügel zerfetzte, waren wir schon weit in der Ebene. Kurz und gut, wir fanden
Die Macht des Kristallmondes das Schiff, und der wieder erwachte Syntron der TEM hat Temicron als Erben und rechtmäßigen Besitzer anerkannt. In buchstäblich letzter Sekunde hob uns das Schiff aus dem Inferno heraus; allerdings erlitten wir Schäden, die glücklicherweise die TEM, Paricza sei Dank, selbst beheben konnte. Danach ortete der Syntron eure Freudenschüsse, und hier sind wir, um ordentlich mitfeiern zu können.« »Die Spuren im Sand«, murmelte Zuunarik verstehend. »Ist Kythara bei euch?«, wollte Lethem wissen. »Ich bedauere, mein Freund. Ich wähnte sie in eurem Beisein.« Lethem schüttelte nur stumm den Kopf. »Kannst du den Syntron der TEM ansprechen? Einen Verbund mit unserem LPV herstellen?«, fragte ich Ulbagimuun. Der Dryhane nickte. Khemo-Massai verstand. »Temicron«, wandte er sich an den Schiffserben. »Du gibst eurem Syntron den Befehl, für die bevorstehende Operation die Waffengewalt an unseren Syntron zu übertragen. Koordination erfolgt von hier. Wir versuchen einen Punktbeschuss aus allen Schiffswaffen.« Der Überschwere leitete die Anweisung weiter. Ulbagimuun gab ein Zeichen – die Verbindung stand. Daten wurden zwischen den Schiffen ausgetauscht. Gulokhiz klatschte plötzlich in die Hände. »Und sie haben Intervallstrahler«, frohlockte er. »Feuer!«, befahl Khemo-Massai abermals. Wieder wallten Energien, durch den Syntronverbund auf einen Punkt konzentriert, der weißen Kuppel entgegen. Diesmal rasten aus den Bordkanonen der TEM intermittierende überlichtschnelle Abstoßfelder mit herunter. Auf einmal verfärbte sich das Weiß der Schirmglocke zu heller Bläue. Das Blau wurde rasch intensiver, breitete sich aus. Dann zerfaserte der Rand des Bereiches, an dem die Energien sich brachen, in dunkelblaue, kilometerlange Risse aus. Und im nächsten Moment sackte die Schirm-
41 glocke in sich zusammen. Freudige Rufe erklangen. Jemand klatschte – und brach ab. Die weiße Schirmglocke war erloschen. Eine darunter zum Vorschein kommende pechschwarze Kuppel aus einem absolut lichtschluckenden Etwas verwehrte uns weiterhin den Zutritt. Der aufbrandende Jubel der Überschweren an Bord der TEM IX verging so rasch, wie er entstanden war. In den absterbenden Tumult hinein meldete sich Mayhel Tafgydo. »Tamiljon ist erwacht. Von einem Moment zum anderen.«
* »Gratuliere, Mayhel«, rief ich. »Womit hast du …?« »Ich habe gar nichts«, widersprach die Ara-Frau missgelaunt. »Er ist von selbst aufgewacht und will das Schiff verlassen.« »Bitte ihn in meinem Namen um etwas Geduld.« Die Ärztin nickte und schaltete ab. »Tassagol. Bekommst du Daten über die Art des Energieschirms geliefert?«, fragte ich. »Es ist kein Schirm, den wir kennen. Vielleicht handelt es sich nicht mal um einen Schirm. Ein unbekanntes Kraftfeld – aber frage mich nicht, was es bewirken soll.« Ich wandte mich an Zuunarik. »Steuere die TOSOMA vorsichtig hinein. Vielleicht können wir es durchfliegen.« »Nein«, kam es von Li. »Dieses Feld ist nur zu Fuß passierbar.« Sie sprach mit absoluter Bestimmtheit. »Negativ, Atlan«, gab ihr der Erste Pilot Recht. »Näher als zehn Meter bekomme ich die TOSOMA nicht heran. Ein Widerstand baut sich auf, den ich mit den Kräften des Schiffes derzeit nicht überwinden kann.« »Lass uns gehen, Atlan«, verlangte Li. Sagte es und ging zum Lift. Ich bedeutete Khemo-Massai, die TOSOMA unweit der schwarzen Glocke zu lan-
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Michael H. Buchholz
den, und fuhr mit Li in Begleitung des unermüdlichen Zanargun zur Bodenschleuse hinunter.
* Nachdem ich einen neuen Schutzanzug übergestreift hatte, verließen wir zu dritt das Schiff. Ich leinte mich mit einem Seil an, das andere Ende drückte ich dem Luccianer in die Hand. Dann streckte ich vorsichtig die Hand aus und berührte die Oberfläche der vor mir aufragenden Wand aus purer Finsternis. Nichts. Kein Kribbeln. Keine Funken. Weder ein Aufblitzen noch ein Knistern. Meine Hand verschwand einfach in der Schwärze. »Ich gehe jetzt hinein«, sagte ich und machte zwei langsame Schritte vorwärts. Die Finsternis, die mich umgab, war absolut. Nicht einem Lichtquant war es gelungen, in die pure Schwärze einzufallen. Ich sah buchstäblich nichts, schon gar nicht die sprichwörtliche Hand vor Augen. Ich drehte mich um, orientierte mich an dem Seil, blickte in Richtung der TOSOMA und dorthin, wo Li stehen musste. »Kannst du mich hören?«, fragte ich. Keine Antwort. Wenn Lichtwellen ausgefiltert werden, gilt dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch für Schallwellen, erläuterte der Extrasinn. Im Inneren der Glocke setzt sich dort entstehender Schall offenbar normal fort. Warum kann ich die Barriere durchdringen?, fragte ich. Womöglich liegt es an deiner Ritteraura. Oder an den Emissionen deines Zellaktivators. Ha! Du weißt es also nicht, gab ich grimmig zurück. In diesem Moment verschwand der Zug des Seils. Und seltsame Kühle umfing mich. Ich betastete meine Arme, meine Beine, meine Brust – mein Schutzanzug war vollständig verschwunden. Alles an ihm: Stiefel, Aggregattornister, Falthelm, Gürtel …
»Aufgelöst wie Tamiljons Kleider«, murmelte ich verblüfft. »Wovon sprichst du?«, hörte ich plötzlich Li fragen. »Wieso kann ich dich auf einmal hören?« »Ich bin dir gefolgt. Ich stehe unmittelbar neben dir – glaube ich.« Ich spürte eine Berührung am Arm, griff zu und erfasste ihre Hand. »Und jetzt?« »Kehren wir um. Sonst verirren wir uns.« Was Li mir nicht verraten hatte, sah ich in dem Moment, als wir zwei Schritte rückwärts getan hatten. Auch ihr goldfarbener Paillettenanzug war verschwunden. Und das, was sie womöglich darunter getragen hatte. Vollständig nackt standen wir Hand in Hand in Sichtweite der Bodenschleuse der TOSOMA. »Was … was habt ihr da drinnen gemacht?«, stotterte Zanargun, der das lose Ende des Seils umklammerte, als könne es ihm in dieser Situation besonderen Halt verschaffen. »Uns neu orientiert«, antwortete Li ungerührt. »Aber für die Zukunft sehen wir schwarz.«
* In der folgenden Stunde ergaben alle weiteren Tests das gleiche Ergebnis. Jede Form von Technik und jede Art von künstlicher Materie wurde von dem dunklen Kraftfeld absorbiert. Nur Li und mir war es möglich, die Schwärze zu betreten; alle anderen, die es versuchten, scheiterten an der puren Finsternis ebenso wie die Sonden oder Roboter, die wir vergeblich aussandten. Alle außer Li und mir wurden unter starken Schmerzen abgestoßen. Alle … bis auf Tamiljon. Auch er konnte ohne Schwierigkeiten in das Kraftfeld eindringen, doch auch er verlor dabei jedes Kleidungs- und Ausrüstungsstück, das ihm in der TOSOMA gegeben worden war. Vielleicht war es sein kristallines Exoskelett, das ihm das Betreten ermöglichte.
Die Macht des Kristallmondes »Ich kann euch führen«, behauptete er, als er wieder vor uns stand. »Ich spüre die Gegenwart der Gebirgsbastion wie einen Druck in meinem Kopf. Ich kann die Richtung bestimmen, in die wir gehen müssen.« Mangels anderer Alternativen entschlossen wir uns, zu dritt am Nachmittag in das dunkle Reich hinter dem Energievorhang aufzubrechen. Meines Wissens war dies die erste Exkursion meines etwa dreizehntausendjährigen Lebens, bei der alle Teilnehmer splitternackt waren. Ich vermied es, allzu oft auf Lis vor mir schreitende Beine und das sich darüber wölbende, im perfekten Muskelspiel bewegende Hinterteil zu starren. Ich atmete beinahe auf, als die Schwärze uns verschluckte. Wir tasteten nach unseren Händen und gingen in die Richtung, die uns Tamiljon vorgab; er voran, ich als Letzter.
* Alle Geräusche von außerhalb waren verebbt. Was wir hörten, war nur das Rascheln unserer bloßen Füße im trockenen Gras. Rundum war es windstill. Ab- und zu schwirrten und summten Tiere durch die Finsternis. Oder wir störten Mäuse oder ein paar Eidechsen auf, die pfeifend und zischend davonhuschten. Und wir vernahmen Tamiljons nicht enden wollende, halblaute Warnungen vor Geländeunebenheiten. Irgendwann konnte ich das »Achtung – Stein!« nicht mehr ertragen. Zumal ich mehr als einmal gerade dann gegen ein am Boden liegendes Hindernis stieß. Warnungen vor Dornensträuchern gab er hingegen nicht – vielleicht nahm er sie infolge seines Kristallskeletts nicht einmal wahr. Ich allerdings schon. Meine Hand in der Lis schwitzte; die vertraute Geste brachte mich beinahe um den Verstand, bescherte mir einen Wust aus zusammenhanglosen Erinnerungen, rief die Orte und Gelegenheiten wach, in denen wir uns Hand in Hand befunden hatten … Eine Viertelstunde verging.
43 Immer noch gab Tamiljon vor, zu wissen, in welche Richtung wir gingen. Plötzlich hörten die Dornensträucher auf. Das Gelände begann anzusteigen. Irgendwo gluckerte ein Bach. Längst hatte ich die Lider geschlossen. So verrückt es klang, aber die pure Finsternis tat meinen Augen weh. Weitere fünfzehn Minuten. Dann kamen die Stimmen. Li bemerkte sie als Erste. »Hört ihr das?«, fragte sie und blieb stehen. »Nein«, sagte ich und stolperte gegen ihren nackten Körper. Ein loser Stein wackelte dumpf unter meinem Fuß. Meine Hand fuhr über ihre Taille, mein Unterleib berührte sie unabsichtlich. Ein Schauder durchfuhr mich, der nichts mit irgendwelchen Stimmen zu tun hatte. Ich schalt mich einen Narren und kam dem Extrasinn damit ausnahmsweise einmal zuvor. »Ja«, sagte Tamiljon. Li trat einen Schritt von mir weg und ließ meine Hand los. »Lass das!«, zischte sie. »Seid ruhig«, flüsterte Tamiljon. Ich verhielt mich völlig still. In der Tat, da sprach jemand. Eine Frauenstimme. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen. Ein Piepsen antwortete. Dann sah ich das Licht. Es kam rasend schnell näher, ein anschwellender Punkt in der Finsternis. Und er schwankte wie in raschem Lauf getragen. Schwere Schritte wurden langsamer, dann schälten sich seine Umrisse aus der Dunkelheit. Seine königliche, schlanke, fast hagere und hoch aufragende Gestalt. Seine geschmeidigen Bewegungen, das dunkelbraune Metall, das so weich dort nachgab, wo Gelenke hätten sein müssen. Ich spürte sein überwältigendes Charisma, blickte in sein rechtes Auge, das mich fixierte; sein linkes konnte den Blick nicht binden, es schielte. Samkar trug eine altmodische Petroleumlaterne, die er hoch über seinem Kopf hielt. Ihr flackernder Lichtkreis erhellte einen Bereich von vielleicht zehn Metern, in dem ich ihm gegenüberstand – völlig allein.
44 Li und Tamiljon waren verschwunden. »Was willst du noch?«, stieß ich hervor. Der Roboter, Diener und Beauftragte der Kosmokraten würdigte mich keiner Antwort. Er ging, ohne mich zu beachten, an mir vorbei und stellte die Laterne auf einen im trockenen Grasboden liegenden Stein. Dann erhob er sich und schritt mit einer perfekten Grazie in die Dunkelheit hinein; mit einer Anmut, die von einem lebenden Humanoiden nicht erreichbar war. »Warte!«, rief ich ihm nach. »Was hast du mit Li und Tamiljon gemacht?« Sein ästhetisch geformter Körper blieb stehen. Er wandte sich langsam um. Und ich starrte in das Gesicht von Laire! Zwei »gesunde« Augen musterten mich, und ein rascher Blick auf seine Hände vertrieb jeden Zweifel an seiner Identität – die Vorderglieder seiner Finger waren verkürzt, die nachfolgenden wirkten ausgeglüht … »Du bist immer noch wütend, Atlan«, sagte der Kosmokratenroboter, der um so vieles älter war als sein stählernes Ebenbild Samkar. »Was geht hier vor?«, wollte ich wissen. »Verachte nicht den Wanderer, der sein Ziel verfehlt« sagte Laire, »denn auch ein falscher Weg führt zu neuer Erkenntnis.« War es dieser altvertraute Vers von Moraht-Them, der als Auslöser fungierte, die unwirkliche Situation an sich oder gar ein beginnendes Versagen meines Zellaktivators – in diesem Moment überfiel mich ein rasender Kopfschmerz. Aufstöhnend sank ich in die Knie. »Als Auserwählter hast du versagt«, verkündete der Roboter. »Erwartungsgemäß.« Laire schritt an mir vorbei, holte mit dem Bein aus und trat gegen die Laterne, die klirrend umfiel und zerbrach. Ihr Inhalt fing sofort Feuer; das brennende Petroleum entzündete das trockene Gras. Im Nu stand eine Fläche von mehreren Quadratmetern in Brand. Laire schritt durch die Flammen und verschwand, ein Schemen in der Dunkelheit. Ich fluchte, sprang auf, rannte um die brennenden Petroleumlachen herum und setzte
Michael H. Buchholz ihm nach. Schlagartig umfing mich abermals die gewohnte Schwärze. Wo eben noch Flammen loderten, war pure Finsternis. Du erlebst Visionen, wisperte der Extrasinn. Einmal mehr. Traue nichts und niemandem. Ich nickte beklommen. Realer hätten allerdings auch die wirklichen Kosmokratenroboter nicht sein können. »Li!«, rief ich, so laut ich konnte. »Tamiljon! Wo seid ihr?« Ich blieb stehen und lauschte angestrengt. Keine Antwort. Oder doch? Eine weibliche Stimme, ganz schwach zu hören, rief mehrmals meinen Namen. Ich drehte mich ein paarmal um mich selbst, bis ich sicher war, aus welcher Richtung ihr Ruf kam. »Ich bin hier«, rief ich zurück. »Warte, ich komme.« Nach ungefähr hundert tastenden Schritten erblickte ich abermals ein Stück weit voraus einen flackernden Lichtschein. Er schimmerte durch das Geäst eines Busches; es war ein Lagerfeuer, das dahinter brannte. Vorsicht, warnte der Extrasinn. Nichts ist so, wie es scheint. Ich trat um den Busch herum – und sah eine mir fremde und doch seltsam vertraut anmutende, attraktive junge Frau am Feuer hocken. Sie trug eine lindgrüne Paillettenbluse und eine dunkelgrüne, enge Hose. Ihre dunkelbraunen Haare waren kunstvoll hochgesteckt und glänzten im Licht der Flammen. In ihrem Schoß kauerte ein seltsames Pelzwesen, etwa so groß wie eine terranische Katze. Die Frau kraulte das Tier und fütterte es zugleich mit etwas, das Nüsse sein mochten. Jedenfalls knackte das Tier an den Schalen herum und verspeiste deren Inhalt mit sichtlichem Genuss. »Er ist fort, weißt du«, hörte ich die Frau sagen. »So unendlich weit fort.« Sie seufzte; das braune Pelzwesen hob bei dem Laut kurz den Kopf mit den großen Augen, spielte mit den langen, buschigen Ohren und quäkte fragend: »Atlan mekt?«
Die Macht des Kristallmondes »Ja, mein Kleiner«, nickte die Frau, und Tränen schossen in ihre Augen. Achte nicht darauf, drängte der Extrasinn. Es sind Halluzinationen. Hirngespinste. Die Frau trägt Kleidung; in diesem Kraftfeld ein sicheres Zeichen für ihre Virtualität. Und das Tier spricht. Brauchst du noch mehr Beweise? Nein, gab ich mental zurück. Ich wandte mich brüsk von dem Feuer ab, und kaum hatte ich ihm den Rücken zugekehrt, umgab mich wieder absolute Dunkelheit. »Woher kommen diese Bilder?«, fragte ich mich laut. Aus deinem Inneren, antwortete der Extrasinn. »Samkar und Laire – na schön. Aber ich habe weder diese Frau noch das Pelzwesen je gesehen«, widersprach ich. »Oder?« Der Extrasinn gab keine Antwort. Zudem wurde ich jäh in meinen Überlegungen unterbrochen. »Atlan?«, hörte ich plötzlich Tamiljons Stimme ganz aus der Nähe. »Ja«, rief ich. Gras raschelte, und ich fühlte die Berührung von warmer Haut und einer heißen, harten Kruste an meiner Schulter. »Ich hab ihn«, sagte Tamiljon. »Na endlich«, kam es von Li. Es war eine Feststellung, ohne jede Spur von Erleichterung gesprochen. Ihre einzige wahrnehmbare Emotion war Ungeduld. Ihre kühle Beherrschtheit überzeugte mich davon, diesmal keiner Vision zu erliegen. Dies – und dass die Kopfschmerzen nachließen.
* »Hattet ihr auch … Erscheinungen?«, fragte ich in die Finsternis hinein. »Nein«, sagte Tamiljon. »Ja«, sagte Li gleichzeitig. Ich erzählte, was mir widerfahren war. Li war auch mit Samkar konfrontiert wor-
45 den, aber in einer völlig anderen Szenerie. »Er verschwand, als ich es ihm befahl«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, die Visionen stellen Traumwelten dar. Und sie lassen sich beeinflussen. Ich habe versucht, meine letzte Traumwelt zu gestalten. Eine konzentrierte Imagination Verdrans vertrieb für einen kurzen Moment die Dunkelheit des Kraftfeldes. Ich sah die Sonne und Vadolon über den Bergen stehen und darunter Sardaengars Bergbastion in ihrem Licht erglühen. Und ich sah dich, Atlan, als ich mir vorstellte, dich zu sehen – du sprangst in hohen Sätzen über das Gras. Ich denke jetzt, ich habe dich dabei beobachten können, wie du den Flammen in deiner Vision ausgewichen bist.« »Also Imagination ist der Schlüssel«, murmelte ich. »Und gerade jetzt? Was erleben wir in diesem Augenblick? Ist die Finsternis auch eine Vision?« »Kann sein«, antwortete Li, »dass die gesamte Schwärze nur in unserer Vorstellung existiert. So als würde das Kraftfeld eine Art leere Matrix bilden, in die hinein wir unsere Traumwelten projizieren können. Wobei es offenbar keine Rolle spielt, ob es eine unbewusste Aktion wie bei dir war oder eine bewusste Imagination wie bei mir. Außerdem … Ich bin nicht sicher, aber ich meine seit kurzem so etwas wie einen paranormalen Kontakt zur Vergessenen Positronik zu spüren. Frag mich nicht, wieso und wodurch – ich weiß es nicht. Es ist, als wolle sie dem Bann des Mondes entkommen, schaffe es aber nicht, zu entmaterialisieren, und ruft daher mental um Hilfe. Vielleicht hilft dieser Vorgang uns dabei, unseren Einfluss hier zu verstärken.« »Das würde bedeuten, wir könnten das Kraftfeld dazu bringen, uns zu zeigen, was wir sehen wollen?« »Wenn unsere Imagination stark genug ist – ja.« Aber wird das, was du sehen willst, das sein, was du tatsächlich siehst?, warf der Extrasinn ein. Es käme auf einen Versuch an.
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»Lasst uns weitergehen«, forderte Tamiljon. »Ich spüre die Bastion immer deutlicher.« »Wir gehen weiter«, bestimmte ich, »und dabei werden Li und ich uns gemeinsam darauf konzentrieren, Verdran und Vadalon am Himmel zu erblicken.« Gezielte Imagination war ein Bestandteil der DagorMeditation; ähnliche Praktiken hatte ich zudem bei den Zen-Buddhisten im alten Japan kennen gelernt. »Also los«, sagte Li. Wieder ergriffen wir uns bei den Händen.
* Ich nahm meine Schritte als Gebetsmühlenersatz. Was wir hier taten, war genau genommen das Greifen nach einem nicht vorhandenen Strohhalm. Imagination … Mit jedem Aufsetzen eines Fußes rief ich das Bild der Vinara-Sonne aus meiner Erinnerung auf, projizierte es ebenso wie Vadolon im Sekundentakt auf eine Art innere Leinwand. Das fotografische Gedächtnis des Logiksektors unterstützte mich dabei nach Kräften. Und wirklich – plötzlich und viel schneller, als ich es erwartet hatte, standen wir in hellstem Licht. Verdran sank bereits den westlichen Bergspitzen entgegen, und der Kristallmond warf sein blendendes Weiß auf eine schroffe und gut vierhundert Meter hohe Klippe, die steil vor uns in der Mitte des »Pfannenkessels« aufragte. Die TOSOMA war nicht Teil dieser Vision; ich konnte sie nirgendwo erblicken. Tamiljon hatte uns bis nahe an den Fuß dieser Klippe geführt. Ein schmaler Weg wand sich in vielen Kurven zur Gebirgsbastion hinauf. Li legte wie ich den Kopf in den Nacken und betrachtete das aus fünf himmelstürmenden Türmen bestehende Grataar. Die Turmbauten bildeten die Eckpunkte eines gleichseitigen Fünfecks. Ihre Formati-
on spielte damit auf die ursprünglichen fünf Welten an. Nicht alle Türme waren gleich hoch; aber alle zeigten sie ein dumpfes Grau, ähnlich dem der gealterten Silbersäulen. Vielleicht waren sie tatsächlich einmal silberfarben gewesen; doch jetzt wirkten die dunklen und teilweise rostig angelaufenen Fassaden rau und schartig. Sie wiesen Risse auf – und regelmäßige Vertiefungen, die an Öffnungen von Schießscharten erinnerten. Alle fünf Kolosse besaßen Kuppeln, in denen sich ovale Fenster zu befinden schienen. Auf den Kuppeldächern erkannte ich säulenähnliche Aufbauten, die auch kleinere Turmaufsätze oder Seitentürme sein konnten; so genau war dies aus unserer niedrigen Position nicht zu erkennen. Die beiden kleineren der wuchtig wirkenden Türme wuchsen noch einmal geschätzte 450 Meter von der an sich schon 400 Meter hoch gelegenen Klippenfläche empor. Der höchste Turm, ganz im Norden stehend, ragte noch einmal 200 Meter höher in den Himmel hinauf. Ein verwinkeltes Gerüst oberhalb seiner Kuppel endete in einer winzigen Plattform. Keines der wuchtigen Gebäude glich gänzlich dem anderen, doch sah man deutlich, dass alle fünf einem einzigen Gehirn entsprungen sein mussten. Vielleicht ja dem deinigen, merkte der Extrasinn an. Bedenke, es ist eine Imagination … Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Viel zu wirklich wollte mir diese Vision erscheinen. Aber wann war Wirklichkeit wahrhaftig? Eine halbe Stunde später hatten wir die Klippe über den schmalen Weg hinauf erklommen und standen vor Sardaengars Gebirgsbastion. Der Weg endete hier. Li und ich hatten Blasen an den Füßen von dem steinigen Aufstieg. Tamiljon murrte und blickte sich suchend um. Weit und breit gab es weder ein Tor, durch das wir schreiten konnten, noch einen Türklopfer, mit dem wir uns hätten anmelden können.
Die Macht des Kristallmondes Deine Imagination hat gewisse Unvollständigkeiten, kommentierte der Extrasinn. Ein heiseres Schreien ließ uns zusammenzucken. Es kam von elf riesigen Flugechsen, die hoch oben zwischen den Turmsäulen der Gebirgsbastion kreisten, ehe sie, abermals schreiend, mit langen Flügelschlägen nach Westen flogen.
* »Wir müssen zum Westturm«, erklärte Li. »Nur dort fand ich einen Zugang.« Wir befanden uns unmittelbar vor der Wandung des Südostturms. Li wandte sich nach links und ging ohne ein weiteres Wort voran. Tamiljon folgte ihr, weiterhin immer wieder in alle Richtungen blickend, als suche er nach etwas Bestimmtem. Meine Frage, wonach, ignorierte er. Li führte uns eilig an dem Durchgang zwischen dem Südostturm und dem Südwestturm vorbei. Im Schatten des Innenhofs sah ich rechter Hand eine grau wallende, gewiss 60 Meter durchmessende Nebelwolke zwischen den Türmen schweben, deren dichte Schwaden von einer mir unbekannten Kraft im Zentrum des Hofes zusammengehalten wurden. Einmal blitzte es im Innern bläulich auf. In diesem Moment blieb Tamiljon ruckartig stehen und starrte für Sekunden in die Schwaden hinein, ehe er missmutig knurrte und beinahe widerwillig weiterging. Dann hatten wir auch die Rundung des Südwestturms passiert und bogen in den dahinter liegenden Durchgang zum Innenhof ein. Li deutete stumm voraus. An der Stelle des geringsten Abstandes zum benachbarten Südwestturm zeigte der Westturm einen spitzgotisch geformten Portalbogen von etwa 25 Metern Höhe, zu dem fünf metallene Treppenstufen hinaufführten. In dem Bogen fand sich allerdings kein Tor, stattdessen standen wir am Beginn eines tief ins Innere des Turmes führenden Gangs, von dem weder Türen noch Seitengänge abzweigten.
47 »Dort hinein müssen wir«, sagte sie. »Einen anderen Zugang fand ich nicht.« »Einer ist besser als keiner«, murmelte ich und folgte ihr. Das Metall des Ganges erwies sich als schrundig und unangenehm kühl. Tamiljon stapfte hinterdrein. Er übertönte mit dem Klacken seines Exoskeletts aus harten Kristallen das bloße Tapsen unserer nackten Fußsohlen. Wie alt die Bastion auch sein mochte – die in ihr verwendete Technik arbeitete zumindest in den Basisfunktionen einwandfrei. Verborgene Sensoren nahmen unsere Anwesenheit wahr – und duldeten sie. Ohne dass ich irgendwelche Leuchtelemente erkennen konnte, erhellte sich der Gang jeweils dort, wo wir uns befanden. Etwa zehn Meter hinter uns erlosch das indirekte Licht, und die stumpfen Silberwände versanken wieder im Grau ihrer Schatten. Nach etwa hundertzwanzig Schritten erweiterte sich der Gang zu einem gewaltigen Schacht, der sich über unseren Köpfen endlos nach oben zu strecken schien. Rund um den Schacht verlief im Uhrzeigersinn eine reliefartig in die Wandung geschlagene Wendeltreppe. Sie zog sich wie ein Gigantgewinde in unzähligen Spiralen den Turm hinauf. Ich atmete auf, als Li an dem Treppenaufgang achtlos vorbeiging und dem Zentrum des hallenden Schachtes zustrebte. Auch hier im Schacht kam aus irgendwelchen, verborgenen Quellen indirektes Licht, und ich erkannte auf dem Boden ein hellsilbern schimmerndes Symbol, dem ich in etlichen Ab und Unterarten immer wieder auf den Vinarawelten begegnet war: ein gleichseitiges Fünfeck, gebildet aus fünf gleich großen Kreisen, in dessen Mitte ein kleinerer Kreis aus Kristallen eingelassen war. Das FünfPlaneten-Zeichen durchmaß etwa fünf Meter; der Schacht selbst erreichte einen Durchmesser von gut fünfzehn Metern. »Kommt hier herüber«, forderte Li. Wir stellten uns neben sie auf das Silberzeichen. Li hielt ihre Hand für einige Sekunden über den zentralen Kristallkreis, und ei-
48 ne Plattform hob sich geräuschlos aus dem Boden, deren Rand jenseits der runden Linien der Silberkreise verlief. Mit zunehmender Geschwindigkeit trug uns die Plattform den Schacht hinauf. Das Licht hielt mit uns »Schritt«. »Na bitte – es geht wieder aufwärts mit uns«, versuchte ich einen der ältesten Scherze der Menschheit anzubringen, aber Tamiljon und Li reagierten nicht. Vielleicht kannten sie ihn schon. Dabei war es Bullys Lieblingsscherz. Angeblich hatte er ihn schon verwendet, als er damals mit Perry Rhodan nach der Havarie der STARDUST auf dem irdischen Mond das notgelandete Schiff von Thora und Crest betreten hatte und im für sie völlig fremdartigen Antigravlift erstmals nach oben geschwebt war … Historisch verbürgt war dies allerdings nicht. Die Plattform kam an etlichen Etagen vorbei, die ohne Geländer den Innenschacht in regelmäßigen Abständen umgaben. Ich sah von den Etagenringen schemenhaft von dort und senkrecht zum Schacht verlaufende Gänge abzweigen und darin unzählige schottähnliche Portale, die in uneinsehbare Räumlichkeiten führten. Die Geschwindigkeit der Plattform mochte bei vier bis fünf Metern pro Sekunde liegen; als sie nach knapp zwei Minuten langsamer wurde und schließlich stoppte, hatten wir schätzungsweise eine Höhe von 500 Metern überwunden. Nirgendwo gab es ein Anzeichen von Leben. Nichts deutete auf Sardaengars Anwesenheit hin. Das gesamte Gebäude schien verlassen zu sein. Ich sah nicht einmal Reinigungsroboter auf den endlosen Fluren. Auf jeder Etage reichte ein Anlegesteg in den Schacht hinein; dort kam die Plattform zur Ruhe, und wir betraten den obersten Etagenring des gesamten Schachtes. Auch hier gab es keinerlei Geländer – der Schacht verlor sich jenseits der Etagenkante in der Dunkelheit einer unsäglichen Tiefe. Fünf oder sechs Meter über unseren Köpfen wölbte sich eine Decke aus demselben stumpfsilbernen Metall, aus dem hier alles
Michael H. Buchholz zu bestehen schien. »Wir befinden uns jetzt direkt unterhalb der höchsten Halle«, erklärte Li. »In der Kuppel hat sich Sardaengar eine besondere Art von Refugium eingerichtet. Es gibt nur zwei Etagen. In der unteren befindet sich eine Sammlung aller möglichen Gegenstände von den fünf Planeten. Krimskrams, wenn ihr mich fragt; das meiste ist verrottet und seit langem nicht mehr beachtet worden. Wir müssen dahin, um in die darüber liegende Etage zu gelangen. Dort befindet sich ein Obsidiantor, das Sardaengars Spiegel enthält. Der Spiegel wird mir verraten, wo genau sich Sardaengar aufhält. Kommt mit.« Sie lief eine ebenfalls in die Wand eingeschnittene, sich aber wesentlich stärker krümmende Treppe hinauf. Tamiljon drängte sich an mir vorbei. Mittlerweile nahm ich unser aller Nacktheit so selbstverständlich hin, dass ich kaum noch darauf achtete. Die Stufen endeten ohne Abschluss in einem Loch im Boden der unteren Etage, von der Li gesprochen hatte. Wir befanden uns jetzt in einem Raum von kreisförmigem Grundriss, dessen Decke gut 50 Meter hoch lag und dessen Durchmesser ebenfalls knapp 50 Meter betragen mochte. An den Wänden sah ich Erzeugnisse aus allen fünf Welten. Teils in Regalen und Schränken geordnet, teils in wirren Haufen versammelt, lagen, standen, hingen und lehnten Gewehre, Bajonette, Säbel, Uniformen und Pickelhauben der Aroc-Soldaten; Nähmaschinen, Gasleuchter und eine der Dampfregistrierkassen aus der Stadt am See. Ich erkannte einen vollständigen Dendibosattel samt Zaumzeug vor einem umgestürzten Regal, aus dem lederne Bücher quollen. Eine ausgestopfte und präparierte Flugechse mit einer Flügelspannweite von mehr als zehn Metern schwebte, an unsichtbaren Fäden baumelnd, über dem Modell einer Schilfbarke. Ich sah kunstvolle Schnitzereien, einen Sarkophag, eine Totenmaske, bemaltes Geschirr, einen vergilbten Vinara-Globus in ei-
Die Macht des Kristallmondes nem hölzernen Gestell, eine goldene Rüstung, diverse Schwerter, Papier- und Pergamentrollen, Talgleuchten, sogar mehrere Eismäntel von der Art, wie ich selbst einen getragen hatte. Und ich erblickte, auf der jenseitigen Hälfte des Raumes und als größtes Stück der unordentlichen Ausstellung, ein vollständiges Luftschiff samt Gondel und Propellermotoren und dem Aluminiumgerippe des zigarrenförmigen Rumpfes. Die Gasbehälter waren gewiss seit langem leer, und die Bespannung hing in riesigen Fetzen von dem Gerippe herunter. Das fahruntüchtige Luftschiff war von der gleichen Bauart, aber kleiner noch als dasjenige, mit dem wir zum Casoreen-Gletscher aufgebrochen waren. Es hing in einem Drahtgeflecht von der Decke herab und bot den Anblick eines in einem riesigen Spinnennetz gefangenen Tieres, dessen Knochen und schlaffe Haut alles waren, was sein Beutefänger von ihm übrig gelassen hatte. Hinter dem Luftschiff führte eine sich an der Wand emporwindende Treppe in die Etage darüber. Ohne uns weiter mit Sardaengars Sammelsurien zu beschäftigen, eilten wir hinauf. Und betraten die höchste Halle des Westturms. Der Raum war bis zu seiner konisch zulaufenden Decke völlig leer. Nur in seiner Mitte stand, von der Größe eines sechs Meter Kantenlänge aufweisenden Würfels, das wie ein Tisch geformte, vierbeinige Obsidiantor. Die vier Quaderbeine warfen harte und zugleich tanzende Schatten. Grelles Licht fiel zu den viele Meter weiten, rings um die Kuppel angebrachten Fenstern herein. Sie bildeten die ovalen Öffnungen, die wir schon von unten, vom Fuß der Klippe aus, gesehen hatten. Durch sie erblickten wir die Säule aus blendend weißem Licht, die sich über dem Nordturm erhoben hatte. Die Säule schien direkt von der Spitze des größten der fünf Türme zu entspringen, und sie stach kerzengerade und grell wie ein Flammenspeer in den Himmel hinauf.
49 Direkt im Zenit über Sardaengars Gebirgsbastion stand Vadolon. Und die Säule aus Licht ist das Bindeglied, das zwischen dem Kristallmond und dem Nordturm eine Brücke schlägt. Tamiljon brüllte auf. Er rannte zu der Wendeltreppe hinüber, die spiralförmig bis zum höchsten Punkt der Decke hinaufführte. Li spurtete hinterher und hielt ihn zurück. »Nein!«, schrie sie ihn an. »Nicht nach oben! Wir müssen nach unten zurück. Sardaengar ist dort drüben – im Nordturm. Ich spüre es. Er hat etwas Entscheidendes vor – die Lichtsäule beweist es. Und das müssen wir verhindern!« »Und wie sollen wir das tun?«, fragte ich müde. »Wenn er im Nordturm ist, dann ist er unerreichbar für uns. Es gibt keine Verbindungen zwischen den Türmen. Und nur den Westturm konnten wir betreten. Wir können Sardaengar nicht erreichen. Wir können nichts tun.« Für einen Moment hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Tamiljons telekinetische Fähigkeiten einzusetzen. Aber schon die Vorstellung, mich ihm über einen 500 Meter tiefen Abgrund und über eine Strecke von gut 150 Metern hinweg anzuvertrauen, gefiel mir nicht. Seit seinem Erwachen schien er mir verändert und noch unzuverlässiger zu sein, als er es ohnehin schon war. Und da er seine Kraft zudem aus meiner Vitalenergie speisen würde, stand ich einem telekinetischen Transport von drei Personen mit äußerstem Argwohn gegenüber. Nein, so nicht. Und noch im selben Moment, da ich mir das sagte, wusste ich plötzlich, dass es eine Möglichkeit gab. Und nur diese eine, die wir nutzen konnten. Das kannst du nicht ernst meinen, tobte der Extrasinn, kaum dass die Idee von mir Besitz ergriffen hatte. Das ist der leibhaftige Wahnsinn, und du weißt es!
* Li und Tamiljon sahen mich an wie einen wohlriechenden Dendibo, als ich ihnen mei-
50 nen Plan vortrug. Sie schüttelten noch immer die Köpfe, als wir wieder in Sardaengars Museum hinuntergestiegen waren und mit der Arbeit begonnen hatten. Stoffbahnen der Luftschiffshülle mussten zerrissen, Seile entwirrt und neu geknüpft werden. Ich fand geeignete Aluminiumverstrebungen, die sich um 120 Grad biegen ließen. Li knüpfte aus einem Teilstück der Hülle und vorhandenen Gurten den behelfsmäßigen Sack, den wir brauchen würden, und zurrte dessen Halterung mit einem in der Gondel gefundenen Karabinerhaken zusammen. Tamiljon half mir indessen bei den Knoten und prüfte das längste Seil, das wir finden konnten, auf seine Haltbarkeit. Zwei kleinere Alubügel bog er mit seinen Exoskelettkräften in die richtige Form. Die abmontierte Bugradfelge der Gondel würde, zusammen mit einer in den Belüftungslöchern der Felge festgekeilten Getriebestange, eine provisorische Winde ergeben. Dann schleppten wir die Einzelteile in die obere Halle hoch und begannen, bepackt, wie wir waren, die Wendeltreppe bis zur Kuppel hinaufzusteigen. Eine unverschlossene metallene Falltür öffnete den Weg hinaus ins Freie. Nun standen wir unter einem an den terranischen Eiffelturm erinnernden Metallaufbau, der auf der Kuppel aufsaß und sich noch einmal gut hundertzwanzig Meter in den Himmel reckte. Zwischen senkrechten Streben und waagerechten Trägern verliefen schräge Querstreben, und im Inneren des so immer spitzer zulaufenden »Eiffelturms« führten Leitern und Metalltreppen bis ganz nach oben. Heftiger Wind blies uns entgegen und pfiff um die Metallbeine des Turmaufbaus, während wir, uns festhaltend, Stufe um Stufe erklommen und höher und höher hinaufstiegen. Die Böen griffen sofort nach der Konstruktion, die ich auf der Schulter trug; knatternd zog und ruckte der leichte, aber feste Stoff an den Bügeln; doch die Bänder hielten. Uns gegenüber ragte der noch um zehn Meter höhere Nordturm in den Himmel.
Michael H. Buchholz Blendend funkelte die weiße Säule auf seiner Spitze. Winzig klein war die Klippe, auf der alle fünf Gebäude standen. Die Sonne Verdran war zu einem glühenden Ball geworden, der sich an den westlichen Bergspitzen stach. Purpurne Wolken trieben träge dahin und schufen einen surrealistisch wirkenden Hintergrund. Die Schatten der fünf hohen Türme fielen weit ins Land hinein, dorthin, wo irgendwo die TOSOMA stehen musste; doch entdecken konnte ich sie nicht. »Du willst das wirklich tun, Atlan?«, fragte Li, als wir eine luftige Plattform erreicht hatten, die hoch genug für unsere Zwecke war. Für einen Augenblick klang sie wie die frühere Li. Der Anblick des gähnenden Abgrunds vertrieb den Gedanken. »Zum wiederholten Mal: Müssen wir da hinüber?«, fragte ich zurück und deutete auf den an seiner Seite rot und golden, an seiner Spitze weiß schimmernden Turm. Li antwortete nicht. Sie reichte mir nur stumm die Gurte und nickte energisch. »Also dann. Außerdem weiß keiner von euch mit so einem Ding umzugehen«, murmelte ich. Mir war bitterkalt; der Wind zerrte an meinen Haaren, die Feuchtigkeit der Luft ließ mich frösteln. Ich schlüpfte in den Sack, prüfte die Halterungen, klemmte den Karabinerhaken in den Hauptrahmen ein. Dann schulterte ich das Gestänge des improvisierten Flugdrachens, prüfte ein letztes Mal alle Befestigungen. Tamiljon und Li hielten das Traggestell fest. Ich baumelte an den Gurten, die den Sack unter dem kühn geschwungenen Deltaflügel hielten. Mein Herz pochte, die Zweifel an meinem Plan wirbelten mir förmlich entgegen. »Auf drei!«, schrie ich gegen den Wind. »Bevor ich es mir noch anders überlege.« Beide zeigten »verstanden«. Ich kam nicht bis drei. Sie warfen mich samt dem Rahmen schon bei zwei von der metallenen Plattform. Der Aufwind knallte hart in die Stoffbahnen. Die Thermik hob den Flugdrachen zunächst in einer weiten Kurve an und zog ihn
Die Macht des Kristallmondes dann in den Abgrund zwischen die beiden Türme hinein. Atme, du Narr! hämmerte der Extrasinn. Atme, solange du es noch kannst.
* Ich verlagerte das Gewicht und hielt das primitive Fluggerät nur mühsam und immer nur für Sekunden waagerecht. Mein Landepunkt war denkbar klein und wanderte ständig wieder nach rechts ab. Der Ostwind, der heulend zwischen den beiden Türmen zusammengepresst wurde, erzeugte eine starke Luftströmung, die an dem Deltadrachen zerrte und ihn nach Westen abtrieb. Der Aufbau des Nordturms unterschied sich geringfügig von dem der anderen. Er war gut 650 Meter hoch. Die Turmspitze bestand auch hier aus einem Stahlgerüst. Allerdings war es nur etwa siebzig Meter lang; die vier Beine saßen auf einer schmalen Kuppelwölbung, die jäh in einen lang gestreckten konischen Turmaufsatz überging und etwa 120 Meter abfiel. Erst dann bildete die eigentliche Großkuppel das Dach über dem tonnenförmigen Turmgebäude. Dort, wo das Stahlgerüst die konische obere Wölbung berührte, wollte ich landen – zwischen den Beinen des »Eiffelturms«. Nur an dieser Stelle war der Neigungswinkel des Daches flach genug. Eine Zone von höchstens zwölf Metern im Durchmesser; jenseits dieses gedachten Kreises fiel das völlig glatte Dach des Turmaufsatzes nahezu senkrecht ab. Der Höhenunterschied war entscheidend. Von meinem Startpunkt aus gesehen befand sich der anvisierte Landeplatz etwa sechzig Meter unterhalb dieser Marke und in direkter Luftlinie 150 Meter weit davon entfernt. Ausreichend für einen Gleitflug. Eine weitere Böe erfasste mich. Ich war inzwischen schon so weit nach links hinaus abgetrieben worden, dass ich für einen Moment sogar die im Licht der untergehenden Sonne glänzende Fassade des Ostturms aufblitzen sah. Dann brach der Windstoß ab,
51 und ich nutzte den Moment, um wieder nach rechts hinüberzuziehen. Jetzt näherte ich mich der oberen Wölbung rasend schnell. Ich suchte den Augenblick abzuschätzen, an dem ich die Beine blitzschnell aus dem Tragesack herausziehen und mich von dem Drachengestell trennen musste. Ich hatte keinen Platz zum gemächlichen Auslaufen, sondern würde mich irgendwie auf der allseitig abschüssigen Wölbung festhalten müssen; schon die Beine des Stahlgerüsts wuchsen an Stellen empor, wo das Dach nahezu lotrecht abstürzte. Meine höchste Sorge war die richtige Geschwindigkeit. Ich durfte nicht zu schnell zwischen die Beine des Stahlgerüstes gleiten, da mich der Schwung sonst auf der gegenüberliegenden Seite in die Tiefe treiben würde. Und ich durfte nicht zu langsam sein, da die Luftströmung abzureißen drohte. Ich sank glücklicherweise in dem von mir vorausberechnetem Maß. Wäre ich zu hoch geblieben, hätte ich die schmale Dachkuppel verfehlt und wäre mit dem Gerüst kollidiert; wäre ich schneller als beabsichtigt gesunken, hätte ein Zusammenprall mit der konischen Metallwand mein unvermeidliches Ende bedeutet. Noch zwanzig Meter. Über mir hoben sich die Längs- und Querträger, unter mir rauschte die Wandung des silbergrauen Dachaufbaus heran. Eine letzte Drehung mit dem Körper, der Backbordflügel neigte sich um wenige Grad. Zehn Meter. Ich befand mich beinahe zwischen den Stahlbeinen. Und ich durfte die Treppe nicht treffen, die in der Mitte in das Stahlgerüst hinaufführte. Jetzt!, befahl der Extrasinn scharf. Ich riss die Beine aus dem Sack, hing nur noch mit den Händen am Tragerahmen. Als ich die Füße ausstreckte, spürte ich bereits schmerzhaft den metallenen Untergrund, lief zwei, drei Schritte aus, ließ den Drachen fahren und warf mich der Länge nach hin. Den heftigen Aufprallschmerz ignorierend, breitete ich Arme und Beine so weit wie möglich aus, um so viel Grundberührung
52 wie möglich zu erhalten. Ich rutschte auf dem Bauch dahin und quetschte mir dabei jeden Zentimeter meines Leibes. Über meine nackte Haut tobten stechende Flammen. Und doch ertrug ich diese Schmerzen nur zu gern, denn … … ich kam mit dem Kopf voran zum Liegen – nur einen halben Meter von mir entfernt senkte sich die Rundung jäh nach unten. Meine Füße befanden sich schon über der Höhe meines Kopfes; nur noch zehn Zentimeter mehr, dann wäre ich unweigerlich nach vorn gerutscht und unaufhaltsam in die unsägliche Tiefe gestürzt. Mein Herz raste. Mit äußerster Vorsicht kroch ich millimeterweise zurück und damit bergan. Es vergingen gewiss fünf Minuten, bis sich meine Atmung beruhigt hatte. Ehe ich mich aufzurichten wagte, um in die Mitte, in die trügerische Sicherheit der schmalen Kuppelfläche zu wanken. Auch hier gab es unter der Metalltreppe eine Falltür im Zenit der Kuppel. Ich setzte mich auf eine der Gitterstufen. Auf der Plattform des Westturms sah ich Tamiljon und Li winken; ich lehnte mich zurück und winkte gleichfalls zum Zeichen, dass der Telekinet beginnen sollte. Zunächst sah ich von seinen Bemühungen nichts; dazu war das Seil zu dünn. Aber ich spürte am schlagartig einsetzenden Pochen meines Zellaktivators, wie mir von ihm wieder Lebensenergie entzogen wurde. Meine Schwäche nahm zu, und ich klammerte mich an der Treppe fest, um nicht von plötzlichen Schwindelgefühlen umgerissen zu werden. Dann sah ich das lange Seil heranschweben. Ich packte das hiesige Ende und verknotete es mehrfach an dem ersten quer verlaufenden Stahlträger, den ich über die Treppe erreichen konnte. Ich winkte abermals. Li gab das Verstanden-Zeichen. Drüben würden sie nun die improvisierte Winde in Bewegung setzen und das Seil damit stramm ziehen. Das Utensil aus dem Kadaver des Luftschiffes spannte sich unmerklich, stand end-
Michael H. Buchholz lich zitternd zwischen den beiden Türmen. Auf der anderen Seite in einer etwa sechzig Meter höheren Position als hier. Ein zentimeterdünnes Seil, einhundertfünfzig Meter lang, runde 600 Meter über dem Boden schwingend, von den heftigen Böen unablässig in einen nach Westen weisenden Bogen gepeitscht. Was nun folgte, war der blanke Wahnsinn. Li machte wie vereinbart den Anfang. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen, aber ich wusste, sie würde den ersten der beiden vorgefertigten Alubügel auf das Seil setzen, ihre Hände in die daran befestigten Schlaufen legen – und so an dem Seil hängend zum Nordturm hinüberrutschen. Nackt, den eisigen Winden schutzlos ausgesetzt … Tamiljon würde ihre rasende Fahrt telekinetisch bremsen. Dann sah ich sie. Das Seil bog sich durch, je näher sie der Mitte kam; doch es dehnte sich glücklicherweise nicht stark genug, um ihren Schwung aufzuheben. Sie glitt bis an den Stahlträger heran und klammerte sich an ihm fest. Ich reichte ihr die Hand und zog sie auf die Treppe. Für einen winzigen Augenblick hielt ich ihren nackten Körper noch einmal in den Armen und spürte, wie sie vor Kälte zitterte. Sie machte sich von mir frei und winkte Tamiljon. Der Wind heulte in den Verstrebungen des Stahlgerüstes. Verdran verschwand soeben hinter dem Horizont. Vadolon stand direkt über uns. Die gleißende Lichtsäule verband dieses Gebäude noch immer mit dem Mond, und irgendwo in diesem Gebäude war Sardaengar … Tamiljon stieß sich vom Westturm ab. Das Seil vibrierte und summte unter der Belastung. Der winzige schwarze Punkt seiner Gestalt raste heran. Lichtfunken umglitzerten ihn. Er glitt schneller an dem Bügel hängend über das Seil dahin, als Li es getan hatte, und es bog sich deutlich stärker durch. Sein Gewicht musste infolge der an ihm haftenden Kristalle wesentlich höher sein als frü-
Die Macht des Kristallmondes her; das Seil dehnte sich knirschend in seinen Knoten zu unseren Köpfen. Seine Fahrt hatte die Mitte der Strecke erreicht, er raste weiter auf den Nordturm zu. Das Summen des zitternden Seiles steigerte sich zu einem zornigen Zurren. Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Eine Flugechse bog um einen der Aufsätze des Westturms herum. Das große Tier mit dem Höckerkopf sah den Schwarzhäutigen zwischen den Gebäuden schweben und kippte über den rechten Flügel ab. Ein heiserer Schrei der Echse kündete von dem bevorstehenden Angriff. Ich schrie Tamiljon eine Warnung zu, doch der Wind riss meine Worte von den Lippen. Den mit messerscharfen Zähnen bewehrten Schnabel aufgerissen, stürzte sich die gut zwölf Meter messende Echse von hinten auf den nichts ahnenden Tamiljon. Die ledrigen Flügel klapperten, die dolchlangen Krallen schlugen sich in seinen Rücken. Das Tier verbiss sich förmlich in den nach oben ausgestreckten Armen Tamiljons, die noch in den Schlaufen des Gleitbügels steckten. Das zusätzliche Gewicht der Flugechse überspannte das Seil – es zerriss knallend irgendwo drüben am Westturm. Tamiljon und das ihn umklammernde, auf ihn einhackende Tier hingen gemeinsam an dem nun jäh nach unten schwingenden Seil – und verschwanden binnen Sekunden aus unserem Blickfeld. Ein dumpfer Aufprall ließ vermuten, dass sie beide fünfzig oder sechzig Meter tiefer gegen die Wand des Nordturms geschleudert worden waren. Ich griff nach dem Seil, das auf unserer Seite immer noch an dem Querträger festgebunden war. Es hing lose durch, nur beschwert von seinem eigenen Gewicht. Tamiljon war abgestürzt. Li sah mich erschrocken an. »Spürst du etwas?«, fragte sie. Li wollte wissen, ob er seine telekinetischen Kräfte einsetzte; in dem Fall hätte ich ein Nachlassen meiner Lebenskraft in Form von Schwäche in mir spüren müssen. Ich verneinte.
53 »Dann …« Sie sprach nicht weiter. Wir wussten beide, was das bedeutete. Li da Zoltral blickte nach oben. Deutete zur Lichtsäule. »Wir müssen da hinauf«, sagte sie. »Ich spüre, nur dort … Die Verbindung kommt zustande. Schnell!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Li. Zuvor muss ich wissen, was mit ihm ist.« Ich behielt das Seil in der Hand, während ich die Treppe hinunterlief. Auf dem Kuppeldach angekommen, wand ich mir das Seil nach Bergsteigerart über den Rücken und zwischen den Schenkeln hindurch. Mit dem Rücken voran ließ ich mich langsam immer näher über die abfallende Schräge hinab. Als ich den Punkt der stärksten Krümmung erreicht hatte, wagte ich mich keinen Fuß mehr weiter. Mein Kopf und ein Teil meines Oberkörpers schwebten jetzt über dem grausigen Abgrund, und ich musste alle Willenskraft aufwenden, ruhigen Sinnes und ebenso ruhigen Blutes nach unten zu sehen. Die konische Wand des Turmaufsatzes, an der ich hing, fiel rund 120 Meter senkrecht in die Tiefe. An ihrem unteren Rand saß sie auf der den ganzen Turm bedeckenden Großkuppel auf, die sich aus meinem Blickwinkel wie ein gigantischer Halbkreis ausnahm. Ihre eigentliche vertikale Krümmung war nicht zu erkennen; das Metall ihrer Oberfläche glomm im düsteren Violett der letzten Strahlen der Abendsonne. Nirgendwo konnte ich eine Spur von Tamiljon erkennen – von ihm nicht und auch nicht von der Flugechse. Nur das Seil baumelte leer bis zur Großkuppel hinunter und pendelte an ihrer Wandung hin und her. Die sich tief darunter befindende Klippe, auf der die fünf Türme errichtet waren, lag inzwischen gänzlich im Schatten der hereinbrechenden Nacht. »Atlan?«, schrie Li, so laut sie konnte, gegen den Wind. »Ich komme«, murmelte ich. Laut rief ich: »Ich komme zurück.« Fuß um Fuß zog ich mich am Seil wieder bis zur Treppe her-
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Michael H. Buchholz
an. Li hatte die Arme um sich geschlungen. Sie zitterte am ganzen Leib. »Nichts«, sagte ich, immer noch erschüttert von dem Vorfall. »Hattest du etwas anderes erwartet?« Sie drängte sich auf der schmalen Treppe an mir vorbei und eilte die Stufen hinauf, so schnell es ihre bloßen Füße gestatteten. Ich ließ das Seil schweren Herzens hängen und eilte ihr nach. Siebzig Meter erhob sich das Stahlgerüst über dem Kuppeldach. Die Treppen waren steil, schmal und lang. Winzige Kehren, nur durch einen dünnen Handlauf gesichert, kamen alle fünfzig Stufen. Die Treppen führten in endlosem Zickzack hinauf. Wir stiegen, bald langsamer werdend und nach Atem ringend, Kehre um Kehre höher. Meine Knie zitterten, an den Füßen bluteten die aufgeplatzten Blasen, und die Quetschungen an der Vorderseite meines Körpers machten jeden Schritt zu einer einzigen Qual. Für einen Moment fragte ich mich, warum wir das alles hier auf uns nahmen. Um zu verhindern, dass der Urschwarm neu entsteht, antwortete der Extrasinn in den rot wallenden Nebel meiner Erschöpfung hinein. Um zu verhindern, dass die Milchstraße von einer vermutlich völlig unkontrollierten Massentransition auseinander gerissen wird.
Die Lichtsäule über uns summte vor knisternder Energie. Sie stand immer noch senkrecht über dem Turm. Die Säule endete dort, wo auch die Treppen abbrachen: auf einer nur drei Meter durchmessenden Plattform auf der obersten Spitze dieses Turms. Als wir die letzten Stufen hochstolperten, standen uns die Haare zu Berge. Die Luft war mit Elektrizität förmlich überladen. Bläuliche Blitze zuckten aus der Lichtsäule und schlugen knallend in das brusthohe Geländer, das die luftige Plattform umgab. Funken stoben davon; verbranntes Metall rauchte, die Luft stank verschmort. Vor dem sich verdunkelnden Himmel stach die Säule aus Licht grell zum Kristallmond hinauf. Inmitten der blendenden Flut aus fließendem Licht erblickte ich eine nur in Umrissen wahrnehmbare Gestalt. Umgeben von einer Aura schier grenzenloser Macht. Die flirrende Silhouette hielt die Arme und Beine weit gespreizt. Die Hände waren dabei ekstatisch zum Himmel erhoben – wie von einem Propheten angesichts seiner größten Offenbarung. Dort stand er. Und lachte. Sardaengar.
ENDE
Chefautor Uwe Anton schildert in seinem Roman das packende Finale des OBSIDIAN-Zyklus. DIE OBSIDIAN-KLUFT ERWACHT lautet der Titel des Abschlussbandes. Band zwölf der Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.