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Zu diesem Buch Boris Pilnjak (1894-1937) ist einer der eigenwilligsten Erzähler der neueren russischen Literatur. Seine dichterische Eigenart, ein sprunghafter, dunkler, aber bildhafter und kultivierter Erzählstil, hat eine ganze Richtung der frühen Sowjetliteratur geprägt und Kritiker sogar von ›Pilnjakismus‹ sprechen lassen. Distanziert von jeder parteiamtlichen Schablone, die der Dichter als Nichtkommunist stets verachtet hat, ergreift Pilnjaks Werk durch einen tiefen Humanismus und das Mitgefühl mit allen Leidenden. Diese Züge läßt besonders stark die Titelgeschichte dieses Bandes erkennen, die - teils Reisebericht, teils Essay, teils Gleichnis - von der Aussiedlung russischer Juden nach Palästina handelt und eindrucksvoll zur Besinnung auf das Schicksal des Judentums anregt.
Auch die folgenden neun Erzählungen tragen zum Teil essayistische, geschichtsphilosophische Züge, die Pilnjak geschickt mit fesselnder Handlung zu verbinden versteht; einige der Geschichten sind stark autobiographisch gefärbt oder geben besonders reizvoll Aufschluß über die schriftstellerische Arbeitsweise Pilnjaks (›Das Werkzeug des Dichters‹; ›Die verschüttete Zeit‹).
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BORIS PILNJAK
Die Legende von Wasser und Erde ERZÄHLUNGEN
Aus dem Russischen übertragen von Valerian P. Lebedew
MÜNCHEN WILHELM GOLDMANN VERLAG
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Die Legende von Wasser und Erde
So beginnt ein arabisches Lied: Meister, ergreife behutsam den Lehm, Wenn du formst ein Gefäß, denn vielleicht Ist dieser Lehm der Staub jenes Mädchens, Das du einstmals innig geliebt? So ergreife behutsam den Lehm Mit deinen Händen, die heute noch leben! In Palästina, in Syrien, entlang der Mittelmeerküste rudern die Araber, wie man nirgendwo sonst auf der Welt rudert. Es sind acht Mann. Sie tragen Turbane, sehr weite Pumphosen, die sich im Winde aufblähen, und ihre Füße sind nackt. Nur die Fußsohlen werden durch die biblischen Sandalen, die mit Riemen festgebunden sind, vor der glühenden Hitze der Erde geschützt. Die Beine sind genauso wie die Gesichter und Hände von der Sonne gebräunt. Die Araber sind schön, stark, gelenkig und gleichen den Vögeln. Auf dem Heck des Prahms, dort, wo auf Teppichen die Europäer sitzen, ist über den Köpfen ein weißes Zelttuch gespannt, aber die Araber bleiben in der glühenden Sonne. Jeder von ihnen hat ein Ruder; der Prahm ist sperrig, breit, und die acht Araber lassen alle zugleich beim Auswerfen der Ruder ein Bein über die Ruderbank auffliegen; das andere Bein biegen sie kräftig im Knie durch. Ihre Pumphosen bläht der Wind auf, die grünen Wellen schaukeln den Prahm und zusammen mit Prahm und Wind schaukeln die Araber; mit dem ganzen Gewicht ihrer Körper holen sie die Ruder aus dem Wasser – und mit jenem Fuß, der in der Luft schwebte, stemmen sie sich gegen die Bordwand des Prahms, stoßen sich mit ihm ab und fliegen wieder in die Luft, über die Ruderbank, über die Wellen. Und dabei singen diese prächtigen Burschen, die den Vögeln gleichen, alle zugleich – nein, sie singen 5
nicht, sondern schreien in ihrer kehligen Sprache, genau wie Vögel, aufgeweckt in der Nacht: Wir Männer sind Teufelskerle! Wir Männer sind Teufelskerle! O Allah! Die Fahrt ist noch nicht zu Ende! Der Weg ist noch sehr weit! Sie folterten ihre Kehlen, um sich zu ihrem Tagewerk aufzumuntern – in der Hitze, mitten im Meer, im Türkisblau der Wellen. Sie gurrten ihr Lied, weil wahrhaftig die Fahrt noch nicht zu Ende war – und deshalb singen sie in der Wüste, nachts, unter den Palmen und Sternen, rastend bei ihren weißen Lehmhütten, bei den Kamelen oder einer Oase; sie singen von dem Meister, der behutsam mit dem Lehm sein muß, denn auch der Lehm ist Erinnerung an Liebe und vergangene Zeiten.
I Im Hafen von Odessa, an der Potjemkin-Mole, lag ein Schiff unter der Flagge der sozialistischen Unionsrepubliken. Es stand unter vollem Dampf und wartete darauf, sich vom Kai zu lösen und ins Meer zu stechen. Am frühen Morgen hatte der Bootsmann mit der Wache das Schiff gereinigt. Aus den Schläuchen flössen hunderte von Eimern mit Wasser auf die Decks, das Schiff wurde gefegt und geschrubbt – und in dieser Sauberkeit wäre es bereit gewesen zu glänzen, wenn nur die Sonne geschienen hätte. Aber es gab keine Sonne, denn es waren die letzten Oktobertage. Der Regen sprühte, das gegen die Bordwand schlagende Wasser war grau wie der graue Nebel, den man draußen auf dem Meer erwarten mußte. Um die Mittagsstunde begann man mit dem Einschiffen der Auswanderer. Der Kran warf die Koffer, Körbe, Kisten, Matratzen, Kommoden, Waschtröge hinab in den Laderaum. Die Menschen verteilten sich auf den Decks, mit all dem menschlichen Gut und den Lumpen, die sie hatten mitnehmen dürfen: Federbetten, Bettgestelle, Bastkörbe. Irgendeiner trug ein Grammophon, ein anderer stellte unter dem Rettungsboot einen Korb mit zwei Gänsen ab. Es waren die Zwischendeckpassagiere, 6
fünfhundert an der Zahl – Juden, die nach Palästina auswandern mußten, in die Heimat, die ihr Volk seit Zweitausend Jahren nicht mehr betreten hatte. Auf dem Zwischendeck, in den Durchgängen unter den Rettungsbooten, bei den Schornsteinen – das Schiff war ein Riese mit zwei Schornsteinen –, im Bereich der dritten Klasse, wurde das Gepäck zu Bergen aufgehäuft, wie man Gegenstände aufeinanderwirft, die bei Feuer aus einem brennenden Gebäude herausgeholt werden. Zwischen den Gepäckstücken wurden eilig die Betten ausgebreitet, auf denen sich Frauen und Kinder lagerten. Die Alten gingen auf Suche nach freien Plätzen, um dort eiligst einen kleinen Teppich aufzurollen, das Heilige Buch in die Hände zu nehmen, und – die Augen halb geschlossen, den Kopf zurückgeworfen – die uralten Worte zu lesen. Aber selbst von dort vertrieb man sie, von einem Platz zum anderen, an immer neue und neue Plätze, wild die Kopfkissen, Kinder, Nachttöpfe, Samoware durcheinander werfend. Auf den Decks wurde hitzig geredet, man stritt sich, wobei sich die russische Sprache mit der althebräischen vermengte. Es breitete sich jener scharfe Geruch aus, nach dem Ghettos und Laderäume der Schiffe riechen; Laderäume und Ghettos haben den gleichen Geruch, vielleicht deshalb, weil die Ghettos immer nur Zwischenstationen für dieses wandernde Volk waren. Bald lagen auf den Decks, die am Morgen so sorgfältig geschrubbt worden waren, abgenagte Hühnerknochen, Melonenstücke, Papierfetzen herum – und schamloser Dreck triefte aus Kisten und Bastkörben. Als die Dämmerung hereinbrach, war das Schiff mit Menschen und Hausrat voll gepfropft, und wer hindurchgehen wollte, mußte über Menschen, Hausrat und Gepäck balancieren wie ein Seiltänzer. Von den Decks wurde in die graue Trübnis des aufkommenden Abends ein für russische Ohren fremdes Gebetsstimmengewirr mit unerhörter Geschwindigkeit getragen. Dieser zusammengepferchte Menschenhaufen war schwarz – nicht nur deshalb, weil diese Menschen schwarzhaarig und von dunkler Gesichtsfarbe waren, nicht deshalb, weil in der Dämmerung die Kleidung, die Gegenstände und die Enge schwarz erschienen, sondern weil in den Worten, Bewegungen und gellenden Rufen das schwarze, von der Leidenschaft verzehrte Blut der mystisch verzückten Menschen zu spüren war. Die Dämmerung wechselte in die schwarze Nacht hinüber. Auf dem Meer begannen die Lichter zu bren7
nen. Der Leuchtturm blinkte, erstarb und flammte von neuem auf. Das Schiff verstummte in der Finsternis. Der zweite Pfiff der Schiffssirene war bereits verklungen. Der Kapitän blieb den ganzen Tag in seiner Kajüte, trank Kaffee und erteilte Befehle. Der Erste Offizier erschien und meldete, daß alle Arbeiten beendet seien und daß die Jugend – Zionisten aus Tarbutt – an Backbord eine Versammlung abhalte. Sie hielten ihre blaue zionistische Fahne bereit. Der Kapitän genoß gelassen den letzten Schluck Kaffee, befahl, das dritte Sirenensignal zu geben, und ließ sich in den schwarzen Wettermantel mit Kapuze helfen. Das Schiff brach in unheimliches Geheul aus. Der Kapitän betrat unter diesem Geheul die Kommandobrücke. Und gerade, als das Heulen der Sirene verstummt war, brach das Schiff in ein anderes Geheul aus: in das Geheul der Tränen, des Abschieds, der Verwünschungen – mit zum Himmel emporgestreckten Händen, zurückgeworfenen Köpfen und Hälsen mit spitzen Adamsäpfeln. Unter dem Geheul hatte keiner bemerkt, wie in der Finsternis der Kutter sich zum Heck herangearbeitet hatte, beim Fortziehen des Kolosses von der Mole mit größter Kraft und vor Anstrengung schnaufend. Das Heulen hörte nicht auf – und dann mischte sich in das Geheul der Rhythmus eines Gesanges: Das Lied war würgend, eintönig, verdammend, ganz von Blut und Bitternis durchtränkt – es war die zionistische Hymne, jene Hymne, in der Zion besungen wird und die ewige Auserwähltheit dieses verstreuten, gesegneten und verfluchten Volkes, das jetzt auf dem Wege nach Zion war. In der Dunkelheit hatten nicht alle bemerkt, daß auf der Back, hinter dem Schanzkleid, die zionistische Flagge gehißt war. Und dann übertönte ein Brüllen aus der Kapitänskehle dieses Geheul und den Gesang: »Maul halten auf der Back! Steuermann Pogodin, hinunter mit den Rädelsführern in die Schwitzkiste! Maul halten!« Auf der Back entstand für einige Minuten Verwirrung: Irgend jemand stieß irgendwen. Irgend jemand beschimpfte irgendwen. Und ein Höllenlärm setzte ein. »Sie unverschämter Mensch, Schurke, Vieh!« »Genosse Kapitän, mich hat man einfach ins Genick geschlagen!« Wieder ertönte aus der Finsternis von der Kommandobrücke das Brüllen des Kapitäns: »Maul halten! Steuermann Pogodin, alle Schuldigen und die Anstifter zu mir auf die Brücke!« 8
»Zu Befehl!« antwortete der Steuermann, und die Wache begann eifrig, die erstbesten aus der Menschenherde herauszuzerren. Der Menschenhaufe wurde still und kauerte sich zusammen. »Hört auf mein Kommando!« schrie etwas gezügelter der Kapitän. »Zionisten! Erst wenn wir auf dem Meer sind, erlaube ich euch, von fünf bis neun Uhr abends, und von neun bis zwölf Uhr vormittags zu singen … Maul halten! Hinunter mit den Rädelsführern in den Schwitzkasten! Auf dem Meer könnt ihr singen, soviel es euch Spaß macht!« Der Kutter hatte inzwischen aufgehört, unter dem Heck zu schnaufen. Das Schiff stand mit dem Vorsteven zum Meer. Die Lichter auf den Uferstraßen und oben in der Stadt verschmolzen zu einer Ebene, und der Leuchtturm schwamm an der Seite vorbei. Und von der See, von ferne, wehte mit dem breiten Flügel der Weiten der Meereswind. Der Regen hatte aufgehört, aber kein Stern war zu sehen, und das Schiff entfernte sich in die schwarze, dichte Finsternis. Der Kapitän, ein alter, ein guter, aber müder Mann, stieg zum Kartenhaus hinunter, beugte sich über die Karte und bat um ein Glas Tee. Alle übrigen Lichter auf dem Dampfer waren ausgelöscht. … Das Schiff fuhr von den nebligen Ufern Skythiens zur Sonne des Marmara-, desÄgäischen und des Mittelmeeres, in das tiefe Blau des Meeres, des Himmels und der Berge, dorthin, wo inerhalb des griechischen Archipels bis heute noch neue Inseln auftauchen und die Vulkane rauchen, dorthin, wo die großen Kulturen der Menschheit entstanden und untergingen – die ägyptische, assyrische, griechische, arabische –, dorthin, wo tausende und abertausende Völker gewandert sind; sie wurden geboren, siegten und starben in diesem Lande der Sonne, der Gesteine und des Meeres, sie schufen Religionen, Künste, Kulturen, Zivilisation und starben dort, wo jeder Stein ein Denkmal ist … Meister, berühre behutsam den Lehm – Juden, Assyrer, Phönizier, Philister, Ägypter, Griechen, Römer gingen unter, und zwischen ihnen verlor sich ein Volk, die Judäer, jenes Volk, das nicht unterging, und das durch die ganze, uns überlieferte Geschichte der Menschheit seinen Weg genommen hat. Nabopolassar – der Babylonier – hat die Juden aus Palästina vertrieben, er tötete die Zurückgebliebenen; erst nach vierhundert Jahren, während der Herrschaft des Persers Cyrus, führte Esra die Juden nach Palästina 9
zurück. Der Römer Titus machte Jerusalem dem Erdboden gleich. Und danach begann die zweitausendjährige Wanderung der Juden. Manche von ihnen tauchten als Kriegsscharen in den skythischen Steppen auf – es waren die Chosaren –, aber sie wurden vernichtet. Andere, und ihrer waren viele, gingen in die Geschichte als römische Kaufleute ein, die sich über das gesamte römische Imperium verstreuten; als arabische Feilscher und Wechsler kamen sie nach Spanien, wo sie schließlich während der Herrschaft Isabellas und Ferdinands durch die Macht des Jesuiten Torquemada innerhalb eines Tages und einer Nacht des Landes verwiesen wurden, um als Bettler entlang des Mittelmeeres sich zu verstreuen, und sie zeugten den Judäerzweig Spaniolen-Sephardim. Jene Juden aber, die in den Ruinen Jerusalems und in der Wüste zurückblieben, wurden bis auf den letzten Mann getötet. Und dann, im Mittelalter, zu Beginn des zweiten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung, in der Zeit der Kreuzzüge, als Gottfried von Bouillon in Jerusalem einbrach, um dort das Königreich Jerusalem zu gründen, waren es die Christen, die kein Erbarmen mit den Juden hatten. Immer neue und neue Menschenherden von ihnen vertrieben sie über die ganze Erde. Im Gedächtnis der Menschheit ist dieses Volk als ein überall verfolgtes geblieben; es blieb im Gedächtnis der Menschheit als das Volk Geldwechsler, Bankiers und Handwerker – und es blieb als jenes Volk in Erinnerung, das alle Gauner in der Geschichte der Menschheit für ihre eigenen betrügerischen Zwecke benutzten: denn im dreizehnten Jahrhundert vernichteten die Könige die Juden nicht mehr, sondern ließen sie gegen ein Schmiergeld am Leben. Genauso war es in Neu-Amsterdam, wie früher New York hieß, wo den Juden nur deshalb das Wohnrecht gewährt wurde, weil sie genügend Geld hatten, mit dem sie sich loskaufen konnten, ebenso war es in York, der uralten englischen Metropole, wo die Engländer stolz auf die Glasmalereien in der Kathedrale sind, dabei aber gerne vergessen, daß dieses Glas gleichsam der Schweiß der Juden ist und aus jüdischen Bestechungsgeldern stammt – und zwar dafür eingenommen, daß die Juden nicht ganz ausgeplündert und verfolgt wurden. Die Geschichte des jüdischen Volkes ist angehäuft mit Plünderungen und Verfolgungen, und die ganze Geschichte zeichnet sich dadurch aus, daß die Juden – das Judentum – das Gesicht nicht verloren ha-
ben. Durch die Jahrhunderte trugen sie ihre Schwermut, ihre urewige Trauer – Trauer und Schwermut des ewigen Volkes; wie es auch immer verfolgt sein möge, heftet und heftet es doch mit dem roten Faden des Judentums die Geschichte der Menschheit. Und für immer blieb bei den Juden der Traum von ihrer Heimat, von Jerusalem, von ihren Propheten und ihrem Alltag. Vor dreihundert Jahren wurde der Smyrnaer Jude Sabbatai Zewi zum Messias erhoben, und tausende von jüdischen Familien zogen Sabbatai nach, um zu sterben. Am zweiten November des Jahres neunzehnhundertsiebzehn schrieb der englische Außenminister Sir Balfour dem Juden Lord Rothschild, daß Palästina, das unter englischem Mandat stand, nunmehr eine nationale Herberge des jüdischen Volkes sei. Und nun fuhren auf dem Dampfer, unter der Flagge der Union der Sowjetrepubliken, fünfhundert jüdische Menschen zu ihrer nationalen Heimat. Das Schiff stieß tüchtig in das Blau des Mittelmeeres vor. Ein kalter Wind kam auf. Im Rücken brannte der Leuchtturm, erstarb, flackerte von neuem auf, und die Lichter des Hafens verschwanden. Auf dem Heck, über der Schraube, an das Schanzkleid gelehnt, stand ein alter Jude im Kaftan, ein Käppchen auf dem Kopf, mit einem keilförmigen Bart bis zum Gürtel – der alte Jude, der auf der Reise zur Klagemauer war, um dort seine Tränen auszuweinen, um dann ohne Tränen glücklich im Gelobten Land, im Tal Josaphat zu sterben. Er sah zurück auf jenes Land, in dem er zur Welt gekommen war, in dem seine Ahnen geboren waren, die dort trotz der Verfolgung jahrhundertelang gelebt hatten – und er, ein Greis, weinte beim Abschied. Er konnte nicht anders – und er verfluchte dieses Land, dieses heilig-unheilige Land; aber es war ihm unmöglich, nicht bittere Tränen zu weinen. In jenem Land aber, das vor ihm, hinter den Meeren liegt, wird er die Erde mit seinen greisen Lippen küssen, mit seiner greisen Brust wird er zu Boden fallen, sich an ihn schmiegen, und die greisenhaften Küsse werden die leidenschaftlichsten sein, die allerleidenschaftlichsten von allen Küssen, die er jemals geküßt hat, und diese Erde wird er mit Tränen des Grames tränken. Der Leuchtturm war schon verschwunden, erstorben in der Finsternis. Die schwarze Nacht stand ringsherum, und ein kalter Wind wehte. Der alte Mann arbeitete sich durch die überfüllten Decks zu seinem Platz, zu seinen Habseligkeiten. Hier waren noch Son-
nendecken gespannt. Die vom Tage müde gewordenen Menschen schliefen bereits. Eine kleine elektrische Birne spendete dürftiges Licht. Auf einem Korb lag schlafend eine Frau, und ihr Kopf baumelte in der Luft. Hinter den Kisten, auf einem Federbett, schlief eine ganze Familie. Neben der kleinen elektrischen Birne hing ein Käfig mit einem Kanarienvogel, doch der Vogel schlief noch nicht. Auf dem Boden im Durchgang atmete schwer im Schlaf ein alter Mann, den Kopf auf einen Rucksack gepreßt. Auf einer Bank schliefen zwei Mädchen, einander umarmend, um nicht herabzufallen; unter der Bank hatte sich ein junger Mann eingerichtet, der vor dem Schlafen noch eine Zigarette rauchte. Der übrige Platz war mit Hausrat vollgestellt. Der alte Mann ließ sich müde auf seine Matratze nieder, neben seiner Frau und seinem letzten Kind, das die alten Eltern auf dieser weiten Reise nicht allein lassen wollte. Er schlug das Buch auf und begann lautlos, nur die Lippen bewegend, die Gebete zu lesen. Noch ein Dutzend alte Männer auf dem Schiff saßen in der gleichen Weise mit dem gleichen Buch. Der Alte war von den gelesenen Worten ergriffen und einmal, zum Schluß eines Satzes, dessen tieferer Sinn besonders hervorstach – es war darin von der grausamen Strenge Jehovas berichtet –, warf er den Kopf zurück und begann, diesen Satz zu singen. Die anderen Greise fielen ein. Und bald setzte auf dem Deck ein eigenartiger, dem russischen Ohr fremd klingender Gebetsgesang ein, angespannt und leidenschaftlich – wie das Blut leidenschaftlich sein kann. … Und auf der Back, neben dem Vorsteven, stand zu dieser Stunde ein junger Mann mit einer Lederjacke, Reithosen und neuen Gummigaloschen. Sein Gesicht war feierlich, streng und entschlossen, aber es zeigte ebenso die schwache Gesundheit des Jünglings, so als leide er an der Schwindsucht. Seine Augen waren hinter einem Zwicker verborgen, und eine dünne Schnur zog sich hinter das Ohr. Der junge Mann stand kerzengerade; den Kopf zurückgeworfen schaute er vorwärts, seine Brust dem Winde bietend. Die Wellen schaukelten das Schiff, um den Bug rauschte das Meer, und die Back erhob sich langsam, um zischend in die Wellen zu tauchen. Dieser Jüngling hatte beim Abschied dem Mädchen, das am Ufer zurückgeblieben war, zugerufen: »Im nächsten Jahr! In Jerusalem!« Er war es auch, der die zionistische Hymne so leidenschaftlich gesungen hatte. Dort vorne, hinter 12
den Meeren, lag das Gelobte Land. Die Alten fuhren zur Klagemauer, er fuhr nach Tel-Aviv – er fuhr, um die Straßen zu pflastern, Obstgärten anzupflanzen, Reben und Rhizinusbäume zu ziehen, Brunnen zu schlagen, den Tiberias-See und seine Fiebersümpfe trockenzulegen. Er war Demokrat, Zionist, Sozialist und fuhr, um sein Land aufzubauen, weil er nicht ein ungebetener Gast in fremden Ländern sein wollte, er wollte sich von den fremden Völkern befreien, und diese Fremden von ihm befreien. Er mußte mit der Brust, den Schultern, mit Hacke und Spaten sein Haus, seine Welt aufbauen; er, ein Sohn des immer verfolgten und niemals untergehenden großen Volkes. In der Nacht und im Wind, durch die Nacht und den Wind, tauchten vor seinen Augen die Zugangswege nach Zion auf, über Staub und Hitze brausten die arabischen Winde, und dort, in weiter Ferne, inmitten des roten Sandes lag verstreut auf steiniger Hochebene die Stadt mit der hohen, gezackten Mauer. In diese Stadt strömten die Kamelkarawanen, aber er und seine Brüder würden die ersten sein, die die Straßen bis nach Indien bauten. Sie würden diese steinige Wüste, wo nur vereinzelt Palmen stehen und die Beduinen ihre Reitkünste auf den Pferden vollführen, in einen Orangengarten verwandeln. Dort in Palästina erstand nach zweitausend Jahren wieder die uralte Sprache, und wer weiß, vielleicht wird der Jüngling eines Tages inmitten des Gesteins neben einem Graben, der mit Kakteen bepflanzt ist – dort wo einmal das Wasser die Wüste zum Leben erwecken soll –, dem jetzt noch weit entfernten Mädchen, wie er es schon einmal in dem Marktflecken im Witebsker Bezirk getan hat, er wird dem Mädchen von der zauberhaften Liebe erzählen … Sie waren sieben Personen, vier Jungen und drei Mädchen, die aus diesem Marktflecken stammten und jetzt in die neue Welt fuhren. Sie hatten durch Zoll und politische Kontrolle die zionistische Fahne geschmuggelt, und sie waren es, die ihre Hymne gesungen hatten, bevor das Schiff ins Meer gestochen war. Als der Kapitän sie anschrie, berieten sie, ob sie weitersingen sollten oder nicht, und er, der Jüngling, hatte sie überredet, nicht mehr zu singen, weil er annahm, daß der Gesang den Kapitän beim Führen des Schiffes stören könnte. Er tröstete sie, daß sie, wenn sie erst auf dem Meer seien, noch genug singen könnten. Und der Jüngling wie der Greis legten sich zum Schlafen nieder. Alle sieben hatten sich zusammen unter dem Rettungsboot 13
zur Nachtruhe eingerichtet. Seine Kameraden schliefen bereits auf den Säcken, zusammengekauert zu einem Haufen. Er zog die Stiefel zusammen mit den Gummigaloschen aus, schob sie tiefer unter das Rettungsboot, steckte die Strümpfe in die Stiefel, zwängte sich unter seine Kameraden und zog behutsam die hochgeschlagenen Röcke eines Mädchens herunter. Das Mädchen wachte nicht auf, aber ein anderes Mädchen und ein junger Mann wurden wach. Jener, der sie aufgeweckt hatte, sagte leise und mit Mühe in althebräischer Sprache: »In Palästina verfolgen die Engländer eine Politik, mit der sie die Juden gegen die Araber aufhetzen. Das Wichtigste ist: zu überlegen, wie wir mit den Arabern Freundschaft schließen können. Wir werden womöglich noch gemeinsam gegen die Engländer vorgehen …« Mitternacht war vorbei, auf dem Schiff lag alles in tiefem Schlaf. Das Schiff wurde still, und man hörte, wie die Wellen und der Wind rauschten. Der Kapitän war noch am Abend im Kartenhaus eingeschlafen und erwachte in dieser stillen Stunde, er hörte das Glockenschlagen und ging auf die Brücke. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, die Sterne leuchteten. Die Fahrt ging in Höhe der Donaumündung. Der Kapitän erkundigte sich nach dem Kurs und begann zu rauchen. Vor dem Kompaß stand ein Mann im Wettermantel, der sich mit dem Steuermann unterhielt. »Sie schlafen noch nicht?« fragte der Kapitän. »Nein, ich kann einfach nicht einschlafen. Ich wollte an die frische Luft und mir alles noch einmal ansehen.« »Reisen Sie in dienstlichem Auftrag?« erkundigte sich der Kapitän. »Nein, nein, ich fahre eigentlich zu meinem Vergnügen, um nach dem Rechten zu sehen... Ich habe auch vor, mit Ihrem Schiff zurückzukehren. Eine interessante Fahrt, nicht wahr? Wir fahren doch wahrhaftig durch die ganze Geschichte der Menschheit. Es ist interessant, einmal zu sehen, was von der Wiege der Menschheit noch übriggeblieben ist.« Der Kapitän verzog sein Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, kniff die Lippen ein, als ob er etwas Bitteres gegessen habe, und sagte: »Von dem Ganzen ist gar nichts anderes als Unordnung geblieben. Ich habe Amerika befahren und den Fernen Osten, und es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als diesen Nahen Osten! Da kennt man 14
nichts anderes als Betrug und Unordnung. Entschuldigen Sie mich – aber ob Türken, Griechen, Levantiner oder Araber, bleibt sich gleich. Die Türken und Araber gingen noch – die einen sind ehrlich und die anderen können wenigstens arbeiten, wenn sie Lust dazu haben.« Der Kapitän schwieg eine Weile, dann fragte er plötzlich: »Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.« »Alexander Alexandrowitsch Alexandrow.« »Alexander Alexandrowitsch, verzeihen Sie mir. Ich dachte schon, Sie wären Jude«, sagte der Kapitän. »Ja, ich bin Jude.« – »Sind Sie Mitglied der Partei?« »Ja, ich bin Kommunist, aber jetzt fahre ich unter einem fremden Namen und mit einem fremden Paß.« »Auch ich bin in der Partei«, antwortete der Kapitän. »Haben Sie Lust zu einem Glas Punsch? Kommen Sie, gehen wir in das Kartenhaus.« Die Nacht war schwarz, alle Lichter auf dem Schiff waren erloschen. Im Kartenhaus stand der Kapitän mit den Ellbogen auf die Karten gestützt, einen Bleistift in der Hand und sprach von Konstantinopel, Smyrna, Athen, Beirut und Jaffa... Dem Kapitän gegenüber saß ein Mann mittleren Alters in einem gutsitzenden, grauen Anzug. Er hatte ein glattes, kaltes Gesicht, und in seinem Mund funkelte es von Gold. Dieser Mann hatte schon lange jegliche nationalen Züge verloren, ihm hatte Europa ein anderes Aussehen gegeben. Sein Gesicht, nicht mehr jung, doch so, daß man schwer das Alter schätzen konnte, wirkte energisch, aber jetzt erschöpft – es war ein Gesicht, das man nicht lange im Gedächtnis behält. Er hatte die Gewohnheit, die Unterlippe einzuziehen und daran zu kauen; dabei fixierten seine Augen genau die Umgebung und verrieten, daß dieser Mann schnell, präzise und klug zu denken vermochte. Er hielt ein Glas Punsch in der Hand, aber er trank nicht. Obwohl dieser Mensch zu jenen Leuten gehörte, die sehr wachsam beobachten, spielte er mit den Fingern am Glas und starrte auf dessen Boden. Dann war es Morgen geworden. Im Morgengrauen trat jener Jüngling in Reithosen, der die halbe Nacht über am Vorsteven gestanden hatte, in Gummigaloschen und roten gestrickten Strümpfen auf den Kapitän zu. Der junge Mann fragte den Kapitän: 15
»Bürger Kapitän, Sie haben uns gestern gesagt: Wenn wir auf dem Meer sind, können wir von neun bis zwölf Uhr vormittags und von fünf bis neun Uhr abends singen. Sagen Sie bitte, sind wir nun schon auf dem Meer?« Das Schiff fuhr bereits zwölf Stunden auf dem Meer. Auf dem Gesicht des Kapitäns spiegelten sich abwechselnd Mitempfinden und Befremden. Der Kapitän nahm die Hände aus den Hosentaschen, stürzte sie in die Hüften; dann begann er die Arme auszubreiten, immer weiter und weiter nach rückwärts, wobei er seinen Bauch nach vorn herausstreckte. Er stützte mit einer Hand seine Backe, und das Gesicht schien dem Weinen nahe zu sein – dann aber rollte über die Decke seine Baßstimme: »Zum Teufel, welche unerhörte Frechheit! Ihr macht euch wohl über den Kapitän lustig! Na so was … na so was!« Und wütend brüllte er mit doppelt so lauter Baßstimme: »Junger Mann, ich verbiete Ihnen, den Kapitän höhnischen Unsinn zu fragen!« Nach einigen Minuten kaute der Kapitän friedlich seine Oliven und plauderte gemütlich mit Alexander Alexandrowitsch. Der Jüngling ging energisch auf dem Deck hin und her. Er hatte ein Mädchen untergehakt, trotz der Hitze, und er hatte eine Reithose an, einen Hut auf. In der Hand hielt er ein Spazierstöckchen; das Mädchen hatte Leinenschuhe an, ihre Strümpfe zeigten schwarze und graue Flicken. Sie war sehr häßlich, krummbeinig, breit und gedrungen. Er sah gespannt vor sich hin; sie schritten sehr schnell auf und ab. Sicher sprach er über etwas sehr Bedeutendes, obwohl sie sich fest gegenseitig unter dem Arm hielten; und man hätte feststellen können, daß trotz beider Häßlichkeit die Jugend immer wunderschön ist.
II Das Schiff fuhr durch das Blau des Meeres nach Palästina. Am zweiten Tag kamen der Bosporus und Kawak in Sicht. Dort beförderten Türken die Passagiere vom Deck schubweise ans Land in die Sauna. Unter der Steigleiter zu den Deckaufbauten hatte sich eine Familie von Juden aus Buchara einquartiert; in ihrer Kleidung und ihrer Lebensweise waren wohl jene tausend Jahre erhalten geblieben, die 16
ihre Vorfahren unter den Usbeken zugebracht hatten: Die Mutter, in einem weiten orientalischen Mantel, lag auf einem bunten Federbett, zugedeckt mit einer sehr breiten Seidendecke, die Kinder um sich geschart; sie rührte sich kein einziges Mal, wahrscheinlich hatte sie beschlossen, bis Jaffa nicht mehr aufzustehen. Der Vater aber kroch von Zeit zu Zeit unter dem Federbett heraus, auch in einem weiten orientalischen Mantel, und lief zum anderen Ende des Schiffes, zu einem jüdischen Landsmann aus Buchara, um Dame zu spielen; die Mutter zerteilte Wassermelonen und gab die großen Schnitten den Kindern. Neben ihrem Lager türmte sich schon ein Berg an Schalen dieser Frucht, und dicht daneben stand der Nachttopf für die Kleinen. Die aus dem Kaukasus gebürtigen Juden – es waren Bergbewohner und ausgesucht schöne Menschen –, sie hielten eng zusammen, in einer kleinen Gruppe die Männer, und ebenso vereinigt die Frauen. Sie trugen in sich ein kleines Stück der kaukasischen Gebirgsspitzen und Schluchten – sie waren groß an Statur und breit, doch sehr gewandt – diese Nachkommen der Chosaren. Wenn man sie genau betrachtet, sind die ukrainischen Juden größer und gesünder als die polnischen und litauischen. Wahrscheinlich dadurch, daß die Haiduken – als sie einmal die Juden ausplünderten – alle Männer töteten und die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zur Greisin vergewaltigten, ihr Blut mit dem jüdischen vermengten. Fast alle litauischen Juden, Handwerker von Beruf, waren schwächlich. Auf dem Oberdeck, dicht neben dem Schornstein, hatte sich eine ukrainische Familie, die zum jüdischen Glauben übergetreten war, niedergelassen; der Mann konnte etwas hebräisch, die Frau jedoch nur ukrainisch. Tagelang saß sie auf dem Boden mit gespreizten Beinen, wie die russischen Frauen bei der Rast sitzen; der Kopf des Mannes lag auf ihren Knien, und sie suchte seinen Kopf nach Läusen ab – immer, wenn sie nicht beteten. Die alten Juden baten den Kapitän um einen Raum zur Verrichtung ihrer Andacht, und der Kapitän wies ihnen einen leeren Laderaum zu. Dort gab es kein Licht, und dort richtete man den Gottesraum ein, dort brannten ein Dutzend Kerzen, und trotzdem herrschte Düsternis; dort roch es wie immer Laderäume riechen und wie es in den Ghettos riecht, dort auf den Boden, auf etwas hingekauert, was jeder gerade bei sich hatte, saßen die alten Männer mit Gebetstüchern um die Schultern, mit Käppchen, kleinen Schachteln auf den Stirnen und mit ledergebunde17
nen Büchern in den Händen. Aus dem Laderaum ertönte der Gesang hinaus auf die belegten Decks. Dort im Laderaum ging schwer der Atem, die flackernde Not der Kerzen stach in die Augen, es war dort eine unerträgliche Schwüle, und darin, Tage und Nächte lang, beteten ununterbrochen die Menschen ungestüm, leidenschaftlich, verloren zu dem unheimlichen Adonai. Der zum jüdischen Glauben übergetretene Ukrainer betete hier mit allen anderen, genauso wie die anderen, den Kopf erhoben. Die Jugend führte währenddessen große Reden auf der Back. Es gab nicht sehr viele normal reisende Passagiere an Bord; in der Mehrzahl waren es Ärzte und Schauspieler, und einer von diesen Schauspielern ging zum Kapitän: »Verzeihen Sie bitte, Bürger Kapitän, ich bin Künstler der Moskauer großen Theater, Opernsänger, und ich habe eine Fahrkarte dritter Klasse bis Jaffa. Wäre es Ihnen nicht möglich, mich in der zweiten Klasse unterzubringen, denn dort gibt es doch noch freie Kajüten.« Die Ärzte, Schauspieler und ein Börsenmakler hielten sich meist auf dem Oberdeck auf, tranken Tee und verzehrten die noch vom Land vorsorglich mitgenommenen Mundvorräte; ihre Frauen waren – eine wie die andere – dick und fett, sie räkelten sich träge auf den Liegestühlen, und die jungen Schiffsoffiziere und Kadetten strichen um sie herum; die Ehemänner griffen zum wiederholten Male zu den Karten und schlugen mit Prèference die Zeit tot. Am ersten Abend auf dem Meer starb die Sonne in ungewöhnlicher Art. Eine feierliche Stille zog vorbei, und dann versank das Meer und die Welt – alles versank in die Finsternis, und die Sterne standen so eindrucksvoll am Himmel, daß es kaum möglich war, für sie einen passenden Vergleich zu finden. Zu dieser Stunde war niemand außer Alexandrow auf dem Oberdeck: Die Juden gingen nach dem feierlichen Herabsinken der Nacht zu ihren Lagerstätten Über dem Wasser stand der Mond und entfernte sich schnell in das Himmelsgewölbe, hin zu dem grellen Stern; auf das Meer, in die blaue Finsternis, legte der Mond eine Straße. Und Alexandrow wurde klar, warum – wenn so ein Halbmond mit byzantinischen Zierschrift scheint, wie in dieser Nacht – bei den Türken, Mediern,. Assyrern, Ägyptern der Mond eine solche Bedeutung in ihrer Kultur hatte. Neben dem Mond brannte der grelle Stern wie ein Schmuckstück. Am Morgen näherte sich das Schiff dem Bosporus 18
zum Hellespont hin, diesem schönsten und erhabensten Fleck auf dieser Welt, wo sich Europa und Asien mit ihren Bergen zueinanderneigen. Das Wasser und der Himmel waren blendend blau. Die Sonne brannte unheimlich heiß. Vom Land her wehte der Wind, er heulte in den Wanten, und durch diesen Wind war die Sonne erträglicher; so ein Wind müßte alles auseinanderwehen, und nur das Blau und die Sonne übriglassen … Doch das Wasser war nur in der Meerenge blau, an der Schiffswand und an den Ufern war es grün wie ein Smaragd. Rechts, entlang dem europäischen, und links, auf dem anatolischen Gestade, wuchsen Feigenwälder. Auf dem Gipfel des Berges beherrschten die Meerenge die Ruinen einer herzförmigen genuesischen Festung. An der Küste lagen etwa ein Dutzend Schiffe, deren Sirenengeheul in vielen Echos widerhallte. Von rechts und von links nahten sich unter ihren schrägen Segeln die buntbemalten Feluken vom Meer. Das Schiff zwängte sich hindurch, um in Kawak zur Kontrolle anzulegen. Durch das Fernglas waren am Ufer die schmalen und bunten dreistöckigen Häuschen von orientalischer Architektur zu sehen, die so über das Wasser hinausgebaut waren, daß es unter den Häusern kleine Anlegeplätze für die Prahmboote gab. Über einer der kleinen Liegestellen war ein Cafe, auf dessen kleiner Terrasse Menschen saßen und an Wasserpfeifen rauchten. Das Schiff nahm die Hafenpolizei und einen Arzt auf und schob sich zur Quarantänemole – zum türkischen Bad. Wieder begann das grüne Wasser an den Wänden des Schiffes zu rauschen, wieder wehte jener Wind, der bei dieser Sonne so unentbehrlich ist. Sonne, Himmel und Erde beobachtete nur Alexandrow allein, weil alle anderen Passagiere ungefähr so bedrückt waren, wie einst die Vorfahren vor den Plünderungen. Ein Bad tut dem Menschen immer wohl, aber so, wie dies die Türken vornahmen, als sie brutal fünfhundert Menschen in das Badehaus trieben – außerdem durfte keiner von diesen fünfhundert Menschen auf der Reise seinen Fuß auf dieses Ufer der Türken setzen –, das war mehr als Hohn. Auf das Bad hatten sich die Menschen am Abend vorher schon vorbereitet, mit Geflüster und Gekreische. Die alten Frauen begaben sich zum Kapitän, sagten ihm, wie krank sie seien und baten um Schutz vor dieser Prozedur. Sie glaubten ihm nicht, daß er in dieser Sache machtlos sei. Der Kapitän geriet zuerst in Wut, dann besserte sich seine Laune, und er beruhig19
te schmunzelnd die Frauenabordnung, daß in den türkischen Bädern nur Eunuchen als Bademeister wären, und daß es dort eine spezielle persische Salbe gäbe, die Körperhaare entfernt. Die Türken würden sie wie Seife benutzen, denn nach mohammedanischem Gesetz dürfen auf dem Körper keine Haare bleiben, und darum müßten die Frauen sich mit dieser Salbe ›waschen‹ lassen. Um einem solchen Bad zu entkommen, erklärte eine Alte prompt, sie sei schwanger, aber ihre Nachbarinnen kreischten auf und zogen ihr unter ihrem Rock ein Kissen hervor. Das Schiff warf Anker vor dem Badehaus. Man ließ auf das Wasser drei Rettungsboote und zwei Fallreeps herab. Das bunte Bild auf den Decks ergänzten die gutmütigen Türken, Sanitäter und Poli-/isten. Die Quarantäneflagge war eingeholt worden. Am Ufer unter den Platanen rauchten friedlich die Kamine der Häuschen; der Rauch stieg in die Berge, in die anatolischen Weiten und in das Blau. Alles ringsum war öde, und der Wind war trocken von der Sonnenglut. Der Arzt begann die Namen von einer Liste abzulesen: »Rosenfeld, Leligmann, Frenkel, Katz, Karp!« Auf den Fallreeps krochen die Menschen mit kleinen Bündeln in die Boote, zu dem türkisblauen Wasser herab. »Jamaijker!« rief der Arzt. Niemand meldete sich. »Jamaijker!« wiederholte der Arzt. Die Decks wurden nach Jamaijker abgesucht. Die Ausschiffung geriet ins Stocken. Jamaijker wurde nicht so schnell gefunden, denn er hatte sich irgendwo im Maschinenraum unter der Schiffsschraubenwelle versteckt. Zwei türkische Polizisten zerrten auf das Zwischendeck einen alten, abgemagerten Mann mit einem keilförmigen Bart. Auf seinem Gesicht stand Angst, und der Bart zitterte. Er brachte mühsam hervor, daß seine Frau und das Kind in einer anderen Liste ständen, und daß er zusammen mit seiner Familie fahren möchte. Das mit Menschen vollgepfropfte kleine Boot schaukelte auf den Wellen. Ein Mann mit Zwicker, der einen Korb in den Händen hielt, schrie wütend von unten: »Genossen, macht keine Scherereien! Nehmt die Sache ernst. Warum nur dieser Lärm?« … Wahrhaftig, das Schiff fuhr durch Jahrhunderte. Der Bosporus, das Goldene Tor, der Hellespont – hier sind alle Völker der 20
Erde vorbeigezogen. Jeder Stein, jede Ruine sind hier Erinnerung an die Jahrhunderte, von den vorgeschichtlichen Zeiten bis zu den Normannen. Das Schiff lief viele Häfen an, aber die Immigranten gingen nicht an Land. Das Schiff fuhr durch Sonne, Meer und Weite, durch das Ägäische Meer, wo man versteht, weshalb die Griechen sich eine so zauberhafte Mythologie erschaffen haben, denn Paros, Andros, Lesbos, Skarpantos, Skapilos sind phantastisch wie das griechische Epos. Das Schiff fuhr durch das unwahrscheinliche Blau des Meeres, des Himmels, des Mondes, der Sonnenaufgänge und Untergänge – die Auswanderer aber sahen das alles nicht, sie wollten oder konnten es nicht sehen; alles ging genauso an ihnen vorbei, wie jene Jahrhunderte vorbeigegangen waren, in denen ihr Volk nicht in der Heimat gewesen war. Sie bemerkten nicht wie Alexander Alexandrowitsch Alexandrow, daß die Akropolis in Athen der Schlüssel zu aller europäischen Kultur geworden ist, dieses weiße, von der weißen Sonne ausgebrannte, einzigartigste Stück Marmor, der Schlüssel zu der Geschichte von Jahrtausenden – wo jetzt die Wächterin das rote Beinkleid nach dem Waschen trocknet. Alexander Alexandrowitsch Alexandrow war verwirrt, verlor fast den Verstand, während er mit dem Wagen nach der Hagia-Sofia raste; er erinnerte sich an die Legende, nach der in dieser Kirche die Janitscharen an einem Tag vierzigtausend Griechen abschlachteten, genauso wie im Jahre sechzehn des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht weit von dort, in den Dardanellen, wieder Tausende von Menschen, Engländer, Franzosen, Türken abgeschlachtet wurden. Daran erinnern die englischen Kriegsschiffe am Ufer. Weiter: Als im Jahre neunzehnhunderteinundzwanzig Mustapha Kemal-Pascha Smyrna mit schwerer Artillerie belagerte und die Griechen zum Verlassen der Stadt aufforderte, tötete er alle bis auf den letzten, vom Soldaten bis zum Neugeborenen, und als die Griechen kaum die Stadt verlassen hatte, zerstörte er zuerst die Schiffe, danach legte er die Stadt in Brand und Trümmer, plünderte sie aus, warf etwa zwei-hunderttausend Griechen ins Meer: Soldaten, Frauen, Greise, Kinder, und hinterließ auf den ausgebrannten Straßen, in dem Marmor die Ruhe für die Eulen, die sich dort niederließen. Alexandrow sah niedergeschlagen auf jene unzähligen Friedhöfe, Stätten, wo viele Kilometer lang Grabsteine rings um die Ruinen der 21
Konstantinmauer in Byzanz stehen, und er blickte ironisch auf die Gräber der vierzig Sultansfrauen, die der Sultan erdolcht hatte, weil er nicht wußte, welche von ihnen - eine einzige! - ihm untreu war … In Ediküle wurde Alexandrow ein Blutbrunnen gezeigt, wo die Türken allen die Köpfe abschlugen, beim Sultan angefangen. Durch die Länder Anatoliens sind alle Völker gewandert. Im Staub liegen die Ruinen von Sardes, Ephesus, Pergamon, Magnesia, Milet, Halikarnassos. Die Provinz Smyrna bewahrt noch gut das Andenken der dreitausend Jahre, die sich mit dem Staub auf sie gelegt haben. Alexandrow eilte mit dem wackligen Auto auf der holprigen Straße nach Magnesia, der Hauptstadt der lydischen Könige, die früher Tantalitia hieß und gegründet wurde von demselben Tantalos, der den Trank der olympischen Götter stahl, mit dem er seine Gäste bei festlichen Gelagen bewirtete. Der einer Frauengestalt ähnliche Felsen auf dem Sypilsker Gebirgsrücken war von Magnesia aus zu sehen; der Sage nach ist dieser Felsen, den Herodot beschrieben und Ovid besungen hat, die vor Gram versteinerte Niobe. In Halikarnassos kam Herodot zur Welt, jetzt ist dort Staub, Wildnis, einige armselige türkische Hütten. In Ephesus zündete Herostrat in der Geburtsnacht Alxanders des Großen den Artemistempel an, um berühmt zu werden... und Alexandrow warf den Kopf in den Nacken, um die Ruinen des Tempels zu sehen. Mitten in Smyrna aber, in seinen heutigen Ruinen, hausten die Eulen. Hier kam, wie die Sage berichtet, Homer zur Welt. Hier auch schrieb er seine Werke, und hier in den Ruinen, auf den von den Römern gebauten Pflasterstraßen, auf denen die römischen Kohorten marschierten, tanzen heute zu Harfenklängen die levantinischen Tänzerinnen. Sie tanzen den Bauchtanz, wie er seit Jahrhunderten überliefert ist, und sie reiben sich vor dem Tanz mit dem gleichfalls seit Jahrhunderten überlieferten Ambra ein. Im Ägäischen Meer, im griechischen Archipel, kam jeden Tag als Segen die Sonne aus dem Blau hervor, und als Segen ging sie unter, um den ungewöhnlichen Mond zu gebären. Das Meer trug das Schiff durch das Blau an den Inseln vorbei, wo jede Insel Geschichte und Legende ist. In den Nächten leuchtete der Mond, und in den Nächten standen Sterne am Himmel, die niemals von London, Berlin und Moskau aus zu sehen sind - um Mitternacht erschienen für einige Minuten die geheimnisvollen Sternbilder der südlichen Halbkugel am Horizont 22
und verschwanden sogleich wieder. In der Nacht fuhr das Schiff am Santorin-Vulkan, an dieser Naturkraft im Schöße der Erde vorbei. Der Mond verblaßte in dem roten Licht des Vulkans, und man hörte, wie der Vulkan atmete. Das Gesicht des Kapitäns, neben dem Alexandrow stand, war unheilschwer in dieser roten Finsternis. Der Anblick war majestätisch, aber auf dem Schiff sah es niemand. Alexandrow geriet in Begeisterung über die Länder, Städte, über die Sonne und den Mond. Auf dem Schiff gab es fast keine Ereignisse. Jeden Morgen ließ der Bootsmann die Decks unter dem Murren der Zwischenpassagiere schrubben, denn sie mußten jedesmal ihre Habseligkeiten von einem Platz zum anderen schleppen. Der Schlauch des Bootsmanns spülte sehr viel Unrat und Speisereste über Bord. In den Häfen gesellten sich zum Schiff Schwärme von kleinen Booten, und mit Hilfe von Stricken wurde fleißig Handel betrieben mit Feigen, Datteln, Öl, Tabak, Brot; das Schiff glich bald einem lärmenden Jahrmarkt in einem Marktflecken. Unter den Passagieren der ersten und zweiten Klasse war allgemein bekannt, daß die Frauen des einen oder des anderen Arztes öfter einen Sprung in die Kabine des Funkers machten, um zu sündigen. Alle wußten davon, außer den Ehemännern. Es wurde getuschelt, daß die Matrosen sich still und heimlich Frauen vom Zwischendeck geholt hätten. Ein paarmal gab es deswegen Streit, in. den sich der Kapitän einmischte, um die Rivalen zu versöhnen. Einmal, es war schon im Mittelmeer, gab es auf dem Achterdeck großen Lärm, als ein alter Mann in der Nacht aus dem Gebetsraum zurückkam und das Lager seiner Tochter leer fand; er ging auf die Suche und fand sie engumschlungen mit einem jungen Mann hinter den Ankern. Der Vater verfluchte sie. Und am Morgen wurde sie in aller Öffentlichkeit von einer Anzahl alter Leute nach, dem überlieferten Ritus verflucht, woran sich selbst der Vater beteiligte. Sie stand vor dem Gitter der Schiffsaufbauten, über ihr drohten die verfluchenden Hände, ringsherum zitterten die grauen Barte, und es war schwer verständlich, warum sie sich bei dieser Empörung nicht über Bord stürzte und warum diese Alten nur schrien, aber sie nicht steinigten. Das Mädchen blieb völlig ruhig, und wenn ihr Blick jemanden traf, dann sagte sie gelassen immer ein und dasselbe: »Na und, was ist schon dabei? Ich bin aus Tarbutt und mein Liebhaber auch, und mein Vater, 23
dieser kleine Krämer, der soll erst mal bei sich anfangen...« Das Schiff streifte vorbei an Byzanz, Smyrna, Piräus, Saloniki – das Schiff fuhr durch das Blau des Bosporus, der Dardanellen, des Ägäischen und des Mittelmeeres. Alles floß vorbei. Je weiter das Schiff fuhr, um so leidenschaftlicher klangen die Gebete aus dem Andachtsraum, aus dem Bauch des Schiffes, um so fester verkrampften sich die Hände ineinander und verengten sich die Kehlen im Gebet. Das Gelobte Land lag schon nicht mehr weit hinter dem Blau des Wassers – die Verbannung war zu Ende. Jeder, der seinen Fuß auf das Land seiner Väter setzt, wird diese Erde küssen, die geheiligte Heimat. In Saloniki, einer wie Smyrna zerstörten und ausgeplünderten Stadt, wo ganze Viertel in Trümmern lagen, kam eine Familie der griechischen Sephardim-Juden auf das Schiff. Es waren ihrer sieben: Großmutter, Mutter, Sohn, Frau und Kinder. Es waren Juden, deren Vorfahren seit der zweiten Vertreibung aus Spanien im Lande waren. Vor tausendfünfhundert Jahren hatten sich ihre Vorfahren einst von den Vorfahren der jetzt auf dem Schiff fahrenden Juden getrennt. In Saloniki brannte die Sonne erbarmungslos. Der Tag war golden und blau. Die neu hinzugekommenen Juden konnten kein Wort russisch. Sie kletterten hastig das Fallreep hinauf. Und auf dem Fallreep begann die ganze Familie, von der vorankletternden Großmutter bis zum vierjährigen Kind, wie auf Kommando zu weinen; mit ausgestreckten Händen stießen sie Schreie in der uralten Sprache aus und fielen sich leidenschaftlich, geradezu hysterisch, wie Brüder, die sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen hatten, in die Arme und küßten ekstatisch alle Juden, die auf Deck waren. Und jene, die auf Deck waren, standen wahrhaftig in einer Schlange, wie in Moskau im Jahre neunzehnhundertneunzehn nach Brot, um sich zu küssen, wenn es auch bei einigen Ausnahmen nur eine formelle Handlung war. Im Gebetsraum, im Kiel des Schiffes – auf den Eisenplatten des Decks, auf den Taurollen, auf den ausgebreiteten Matratzen – saßen die Menschen in Gebetstücher gehüllt, kleine Schachteln auf den Köpfen und beteten leidenschaftlich zu Adonai; dort brannten qualmig die Kerzen, und das Atmen fiel schwer. Einmal befreiten sich vom Meer die Wogen, es war schon im Mittelmeer. Das Meer und der Himmel wurden erst bleiern, in den 24
Aufbauten des Schiffes begann der Mistral zu heulen, und dann Quelle war – ob sie eiskalt, salzig oder kochend war? Und was man mit dieser Quelle hätte anfangen können, und wozu sie gut war …? … Dort, am Ende des blauen, dunklen Meeres lag Palästina, dieses Land der ausgebrannten Steine, das Land des Sandes und der glühenden Hitze – dieses Land, wo stärker als irgendwo die große Zerstörung der uralten Kulturen sich vollzogen hat, ein ausgedörrtes Land, wo nur an den Oasen die Palmen wachsen, ein verlassenes Land, da keiner das Recht hatte zu sagen, daß dieses sein eigenes Land ist. Palästina kennt neun Monate im Jahr keinen Regen, und während dieser Zeit stehen über der Erde Säulen von rotem Staub, und eine solche Glut erfüllt das Land, die sengende Hitze der Wüste, daß es mühevoll ist, die Phantasie zu verdrängen, die Palästina mit einem glühenden Ofen vergleicht. Dann folgen drei Monate unaufhörliche Regenzeit, und die Menschen erkranken an Sumpffieber, einer schrecklichen Krankheit, die den Körper völlig erschöpft. Es ist wie bei einem Menschen, der die tropische Hitze nicht kennt und von den Moskitos zerstochen wird, bis er endlich an Malaria dahinsiecht. In der Zeit der Regengüsse verwandelt sich Palästina in einen riesigen Sumpf. Der Jordan, der sonst die Breite einer Straßenlache hat, tritt über die Ufer und schwillt an bis zu einem Viertel der Breite, die die Moskwa bei Moskau hat. In der Regenzeit legen die Menschen, befallen vom Sumpffieber, Wasservorräte in diesem wasserarmen Land an, sie sammeln es in den Zisternen, die in die Erde eingelassen sind, um während der neun Monate Dürre dieses trübe Regenwasser zu trinken, denn es gibt kein anderes Wasser in diesem Land, außer dem Meereswasser, das man an der Küste in schwieriger Prozedur entsalzt. Auf dieser Erde wachsen natürlich nur Kakteen, Palmen in den Oasen, die karge Nahrung der Araber. Hier auf den Steinen ziehen die Araber in mühseliger Arbeit Orangen- und Rhizinusbäume. In dieser Wüste leben Araber und Sepharen, die hier ansässigen Juden. Ihr Dasein ist das Dasein der Wüste, des Korans und der Bibel: Das Dasein der Glöckchen an den Hälsen der Kamele, das Dasein eines Esels, das Dasein des Dorfes hinter den Kakteen und hinter den Palmen, wo Frauen mit den Handmühlen das Korn zermahlen, Frauen in Schleiern – Orte, die Europäer aus Furcht, getötet zu werden, nicht betreten –, das Dasein der in Staub gehüllten Städte mit den übelriechenden Straßen, in denen zwei Kamele nicht 25
aneinander vorbeigehen können und in denen der Europäer sich unweigerlich verirrt, mit Moscheen, deren Höfe in Herbergen für Esel verwandelt sind, mit Cafes, in denen Levantinerinnen und Fellachinnen Bauchtänze vorführen – das Dasein der Wasserpfeifen, der Moscheen, Synagogen, des Korans und der Bibel, ein Dasein ohne Paß, denn sogar die Engländer brachten es nicht fertig, den Arabern Pässe aufzuzwingen – das Dasein der unerträglichen Sonne und des majestätischen Mondes, bei dem sich in der Wüste die Schakale bekämpfen – das Dasein des Sandes, der von Aarabien her nach Palästina kriecht, ein viele Jahrhunderte altes, armseliges, enges, hartes Dasein. In diesem Jerusalem stießen die Heiligtümer dreier großer Religionen aufeinander: die Moschee Omara, wo Mohammed von der Erde zu Allah ging, der Sarkophag Jesu Christi in der dunklen Grabkammer, und die Ruinen der Festungsmauern Jerusalems – die Klagemauer der Juden. Jede dieser Religionen wird, solange sie besteht, ihre Heiligtümer nicht aufgeben. Die Engländer kamen nach Palästina auf Grund eines ›Mandats‹; sie hatten das Ziel, einen Groß arabischen Staat zu scharfen, den sie benötigten, um einen Landweg nach Indien zu haben. Die Engländer machten aus Palästina eine »nationale Herberge‹ der Juden, und es entstand jener klägliche, jüdisch beißende Witz, den das jüdische Volk immer über sich selbst zum besten gab: ein scharfsinniger Witz darüber, daß in Palästina die Macht den Engländern, das Land den Arabern und der Staat den Juden gehört! Diese Engländer wohnten in Palästina in Militärlagern, bewacht durch Soldaten hinter Maschinengewehren, und wenn an der Peripherie des Horizontes, unter dem Mond die Schakale zu heulen begannen, verschwanden die Engländer in ihren Lagern hinter den Maschinengewehren. Die Juden kamen nach Palästina, um zu arbeiten und das Land zu bestellen. Sie fühlten sich im Gegensatz zu den Arabern und Sepharen als Europäer, der Kleidung nach und in ihren Lebensgewohnheiten, in ihren Vorstellungen und dem Unvermögen, faules Wasser zu trinken, in ihrem Leiden unter der Hitze, der Malaria und dem Sumpffieber. Jene Juden, die Geld mitbrachten, begaben sich nach Tel-Aviv, in die Stadt unweit von Jaffa, wohin den Arabern der Zugang verboten war und wo man hätte leben können – besäße der Mensch hundertachtzig Zähne, ein Dutzend Beine, und trüge er überdies ein halbes Dutzend 26
Taschenuhren auf einmal mit sich: Denn dann hätte die Arbeit ausgereicht für alle Zahnärzte, Ärzte, Uhrmacher, Schneider und Juweliere, die in Tel-Aviv zusammengeströmt waren. Aber der Mensch hat leider bei weitem weniger Zähne, und jene Juden, die mit Geld kamen, wurden bald arm. Die Juden, die aus Tarbutt und Hechollutz kamen, gingen in die englischen Kasernen – man nahm allerdings nur Leute bis zu vierzig Jahren auf –, und dort wurden sie mit Kleidung, Schuhzeug, Nahrung und einigen Piastern versorgt. Dafür pflasterten sie für die Engländer die Straßen, hoben Gräben aus, bohrten nach Wasser, verschanzten sich vor dem kriechenden Sand; und die Männer und Frauen lebten getrennt voneinander in Baracken. Die Engländer verabreichten ihnen das Essen an langen Kasernentischen, und am Abend wurden die Kasernen verschlossen. Eine dritte Welle Juden kam in das Land hinein, denen es geglückt war, Geld von Baron Rothschild oder von amerikanischen Wohltätigkeitsorganisationen zu bekommen, und diese gruben den steinigen Boden um, legten Gärten an; ihre Hände waren von der ungewohnten Arbeit mit Schwielen bedeckt, sie stöhnten unter der Hitze, lasen hastig Broschüren über den Zionismus, hausten in Zelten, und nachts, wenn sich der Mond erhob und die Hyänen heulten, nahmen sie die Gewehre und bewachten die Felder, denn die Araber hatten noch nicht die Erinnerung an die Philister verloren: Wie zu jenen Zeiten überfielen sie nachts die Juden. Die Engländer vermischten sich nicht mit Juden und Arabern. Die Juden gingen nicht in die arabischen Dörfer, und die Araber kamen nicht zu den jüdischen Siedlungen. In der Wüste läuteten dumpf die Schellen der Kamelkarawanen. In das Tal der Juden kroch der Sand der Wüste. In Haifa kann man stundenlang durch die kleinen, übelriechenden Gassen irren, und ein Europäer mag sich an der Herberge unter der Moschee und dem Basar direkt neben der Moschee ergötzen. Die Hauptstraße von Tel-Aviv ist armselig und gleicht nicht der Whitechapel-Street in London oder der Deribassowskaja-Straße in Odessa. In Jaffa sind – für das Auge des Europäers – die Gassen sehr eng, und diese Gedrängtheit ist doch schön und exotisch; ungewöhnlich wirken die breiten, weißen Hosen der Araber, die Buntheit der Völker, die Farben, Gesichter, Laute unter dieser sengenden Sonne – und wunderschön sind sie, so schön wie die Sepharen und Sepharinnen, 27
die biblischen Juden: Männer auf kleinen Eseln, in weißen Chitóns mit Backenlocken bis zu den Schultern, mit Gesichtern, die ein Jahrtausend in sich geprägt haben – Frauen, die einzigen hier außer den Europäerinnen, mit unverschleierten Gesichtern, mit Gesichtern, die in sich Jahrtausende der Schönheit von Zion aufgesaugt haben … … In der Nacht vor Palästina tobte ein Gewitter. Und während der ganzen Nacht vor Palästina beteten die Juden inbrünstig, vor jenem wunderbaren Gelobten Land, ihrer Heimat, wo ihr Volk zwei Jahrtausende nicht gewesen war; sie beteten voller Angst vor den entfesselten Naturkräften, vor dem Donner, den Adonai ihnen sandte; sie beteten wohl genauso inbrünstig, wie viele Male auf demselben Meer – vor einigen tausend Jahren, im goldenen Zeitalter Assyriens, Lydiens, Ägyptens, Griechenlands – gebetet wurde, als hier in den Stürmen und Gewittern die Galeeren untergingen und auf diesen Galeeren die Menschen zum Himmel flehten; sie beteten wie vor dem Weltuntergang. Als der Morgen graute, hörte das Gewitter auf, und in der blauen Düsternis tauchte die gelbe Erde der Wüste auf, Sand, Steine, und weit entfernt, hinter dem Sand, waren die blauen Berge zu sehen. Die Menschen kamen auf Deck. Die Menschen hatten sich herausgeputzt, um deutlicher ihre innere Armut zu betonen – die Armseligkeit eines Smokings in der morgendlichen Stunde. Der Kapitän glänzte in seiner Offiziersjacke. Alexandrow kam auf das Deck mit einem Tropenhelm, glatt rasiert in einem eleganten, weißen Anzug. Das Wasser war grün. Der Himmel so blau, daß er seine Farbe auf alles übertrug. Das Schiff glänzte vor Sauberkeit. Sonne, Wasser, Himmel und Schiff schienen wie neu geboren, nackt, ohne den kleinsten Schatten, als ob sie mit der Schere sorgfältig ausgeschnitten wären. Das Ufer kam näher, die Palmen tauchten am Ufer auf, und weiße, zusammengedrängt liegende Häuser, eine Moschee, zwei Schiffe auf der Reede, Feluken und kleine Boote wurden sichtbar. Ein Motorboot steuerte auf das Schiff zu. Die Menschen standen eng und feierlich, in heiliger Strenge auf den Decks. Die Hechollutzen scharten sich in Reihen auf dem Aufbaudeck zusammen, bereit, ihre Hymne zu singen. In den hinteren Reihen wurde die zionistische Flagge bereitgehalten. Die alten Männer und Frauen erwarteten bebend den Augenblick, sich auf die heilige Erde zu werfen, um sie zu küssen, der das Alter von zweiundvierzig Jahren erreicht hatte, war wahrscheinlich nicht mehr 28
brauchbar für das Klima in Palästina. Die Frau weinte und beteuerte unsinnigerweise, daß sie noch Jungfrau sei; und vermutlich war sie auch tatsächlich eine – denn sie hatte niemand in Rußland zurückgelassen, und ihr Bruder war bereits in Palästina. Sie wurde an Bord zurückgehalten, man ließ sie nicht an Land, und der Bruder winkte ihr fassungslos mit seiner Mütze vom Boot aus zu … Der Hafen von Jaffa war in Wirklichkeit kein eigentlicher Hafen, denn er ist von drei Seiten den Winden zugänglich, und die Riffe vergrößern die Gefahr für die einlaufenden Schiffe. Aber an den dauernden Wellengang auf der Reede hatten sich die Araber mit virtuoser Geschicklichkeit gewöhnt; auf den Wellen ritten sie besser als die Türken am Goldenen Tor. In der Nacht vor diesem Tag hatte es Sturm auf dem Meer gegeben, jetzt schlug eine hohe Brandung. Der Prahm, der an der Schiffswand angelegt hatte, bäumte sich auf. Die Araber – diese schönen und kräftigen Menschen – tanzten auf dem tanzenden Prahm und machten ein großes Geschrei. Die Araber hatte eine Kette von Bord bis zum Fallreep gebildet, um die Passagiere in das Boot zu befördern. Der erste Araber an Bord griff jeweils einen weiblichen oder männlichen Passagier, hob ihn in die Luft und warf ihn nach unten in Richtung Fallreep, ein zweiter Araber fing ihn dort auf und warf ihn weiter; der Passagier flog über das Wasser und unten, auf dem schäumenden Wasser und dem sich aufbäumenden Prahm, fingen die Araber zu zweit den Körper auf. Dann wurde der verstörte, zu Tode erschrockene, schreiende oder kreischende Mensch auf den für ihn bestimmten Platz auf der Bank geschmissen; zur gleichen Zeit hing schon der nächste Passagier in der Luft, und als der erste noch kaum zu sich gekommen war und die Augen öffnete, nahm den leeren Platz neben ihm bereits der nächste ein, dem es genauso ergangen war. Nachdem der Prahm bis auf den letzten Fleck mit Menschen voll gepfropft war, stieß er ab – aber sie fuhren nicht an das Land, auf das sie alle so sehnlichst und lange gewartet hatten, um die Erde zu küssen, sondern in eine Badeanstalt, wo unter anspornenden Kommandos die erwachsenen Menschen gebadet wurden. Die Wanderung war zu Ende. Oder war es erst der Anfang? … Die Engländer erlaubten der Schiffsbesatzung nicht, an Land zu gehen. Nur der Kapitän und Alexander Alexandrowitsch Alexandrow durften das Schiff verlassen. 29
Um Mitternacht sollte der Anker gelichtet werden. Aber bevor er das Schiff verließ, ordnete der Kapitän an, daß, wenn Wind und Seegang stärker würden oder die Araber ihre Revolte schon früher begännen, Sirenensignale zu erfolgen hätten und das Schiff unter Dampf gesetzt werde. Alexandrow ließ sich mit einem kleinen Boot ans Land übersetzen. Er gelangte durch verschiedene steinerne Lagerschuppen und Seitengassen auf einen Platz, mitten hinein in das bunt Zusammengewürfelte Gedränge von Arabern, Juden, Eseln, Kamelen, Mulis, Autos, Palmen, Hütten, Cafés, kleinen Läden mit Zwiebeln, Datteln, Orangen, Kaktuszapfen. Er leerte an einem Schanktisch, der auf die Straße hinausging, ein, zwei, drei Glas Mastikaschnaps. Sein Tropenhelm glitt ins Genick, die trockenen Lippen mit dem nach englischer Art gestutzten Schnurrbart öffneten sich etwas und entblößten das Gold der Zähne, der Schweiß strömte über sein unruhiges, leicht gieriges Gesicht. Er kaufte sich englische Zigaretten, steckte sich genußvoll eine an und schlenderte die Palmenallee entlang, wo unter den Bäumen unbeweglich die Araberinnen mit untergeschlagenen Beinen in weißen Schleiern saßen, die Kamele bewachten und auf ihre Männer warteten. Hier boten die Händler nicht so geschäftig laut ihre Waren feil. Alexandrow winkte ein Auto herbei und dirigierte es eilig zur Wüste hin, nach Tel-Aviv, in das Tal der Juden, und der Wagen fuhr vorbei an Kakteen, vorbei an unendlichen Friedhöfen, an Palmen, bis zu einem arabischen Dorf, wo Alexandrow den Fahrer halten ließ, um zu Fuß durch dieses Dorf zu gehen. Hinter den großen Kakteen drängten sich die weißen Lehmhütten eng aneinander, Esel standen in einem Kreis, die Köpfe zusammengesteckt; auf den Türschwellen saßen die Frauen, und der Fahrer, mit dem Alexandrow bis jetzt nur englisch gesprochen hatte, sagte warnend auf Russisch mit einem Odessaer Akzent: »Ein Besuch dort lohnt sich nicht, denn er kann recht unangenehm ausgehen.« »Aber wieso denn?« fragte erstaunt Alexandrow. »Ach, wissen Sie, zuguterletzt schneiden sie einem die Kehle durch«, war die Antwort des Fahrers. Sie rasten vorbei an den mit Spaten umgegrabenen Garten und erreichten nach einigen Kilometern die Wüste, unübersehbare Wellen 30
rötlich gelben Sandes, wie ein totes Meer, und dieser Sand reichte weit, weit bis zum Horizont, und nicht einmal Palmen sah man aus dem Sand ragen, von dem eine unerträgliche, sengende Hitze herüberwehte. Der Wagen kehrte um und raste auf der Jerusalem-Chaussee in das Tal der Juden, und zur Linken, auf den sandigen, steinigen Hügeln, blieb Tel-Aviv, der ›Hügel des Frühlings‹ zurück. Vorbei an dem Wagen marschierte in Zweierreihe eine erschöpfte Abteilung jüdischer Landeswehr. Gewehre und Uniformschnitt waren englisch, die Gesichter vom Staub verhüllt … Um zehn Uhr trafen sich der Kapitän und Alexandrow, wie sie vereinbart hatten, in der Hafentaverne. Vor der Schwelle des Cafés wurde einem Jungen der Kopf geschoren. Seine Kopfhaut war mit Schorf überdeckt und darüber krochen Läuse. Drei Männer spielten auf seltsamen Instrumenten eine Melodie, schwermütig wie die Wüste, und der vierte schlug dazu auf ein Tamburin. Anfangs tanzten nur zwei Männer zu den Klängen, zwei Araber, dann gesellte sich noch ein Paar – Männer in Frauenkleidern – hinzu, schließlich bewegte sich in Tanzrhythmen eine schmutzige, aber nach Ambra duftende ältere Frau. Alexandrow kam betrunken an, der Kapitän aber, der wohl doppelt soviel wie er getrunken hatte, war zwar heiterer Stimmung, aber ziemlich nüchtern. Alexandrow fuchtelte mit dem Spazierstock herum, redete begeistert von den Eseln, von einer zauberhaft schönen und feurigen Jüdin, die er sich in einem Freudenhaus genommen und wohin ihn der Taxichauffeur kutschiert hatte, damit er das aus einem indischen Baum gebraute Getränk kennenlerne, und wo er dann durch diesen würzigen Pulque einen Schwips bekommen hätte, und dabei machte er sich hastig irgendwelche Notizen in sein Heft und sah mit Begeisterung auf die Tanzkünste der zwei Männer in Frauenkleidung. Der elegante Anzug Alexandrows war verstaubt und zerknüllt. Der Kapitän beugte sich zu Alexandrow, machte ein ernstes Gesicht, strich über seinen Schnurrbart, schwieg eine Weile und begann dann: »Alexander Alexandrowitsch, entschuldigen Sie meine Frage, aber ich möchte nun endlich wissen – sind Sie tatsächlich Jude?« »Ja, ich bin Jude.« »Alexander Alexandrowitsch, dann verzeihen Sie – nun sind Sie also in Ihre Heimat gekommen, haben alles gesehen, wie wir diese Menschen abschoben und hierher transportierten, wie sie aufgenom31
men wurden, und überhaupt …« Und Alexandrow begann hastig und heiter zu sprechen: »Die Schönheit der Fahrt hat mich ganz benommen. Ich bin in allen Häfen, die wir anliefen, an Land gegangen und habe mich nur ausgeruht, wenn wir wieder auf dem Meer waren. Zum ersten Male sehe ich diese Sonne, dieses Blau, die Wärme, das Meer, die Berge und erlebe die Geschichte in Wirklichkeit, als ob sie eng in meinen Händen läge. Bei mir hat sich das Meer mit den Griechen, der Sonne und dem Tageslauf verknüpft … und Mustapha Kemal-Pascha und seine Revolution sind sicherlich mit der dunklen Zeit Irans, Asiens, Assyriens, Syriens verbunden … und die historischen Jahrhunderte menschlicher Kultur haben ohne Zweifel die gleiche Kraft, wie sie der Santorin-Vulkan besitzt, eine Kraft, die die Lavamassen aus dem Vulkan herausschleudert –es sind jene Kräfte, die den menschlichen Fortschritt bringen, und die auch uns zur Weltrevolution den Anstoß gegeben haben. Meine Urahnen haben außer hier in Palästina, in Rom, in Spanien und, der Teufel weiß wo sonst noch, in diesen Jahrtausenden gelebt! Jene, die hierher gekommen sind, haben irgend etwas aus diesen Jahrtausenden bewahrt, aber bei mir ist gar nichts davon geblieben. Kein einziges Volk, kein einziges Land ist für mich das Vaterland, und ich kann darum nur alles lieben und sehen. Sie haben es doch bemerkt, daß jene, die auf dem Schiff fuhren, nirgendwohin schauten und gar nichts sehen wollten. Ich habe keine Heimat; meine Heimat und meine Verwandten sind die ganze Erdkugel und alle Menschen. Ich bin international, weil ich zweitausend Jahre lang die Heimat verlor, und ich bin Kommunist geworden, weil ich glaube, sehen zu können. Und ich glaube außerdem, einen Treibriemen zu besitzen, mit dem ich die gesamte Welt verändern könnte. Ich will und kann sehen … Die ganze Erde ist meine Heimat … Sehen Sie sich einmal diese Tänzer an, aus denen Jahrhunderte sprechen, genauso wie aus der Klagemauer, aus dem russischen Bauer, aus dem englischen Arbeiter, oder aus dem Santorin-Vulkan und der Akropolis. Ich besitze vielleicht die Kälte der Jahrhunderte meiner Ahnen - ich kann besser sehen als lieben. Aber um so besser, daß ich sehen kann! Nun, diesen Tänzer da liebe ich, weil ich ihn sehe, statisch sehe.« »Bedeutet Ihnen Rußland, England, Japan und Palästina gleich viel?« fragte der Kapitän. - »Ja, gleich viel.« 32
Der Kapitän kaute mißbilligend an seinen Lippen, blickte schief, und erst jetzt bemerkte man, daß der Kapitän doch beschwipst war. Er strich über seinen Schnurrbart und sagte geheimnisvoll: »Demnach sind Sie Philosemit? Ich bin bei der Partei seit neun-zehnhundertsiebzehn und habe den ganzen Bürgerkrieg auf meinen Schultern mitgetragen, aber sehen Sie, die Japaner liebe ich nicht. Wenn man einen ihrer Häfen anläuft – nehmen wir mal Kobe an … – ach! aus diesem Volk, glaube ich, wird selbst der Teufel nicht einmal schlau!« Der Kapitän schnitt dabei eine solch verächtliche Grimasse, daß man hätte Tränen lachen können. Um Mitternacht begaben der Kapitän und Alexandrow sich wieder zum Schiff. Sie torkelten einträchtig, einer den anderen stützend, ohne Eile dahin. Auf dem Schiff an der Reede war schon lange das dritte Sirenensignal verklungen. Der Hafen lag im Dunkel, die Lichtflecke des Mondes hatten sich wie Seifenflocken auf die Steine gelegt, über die vielleicht einmal Jesus Christus und Kaiser Titus geschritten waren. Der Mond zerbrach in riesigen Splittern auf dem Meer. Im Boot schliefen Araber, die auf den Kapitän warteten. Der Kapitän rüttelte den Nächstbesten wach. Dieser lächelte freundlich und sagte nur: »Moskau, Bolschewik!« und weckte seine Kameraden. Irgendwo, ganz in der Nähe heulte ein Schakal auf. Die aufgewachten Araber begannen kehlige Schreie auszustoßen, wie die Adler schreien, wenn sie von der Morgendämmerung aufgeweckt werden. Die blauen Wellen überschütteten das Boot mit kleinen und großen Splittern des Mondes, schaukelten es hin und her, aber sie lösten es nicht vom Uferstrand. Die Araber stießen Schreie aus, schleppten das Boot etwas und sprangen ihm ins Wasser nach. Dann umfingen die Wellen das Boot mit ihrem Rhythmus. Die Araber begannen im Wiegen der Wellen zu rudern, dabei sich mit einem Fuß gegen die Ruderbank stemmend, mit dem anderen sich von der Bootswand abstemmend, und während sie über das Wasser schwebten, glichen sie den Vögeln. Um kräftiger zu rudern, munterten sie sich durch ein kurzes, mit kehliger Stimme gesungenes Lied auf, dessen Sinn dem Sinn eines Liedes glich, das die russischen Wolgaschiffer sangen. Hell schrien sie: Wir Männer sind Teufelskerle! Wir Männer sind Teufelskerle! O Allah! Die Fahrt ist noch nicht zu Ende! Der Weg ist noch sehr weit! 33
IV Das ist ein arabisches Lied: Meister, ergreife behutsam den Lehm, Wenn du formst ein Gefäß, denn vielleicht Ist dieser Lehm der Staub jenes Mädchens, Das du einstmals innig geliebt? So ergreife behutsam den Lehm Mit deinen Händen, die heute noch leben! Im Ural, in Rußland, irgendwo bei einem »murmelnden« Stein, erblickt mancher Wanderer am Rande des Weges eine Quelle, die sich mühsam aus der Erde herausgearbeitet hatte, und, nachdem sie kaum ein Dutzend Meter geflossen war, wieder in der Erde verschwand. Beugte sich ein Wanderer über die Quelle, um seinen Durst zu stillen, konnte er aber keinen einzigen Tropfen trinken, denn das Wasser war salzig oder heiß, und manchesmal beugte man sich ohne Durst zu haben darüber, und es fehlte die Kraft sich vom Wasser loszureißen – so gut war es. Und hier, neben der Quelle liegend, sieht man, wie eine nach der anderen, – hunderte, tausende und abertausende – Ameisen im Gänsemarsch herankriechen, ins Wasser fallen, schwimmen, ertrinken, weiterkriechen – die Armada der Ameisen ist aufgebrochen, um sterbend zu siegen … … Das Schiff trat die Heimfahrt auf der gleichen Route an. Es war der dritte November, und in vier Tagen war der Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Auf dem Schiff herrschte der Alltag. Das sogenannte Schiffskomitee hielt auf dem Aufbaudeck eine Sitzung ab. Es wurde beschlossen, den Jahrestag der Revolution auf dem Meer zu feiern. Die allgemeine Versammlung von Mannschaft und Offizieren beriet lange über die Gestaltung des Feiertages. Alexandrow wurde mit der Redaktion einer festlichen Ausgabe der Bordzeitung beauftragt. Dann gingen alle an die Säuberung des Schiffes. Das Kommando der Heizer brachte Gerüste an den Schornsteinen an, in der Art, wie die Maurer und Maler dies beim Bau neuer Häuser in Rußland tun. Sie kletterten, schwebten über den Brettern und strichen behaglich die Schornsteine mit Farbe neu an. Dabei sangen sie Volkslieder, die von dem Schicksal einfacher Menschen erzählten. Der Kapitän lag bequem auf seinem Ruhebett, ein Notizheft auf den Knien, und schrieb seine Erinnerungen an den Oktoberumsturz in Odessa nieder. 34
Drei vergilbte Zettel Über dem stillen und silbern schimmernden Fluß liegt die Stadt mit den Häusern aus Stein und den mit großen Quadern bepflasterten Straßen, den Kirchen mit ihren Zwiebeltürmen, umfriedet von einer Kremlmauer. In einer Seitengasse, den nach oben führenden Weg abschließend, steht ein weißes, einstöckiges Haus, daran zwei Säulenreihen einer ockerfarben getünchten Kolonnade, verziert mit Pferdereliefs; hinter dem Haus ist ein Garten, in dem Faulbeerbäume und Flieder wild wuchern. Das Innere des Hauses ist nicht groß. Längs der Fassade gibt es drei Zimmer, die Decken der Räume sind niedrig, dick sind die Wände, Teppiche liegen auf den Böden, und an den Fenstern stehen Blumen. In dem mittleren Zimmer, dort, wo die Tür zur Kolonnade hinführt, steht ein Flügel. Vor dreißig Jahren kam ein junges, sorglos und grundlos heiteres Mädchen in das Haus. Dreißig Jahre sind vergangen. Zwischen den damals erst neu gelegten Pflastersteinen vor dem Haus sprießt Gras. Die Schnapsbrennerei zur Linken wurde zu einer Kaserne umgebaut, wo man am Morgen und Abend den Zapfenstreich blies. Die Stadt breitete sich auf dem Hügel aus und kroch sogar bis über den Fluß. In der Nähe der Eisenbahnbrücke am Fluß schnaubte eine Walzmühle. Dreißig Jahre sind vergangen, und die alte Frau mit den grauen Locken und dem schwarzen Kleid mußte fortfahren, für immer von hier fortfahren. Es war Frühling, der Flieder blühte, die Faulbeerbäume verblichen, und auf dem Abhang, in den schmalen Straßengräben, begannen Maiglöckchen zu leuchten. Sie wollte sich an das Vergangene erinnern. Im Hause wurden die Winterfenster nicht ausgehängt, zu Ostern nicht die Räume gescheuert – die Abreise verschob sich von einem Tag auf den anderen –, und auf den Fenstern lag der Staub. Sie erinnerte sich daran, daß sie mit achtundzwanzig Jahren begonnen hatte, englischen Sprachunterricht und mit zweiunddreißig Musikunterricht zu nehmen; damals hatte sie auch den Flügel gekauft. Sie tat das eigentlich alles nur, um ihr Leben auszufüllen, um beim Morgenerwachen eine Beschäftigung für den Tag zu wissen. Mit der Sprache kam sie nicht recht vorwärts, und auch 35
in der Musik reichte es nicht über kleine Sonaten hinaus. Vor dreißig Jahren, als sie noch Freundinnen und süße Geheimnisse hatte und die alte Tante sie auf Bälle mitnahm, damals war sie für einige Tage Braut, und die Tante kaufte ihr ein gefedertes Doppelbett, das damals Mode war, dazu einen Waschtisch aus Marmor und eine Uhr, die die Melodie des ›Vaverly-Walzers‹ spielte. Sie mußte durch ganz Rußland fahren, in ein genauso altes Haus, das hinter einer gleichen alten Kremlmauer lag, dorthin fahren, um zu sterben. Ein Spießbürger kaufte das Haus, ein Spießbürger mit abgetragenem Gehrock, Lackstiefeln und einer Reitgerte in der Hand, die er gegen die alten Möbelstücke stieß, oder sich selbst auf den Schaft der Lackstiefel schlug. Während er die Gegenstände großzügig zu den Preisen kaufte, die vor dreißig Jahren gegolten hatten, und während er dauernd gegen seine Stiefelschäfte knallte, sagte er: »Den Sekretär lassen Sie auch noch da? Sehr schön … Das Ding setzen wir mit den anderen Sachen auf die gemeinsame Rechnung. So, jetzt rechnen wir das alles schön zusammen.« Und sie ließ alles brav da. Aber einen Tag vor der Abreise, als im Salon, in der Mitte des Raumes, bereits die bauchigen, von den Mäusen durchfressenen Reisesäcke standen und viel Krimskrams herumlag, fand sie im Schlafzimmer in der untersten Schublade des leeren Sekretärs drei Zettel. Einer war der Entwurf eines nicht abgeschickten Briefes, den sie an ihre an der Wolga lebenden Schwester geschrieben hatte: ›... Wenn Du auf der Durchreise nach Samara kommst, grüße mir die Stadt, in der M. D. auf die Welt kam. Mein Leben hier ist langweilig und eintönig. Ich lerne jetzt die englische Sprache. Weißt Du, heute haben wir den 24. Juni Johannisnacht, in der das Farnkraut blüht und die unerfüllbaren Träume in Erfüllung gehen.‹ Diese Worte waren auf dem vergilbten Papier vor dreiundzwanzig Jahren geschrieben worden, sieben Jahre nach der Zeit, in der sie für einige Tage Braut gewesen war; und jener M. D. war ihr Bräutigam gewesen. Auf dem anderen Blatt, auf dem zu unbekannter Zeit beschriebenen Stück Papier, stand: ›29. September, neunundzwanzigster 29., 29… M. D., M. D… Michail, Michail, Schreibversuch.‹ Am 29. September vor dreißig Jahren wurde der Waschtisch, das Bett und die Uhr ins Haus gebracht, und damals, noch am gleichen Tag, am Abend, war sie keine Braut mehr gewesen … Der dritte 36
Zettel, eine Rechnung aus Moskau von der Firma Jürgenson, war die Rechnung über den Kauf des Flügels. Es war dämmrig geworden, als sie diese Zettel las, die Sonne ging unter, und die roten Strahlen drangen durch den Flieder in den Raum, der blau gestrichen und dunkel war. So stand sie da, schlank, im schwarzen Kleid, mit grauen Locken und drei vergilbten Papieren in den schmalen Fingern, an denen goldene Ringe steckten. Sie öffnete ihren kleinen Reisekoffer und versteckte sorgsam diese drei Zettel unter den Kosmetikdosen, unter dem Bündel notarieller Papiere, Wechsel, Kaufverträge und unter den Schmuckstücken. Danach ging sie in den Garten – der Flieder blühte, die Faulbeersträucher verblichen, die Maiglöckchen begannen zu leuchten, und eine Nachtigall sang spät in der Nacht. Der Himmel war klar, blau, federleicht, und über der Stadt lag die Stille. Sie kam ins Haus zurück mit geröteten Augen, das Taschentuch an den Lippen, den Rücken gebeugt; gealtert ging sie in ihr Schlafzimmer, kniete sich vor dem Waschtisch nieder und küßte heilig seinen Marmor, ergriff die Uhr und drückte sie ans Herz, an die welke, leere Brust. Bedächtig ging sie in den Salon, sank auf den polierten Deckel des Flügels herab und blieb lange regungslos; dann spielte sie ein wehmütiges deutsches Lied … ›Unter den Linden‹. Die Morgendämmerung war blutrot und klar. Als der Spießbürger in früher Stunde kam, um sich zu verabschieden, hatte sie ihren Entschluß geändert, und sie nahm die Sachen mit, schleppte durch ganz Rußland den Waschtisch mit sich, das Bett und die Uhr, die den ›Vaverly-Walzer‹ spielte, und auch den Flügel und zwei englische Bücher, von denen eines eine Grammatik war. Bis zum Weiterverkauf zog in das Haus der Spießbürger ein, und er riß die wildwachsenden Büsche im Garten heraus, um die Öfen damit zu heizen.
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Die Gauner Der Brief und die Vorladung trafen gleichzeitig ein, abends wurden sie gebracht. Es mögen sieben Jahre seit jenem Julitag vergangen sein, als während der Heuernte, in der Schwüle des Dorfes, die beiden – sie und er – in die Kirche zur Trauung gegangen waren und dabei der Pope fortwährend zum Fenster hinausgeschaut hatte, ob es nicht etwa regnen würde, da er nicht zu spät zum Heuwenden kommen wollte … Damals bestand er auf einer kirchlichen Trauung, und sie, die die Brautkrone trug, versuchte ständig ihre Gedanken zu sammeln, um über ihr ganzes Leben nachzudenken. Aber sie konnte es nicht, weil sie den Geistlichen und die Wolke am Horizont beobachtete, und als tatsächlich ein kleiner Regen fiel, lief der Pope aus der Kirche auf die Wiese, um das Heu zu häufen … Wenn auch nur sieben Jahre vergangen waren und es nun Abend war und sie ihre Hände und den Kopf herabhängen ließ – gebeugt, weil die Zeit dahinfloß und alles mit sich forttrug –, so konnte man doch nichts davon zurückholen. Bei einer Frau von siebenunddreißig Jahren liegt die Liebe und vieles mehr zurück; bei einem Mann von siebenunddreißig hat sich lediglich der Rhythmus der Tage und Abende vielleicht ein wenig verlangsamt. In den Briefen wie in den Vorladungen des Gerichtes fehlte nicht das schablonenmäßige Wort ›Beklagte‹. Aber alles hat sich schon ohne das Gericht erledigt, erledigt durch die Zeit, durch sein Recht des Stärkeren, durch ihren Stolz... Und man hätte nur den Eimer zu nehmen brauchen, um Wasser aus dem Brunnen zu holen und die Setzlinge zu gießen – es ist eine große Freude, in die Erde zu pflanzenund zu sehen, wie das von eigener Hand Gepflanzte wächst! Plötzlich fiel ihr alles wieder ein, und sie beeilte sich, die Kleidungsstücke herauszusuchen, die sie mitnehmen mußte … Wie auch immer, sie hat zu arbeiten, vor ihr liegen Arbeit und Sorgen, und es wird Abende geben – man muß leben, man muß weiterleben! Der Nachtwächter Iwan ist zugleich Kutscher und Hauswart, er ist auch … Wie soll man mit ihm jeden Tag schimpfen, mit diesem 38
Menschen, der, wenn man etwas von ihm wissen will, von ganz anderen Dingen redet? Iwan hatte gesagt, daß der Dampfer jetzt beim Morgengrauen anlege, und daß man schon um Mitternacht einspannen müsse, um rechtzeitig anzukommen. Um Mitternacht zog Iwan die Zügel an, und die Mähre schleppte den Leiterwagen durch die Felder, durch das unübersehbare Land, durch den unruhigen, morgendlichen Wind; das Morgenrot verglühte im Spenden reichen Segens für die Erde … Am Flußufer angekommen, erfuhren sie bei der Anlegestelle, daß der Dampfer erst gegen Abend kommen würde. Iwan krächzte, schüttelte den Kopf, und nachdem er versichert hatte, daß zu Hause das Vieh keiner außer ihm vernünftig versorgen könne, fuhr er zurück. Am Ufer über dem Wasser stand, wie ausgestorben, eine kleine Kontorhütte; auf der Höhe des Hügels klebte eine Kate, und auf der Schwelle der kleinen Behausung saß eine Frau. Die schlaflose Nacht der Reise lähmte die Bewegungen, und es war unmöglich, Gedanken zu Ende zu denken … Die Frau vor dem Haus rief laut, und sie setzten sich nebeneinander auf die Schwelle. »Seid ihr hier die Wächter?« »Mein Mann dient als Waldwächter. Wir selbst sind hier fremd und kommen von weit her. Vier Kinder habe ich auch …« So behielt sie auch diesen Tag in Erinnerung – leer, mit dem leeren Kontor, mit der Hütte über dem Fluß und mit dieser glücklichen Frau. Gegen Mittag hatte sie alles erfahren – daß diese Frau hier glücklich sei, daß sie und ihr Mann Ukrainer aus Kiew seien, daß ihr Mann ein stiller und guter Mensch sei, der zwanzig Jahre bei einem deutschen Ansiedler in Diensten stand, und daß der Deutsche ihren Mann wegen seiner Gutmütigkeit leiden mochte, ihm aber hie und da auch wegen seiner Trägheit mit einem Stock nachhalf und ihm Beine machte … Aber ihr Mann sei gutmütig, nicht nachtragend; er wäre ihm nicht böse deshalb, und der Deutsche habe ihn gern (ja sogar eine eigene Kuh erlaubte er ihnen zu halten); daß sie in der Ukraine eine verheiratete Tochter habe, die bereits eine Menge Kinder zur Welt gebracht habe: ihre Enkelkinder; und ihr ältester Sohn habe jetzt auch den Posten eines Waldhüters und sei auch verheiratet, aber er habe ein mißratenes Mädchen sich zur Frau genommen, die sich immer mit anderen Männern herumtrieb … Ja, er wollte sich scheiden lassen, und sie 39
waren darum schon zur Gemeinde gegangen, aber dort verlangte man dafür einen ganzen Rubel und sechs Zehnkopekenstücke, und so blieben sie ungeschieden, weil soviel Geld einem doch leid tat; die übrigen drei Söhne lebten noch bei den Eltern, einer war sogar Jungkommunist, und Lohn erhielt ihr Mann, Gott sei Dank, im ganzen acht Rubel bei eigener Beköstigung. Die Frau war so runzelig wie ein vertrockneter Pilz. Sie trug ein rotes Tuch um den Kopf, war unermeßlich glücklich und mit allem auf dieser Welt zufrieden. Ihr Sohn, der Jungkommunist, beteiligte sich an einer Ausgrabung: Ein Hünengrab wurde freigelegt; sie hoben die Bestattungsstätte aus früheren Jahrhunderten aus, und man zahlte ihm dafür dreißig Kopeken pro Tag. Er scheffelte das Geld im Schlaf … Das Glück der Frau war unerschöpflich. In der Kate auf dem Berg war es, wie in den ukrainischen Bau-ernhäusern, sauber, die Wände waren mit Kalk getüncht; die drük-kende Schwüle, die vom Backofen ausging, und die Fliegen setzten einem so zu, daß es unmöglich war, sich in der Hütte aufzuhalten. So saßen sie die ganze Zeit auf der Türschwelle. Am frühen Nachmittag kamen der Mann und die Söhne, sie aßen zu Mittag, und auch die Besucherin wurde zum Tisch gebeten; alle löffelten aus einer Schüssel die Suppe aus jungen Brennesseln; die Männer waren schweigsam, nach dem Essen bekreuzigten sie sich und legten sich zum Mittagssehlaf im Schatten des Hauses nieder. Auch die Besucherin wurde zum Schlafen in den Schuppen auf das Heu geleitet. Man weckte sie zum Teetrinken: Einen Samowar gab es nicht, das Wasser wurde in einem Kessel über einem Feuer im Freien gekocht, und den Tee tranken sie auch am Feuer. Der Vater nahm das Gewehr und ging in den Wald, die Söhne begaben sich zu ihrer Beschäftigung, und dann sprach die Alte wieder von ihrem Glück, davon, wie gutmütig ihr Mann sei, der selbst einen Schlag ins Gesicht hinnehmen konnte. Der Nachmittagsschlaf verkürzte die Zeit, die Frau sprach leise, bedächtig, und es war der Besucherin, als ob sie diese Frau, ihr alltägliches Leben, die Söhne und ihren Mann schon immer beneidet habe … Es fehlte ihr innerlich die Kraft, gegen ein solches Glück etwas einzuwenden, denn im Grunde war alles gleichgültig. Genauso gleichgültig verhallte der letzte Pfiff des Dampfers, der 40
sie vorbei an dämmrigen Ufern, beim Gesang der Nachtigallen und dem Rauschen des Wassers unter den Schaufelrädern fortschleppte, und es blieb gleichgültig in ihrem Staub auch die kleine Provinzstadt zurück, wo sie vom Dampfer in den Zug umsteigen mußte. Am Morgen schien es für einen Augenblick nur eigenartig, daß gestern noch die Felder und Bäume grün gewesen waren; hier, wo der Zug jetzt dahinbrauste, war alles grau. Und am Abend kam sie in Moskau an. Nichts von allem blieb in ihr haften. In der Nacht, im Hotelzimmer an der Twerskaja-Straße, wurde ihr die Sinnlosigkeit ihrer Ankunft klar; sie waren nun einmal verheiratet, hatten einander geliebt, waren auseinandergegangen, und es bedurfte gar nicht erst der Abschrift des Gerichtsentscheids, daß ›das Bezirksgericht Soundso die Angelegenheit verhandelt und den Beschluß gefaßt habe‹. Sie wird frei von der früheren, einsamen Kälte sein, um aufzublühen für die neue Liebe; aber eine neue Liebe gab es für sie noch nicht. Er hatte dagegen eine neue Liebe, aber auch davon wußte sie nichts, denn er war nun schon seit drei Jahren nicht mehr bei ihr. Was ging sie das alles an? Nun ja, sie hatte ihre Arbeit, sie war Agronomin, und sie hatte ihren Stolz … Und sie hatte bitter geweint in dieser Nacht, zum ersten Male in diesen Tagen … Um elf Uhr mußte sie beim Gericht sein, und sie erschien fünf Minuten vorher. Er erwartete sie vor der Tür, ging ihr entgegen, lächelte freundschaftlich und sagte: »Und ich dachte schon, du würdest nicht kommen. Es wäre auch gar nicht nötig gewesen, wegen dieser Lappalie die Strapazen der Reise auf sich zu nehmen; ich hätte dir ohnehin die Abschrift des Urteils geschickt …« Er wurde plötzlich verlegen und sprach das aus, was er bereits im Brief geschrieben hatte: »Es war mir unangenehm, dir die Vorladung zu schicken mit dieser lächerlichen Bezeichnung ›Beklagte‹, als ob du eine Angeklagte wärst. Aber jetzt … Wie geht es dir, und was machst du so?« Sie antwortete: »Natürlich war es dumm von mir, hierherzukommen, aber ich habe noch außerdem eine Menge amtlicher Dinge gleichzeitig zu erledigen. Ach, ich lebe wie immer, ich habe viel Arbeit.« »Wo wohnst du? Wann bis du angekommen?« »In einem Hotel in der Twerskaja. Gestern abend bin ich angekommen.« 41
»Warum hast du dich denn nicht sofort gemeldet? Selbstverständlich hole ich nach der Verhandlung dein Gepäck zu mir. Wir sind doch Freunde, und keiner von uns beiden ist schuld daran, nicht wahr, Arinuschka, meine Liebe …? Sie antwortete nicht. Er begriff, daß sie nicht aufrichtig sein konnte.. Aber sie machte alle Anstrengung, um sich nichts anmerken zu lassen … Der Richter fragte: »Wie alt sind Sie, wie heißen Sie, was haben Sie vorzubringen? Welchen Namen wollen Sie annehmen?« Er, der ›Kläger‹, sagte: »Mir wäre es angenehm, wenn du meinen Namen behieltest.« Sie hatte darüber bisher nicht nachgedacht, und eine Röte überzog ihr Gesicht, denn es klang ihr wie eine Beleidigung. Verwirrt sagte sie: »Ja, ich will den Namen meines Mannes behalten.« Der Richter ersuchte um die Unterschriften und erklärte, daß sie die Abschrift des Gerichtsurteils morgen abholen müßten. »Kann ich jetzt gehen?« fragte sie den Richter. »Ja, wir sind fertig«, antwortete ihr Mann. »Wir holen nun dein Gepäck.« Als sie den Gerichtssaal verließen, wurden an ihnen Häftlinge vorbeigeführt, flankiert von Gewehren mit aufgepflanztem Bajonett. »Ich muß zum Ministerium fahren«, antwortete sie, »ich werde sehr wenig Zeit haben. Nimm doch morgen für mich die Abschrift des Urteils mit und schick es mir zu, in mein Nest. Alles Gute!« Sie streckte ihm die Hand hin. Er nahm die Hand nicht und begann aufgeregt: »Hör mich bitte an … Wir haben doch einander geliebt, und wir bleiben Freunde. Es ist unmöglich, einfach so auseinanderzugehen!« »Vergiß nicht, mir das Gerichtsurteil zu schicken, ich brauche es sehr dringend … Natürlich gibt es keinen Grund, uns zu streiten. Aber ich werde einfach keine Zeit haben.« Sie lächelte und hielt ihm freundlich die Hand hin. »Komm, gib mir die Hand!« »Wie, soll wirklich alles zwischen uns aus sein?« fragte er. »Es scheint so«, antwortete sie. »Leb wohl, ich habe es eilig.« Sie fuhr zur Bahnstation, um die Rückfahrkarte zu kaufen. Und noch am gleichen Tag, abends, trat sie die Heimreise an.
In ihrem Abteil des halbleeren Zuges saß ein alter Mann in einer Jacke aus Rohseide, der krächzend aus einem Körbchen eine Wurst holte, sie in kleine Scheiben schnitt und dann zu essen begann. Auf den Bahnhöfen, an denen der Zug hielt, holte er sich jedesmal in einer Teekanne heißes Wasser. Während der Nacht kletterten sie beide auf die oberen Liegestellen des Abteils. Um Mitternacht kamen zwei mit Dreck bespritzte Männer ins Abteil, in hohen Lederstiefeln, mit Lederjacken und Aktentaschen. Von ihnen ging ein Geruch des Schlammwetters, der Ruhelosigkeit, der Arbeitsanstrengung, der Tatkraft und des Tabaks aus. Sie hatten offensichtlich nicht weit zu fahren, denn sie behielten ihre Jacken an, öffneten das Fenster, steckten sich Zigaretten an und begannen ein Gespräch. Sie unterhielten sich über die Konsumversorgung; beide waren wohl Angestellte der Konsumgenossenschaft, und sie sprachen von deren Mißerfolgen und Leistungen, von ihrem eigenen Alltag, von ihrer Tätigkeit, davon, daß die sowjetrussische Konsumversorgung noch nicht reif sei, um mit Schuhzeug und Kleidung zu handeln, daß auch die Versorgung mit Fleisch immer noch zu wünschen übrig ließ; sie redeten einfach, alltäglich, um die Zeit totzuschlagen. Dann machten sie kritische Bemerkungen über die Angestellten der Konsumläden, über die Verkäufer, Kassierer, Einkäufer und das Wachpersonal. Die Schuld an den Mißerfolgen der Konsumversorgung schrieben sie größtenteils den ungenügenden Kenntnissen des Konsumpersonals zu. Jedoch erwähnten sie ebenso, daß in der Regel die Verkäufer, die Leiter der Konsumläden und die Kassierer Gauner seien, und sie erörterten, wie sich dies vermeiden ließe oder was man tun müßte, damit zumindest weniger betrogen und geschoben wird. Das Wort ›Gauner‹ gebrauchten sie zwar nicht, aber es ergab sich aus dem Zusammenhang: Jeder Angestellte nehme für sich und seine Familie umsonst Fleisch, Butter und überhaupt alles, was er zu verkaufen habe, mit. Der Handel mit Fleisch klappe gerade deshalb nicht, weil es sich überhaupt nicht kontrollieren ließe, wieviel Pfund der verschiedenen Fleischsorten sich aus einem geschlachteten Tier herauswirtschaften lassen, und sogar die leitenden Angestellten hätten sich den Standpunkt zur Gewohnheit gemacht: ›Leben und leben lassen‹, das heißt nichts anderes, als für sich manches Pfündchen von dem einen und anderen »einzu-packen‹. Einer von den Gesprächspartnern fügte
hinzu, daß manchmal die Verkäufer die Unterschlagung ganz offenkundig betrieben, und daß man dann nicht wisse, wie man sich ihnen gegenüber verhalten solle: sie fristlos entlassen oder sie vor Gericht bringen? – Erstens würde man die Sache an die große Glocke hängen, zweitens kommt an den Platz ein anderer, der es genauso macht, und außerdem wird der Bestrafte viele andere mit sich reißen, und es dauert dann lange, bis das Geschäft wieder einigermaßen in Gang kommt. Der zweite Mann versuchte zu beweisen, daß man auch mit fristloser Entlassung nichts ändern könne, mit Ausnahme von sehr krassen Fällen, wo es halt nicht anders gehe, und es sei viel besser, den Betreffenden in einer Lage zu belassen, in der er fühlt, daß man über seine Gaunereien im Bilde ist. Schließlich wollte keiner für einen Dieb gehalten werden; nun, so müsse man ihn ständig in dem Zustand der Angst halten, öffentlich zu einem Dieb gestempelt zu werden. Dann verschwanden diese beiden Konsummenschen auf einer Zwischenstation in die Nacht, in ein Dorf. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, erhob sich der alte Mann von seinem Liegegestell, ließ die Füße herabhängen, blieb eine Weile so sitzen, stieg herab, um das Fenster zu schließen, und setzte sich wieder nach oben. »Schlafen Sie?« fragte er. »Haben Sie gehört, was die zwei da geredet haben? Daß ein Mensch auch ehrlich sein kann, davon haben sie kein Wort gesagt. Vielleicht stimmt es tatsächlich … Aber mir ist das unverständlich, ich weiß nicht weshalb; aber eines weiß ich: daß ich mich nie an etwas Fremdem vergreifen werde. Ich begreife einfach nicht, wie man so was machen kann. Haben Sie zugehört, was da alles zutage kam? Aber mit keinem Wort sprachen sie über die Menschen; sie waren ihnen nur Nummern, Werkzeuge, dazu noch minderwertige.« Da wurde ihr klar, daß das wesentlichste Erlebnis ihrer Reise das bescheidene Glück der alten Frau über dem Fluß und dieses nächtliche Gespräch gewesen war. Ja, das Leben jedes Menschen war seltsam verstrickt, und es blieb völlig gleichgültig, ob man ihn, den Menschen, zur Besserung in eine schadhafte Maschinerie hineinzog, schadhaft durch Gaunerei, Unwissenheit, Lüge und Liebe – denn alles blieb verstrickt in die Gewalt des Staates, verstrickt durch Arbeit und durch die Liebe... Und vielleicht besteht das Glück auch allein darin, 44
so gebunden zu sein, daß man keinen Rubel und sechzig Kopeken für die Stempelkarte zur Scheidung besitzt – wie jene Frau über dem Fluß gebunden ist, und wie sie selbst es nicht war. So schien es ihr fast wie eine Demütigung, diesen vor Gesundheit strotzenden Männern zugehört zu haben, jenen beiden, die nachts mitgefahren und wieder ausgestiegen waren, und von denen der Geruch des frühjährlichen Schlammwetters und der Gesundheit ausging … Das Leben eines Menschen ist eine große Verpflichtung, die völlig außerhalb seines Willens mit vielerlei verbunden ist … Der alte Mann ihr gegenüber war schon hellwach und begann zu erzählen. Er fragte, wohin sie fahre, wo sie arbeite, und als er erfuhr, daß sie Agronomin sei, schien er sich besonders zu freuen, und er bemerkte, daß er Kreisarzt sei. Hinter dem Fenster des Abteils kam die Morgendämmerung herauf. Zum ersten Mal während dieser Tage hatte sie das Bedürfnis zu sprechen, mit einem Menschen zu reden. Der Arzt erwähnte, daß er nach Moskau gefahren sei, weil dort seine Tochter einen Ingenieur Soundso geheiratet habe. Es war der Name ihres eigenen Mannes. Sie fragte zurück: »Wie, habe ich recht gehört, Grigorij Andrejewitsch?« »Ja, es stimmt«, bestätigte der Arzt. »Wieso, kennen Sie ihn etwa?« Sie gab eine einsilbige Antwort und legte sich wieder hin, mit dem Gesicht zur Wand, und sie tat, als schlafe sie. Er – dieser alte Mann, der Arzt, wurde ihr zum Feind: Er war ein Dieb, er hatte gestohlen … Als sie den Dampfer verließ, sah sie die Hütte auf dem Hügel nicht mehr. Wo sie gestanden hatte, ragte nur noch der vom Feuer ringsum beschädigte Backofen empor, und einige angekohlte Baumstämme lagen herum. Sie erfuhr von dem Geschehen: In der Hütte hatte eine räuberische Familie gehaust, die auf den Landstraßen Menschen auflauerte, sie ausraubte und tötete, eine ukrainische Aussiedlerfamilie, der Vater, vier Söhne und die Mutter. Als die Miliz erschien, um sie zu verhaften, ergaben sie sich nicht und eröffneten das Feuer, sogar der jüngste, elfjährige Sohn und die alte Frau – die Mutter – schossen bis zur letzten Patrone. Als im Feuergefecht der Vater und die vier Söhne getötet waren, steckte die alte Frau das Haus in Brand und verbrannte in den Flammen. 45
Iwan, der immer von ganz anderen Dingen redete, als von dem, was man wissen wollte, berichtete während der ganzen Heimfahrt alle Einzelheiten des Feuergefechtes, das schon legendär geworden war, und er beschimpfte mit wüsten Worten alle Räuber.
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Tausend Jahre … laß die Toten ihre Toten begraben (Matthäus Kap. 8) Der Bruder kam spät in der Nacht, und noch zur gleichen Stunde besprach er sich mit Wiljaschew. Mit der Schirmmütze in der Hand trat der Bruder Konstantin ein; in einer dunklen Jacke, groß an Statur und hager. Die Kerze wurde nicht angezündet. Sie unterhielten sich nicht lange, und dann ging Konstantin wieder. »Sie ist still und ruhig gestorben. Sie hat an Gott geglaubt. Zu brechen mit dem, was früher einmal galt, war ihr unmöglich, es ging über ihre Kraft. Weit und breit herum ist nichts als Hunger, Skorbut und Typhus. Die Menschen haben sich in Raubtiere verwandelt. Es ist trostlos. Ich wohne, wie du siehst, in einer erbärmlichen Hütte. Das Haus wurde uns genommen. Wir fühlen uns hier fremd, und die anderen sind uns fremd.« Konstantin antwortete knapp und gelassen: »Es gab uns drei auf der Welt: dich, Natalja und mich. Finita. Von der Bahnstation bin ich zu Fuß hierhergekommen, und gereist bin ich in einem Güterwagen, der zum Transport für Schweine verwendet wird. Ich konnte nicht rechtzeitig zur Beerdigung kommen.« »Die Beerdigung war gestern. Sie hat gewußt, daß sie sterben wird, und wollte von hier um alles in der Welt nicht mehr fortgehen.« »Sie war eine alte Jungfer, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat.« Konstantin verließ ihn ohne ein Wort des Abschieds. Wiljaschew sah den älteren Bruder am kommenden Abend wieder – die beiden wanderten jeder für sich den ganzen Tag im Kreis herum durch die ausgedörrten Täler. Es gab nichts zu reden. Das Licht war trüb, und im Morgengrauen bemerkte Wiljaschew auf dem Hügel einen Königsadler, der auf der flachen Kuppe saß und eine Taube zerfleischte. Als der Raubvogel Wiljaschew erblickte, schwang er sich in den leeren Himmel, zum Osten hin, und stieß seine Schreie über 47
den Frühlingsfeldern hervor, einsam und rauh. Vom Hügel, vom Hünengrab aus, zehn Kilometer weit, sah man Wiesen und Haine und die Dörfer mit den weißen Zwiebeltürmen ihrer Kirchen. Über die Wiesen stieg die rote Sonne empor, und rosige Nebelschleier schwebten vorbei. Im Morgenfrost klirrten hell die dünnen Eisspiegel auf den Rainen. Es war Frühling, und mit seiner blauen Kuppel verweilte der Himmel über der Erde; es wehten frische Winde, unruhig wie im Halbschlaf. Die Erde quoll auf, und sie atmete wie ein Waldgeist. In den Nächten zogen hoch die Zugvögel ohne sich auszuruhen vorbei; in der Dämmerung schrien die Kraniche nahe dem Hügel, und ihre Stimmen schienen gläsern, durchsichtig und wehmütig. Der üppige Frühling hielt einen stürmischen Einzug – unabänderlich in seiner Größe. Ober die gebärende Erde dröhnten die Glocken; in die Dörfer, in die Hütten drangen Hunger, Typhus und Tod. Wie in frühen Zeiten standen die Katen mit den blinden Fenstern; das faule Stroh, das ihre Dächer bedeckte, flatterte vom Winde zerzaust umher. So war es vor fünfhundert Jahren, wenn immer im Frühling die Hütten abgetragen wurden, um sie weiter in die Wälder nach dem Osten zu den Tschuwaschen zu setzen. In jeder Hütte hauste der Tod, in jeder Hütte lagen die vom Fieberwahn gepackten Menschen unter der Ikonenecke, um dem Herrgott ihre Seele so zu geben, wie sie gelebt und gelitten hatten: ruhig und qualvoll. In jeder Hütte hauste der Hunger. Jede Hütte war in den Nächten durch Kienspane beleuchtet, so wie es vor fünfhundert Jahren war, als das Feuer aus einem Stein geschlagen wurde. Die Lebenden trugen die Toten zu den Kirchen, und die Frühlingsglocken läuteten. Die Lebenden zogen in Prozessionen mit verzweifelten Herzen um die Felder herum, umgaben die Dörfer mit Gräben, besprengten die Dorfgrenzen mit geweihtem Wasser und beteten um das tägliche Brot, um Verschonung vor dem Tod. In der Frühlingsluft dröhnte das Glockengeläute. Und trotzdem erklangen an den Abenden die Lieder der Mädchen; wenn es dunkel wurde, gingen die Mädchen in ihren bunten Kleidern aus hausgewebtem Leinen zu dem Hügel und sangen die alten Lieder; denn der Frühling hielt seinen Einzug, und die Zeit, neues Leben zu empfangen, war gekommen. Die jungen Burschen mußten fort in den schlimmen, teuflischen Krieg: nach Uralsk, nach Ufa, nach Archangelsk. Nach dem Frühling werden wohl diesmal die Greise aus den Hütten kriechen müssen, um die Felder zu bestellen. 48
Wiljaschew – Fürst Wiljaschew, ein Recke von Gestalt, dessen uraltes Geschlecht noch von Monomach* abstammt – stand niedergeschlagen auf dem Hügel und sah in die Weite. Er konnte an nichts denken. In ihm war nur Schmerz – er wußte, daß dies das Ende war. Vor fünfhundert Jahren hat vielleicht genauso an diesem Ort sein Vorfahre Waräger auf einem Speer gestützt gestanden, in einem Ringpanzer und mit einem Schwert bewaffnet. Der Schnurrbart des Vorfahren hatte vielleicht dem von Bruder Konstantin geähnelt. Die Schwester Natalja war an Hungertyphus gestorben; sie wußte von ihrem Tod und rief ihn. Weder Konstantin, der ältere Bruder, noch er und auch nicht die jüngere Schwester hatten hier noch ein Dach über dem Kopf. Das Nest war zerstört – das Nest der ›Raubvögel‹. Diese Menschen waren raubgierig, und die Wiljaschews besaßen große Macht; nun war sie erschöpft. Von dem Hügel ging Wiljaschew zu dem Fluß Oka, zehn Kilometer weit. Er wanderte den ganzen Tag, ging durch die Felder, durch die wasserlosen Täler – stämmig, wuchtig und breit die Schultern, der Bart bis zum Gürtel: ein Recke von Gestalt. In den Schluchten lag noch der Schnee, in den kleinen Tälern flössen rauschend die Bäche. Es war ein warmer, blauer, weiter Frühlingshimmel. Die Oka trat breit über die Ufer. Über den Fluß strich ein Wind, noch nicht vollends erwacht, wie ein russisches Mädchen, das ihre Leidenschaft noch nicht bis zur Neige gekostet hat. Aber man spürt die Lust, sich zu strecken, den Körper geschmeidig zu machen; Wiljaschew empfand in sich eine Trauer, ein beklemmendes Schweben, tiefe Unruhe. Der Russe hat Sehnsucht nach den Weiten; es locken die Flüsse wie die breiten Landstraßen zu neuen, fremden Orten; das Blut der Ahnen ist noch nicht erloschen. Wiljaschew legte sich mit dem Rücken auf die Erde, den Kopf in die Hände verschränkt. So bleibt er regungslos. Der Hügel über der Oka war kahl, der Wind umspülte ihn zärtlich und leise. Die Lerchen jubilierten. Zur Rechten und Linken schrien die Vögel, die Frühlingsluft trug all die Laute – nur vom Fluß kam eine strenge Stille, und erst als die Abenddämmerung über ihm sich ausbreitete, ertönte vom anderen Ufer her das Geläut der Glocken. Der Fürst Wiljaschew lag lange, niedergeschlagen, regungslos, ein Recke voller Leid; dann erhob er sich * Monomach – Wladimir Wsewolodowitsch, Großfürst von Kiew. 49
sprunghaft und eilte zurück. Der Wind liebkoste seinen Bart. Seinem Bruder begegnete Wiljaschew nahe dem Hügel. Der Himmel hatte sich mit abendlichem Blei gefüllt, die Birken und die kleinen Tannen am Fuße der Anhöhe schienen gespenstisch und beklemmend. Nur einige Minuten lang tauchte die ganze Welt in ein Gelb, wie die Irrlichter der Sümpfe; dann schimmerte sie grün und wechselte schnell in ein dunkles Blau über. Der Westen verblaßte und erlosch in einem lila Streifen, im Tal kroch der Nebel herauf, die vorbeifliegenden Wildgänse stießen Schreie aus, eine Rohrdommel stöhnte, und es trat die nächtliche Frühjahrsstille ein, jene Stille, die keinen einzigen Laut verliert und zu einem horchenden Summen wird, horchend, wie der Frühling selbst. Der Bruder, Fürst Konstantin, stapfte auf den Hügel zu. Er trug eine Schirmmütze, und er hatte den Kragen seines Mantels aus englischem Tuch hochgestellt; am Arm den Spazierstock. Auf dem Hügel angelangt, begann er zu rauchen, und die Glut der Zigarette beleuchtete seine Adlernase, die knochige Stirn, während die grauen Augen kalt und ruhig glänzten wie der November. »Im Frühjahr, wenn die Zugvögel irgendwohin zurückkehren, zieht es einen Menschen wie einen Vogel. Wie ist Natalja gestorben?« »Sie ist im Morgengrauen bei Bewußtsein gestorben. Gelebt aber hat sie immer ohne Bewußtsein – sie kannte nur Haß und Verachtung.« »Schau dich nach allen Seiten um«, Konstantin schwieg eine Weile. »Morgen ist Maria Verkündigung! Ich habe darüber nachgedacht. Sieh um dich herum.« Der Hügel stand wie ein dunkler Fleck, kaum hörbar raschelte der Wermut vom vorigen Jahr, gluckste die aus der Erde heraufsteigende Luft eines unterirdischen Gases. Ein Fäulnisgeruch stieg auf. Der Himmel trübte sich hinter dem Hügel, das Tal lag öde und unendlich weit da. Die Luft wurde feuchter und kühler. In alten Zeiten führte durch das Tal ein Ziehweg. »Hörst du?« »Was?« »Die Erde stöhnt.« »Ja, sie wacht auf. Der Frühling. Das ist die Freude der Erde.« »Nein, nein, das meine ich nicht. Es ist die Trauer. Es riecht nach Verwesung. Morgen ist Maria Verkündigung, ein großes Fest. Ich habe darüber nachgedacht. Sieh um dich herum. Die Menschen sind dem Irrsinn verfallen, sie sind wie die Wilden: überall Tod, Hunger 50
und Barbarei. Sie haben den Verstand verloren vor all dem Blut und Grauen. Sie glauben noch an Gott, begraben ihre Toten, anstatt sie zu verbrennen – und noch gibt es bei ihnen Götzendienst. Sie glauben an Geister, Hexen, Teufel – und an Gott. Die Menschen vertreiben den Flecktyphus durch Prozessionen. Ich stand während der Fahrt immer abseits, um nicht angesteckt zu werden. Die Menschen denken nur an das Brot. Als ich mich vor Müdigkeit im Zug kaum mehr auf den Beinen halten konnte, schaukelte vor meinen Augen eine Frau mit einem komischen Hütchen hin und her. Sie verschluckte sich, als sie fortwährend wie ein Wasserfall erzählte, daß sie zu ihrer Schwester fahre, um sich an Milch satt zu trinken. Es war zum Erbrechen, denn sie sagte nicht ›Brot‹, ›Fleisch‹, ›Milch‹, sondern: ›Was für ein süßes Brötchen‹, ›was für Fleischelchen‹, ›Milchelchen‹. ›Mein liebes Butterbrötchen, ich werde dich jetzt aufessen!« … Ist das nicht die Rückkehr zu den Possessionszeiten? Das Unheilvolle aber, daß diese Verwilderung der Menschen nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt eingetreten ist. Rufe dir die Geschichte aller Zeiten und Völker ins Gedächtnis: Nichts als Gemetzel, Betrügerei, Torheit, Aberglaube, Kannibalismus – es ist noch nicht lange her! Im Dreißigjährigen Krieg gab es in Europa das Kannibalentum. Man kochte Menschenfleisch und aß es … Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Wenn diese Brüderlichkeit mit dem Gewehrkolben eingeführt werden muß, dann besser... wir verzichten darauf …! Ich bin einsam, Bruder. Ich bin traurig und einsam. Worin unterscheidet sich der Mensch noch vom Raubtier?« Konstantin nahm die Mütze ab. Die knochige Stirn war blaß, sie schimmerte grün in dem trüben, nächtlichen Dunkel, das Gesicht mit den tief eingesunkenen Augenhöhlen glich in diesem Augenblick einem Totenschädel. Der Fürst drehte den Kopf, blickte nach Westen; scharf bog sich die Hakennase, und über sein Gesicht huschte etwas Grausames. Es war der Blick eines gierigen Raubvogels. Konstantin holte aus der Manteltasche ein Stück Brot und reichte es dem Bruder. »Iß, Bruder, du hast Hunger.« Im Tal begann in der Finsternis die Glocke zu läuten, und in den Weilern bellten laut die Hunde. Der Wind wehte mit breiten Flügeln. »Hör einmal, ich habe über Maria Verkündigung nachgedacht … und sehe, wie die Abendröte langsam über dem Westen verblaßt. Ringsherum nur dichte Wälder, Sümpfe und Brachland. In den Tälern, 51
in den Wäldern heulen die Wölfe. Es knarren die Leiterwagen, die Pferde wiehern, die Menschen schreien – das ist der wilde Stamm der Reußen, der ausgezogen war, um die Tribute einzutreiben, und der jetzt auf dem Ziehweg entlang der Oka, über die Djesna und auf dem Sosh heimkehrt. Allmählich erlöscht die Abendröte. Auf dem Hügel schlägt der Fürst sein Lager auf. Bei schwindendem Licht starb einst der junge Sohn des Fürsten. Man betete zu den Göttern, verbrannte Mädchen und Jünglinge auf Scheiterhaufen, warf die Menschen ins Wasser, den Geistern des Flusses ein Opfer zu bringen. Man rief Christus, Perun und die Gottesmutter zu Hilfe, um den jungen Fürsten zu retten, der vom Tode ergriffen war. Der junge Fürst starb unter der unheimlichen Abendröte des Frühlings. Dann tötete man sein Pferd, seine Frauen und schüttete ein Hünengrab auf. Im Lager des Fürsten befand sich ein Araber, der weise Ibn-Sadif. Er trug einen weißen Turban, war schlank wie ein Pfeil und biegsam wie ein Pfeil, dunkel wie Pech; seine Augen und seine Nase waren wie die eines Adlers. Ibn-Sadif kam auf der Wolga herauf bis Kama zu den Bulgaren, dann schlug er sich mit dem Reußenstamm durch nach Kiew, nach Konstantinopel. Ibn-Sadif trieb es durch die Welt. Trotz seiner vielen Erlebnisse und seines Wissens wollte er immer neue Länder und fremde Völker erforschen ... Ibn-Sadif stieg auf den Hügel, auf dem ein Scheiterhaufen loderte. Hoch auf dem Block lag ein nacktes Mädchen mit aufgeschlitzter linker Brust, und das Feuer leckte an ihren Beinen; um sie standen mit finsterem Blick bärtige Männer, Schwerter in den Händen. Der uralte Pope-Schamane drehte sich im Kreise vor dem Feuer und schrie wie ein Rasender. Ibn-Sadif wandte sich ab, schritt vom Scheiterhaufen weg, stieg hinunter zum Ziehweg am Fluß. Das Abendrot war verschwunden. Die Sterne standen klar am Himmel, die klaren Sterne spiegelten sich im Wasser wider. Der Araber blickte zu den Sternen am Himmel und zu denen im Wasser: ›Welches Leid, welche Traurigkeit!‹ Weit hinter dem Fluß heulten die Wölfe. In der Nacht suchte der Araber den Fürsten auf, der den Leichenschmaus hielt. Der Araber hob die Hände zum Himmel, und wie die Flügel eines Vogels schwangen seine weißen Gewänder. Mit einer Stimme, die an das Klagen des Adlers erinnerte, rief er: ›In der heutigen Nacht vor tausend Jahren hat der Erzengel der 52
Gottesmutter in Nazareth die Ankunft eures Gottes, Christi Ankunft, verkündet. Welche Trauer. Tausend Jahre.‹ So rief Ibn-Sadif. Niemand wußte im Lager etwas von Maria Verkündigung, von dem freudigen, lichtvollen Festtag, an dem, der Überlieferung nach, nicht einmal der Vogel sein Nest baut. Hörst du, Bruder? Die Glocken dröhnen. Hörst du, wie die Hunde bellen …? Und über der Erde liegt die Nacht wie zuvor – Hunger, Tod, Barbarei, Kannibalismus. Mir ist unheimlich, Bruder.« Das Hundegebell von den Weilern schallte über den Hügel. Die Nacht wurde blau und kalt. Fürst Konstantin hockte sich, dabei auf den Spazierstock gestützt, nieder, und erhob sich sofort wieder. »Es ist schon spät, kalt. Gehen wir. Es ist unheimlich. Ich glaube an nichts mehr. Die Menschen werden wieder zu Wilden. Ich bin einsam, Bruder. Niemand will uns haben, und es ist noch nicht allzu lange her, da haben unsere Vorfahren ihre Leute im Pferdestall gezüchtigt und die leibeigenen Mädchen in deren erster Ehenacht zu sich ins Bett geholt. Ich verfluche auch die Ahnen. Sie waren wie Raubtiere … IbnSadif …!« Der Fürst schrie dumpf und rauh auf. »Tausend Jahre. Ich werde wohl von hier nach Moskau zu Fuß gehen.« »Konstantin, in mir steckt noch die Kraft eines Recken.« Wiljaschew sprach leise. »Idi könnte alles zerschlagen, zerreißen, zerstören – aber sie sind mit mir fertig geworden wie mit einem kleinen Kind.« Das Hünengrab lag hinter ihnen. Sie gingen über den Hügel. Die üppige, aufgequollene Erde sank ein, als die Kälte anzog. In der Finsternis schrien Wildgänse, die sich zur Nachtruhe niedergelassen hatten. Auf der Wiese blaute der Nebel. Sie kamen ins Dorf; im Dorfe herrschte Stille, an der Grenzscheide bellte ein Hund. Sie gingen lautlos. »In jeder Hütte haust Typhus und Grausamkeit«, sagte Konstantin und verstummte lauschend. Hinter den Hütten, auf dem Feldweg, der aus dem Dorf führte, sangen die Mädchen ein Kirchenlied zu dem Fest Maria Verkündigung. In dem klaren Frühlingsabend klang die Melodie feierlich, einfach und erhaben. Die beiden Brüder spürten, daß diese Melodie unvergänglich war, unvergänglich wie der Frühling mit seinem Gesetz der Zeugung des Lebens. Sie standen lange mit durchnäßten Schuhen und stampften mit ihren Füßen. Sie fühlten, daß trotz allem ein fröhliches, beglückendes Blut die Menschen durchkreist. 53
»Das Leben ist schön und traurig. Es wird nie zu Ende gehen«, sagte Wiljaschew. »Das Leben bleibt ewig.« Um eine Ecke kamen buntgekleidete Mädchen; sie gingen versonnen in Paaren vorbei und sangen: Mutter Erde, freue dich, Mutter. Ein leiser Wind kam auf, der nach feuchter, üppiger, aufgequollener Erde roch. Die Mädchen schritten wiegend. Die Brüder blieben stehen und gingen leise erst weiter, als die Hähne um Mitternacht zu krähen begannen. Hinter dem Hügel erhob sich der letzte volle Mond vor Ostern, der tiefe Schatten warf. In der Bauernhütte war es finster, feucht und kalt; so wie am Tage vor Nataljas Tod, an dem unaufhörlich die Türe auf und zu ging. Die Brüder trennten sich schnell und gingen in ihre Zimmer; ohne ein Wort zu sagen und ohne die Kerzen anzuzünden, legten sie sich zur Nachtruhe. Konstantin schlief in Nataljas Bett. Im Morgengrauen weckte Konstantin seinen Bruder Wiljaschew. »Ich gehe fort. Leb wohl. Finita. Ich gehe fort aus Rußland, aus Europa. Uns und unsere Väter hat man in diesem Landstrich Geier genannt. Ja, es hat einmal eine Zeit gegeben, da haben wir mit Windhunden die Wölfe, die Hasen und die Menschen gehetzt. Es ist sehr traurig! Ibn-Sadif!« Konstantin zündete auf dem Tisch eine Kerze an, schritt einmal im Zimmer auf und ab. Wiljaschew starrte erschüttert: auf die weißgekalkte Wand fiel der durch das blaue Licht der Morgendämmerung gebrochene Schatten seines Bruders. Es war ein sonderbarer blauer Ton, als ob blaue Farbe über die Fläche gegossen worden wäre, und der Bruder, Fürst Konstantin, schien ein Toter zu sein.
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Die verschüttete Zeit Das Leben ist schon sehr anstrengend. Unser menschliches Gehirn kann wie ein Krug mit Wasser nur bis zu einem bestimmten Maß gefüllt werden, sonst fließt es über … Oh, welch ein großes Glück ist es, auf dem Tisch kein Heft liegen zu haben, in dem vermerkt steht: ›Manuskripte zum Verlag …‹, ›Boten Bescheid sagen‹, ›Um 17Uhr kommt A. B., Bücher vorbereiten«, ›14 Uhr Dikij anrufen‹, ›Wsewolod* benachrichtigen‹. Zu Hause wissen alle, daß es bis sechzehn Uhr immer zu heißen hat: ›Er ist nicht hier, wer ruft bitte an?« – derweil ich am Schreibtisch sitze. Anders geht es einfach nicht! Man muß sogar dem Klingeln des Telefons entfliehen. Um neunzehn Uhr dagegen hat man immer auszugehen – zu Verabredungen, ins Theater, zu Sitzungen, zu Diskussionen –, und man kann von Glück reden, wenn man sich um zwei Uhr nachts ins Bett legen darf. Geradezu ein Unglückstag ist es, wenn man in der Redaktion das Honorar abholen, vor den Behörden wegen des Passes oder der Einkommensteuer erscheinen muß, denn dann ist der ganze Tag verloren … Wo doch die Zeit so außerordentlich kostbar ist und man stets auf das Gehirn wie auf einen gefüllten Krug achten muß, um die Gedanken nicht zu verschütten. Schreiben ist wie ein innerer Zwang, denn man kann von Worten und Gestalten schwanger werden, und dann muß man es herausschreien, wie eine Katze wohl aufschreien würde, wenn man sie hinderte zu gebären, wahrhaftig, man müßte manchesmal wie eine Katze aufschreien: »Bin nicht zu Hause, hängt um Gottes willen den Hörer aus!« Um zu schreiben muß man sich Zeit lassen und behutsam auf den mit Gehirn vollgefüllten Krug aufpassen, damit nichts verschüttet wird. Die Bücher auf den Regalen werden zahlreicher, und man klettert an den Regalen immer höher, dorthin, wo alles beginnt einsam zu werden … So, wie man auch auf den Regalen der Jahre klettert. Die Haare sind auch schon nicht mehr kastanienbraun, 55
nicht kräftig mehr, sie beginnen zu bleichen, und bei mir ist es nicht anders: diese Eintönigkeit – wie bei allen anderen! Samjatin* kam aus Petersburg. Wir aßen zu Mittag und wollten ins Theater gehen. Jewgenij Samjatin hatte einer Probe seines Schauspiels ›Der Floh‹ im zweiten Künstlertheater zugesehen, denn er hatte wegen dieser Aufführung eigens die Reise gemacht. Nach der Probe war er bei der Redaktion der Zeitschrift ›Der Zeitgenosse‹ vorbeigefahren, und von dort brachte er einen Brief an mich mit, der an die Redaktion adressiert war. Als ich gerade aus dem Hause gehen wollte, rief mich Rukawischnikow** an, mit dem wir beide schon lange Briefwechsel von der Chlebnigasse in die Powarskaja-Straße eingeleitet hatten, wobei freilich die Chlebnigasse zwischendurch nach Spanien und die Powarskaja-Straße nach Spitzbergen übersiedelte (wo ich den Herbst über war). Wir wollten in den Briefen den wahren Sinn der ineinanderverflochtenen Poesie ergründen, wie sie in E. T. A. Hoffmanns Schachspiel der letzten, wunderschönen Liebe aufklingt. Jewgenij übergab mir den Brief, ich steckte ihn in die Tasche und beschloß, ihn später zu lesen. Wir gingen zusammen ins Künstlertheater, um uns den ›Revisor‹ anzusehen. In der Pause verschwand Jewgenij hinter die Bühne, und ich blieb allein zurück, um diesen Brief zu lesen: Das ist er: 16. XI. 24 »Ich las Ihr Buch ›Vergangenes‹, und es kam mir wieder das Jahr neunzehnhundertundneunzehn ins Gedächtnis, meine Hamsterfahrt nach Brot und die Bekanntschaft mit Ihnen. Erinnern Sie sich an den Viehwagen, Ihre eigene Fahrt nach Brot und an das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar? Sie kannten nicht meinen Namen und nannten mich einfach ›Leidensgenossin‹. Erinnern Sie sich auch an Ihre hartnäckigen, drängenden Wünsche, die ich nicht erfüllen wollte? Zuerst hatte ich überhaupt keine Angst vor Ihnen, und wir gingen weit, sehr weit die Eisenbahnschienen entlang. Wir wanderten umher,
* Jewgenij Iwanowitsch Samjatin (1884-1937), bedeutender russischer Schri** Rukawischnikow, russischer Schristeller. 56
lagen auf Ihrem Soldatenmantel und erzählten. … Sie sprachen von irgend etwas Schönem, Wunderbarem, und ich wollte Ihnen immer nur zuhören. Dann fuhren wir zu der Bahnstation zurück, auf der Plattform eines entgegenkommenden Zuges und eng aneinandergeschmiegt. Ich war damals selig, einen starken und leidenschaftlichen Mann zu spüren … Sie hofften sogar, ich würde nachgeben, und je länger wir fuhren, um so mehr drängten Sie. Seit jenem Tag sind fünf Jahre vergangen. Ich habe mich so verändert, daß Sie mich kaum wiedererkennen würden, wenn wir uns begegneten. Inzwischen habe ich viel durchgemacht, bin erfahren geworden und weiß, warum Sie sich damals mir gegenüber dennoch anständig verhalten haben. In dieser Welt gibt es so viel Schlechtes, es herrscht die Gewalt, und ich vermag heute Ihre Haltung zu würdigen. Ich war damals noch einfältig und hilflos, und es hätte nicht viel Mühe gekostet, um eine abscheuliche und ewige Spur in meiner Seele zu hinterlassen. Aber Sie taten es nicht. Ich danke Ihnen! Jetzt habe ich eine Bitte an Sie: Können Sie mir einen Hinweis geben, wo ich Ihren Roman ›Das nackte Jahr‹ bekommen kann? Ich habe es in den Städten K. und J. versucht, aber ich fand ihn nirgendwo. Hier ist das Buchangebot sehr dürftig, und von Ihren Werken, mit Ausnahme des Romans ›Vergangenes‹, ist nichts vorhanden. Ich würde gern wissen, bei welcher Zeitschrift Sie mitarbeiten. Einmal las ich Ihren Namen in dem ›Russischen Zeitgenossen‹, aber das war schon im Sommer, so daß ich jetzt nicht weiß, an welchen Verlag ich schreiben soll. Verzeihen Sie die Verworrenheit meiner Gedanken und Sätze. Aber ich schreibe Ihnen in Eile – da ich zum Zug muß. Und überhaupt, ich bin ein schrecklich unlogischer Mensch. Für den Fall, daß Sie sich entschließen können mir zu antworten, gebe ich hier meine Adresse an … Ich fürchte, Ihnen lästig zu fallen und beeile mich, meinen Brief zu beenden. Ihre ›Leidensgenossin‹ – Walentina P. S. Aber trotz allem, schreiben Sie mir bitte, ich werde darauf warten.« Ich las den Brief und erinnerte mich an das neunzehnte Jahr, an die Eisenbahnschwellen, an die Steppennächte und an das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar und seinen hastigen Bewegungen. In meiner Tasche hatte ich damals einen gefälschten Personalausweis, 57
der auf einen ›Arbeiter, Setzer in der Druckerei von Kolomensk‹, ausgestellt war, und ich fuhr tatsächlich zusammen mit Arbeitern aus Kolomensk; denn damals wurden die einzelnen Eisenbahnwagen durch Bestechungen mit Beschlag belegt. Man fuhr – wie einst die Argonauten – durch die Steppen, nach den Säcken mit Korn, in ständigen Schlachten mit den Sperrabteilungen des Militärs. Das Nachbar›Argonautenschiff‹ war der von den Weberinnen aus IwanowoWosnesensk besetzte Waggon. Ich war der Sprecher unseres Waggons, und die Sprecherin der Weberinnen war jenes Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar. Bald erfuhr ich, daß sie genausowenig eine Weberin war, wie ich ein Setzer; sie hatte gerade erst das Gymnasium beendet und hatte vor, entweder in Moskau einen Lehrgang zu besuchen oder sofort in die Provinz als Lehrerin zu gehen. Ich konnte mich nicht mehr recht daran erinnern, daß ich sie so bedrängt haben sollte, wie sie es im Brief erwähnte. Wir alle waren damals nur halb bei Sinnen in einer Atmosphäre wüster homerischer Beschimpfungen im Kampf um ein Stück Brot, um einen Sack voll Mehl, unter dessen Last die Beine dieses Mädchens mit dem kastanienfarbenen Haar schmerzhaft einknickten; und nur wir beide waren in diesem menschlich-wölfischen Fieberwahn der Herkunft und der Kultur nach gleich … Ich las den Brief und dachte daran, wie weit von mir das neunzehnte Jahr fortgerückt war. Damals schrieb ich als ein völlig Unbekannter meine ersten Erzählungen und lebte wie jeder andere. Ich beschloß, dieser Frau zu antworten, und ich dachte zugleich daran, sie ein wenig zu provozieren, zur Offenheit herauszufordern, um ein fremdes Leben kennenzulernen. Ich zeigte diesen Brief Samjatin, er sprach in lyrischen Worten von der weiblichen Seele, von der Poesie der Frauen, denn er vermutete, daß dieses Mädchen in ihren Briefen mir, einem Fremden, von sich erzählen wolle, um sich ihre Sorgen, die sie ganz offenbar haben mußte, von der Seele zu reden. Es war angenehm, so zu denken, wie Samjatin dachte, und es war angenehm, ihm zuzuhören. Ich erinnerte mich an jenen langen Abend, an dieses kastanienbraune Mädchen und dachte an das neunzehnte Jahr. Und ich zeigte allen diesen Brief, weil man in Wirklichkeit in der Vielfältigkeit seines abwechslungsreichen Daseins, das jener ›Krug‹ umschließt, den man nicht umstoßen darf und der zugleich eine sehr große Eintönigkeit enthält, fortwährend Freude daran hat, alles zu verschütten. 58
Am anderen Morgen entledigte ich mich meiner laufenden Arbeiten, und erst in der Dämmerung kam ich dazu, diesem Mädchen einen Brief zu schreiben. – Am Abend kam Andrej Belyj* und las seine neuen Gedichte vor. Ich gab Fedja den Brief dieses Mädchens zu lesen; auch er schwärmte wie Samjatin und machte sich eine Notiz, damit ihr meine Bücher geschickt würden. Olga erzählte mir den Inhalt einer Novelle von Marcel Prevost, von dem ich noch nichts gelesen hatte. Die Geschichte berichtet von einem jungen Beamten aus Paris, der in die Stille der Provinz reist, wo die Tage sich wie die Jahre eintönig dahinschleppen. Dort begegnet er einer verheirateten Frau, es kommt zu einem flüchtigen Erlebnis, er sagt ihr wundervolle Worte und fährt wieder nach Paris zurück; sie träumt von ihm ihr ganzes Leben lang, davon, daß es in Paris einen Menschen gibt, der sie liebt, und den sie liebt. Diese Liebe verschönert ihre Jahre und ihr Leben: Sie hatte eine Rechtfertigung für die Eintönigkeit ihres Alltags gefunden und lebte in der Erwartung … Und er, jener junge Beamte, der viele Beziehungen hatte, machte in Paris Karriere, und er kam als Minister wieder zu Besuch in die Stadt, in der die ihn liebende Frau lebte. Sie ging zur Bahn, um ihn zu empfangen, und er ging vorbei, ohne sie erkannt oder bemerkt zu haben … Ich schrieb diesem Mädchen: »Leidensgenossin, guten Tag! Ihr Brief wurde mir übergeben. Ich erinnere mich an jenen Sommer, an die Not, die Eisenbahnschwellen und die kaum geheizten Güterwagen. Ich erinnere mich an Sie, Leidensgenossin, an Ihr kastanienbraunes Haar, denn Sie waren anders als alle übrigen; ich erinnere mich an jenen Hügel bei den gestapelten Schwellen, wo wir im Blau der Nacht die Stille und die Sterne bewacht haben. In Ihrem Brief klangen, so scheint es mir, kleine bittere Vorwürfe mit; ich sage Ihnen in voller Aufrichtigkeit, daß ich Ihnen niemals, damals in unserer armseligen Vergangenheit, neben den Eisenbahnschwellen, nicht einmal für einen Augenblick Schmerz oder Kummer bereiten wollte – und ich glaube, die Jahre haben Sie gezwungen, anders über mich zu denken. Sie schrieben aufrichtig und begannen davon zu sprechen, wovon die Frauen so ungern sprechen und wovon es überhaupt schwierig ist zu sprechen … Aber ich verstand damals unsere Beziehung nicht so, wie sie Ihnen 59
erschienen ist. Wir begegneten einander für eine kurze Zeit auf den Eisenbahnschwellen; es liegt schon lange zurück. Sie haben mir ehrlich und einfach geschrieben, so lassen Sie uns in Zukunft einer dem anderen in Freundschaft über das Wichtigste berichten, nur über das Wichtigste, von dem man nicht spricht … Einverstanden? Sie erwähnten, daß ich anständig war, Sie schreiben, daß es ›auf der Welt so viel Böses gibt und die Gewalt herrscht‹, auch, daß Sie eine andere geworden sind. Ich erinnere mich an das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar und dem ungestümen Gang. Was ist aus ihr geworden, aus jenem Mädchen, wie sind diese fünf Jahre vergangen, haben sie ihr Kummer und Freude gebracht, und das Wichtigste – welchen Kummer, welche Freude? Ich weiß, wie schwierig es ist, davon zu schreiben, wovon man eigentlich nicht schreiben kann, aber Sie, schicken Sie mir alles, gleich was es ist und wie Sie es zu Papier gebracht haben, selbst wenn Kleckse darauf sind – mir wird alles wertvoll sein, was von Ihnen kommt. In Ihrem Brief bemerke ich Sprunghaftig-keit und auch Schmerz, ja, ›der Mensch ist schrecklich unlogisch‹. Sie sollen mir alles, alles schreiben. Ich erinnere mich jetzt so gut an jene, von uns bewachte Stille, an die Schienenstränge, an jene Tage mit Ihnen, an Sie … Was soll ich Ihnen denn von mir sagen? Ich werde auf Ihren Brief warten, um zu erfahren, was Sie von mir wissen wollen, und dann werde ich Ihnen alles erzählen, wie es ist und wie es war. Nun, ich bin ein Schriftsteller, schreibe Bücher, über mein eigenes und über fremdes Leben, flechte Dichtung und Wahrheit ineinander. Vielleicht haben Sie es schon gehört, daß mir der bittere Ruhm zuteil geworden ist, ein Mensch zu sein, der sich in Verderbnis stürzt. Aber ebenso ist mir der bittere Ruhm zuteil geworden – meine Pflicht –, ein russischer Schriftsteller zu sein und ehrlich mit mir selbst und Rußland zu sein. Ich lebe in Moskau; auch bei mir hat die Zeit vieles fortgetragen, ich trage dreißig Jahre auf dem Rücken, die Reife ist gekommen, und jene weit zurückliegenden Eisenbahnschwellen scheinen mir jetzt wie ein Weg und der Anfang dessen, was ringsherum um mich ist. Alles Gute für Sie! Ich warte auf Ihren Brief und küsse fest Ihre Hand. Sie schrieben, daß Sie mir danken, weil ich mich ›korrekt‹ benommen habe, und sogleich setzen Sie diesem Wort das Böse entgegen und fragen mich: Warum?« 60
Diesen Brief schrieb ich. Fedja ließ ihr vom Verlag aus meine Bücher schicken mit einem Begleitschreiben, in dem er die Anrede ›Sehr geehrtes Fräulein‹ gebrauchte und mit ›Ihr ergebener Diener‹ schloß. Und dann bekam ich die Antwort: 3. XII. 24 »Zuerst danke ich Ihnen aufrichtig und von Herzen für die Bücher. Sie haben mir eine sehr große Freude damit bereitet. Ich bin noch nicht zum Lesen gekommen – und wenn, so würde ich kaum meine Meinung darüber äußern. Das wäre lächerlich und dumm, denn welches Urteil kann schon eine durchschnittliche und einfache Frau wie ich über solche Werke abgeben, von denen Trotzki und andere bekannte, einflußreiche Persönlichkeiten reden. Nochmals Dank, meinen besonderen Dank für die Bücher. Nun zu Ihrem Brief. Ich habe ihn erhalten, gelesen und bitte Sie, mir das, was ich nicht ganz verstehe, zu erklären. Ich möchte gerne wissen, was Sie das ›Wichtigste‹ nennen – etwa das, von dem Sie sagten ›es sei schwierig darüber zu reden‹? – Ist dies das ›Wichtigste‹? Vielleicht könnte es als das Wichtigste für mich und für andere gelten, aber betrachten Sie selbst denn den physischen Trieb als das Wichtigste? Ist nicht Ihre Arbeit, Ihr Beruf, das gesellschaftliche Leben das Wichtigste? Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden; dann erklären Sie es mir. Sagen Sie mir ebenfalls, warum Sie glauben, daß die Frauen überhaupt nur ungern davon reden? Ist es wirklich so? Ich persönlich sehe diese Dinge einfacher, großzügiger, und ich empfinde nichts Schwieriges oder Peinliches dabei, darüber zu sprechen, ganz gleich, was es auch sei, um so weniger mit einem Mann und noch dazu in einem Brief. Nun zu mir selbst. Eineinhalb Jahre nach unserer Hamsterfahrt begegnete ich einem Menschen, mit dem mir beschieden war, die schönen, erhabenen und gleichzeitig die gewöhnlichen Erlebnisse zu teilen. Übrigens – ich sage es mit Vorbehalt – vielleicht waren die letzteren bei uns sogar eher ungewöhnlich, weil unsere Temperamente sich sehr exzentrisch äußerten. Jugend und die Schönheit der Erlebnisse erfüllten uns, was brauchte man noch mehr? Wir waren wahnsinnig ineinander verliebt. Doch kam es bei uns anders als bei 61
allen anderen; Stunden bezaubernder Träumereien wechselten mit schrecklichen Stunden unmenschlicher Qualen. Wir quälten einander bis zur Raserei und Verzweiflung. Wir quälten uns ohne eigentlichen Grund und Anlaß. Es ging so weit, daß mir oft Gift aus den Händen gerissen wurde, man glaubte, ich sei physisch und seelisch krank. Wir hatten einige Male vor, uns zu trennen, aber konnten wir es wirklich, da es irgend etwas Beharrlicheres, Stärkeres zwischen uns gab? Und wieder folgten den Stunden der Qualen süße Stunden einer wahnsinnigen Leidenschaft. So vergingen mehr als zwei Jahre. Die schönen Erlebnisse verloren allmählich ihre Kraft, ja auch die Charaktere wurden ausgeglichener. Es begann, langweilig zu werden. Ich befürchtete, daß es so nicht weitergehen könne, denn dieser Zustand würde uns völlig unbefriedigt und gleichgültig machen und zu einer tödlichen Langeweile führen. Ich packte meine Sachen und ging fort. Nun, jetzt lebe ich in K., mein Mann ist in der Nähe von J… Wenn wir Verlangen nacheinander haben, dann fahre ich zu ihm; so ist es besser, schöner, und das Leben fließt wieder kraftvoll. Ich fühle mich zufrieden. Ich erweitere meine Kenntnisse, bin in einer Fachausbildung – was es ist, das sage ich Ihnen ein andermal. Einstweilen alles Gute, mein netter Reisegefährte. Schreiben Sie mir. Ihre Leidensgenossin« Der Brief wurde morgens gebracht, als ich bei der Arbeit saß. Ich las ihn, und es wurde mir klar, daß meine Wege mit dieser Reisegefährtin sich niemals mehr kreuzen würden und daß Olga, Samjatin, Fedja und ich selbst schlechte Psychologen sind. Eigentlich macht es nichts aus, daß die Regale meiner Jahre und Bücher anwuchsen und daß es manchmal langweilig ist, die Krüge des Denkens zu bewahren … Und dieses Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar, aus jenem neunzehnten Jahr, an den Eisenbahnschwellen … Gott wird verzeihen! Damals dachte ich an meinen Freund, Schriftsteller wie ich, einen alten, einsamen Menschen, der unseren Tagen weltfremd gegenübersteht, der immer noch einen Mantel aus dem Jahre neunzehnhundertzehn trägt und unrasiert in einem kleinen Mansardenzimmer lebt, das früher das Atelier eines Kunstmalers war und nun den bitteren 62
Geruch von Hunden angenommen hat, ein Raum, in dem Armut und Schmutz, abgetragene Filzstiefel und Tabak seit dem Jahre neunzehn steckengeblieben sind; wie auch in ihm selbst, in diesem Menschen, in seiner greisenhaften Sonderlichket und Widerspenstigkeit das neunzehnte Jahr verhaftet geblieben ist. Ihn, diesen meinen Freund, haben alle vergessen – ich aber beobachte ihn genau. Nun, es war an einem Septembermorgen, der Regen nieselte. Er wachte auf, erhob sich von seinem Bett, das den Geruch eines ungewaschenen Körpers angenommen hatte. Er stand noch vor dem Morgengrauen auf, zu jener Stunde, in der Menschen, die nicht ausgeschlafen sind, sich immer unglücklich fühlen. Auf dem Spirituskocher bereitete er sich den Tee, trank ohne Eile, streifte sich seinen abgetragenen Mantel über die Schultern und ging fort aus der Mansarde. Er ließ sich immer Zeit; durch die engen Gassen erreichte er die Straßenbahnhaltestelle, und mit dem ersten Zug der Linie vier fuhr er zum Jaroslawskij-Bahnhof. Mit dem ersten Vorortsbummelzug kam er in dem trüben, verwaisten Septembermorgen bis nach LosinoOstrowskaja. Dort stapfte er durch die Landhaussiedlungen, – überquerte ein Flüßchen, ging durch ein Dorf und verschwand in einem Wald … Und dort im Walde machte er ein Feuer an, die grauen Äste brannten langsam, mit qualmigem, kärglichem Rauch. Im Walde, gegenüber dem Feuer, stand der hochgewachsene alte Mann, unrasiert, ungepflegt, in dem Mantel, der durch die Zeit an Ellbogen und Taschen silbrig geworden war – er stand sehr lange, unbeweglich, gebückt, die Hände in den Taschen und schaute beharrlich in das Feuer. Er hatte versucht, sich beim Feuer niederzusetzen, aber die Erde war zu feucht und kalt. An ihm vorbei streiften einige Jungen, die Pilze sammelten. Er bemerkte sie nicht, und sie schrien: »He, Alter, bist du ein Zauberer, oder?« Sie blieben eine Weile stehen, sahen ihn neugierig an und zogen weiter. Und als sie bereits verschwunden waren, sagte der alte Mann – noch in der Meinung, daß er zu ihnen spreche – leise, liebevoll und gut: »Ich denke, meine lieben Kinder … So ist das, meine Kleinen, ich tue es auf meine Art und Weise …« Der Wald war verunreinigt durch jene Hunderte von Wanderern, die in all den Jahren im Sommer hierhergekommen waren. Leere 63
Konservendosen lagen umher, in der Nähe des Feuers blinkte der Boden einer zerschlagenen Flasche, die Bäume des Tannenwaldes standen feucht, still und grau, der Regen hörte auf und begann wieder, die Wolken deckten den Himmel und den Horizont zu. Das Feuer brannte kärglich, er konnte es nicht neu entflammen, es qualmte. Der alte Mann kehrte in der Dämmerung nach Hause zurück, er ging wieder langsam durch die Gassen, und bei sich zu Hause, in der Mansarde, machte er ohne Eile Feuer in dem kleinen, eisernen Ofen, wärmte ohne Eile den Tee und den gestrigen Grießbrei: Nach der Mahlzeit lag er auf dem Bett, zugedeckt mit dem durchnäßten Mantel, den er den ganzen Tag getragen hatte; die Füße in den abgetragenen Filzstiefeln, las er in einem alten, dicken Buch. Die einzige kleine elektrische Birne, die an einer langen Schnur von der Decke herabhing, war so eingerichtet, daß sie übers Bett, über dem Tisch und beim eisernen Ofen aufgehängt werden konnte. Es war der siebte Stock, in dem der alte Mann, der Schriftsteller, wohnte, und hierher drang kein Lärm der Straße. Um Mitternacht legte er das Buch beiseite, hängte die Birne vom Bett zum Tisch, von einem Nagel auf den anderen, holte aus der Schublade eine dickte Mappe, breitete die Manuskripte auf dem Tisch aus, und auf einem neuen Bogen, wo oben in der Ecke die Seitenzahl 437 stand, begann er weiter an seinem Roman zu schreiben, seine Schrift war die eines alten Mannes, groß und unleserlich. Er schrieb. »… es war Frühling. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Im Walde war der Kuckuck noch nicht in Schweigen versunken, aber die Nachtigall begann schon zu jubilieren. Der Wald duftete nach Maiglöckchen. Unterhalb des Hügels floß der Dnjepr. Anatolij kam mit einem Kahn vom anderen Ufer des Flusses und bestieg die Anhöhe, als schon weit hinter den fernen Bergen der feurige Mond hochstieg. Lisa war noch nicht zu der verabredeten Stelle gekommen. Anatolij brach ein paar alte Äste ab, zündete ein Feuer an und legte sich daneben. Das Feuer begann schnell, mit strohgelben Flammen zu brennen, und in den schwarzen Himmel flogen die goldgelben Funken. Der Dnjepr versank in der Dunkelheit. Anatolij lag dem Feuer gegenüber, schaute in die Flammen und dachte an den Frühling, an die Jugend und an Lisa …Er mußte sie um jeden Preis heute noch sehen, und das Boot wartete unterhalb der Steilwand, am Ufer des Flusses. Dann trat Lisa geräuschlos an das Feuer, in einem weißen Kleid, jung wie der Frühling. Der rote 64
Widerschein gab ihrem Gesicht eine dunkle Bräune …« Nachdem er dieses Kapitel zu Ende geschrieben hatte, vergrub sich der alte Mann in seine Gedanken, die Hand mit dem Federhalter fiel herab, die Augen wurden leer wie am Tage im Losino-OstrowskiWald, leer und grenzenlos gütig, alles verzeihend. Die Hand, die den zwischen den Fingern vergessenen Federhalter hielt, war alt, runzelig, ungepflegt, mit schmutzigen Nägeln und Dreck, der sich in den Poren festgesetzt hatte. Unter der billigen elektrischen Lampe lag auf dem Tisch neben der Hand und dem Manuskript ein angebissenes Stück schwarzes, trockenes Brot. Dieser alte Mann, mein Freund, war kein bedeutender Schriftsteller, die neue Macht veröffentlichte seine Werke nicht, er schrieb nur für sich, für die Schublade, bis nach seinem Tod … … Am Abend werde ich diese meine Erzählung Olga und Fedja vorlesen, und sie sollen mir sagen, ob es richtig war, meine kostbare Zeit mit dieser Erzählung verschüttet zu haben. Was mich angeht, so habe ich schon gesagt, daß ich von Worten schwanger werde; und ich könnte laut aufschreien, wie wahrscheinlich eine Katze schreien würde, wenn man ihr die Möglichkeit nicht gäbe, eine dunkle Ecke zu finden, um zu gebären.
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Das Werkzeug des Dichters Die Schriftsteller in Sowjet-Rußland sind von den Steuerbehörden des Finanzministeriums Handwerkern gleichgestellt, die ein Gewerbe ohne Motor ausüben; und in der Tat waren die Schriftsteller sehr lange Zeiten hindurch sozusagen ›motorlose Handwerken, die recht und schlecht ihren Beruf ausübten. Diese Erzählung ist dem Handwerkszeug eines Schriftstellers gewidmet. In den Jahrtausenden der menschlichen Geschichte lösten Papyrus, Pergament und Papier die Wachsplatten, Schriftzeichen auf Lehm und Hieroglyphen auf Kalkstein ab. Die Hieroglyphen der orientalischen Philosophen und Wissenschaftler wurden nicht den Lauten, sondern den Begriffen nach gestaltet, aber die phönizische Kunst des Lesens und Schreibens, die, welche die europäische hervorbrachte und die auch ich jetzt handhabe, zeichnete dagegen nicht die Begriffe, sondern die Laute auf. Seit einem Jahrtausend kennt man im Abendland die Gänsefeder und jetzt die Feder aus Stahl, während Jahrtausende lang im Orient mit dem Pinsel geschrieben wird. Dort schreibt man auf der Erde im Sitzen, die Füße unter sich gezogen und das Papier auf den Knien, oder auch im Liegen, wie in Japan, mit Pinsel und Tusche. Und das gesamte menschliche Denken floß während der Jahrtausende immer auf das Papier; alles, was von Menschen geschaffen und getan wurde, ist auf Papier vergossen worden, alles Ewige der Menschheit, in ihrer Geschichte und ihrer Schöpfung ist auf dem Papyrus, auf Pergament und Papier festgehalten worden. … Jedes von mir bekannten oder unbekannten Menschen beschriebene Blatt Papier, in allen Sprachen, denen ich begegnete, gleichgültig, ob ich sie kannte oder nicht kannte, von dem Gekritzel eines Kindes, von den Rechnungen der Moskauer, Tokioer und Londoner Geschäfte an bis zu meinen eigenen Briefen und Manuskripten, glätte ich sorgfältigst, behüte und bewahre es auf; denn dem Betrachter soll zum Bewußtsein kommen, daß er Rechnungen russischer oder englischer Geschäfte aus dem achtzehnten Jahrhundert in Händen hält; oder ein Bündel russischer oder französischer 66
ganz alltäglicher Familienbriefe aus dem gleichen achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert: Der Leser wird die Qualität des Papieres, die Handschrift, Orthographie, Syntax und Phonetik der Sprache, die Rechnungen der Ware begreifen und das Jahrhundert einatmen. Jede, aber auch jede von uns geschriebene Zeile wird nach einem Jahrhundert genauso wohl riechen wie jene, die vor einem Jahrhundert geschrieben wurde. Die nationalen Kulturen der Menschheit verschütten sich über die nationalen Zäune hinaus. In London, gegenüber dem Britannia-Museum, kaufte ich in einem Buchantiquariat ein russisches Kochbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert, in dem auf Englisch mit verblichenen Lettern geschrieben stand, daß dieses Buch in der Stadt Sewastopol gekauft worden war, anno 1854; in Peking, in der sowjetrussischen Botschaft, wurde mir ein Buch geschenkt mit dem Titel: ›Geographische, historische, chronologische, politische und physikalische Beschreibung des chinesischen Kaiserreiches‹, gedruckt in St. Petersburg, in der Druckerei der Kadettenanstalt des Landheeres Seiner Majestät des Zaren, im Jahre 1774; diese beiden Bücher befinden sich in meinem Haus in Moskau. Mit welchen Worten soll ich jene Stunden des Nachdenkens wiedergeben, des Nachdenkens beim Lesen dieser durch ein Jahrhundert und durch Meere so unwahrscheinlich weit in die Welt verschlagenen Bücher? Mein Urenkel soll einmal, nach einem Jahrhundert, genauso einem japanischen oder chinesischen Freund eine Freude machen und ihm eine von meinen Kisten mit Papieren übergeben, eine Kiste, in der chinesische und japanische Papiere, Briefe und Notizen auf Zetteln gesammelt sind. Ja, die nationalen Kulturen dieser Welt verschütten sich jetzt über ihre eigenen Zäune hinaus.
II Ja, es ist richtig, ich bin ein Handwerker, aber ich besitze doch einen Motor – das Werkzeug meines Schaffens. In London kaufte ich mir eine Schreibmaschine, so eine kleine Reiseschreibmaschine, die sich leicht in dem eigens dazu hergestellten Koffer befördern läßt. Ich kaufte die Schreibmaschine einen Tag vor meiner Abreise aus England, 67
und im weißlichen Blau des Nordmeeres, auf dem Aufbaudeck, setzte ich mich zum ersten Male in meinem Leben an die Schreibmaschine, um auf ihr schreiben zu lernen. Ich spielte mit dem Maschinchen, und während des Spielens lernte ich zugleich; auf diese Weise entstand damals die Erzählung ›Speranza‹. Weil damals ringsherum das leere Blau des Herbstes und des Nordmeeres war, weil ich spielte und dabei lernte, auf der Maschine zu schreiben, trat das Maschinchen in meine Schriftstellerküche als friedlicher, heiterer Freund – ja, friedlich und heiter. Kohle und Bleistiftbestimmen von vornherein die Zeichnung genauso wie Tempera und Öl die Malerei. Die Literaturkritiker müßten einmal den Einfluss des Pinsels, der Feder und der Schreibmaschine auf die literarischen Stile untersuchen. Ich weiß, wie viele meiner Freunde schreiben: Die einen schreiben in Hefte, die anderen auf lose Blätter, die sie sich je nach Geschmack zurechtmachen; die einen schreiben mit blauer Tinte, die anderen mit schwarzer, jeder hat seine Lieblingsfeder; die Tische sind bei den einen während des Schreibens leer, die anderen vergraben sich in Berge von Büchern: Man muß die Feder, das Papier, die Tinte und den Tisch lieben, man muß während des Schreibens nicht zu sehr auf die Punkte, Kommata, Zeitwörter achten. An der Maschine muß man sitzen wie an einer Werkbank, über ihr, gerade, und die Hände müssen wie beim Klavierspiel über den Tasten sein. Mit der Schreibmaschine umgehen zu können, ist ein Handwerk, das man genauso wie jedes andere beherrschen muß. Die Schreibmaschine ordnet die Gedanken. Ich kann nur auf meiner Maschine schreiben, und ich kenne jede ihrer Tasten, jedes ihrer Schräubchen und alle ihre Mängel. Die Menschheit hat Jahrtausende lang mit Pinsel, Bleistift und Feder geschrieben; die Menschen unserer Generationen kennen eine neue Art – das Schreiben auf der Schreibmaschine. Ich lernte die Handhabung der Schreibmaschine zum ersten Mal im öden Blau des Herbstes und des Nordmeeres, jenes Meeres, auf dem viele Jahrhunderte vor mir Normannen kreuzten, die von sich Kunde mit primitiven Schriftzeichen in den mit Harz dichtgeschlossenen Flaschen gaben. Jene Schreibmaschine, die ich in London kaufte, hat mit mir drei Jahre hindurch ein anstrengendes, aufregendes Nomadenleben geführt. Damals, als sie mit mir von Cardiff bis Kronstadt auf dem 68
Wasserwege reiste, als mein Gefährte im Nördlichen Eismeer, unter dem achtzigsten nördlichen Breitengrad, bei den Inseln Uidsha, in den Kohlengruben von Spitzbergen, an der Murmanskküste; sie war auch dabei im Mittelmeer, in Konstantinopel, in Athen, in Jaffa, in Smyrna, auf den tausend Inseln des Adriatischen Meeres, unter dem Olymp; zusammen mit mir hing jenes Maschindien im Flugzeug über Podkamennij und den Urallandstrichen, über Kama, über Witschegda und den Wischere-Strömen, über der Autonomen Sowjet-Republik der Komi, über der nördlichen Dwina; zusammen mit ihr vertrieb ich die Zeit während meiner Tage in Moskau, Saratow, Kolomensk, Odessa; zusammen mit mir spulte sie die Kilometer auf und auch die Zeit der Reisen mit der Transsibirischen Bahn, der Reisen durch die Mandschurei, Korea, Japan, die zentralchinesischen Provinzen und auf dem Jangtsekiang. Wieviel aus meinem Gehirn – nicht nach Jessenins* Art – vergoß ich auf jene Schreibmaschine, denn niemandem – weder einem Freund noch meiner eigenen Frau - habe ich soviel anvertraut wie mir selbst und dem treuen Freund und Gefährten, dem Zeugen und Mitarbeiter: meiner kleinen Reisemaschine. In Schanghai kaufte ich mir eine neue Schreibmaschine, diese da, auf der ich jetzt schreibe. III Da sind einige Notizen meines Schanghaier Tagebuchs, aus jenen Tagen, in denen ich mir diese Schreibmaschine kaufte. Damals überkam mich das schreckliche Einsamkeitsgefühl des von der ganzen Welt Abgeschiedenen. Die russischen Zeitungen erreichten uns erst nach einem Monat; selbst in der Sowjet-russischen Verbannung, irgendwo in einem Krähwinkel, erfährt man mehr als dort, und man hat zudem viele Menschen, mit denen man sich unterhalten kann. Ich lebte in der Wohnung unseres Generalkonsuls von Schanghai, im gleichen Haus, das im April 1927 von der Polizei durchstöbert wurde. Ich war dort im Juli während der sengenden Hitze, die einen völlig demoralisierte und zur Verzweiflung trieb. Ich, demoralisiert von der Hitze, die mich in die Einsamkeit verbannte, war wie viele andere im Hause Nummer eins in der Wanpu-Road in der Erwartung des Dampfers, der mich hätte nach Singapur bringen müssen, nach Aden, durch das 69
Schwarze Meer ins Mittelmeer, vorbei an Byzanz nach Odessa. Von dort sollte es nach Moskau gehen. Da ist die letzte Notiz auf der alten Schreibmaschine: »Nacht vom 16. zum 17. Juli. Heute wurde mir die neue Schreibmaschine gebracht; auf der alten schreibe ich dieses Blatt zu Ende, sie hat mir ihr Leben lang gedient...! Nacht, eine Hausgrille zirpt. Es ist unverständlich, wann die Chinesen schlafen; Flut, und auf dem Fluß tönt bereits das Lärmen der wachgewordenen Chinesen auf den Dschunken. Vor mir über dem Diwan steht auf einem Bücherbrett ein lächelnder chinesischer Gott, den ich in Jangtse gekauft habe. Er lächelt, und ich grüble über das Gift ›Mamandi‹, das chinesische Wort für ›Gedulde dich‹, ›Laß dir Zeit‹; dieses Gift des Wartens, der Ungewißheit, das ist also ›Mamandi‹, das mir als chinesischer Gott, als das ganze China zulächelt – ›Mamandi‹ …! … Ja, leb wohl, Freund, Friede sei mit dir …! Du bist mir ein treuer Freund gewesen, den ich gekauft habe … ›Gekauft‹, einen »Freunde«? (Ganz nach der Art wie Bunin* sich auszudrücken pflegt: ›Es wäre nicht schlecht, sich einen Hund zu kaufen!‹) Damals kaufte ich sie in London, vierundzwanzig Stunden vor der Heimreise, und jetzt hatte ich wieder eine gekauft, zur gleichen Jahreszeit, auch außerhalb Rußlands und genauso vor der Heimreise. Die Neue liegt auf dem Diwan, ich sehe sie an wie eine Fremde, ein wenig feindlich: zu sehr aufgeputzt, zu sehr »Maschine«, und ich habe Mitleid mit dem Freund, einem Freund, der so viel miterlebt, durchgemacht und unter meinen Fingern gealtert ist. Er aber, dieser Bruder und Mitarbeiter, fährt übermorgen mit nach Rußland und wird irgendwo auf einem Schreibtisch auf mich warten. Wahrhaftig, es gibt ein eigenes ›Leben‹ der toten Dinge, und für dich sind nur noch einige Zeilen unserer Brüderschaft geblieben: Untreu ist das Leben – es wendet sich dem Neuen, dem Vervollkommneten zu. So geht es mit jemandem; solange seine Kräfte ausreichen, muß er gehen. Danach wird jeder weggeworfen, Ende, Tod. Lebe wohl, verzeih …!« Und hier die erste Notiz auf der neuen Schreibmaschine: « –» § I °/o a ‚ ? ! Nr. – Das ist die Probe der Buchstaben der neuen Maschine. Sei gegrüßt, junge, unbekannte Generation! So heiße ich die neue Schreibmaschine willkommen. Da liegt sie unter meinen Händen; ich 70
lerne es, darauf zu schreiben, und sie ist mir zunächst gleichgültig. Es ist wahrscheinlich immer so, wenn etwas uns verläßt – selbst wenn ein Gegenstand von uns fortgeht! Aber man darf und man soll so etwas nicht prophezeien; es klingt asiatisch-russisch … Man muß vorwärtsstreben, vorwärtsdenken – das ist die Petersburger russische Art! Wenn auch ohne Liebe, aber es muß sein; man muß sich immer vor einer Maschine zusammennehmen und konzentrieren … Es klingt dumm, lächerlich und naiv! Ja, das stimmt, aber so habe ich es damals notiert, und man soll sich nicht vor allen Naivitäten und Dummheiten fürchten. Das schreibe ich jetzt in Moskau, viele Monate nach meiner Rückkehr aus Schanghai. Ich erinnere mich, wie ich damals über der neuen und der alten Schreibmaschine saß und in Gedanken die Ergebnisse meiner Reisen und der verflossenen Zeit sortierte. Dumm und naiv machte ich mir damals die Notizen, und bis heute schäme ich mich vor einer Schreibmaschine: vor dem Freund, den ich im Stich gelassen habe.
IV Damals in Schanghai rief ich mir ins Gedächtnis zurück, was ich auf der alten Maschine geschrieben hatte. Hier in Moskau packte ich all das in einen separaten Koffer, was auf der alten Maschine geschrieben worden war. Viel, sehr viel Papier war von mir auf der Maschine vollgeschrieben worden, Briefe, Tagebücher, Erzählungen, Romane, und auch dies von den ›Maschinen und Wölfen‹ – das alles liegt nun gebündelt in dem Koffer. Es ist sehr gut möglich, daß ich diesen Koffer schon nicht mehr selbst werde öffnen können; dann wird ihn wohl irgendein anderer einmal von neuem durchschauen, mein Sohn, mein Enkel oder mein Urenkel. Aber während ich den Koffer verschloß, dachte ich: Welchen winzig kleinen Teil, welchen unendlich kleinen Teil ich geschrieben habe, welch geringfügige Menge des Papiers ich vollgeschrieben habe im Vergleich zu dem, was die Menschheit geschrieben und verschrieben hat in allen Jahrtausenden, in ihren verschiedenen Schriftarten! Und noch darüber dachte ich nach, daß, wenn in den vergangenen 71
Jahrtausenden die Werkzeuge des Schreibens Pinsel und Feder waren, wenn das jetzige Jahrtausend als Werkzeug des Schreibens eine Maschine hat und das Werkzeug des Schreibens den Stil der Literatur und der Epochen beeinflußt – wenn das alles so ist, dann kann man unmöglich ermessen, welches der Stil der kommenden Jahrtausende sein und wie die Menschheit vor dem Antlitz der Ewigkeit ihre Zeit aufzeichnen wird; vielleicht sogar ohne jegliche Buchstaben? Nein, das Finanzministerium hat nicht recht: Natürlich bin ich ein Handwerker, aber ich bin auch ein Individualist, sogar mit einem eigenen Motor.
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Nara, Stadt der Edelhirsche »Der Mond streut den Tau«, »Voller Mond - ein langer Abend«, »Wind und Mond - einer kennt den ändern« - diese geflügelten Worte habe ich bei den Japanern erlauscht. Und jene Abende in Nara waren voller Mondeslicht. Vor tausenddreihundert Jahren war Nara Japans Hauptstadt. Von diesen fernen Zeiten ist in der Stadt nur die Stille unter den Kiefern geblieben, und es scheint, daß die Sonne, die über der Stadt leuchtet, von diesen Kiefern gewürzt ist. Und heute ist es wahrscheinlich die einzige Stadt, die nicht aus Häusern, sondern aus einem uralten Park besteht und außer von den Göttern, Denkmälern und Menschen am dichtesten von heiligen Edelhirschen bevölkert ist, zu deren Ehre in der Stille des Kiefernparks unter der Kiefernsonne schon seit vielen Jahrhunderten Tempel stehen. In der Stadt, die sich in jahrhundertealte Wälder entartet hat, in der die Edelhirsche weiden und von den Kiefern verborgen die Tempel stehen, ruht das hünenhafte Standbild des Buddha Daibutsu - neunundsechzig Fuß im Umkreis, dreiundfünfzig Fuß die Höhe, Lotosblumen vor Daibutsu -, und des Buddhas Lächeln hat das Rätselhafte all der feudalen Jahrhunderte bewahrt. Es gibt in dieser Stadt keine Menschen außer den Mönchen und Pilgern. Um in diese Stadt zu kommen, muß man durch nicht endende Gebirgstunnels fahren, denn die Stadt ist von Bergen eingeschlossen, die unten das Grün der Wälder zeigen und höher die Kälte des Gesteins. Es herrscht die Stille inmitten der Kiefern, der Edelhirsche und der Götter, und nur der Wind von den Bergen, das Traben der Edelhirsche und die Glocken des Buddha stören diese Stille. Und in dieser Stadt, nahe dem Park oberhalb des Sees, wurde von den Japanern ein Hotel für Amerikaner gebaut - Narachoteru -, für jene Amerikaner, die mit den Expreßbeförderungsmitteln in sechs Monaten um die Weit reisen, um sich in dieser Frist alle Sehenswürdigkeiten der Welt anzuschauen. Das Hotel ist nach allen angelsächsischen Geschmacksregeln gebaut, mit den strengen Gongs, den lautlosen Boys, dem pünktlich und 73
sorgfältig vorbereiteten Breakfast, Lunch und Dinner, den überweichen Betten, den luxuriös und bequem eingerichteten Bädern mit Duschen, mit stillen Hallen und Leseräumen, darin ausliegend Bücher und Zeitschriften aus der ganzen Welt, einschließlich des sowjetrussischen Regierungsblattes »Iswestija« und der Zeitschrift »Das rote Neuland«. Obwohl im Hotelprospekt vermerkt steht, daß die Zimmer (nach amerikanischer Art) schon ab 7,50 Jen für einen Tag und eine Nacht zu haben sind, bekommt man unter 25 Jen keinen Platz. Ich kam nach Nara, um seine Stille zu belauschen, ich quartierte mich im Narachoteru ein, um einmal in dem Milieu der »Expressmenschen«, Neureichen und Müßiggänger zu leben. Und ich fuhr ohne Dolmetscher und Freunde, um die Einsamkeit in der Stille dieser einzigartigen Stadt zu genießen, wo man keinen Menschen braucht. Mit mir war Olga Sergejewna, ein Mensch, mit dem ich zu schweigen verstehe. Hinter meinem Fenster lag der See und hinter dem See der Park, der sich in die von den Edelhirschen bevölkerten Berge zog, hin zu den Tempeln. Von dort kamen die Klänge der Buddhaglocke, und es traf wirklich zu, daß »Wind und Mond -einer den anderen kennt«, weil in dieser Mainacht von den Bergen her ein kalter und fast leerer Wind wehte. Ich ging nach dem Dinner nicht aus dem Hotel. In der Halle saßen die »in sieben Sprachen schweigenden« Amerikaner, die Damen tranken Kaffee, die Männer rauchten. An der Bar tranken die Engländer Whisky und lachten laut wie auf ein Kommando. In der Stille des Leseraumes war es leer. Ich freute mich flüsternd auf russisch, als ich die Zeitschrift »Rotes Neuland« fand. Außer uns saßen im Leseraum noch zwei Personen: Ich hielt ihn für einen Schweden und sie für eine Französin. Ich blätterte in der Zeitschrift und sah, daß der Schwede die Zeitung »Iswestija« nahm. »Sprechen Sie russisch?« fragte ich. »Ja, ein wenig«, antwortete er. In den ersten zehn Minuten erfuhren wir mit gegenseitiger Verwunderung, daß wir beide Schriftsteller waren; er überreichte mir seine Visitenkarte: P. G.; er war ein jüdischer Schriftsteller aus Amerika, sozusagen amerikanisch-jüdischer Schriftsteller. Rußland hatte er vor fast dreißig Jahren verlassen, und es machte ihm Mühe, russisch zu sprechen. Seine Frau, auch Jüdin, war schon in Amerika geboren. Nach einer Stunde machten wir an jenem Abend – es war ein Abend, der 74
den Mond kennt - einen Spaziergang. Und diese, meine drei in Nara verbrachten Tage, werden für immer in meiner Erinnerung mit diesen zwei wundervollen Menschen, mit dem Ehepaar G., verbunden sein, Menschen, die mir teuer sind, im Leid und im Glück. Es ist nicht von Bedeutung, daß die beiden Schriftsteller sind, daß sie einer Französin ähnlich ist und er einem Schweden, denn das Wesentlichste für mich ist die Menschlichkeit. An jenem ersten Abend, an dem der Mond den Wind kannte, hat wahrhaftig dieser »volle Mond einen langen Abend« geschenkt. Wir gingen durch den Park, auf den mir unbekannten Pfaden, und Mister G. versuchte fortwährend, ein Streichholz anzuzünden, um mir irgend etwas in den Büschen zu zeigen. Aber die Streichhölzer erloschen in seinen Handflächen, für einen kurzen Augenblick sein graues Haar beleuchtend. Er scherzte und verriet uns sein »Buschgeheimnis« nicht. Wir sprachen über Belanglosigkeiten, jene Belanglosigkeiten des Alltags, die die menschlichen Beziehungen anknüpfen, wie die Stecknadeln die Seide auf den Stickrahmen spannen, damit auf die Seide die Spitzen eingestickt werden. Ja, Mister G. hatte graues, nach hinten gekämmtes Haar, seine grauen Augen waren müde, traurig und bedächtig. Sie aber, Mrs. G., war jung, mit schwarzem, üppigem Haar, und schön und geheimnisvoll für mich. Bis zum Schlafengehen saßen wir auf der Veranda in der blauen, mondlichten Dämmerung und im Wind, der von den Bergen herkam; zu viert in diesem eigenartigen Städtchen; wir zwei, etwa ein Dutzend tausend Kilometer von der Heimat und von den Menschen unserer Sprache entfernt, und sie beide … Die beiden hatten die ganze Welt bereist. Sie waren in Kapstadt, in Australien und in beiden Teilen Amerikas gewesen. Diesmal hatten sie Amerika im Jahre neunzehnhundertvierundzwanzig verlassen; nach einem Jahr Aufenthalt in Mexiko reisten sie fünf Monate mit einem Dampfer um die Inseln des Stillen Ozeans, nun waren sie in Japan, im Herbst würden sie in China, im Frühjahr in Indien, im kommenden Herbst in Palästina und im Januar neunzehnhundertachtundzwanzig in Sowjetrußland, in Moskau, sein. Mister G. sagte zu mir, daß er immer schon in den ersten Anfängen einer Bekanntschaft seine Nationalität erwähne, weil es ihnen viele Male passiert sei, daß man nach ihrer Lebensweise, nach ihrem Äußeren, nach Kleidung, Manieren und Wahl des Hotels, ihre Nationalität nicht erkannt hatte und - nachdem man sie erfahren - sehr oft so getan 75
hatte, als ob man sie beide nicht mehr kenne. Mister G. erzählte, daß sie allein reisten, daß sie niemanden hätten und niemand auf sie warte, und daß sie an niemanden Briefe schrieben - mit Ausnahme der Berichte an seine Zeitung. Da nirgendwo jemand auf sie warte, könnten sie nach Belieben und so lange es ihnen Spaß mache, reisen. Mrs. G. sprach, während sie den Mond ansah, von den Nächten in Afrika, in Australien, auf den Meeren. Um die Mitternacht eroberten in Nara die Glocken des Buddha die Stille. Der volle Mond kannte den langen Abend. Ich kam nach Nara für drei Tage, um einsam zu sein; diese Menschen waren und sind einsam, nun schon viele Jahre, wie ich in Nara während dieser drei Tage . . . Am Morgen, in der durch die Kiefern strahlenden Sonne, begegnete uns das Ehepaar mit der sorgsamsten Zärtlichkeit, Herzlichkeit und Aufmerksamkeit. Beim »Table d‘hote« baten wir, unsere kleinen Tische zusammenzurücken, und ich hatte einen Vater, im wahren Sinne einen Vater, der dafür sorgte, daß ich ordentlich aß. Unsere Damen benahmen sich ein wenig ausgelassen beim Breakfast, und sofort nach dem Frühstück liefen sie in das kleine Verkaufsgeschäft im Hotel, um sich Spielsachen, Kleider anzusehen und »tout fait japanise« zu kaufen. Wir, die Männer, ließen uns auf der Terrasse über dem See in Sesseln nieder, von Zigarrenrauch eingehüllt, mit der Ruhe und der üblichen Geduld der Amerikaner – bis unsere Damen zurückkommen würden. Zurückgekehrt flüsterte mir Olga Sergejewna ihre Verlegenheit zu, weil Mrs. G. Anstalten gemacht hatte, den ganzen Laden aufzukaufen, um Olga Sergejewna mit Geschenken zu überhäufen. In der für die Amerikaner üblichen Ruhe und im Rauch der Zigarren führten wir Männer ganz und gar unamerikanische Gespräche, weil Mister G. sich bei mir nach den Juden in Rußland erkundigte. Mit voller Offenheit sprach ich von diesem verstreuten Volk, mit ganzer Aufrichtigkeit und doch jener Vorsicht, die ich inzwischen von ihm angenommen hatte; denn bald wurde mir klar, daß für Mister G. die Frage des Schicksals des jüdischen Volkes und dessen Schicksal in Rußland bei weitem bedeutender war als sein ganzes eigenes Leben. Ich denke, daß die vollkommene Vorsicht sich in der völligen Offenheit verbirgt, in der Offenheit aber verbirgt sich auch die Aufrichtigkeit und die Ehrenhaftigkeit. Dieser ergraute Mann mit dem müden Gesicht eines 76
Schweden und zugleich Juden strich mir gleichsam väterlich mit seinen Worten über den Kopf. Es tat mir wohl, mich als Sohn zu fühlen, aber ich fühlte mich, wie so oft die Söhne, stärker als der Vater … Dieses auseinandergerissene Volk, verstreut auf der ganzen Welt, das den bitteren Kelch der Sozialisierung in der Sowjetunion, meiner Heimat, trinkt... Dieser ergraute Mann mit dem Glattrasierten Gesicht eines Philosophen, ein Schriftsteller und Prophet dieses verstreuten Volkes, wie ein Vater, der nicht urteilt, aber wissen will, nur deshalb wissen will, um Frieden zu haben, eine Gewissheit über sein Volk zu haben, ein solcher Mann, der durch die Welt, von einem Hotel zum anderen zieht, der keine Verwandten hat und viele Sprachen der Welt spricht, ein Mensch, der erkannt hat, daß viel Wahres überall entsteht, sogar in der Abscheulichkeit der Pogrome . . . Unsere Frauen sind schon lange von der russischen Unterhaltung auf die französische übergegangen, um einander von den Straßen, Neuigkeiten und Ereignissen - den Ereignissen ihres Alltags - in New York, London, Paris, Moskau, Mexiko und Tokio zu berichten. Wir gingen in den Park, zu den Tempeln, zu den Rudeln der Edelhirsche, in die Stille der Kiefern, durch die von den Kiefern gewürzte Sonne, und ich erfuhr, daß die heiligen Stätten dort auf den Bergen fünfhundert Jahre alt sind. Über die Stille des Parks und über Daibutsu habe ich schon geschrieben. Jetzt will ich von anderem reden. Mister G. führte mich in ein Dickicht des Unterholzes, wohin die Menschen ihren Fuß nicht setzen. Er sagte mir vorher kein Wort davon. »Da, sehen Sie sich einmal diesen Strauch an. Nun, was sehen Sie?« fragte er. Ich antwortete, daß ich gar nichts sehe. »Schauen Sie genauer hin!« Ich schaute genau hin, und wieder bemerkte ich nichts. Dann zeigte er mir, daß einer der Zweige dieses Strauches - ein künstlicher Zweig - von einer Spinne geschaffen worden war, und er zeigte mir auch das geflochtene Netz der Spinne, auf dem sie die Rinde zusammengeschleppt hatte. Er führte mich zu einem anderen Strauch. Mit einer kleinen Gerte hob er eine Spinne, doch diese lief davon, und Mister G. umspann sie mit ihrem eigenen Gewebe. Diese Spinne setzten wir in das fremde Spinnwebennetz. 77
»Warten wir etwas«, sagte Mister G., »diese Spinne ist stärker, sie wird die andere davonjagen. Sie werden zuerst kämpfen, dann wird die Besitzerin fliehen.« Der Name des Schriftstellers G. war mir schon vor der Begegnung bekannt gewesen; man stellte ihn in eine Reihe mit jüdischen Schriftstellern wie Peretz, Scholom, Alejchem und Bjalik. Mister G. sagte, sich zu der Spinne beugend, verlegen: »Außer an meinen Romanen und Theaterstücken schreibe ich nun schon zwanzig Jahre an einem Buch über Spinnen, über ihre Lebensweise, ihren Verstand und ihre Eigenarten. Ich kenne mehr als tausend Arten von Spinnen. Überall, wo ich auch hinkomme, hierher, nach Australien oder nach Argentinien, gehe ich auf Suche nach Spinnen, beobachte sie und beschreibe sie in den Tagebüchern.« Mister G. hielt mir einen kurzen Vortrag über die Spinnen, den ich nicht wiedergeben kann, weil ich weder die Spinnenarten noch die Literatur über die Spinnen und die wichtigsten Abhandlungen der verschiedenen Wissenschaftler kenne, die sich damit befassen. Aber nun ging ich während meines dreitägigen Aufenthalts in Nara Jeden Tag mit Mister G. auf seine Spinnenexkursionen, schon am frühen Morgen, des Mittags und am Abend mit einer Taschenlampe. In dieser uralten Stadt, die vor tausend Jahren die Hauptstadt Japans war und jetzt für die Stille der Kiefern existiert, die Stadt von einmaliger Architektur, die Stadt der heiligen Hirsche -in dieser Stadt sah ich noch viel Geheimnisvolleres als den hünenhaften Daibutsu: das geheimnisvolle, grausame und tragische Leben der Spinnenarten, bei denen die Weibchen die Männchen in dem Augenblick auffressen, nachdem die Männchen sie befruchtet haben, bei denen der Stärkere im offenen Kampf über den Schwächeren siegt oder aber der Schwächere, der schlauer ist, den Stärkeren besiegt, der zwar stärker, aber dümmer ist; Spinnen, bei denen es keinerlei Gleichheit gibt, außer der Gleichheit der Kraft, und bei denen alles von einem einzigen Gericht besiegelt wird - dem Tod. Am Morgen, am Tage und am Abend, in den Walddickichten der Stadt Nara, an den Wänden unseres Hotels, im Halbdunkel der Tempel, berührte ich mit den Händen und der Geschicklichkeit des Mister G. das Geheimnisvolle, das lebt, um zu leben - entgegengesetzt dem Dasein der Ameisen, der Bienen und des Menschen -, das in der entsetzlichen Einsamkeit durch Raub und Tod lebt. 78
Um ein Uhr nahmen wir den Lunch ein, und nach dem Lunch gingen Mister G. und ich auf unsere Zimmer und setzten uns an das Papier, unsere Frauen bummelten fleißig durch die Stadt, um fünf Uhr trafen wir uns alle zum Tee, und nach dem Tee gingen wir in die Stadt - im Schatten der wuchernden Kiefern. Am Abend erhob sich der Mond, den der Wind kennt. Der japanische Juni kam, der Monat des Schimmels, und eines Tages sanken über Nara die Wolken, als ob Nara, die heilige Stadt, mit uns und allen unseren Sünden in den Himmel hinaufgestiegen sei. So sind diese drei Tage vergangen, die in meinem Gedächtnis die heilige Stadt Nara mit den Geheimnissen des wölfischen Daseins der Spinnen vermischt haben und die von der Stille der Kiefern und der von den Kiefern würzigen Sonne erfüllt sind. In der Dämmerung, vor dem Dinner, las Mister G. im Leseraum regelmäßig Zeitungen und Bücher. Er saß vor dem grünen Lampenschirm mit gesenktem Kopf, den er mit der Handfläche stützte. Ich beobachtete ihn: Lange, lange Zeit war sein Gesicht unbeweglich, und nicht einmal die Augen blinzelten, seine so müden Augen. Mrs. G. war jung, schön, schwarzhaarig, eine amerikanisch erzogene Frau, frei und würdevoll … Ich bin ein Mann, und außerdem nehme ich jede Frau wahr wie ein Mann. Und diese verheiratete Frau reiste durch die ganze Welt, eine junge Frau, die noch die ganze Zukunft vor sich hatte. Abend war es, zu viert kehrten wir von einem Ausflug zu den Spinnen zurück, ich reichte Mrs. G. die Hand, um ihr zu helfen, auf die kleine Brücke heraufzukommen; ich will in keiner Weise das Andenken an sie beleidigen, aber damals, als sie ihre Füße auf die Stufen der kleinen Brücke setzte, spürte ich als Mann plötzlich, wie wundervoll diese Frau war. Sie schrieb Gedichte, und ich bat sie an jenem Abend, mir ihre Gedichte zu übersetzen und mir in ihrer althebräischen Muttersprache vorzutragen. Es waren nächtliche Mondscheingedichte; Mrs. G. hatte ein Gedicht verfaßt über ihr Haar, über das üppige, pechschwarze Haar, das aufgelöst über die Schultern fällt und in dem sich unter dem Mond dessen blaues Licht widerspiegelt. Bei der Dämmerung, im Lesesaal, sah ich mir genau sein Gesicht, das Gesicht ihres Mannes an, dieses Menschen, den ich wie einen Vater betrachtete, der durch die Welt von einem Ende zum anderen wandert, den zu fragen, warum er kein eigenes Heim habe, ich mich 79
genierte, der aber echt amerikanisch ein Wanderer war und der genau kalkuliert hatte, daß wir uns in Moskau im Januar 1928 wiedersehen würden, ein Mensch, der ein Buch über die Spinnen schrieb, das nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Sein Gesicht war sehr müde, nicht durch physische Erschöpfung, sondern durch die Erschöpfung des Nachdenkens … Aber das Bild des Gedichtes von Mrs. G., die unter dem Mond wie auf dem Meer leuchtenden Haare, werde ich niemals vergessen . . . »Voller Mond – ein langer Abend« – »Der Mond streut den Tau« – »Wind und Mond – einer kennt den anderen« . . . Wir trennten uns von den G.s in der Stadt Kioto, wohin uns das Ehepaar begleitete. Wir stiegen von Naras Bergen zu den Tälern Kiotos herab, zu dieser Stadt der kaiserlichen Schlösser und Paläste, der Klöster, Museen und Tempel, der Stadt des Mikado aus den Epochen des Feudalismus. Und die Stadt Kioto empfing uns mit schimmeligem, wie in der Sauna warmem japanischem Regen. Der Regen strömte den ganzen Tag, während der Abenddämmerung und noch während der ganzen Nacht: ein Platzregen, eine Wand von Wasser. Im Hotel in Kioto fühlten wir uns freier. Es war ein Abend des Abschieds, und wir trafen uns ungezwungen und schlicht zu viert in meinem Zimmer. Mir war es klar, daß dem Ehepaar meine Gesellschaft gefiel, nicht aus Gründen, die von meiner Individualität abhingen, sondern einfach darum - wie es auch klingen mag -, weil bei den ersten Worten, als Mister G. seine Nationalität betonte, dies für mich nicht wie für so viele Europäer Anlaß sein konnte, ihn nicht mehr zu kennen. Wir saßen in meinem Zimmer, das so eingerichtet war, als ob es die ganze Ungemütlichkeit aller Hotelzimmer der Welt einschließen wolle. Hinter den Fenstern ergoß sich der eigenartigste Regen, hinter den Fenstern lag die Stadt Kioto mit ihren Schlössern, Museen, Tempeln. Mir wurde klar, warum die Japaner eine besondere Vorliebe für Lackerzeugnisse haben, – in diesem Regen wirkte die Stadt wie aus grauem, ebenfarbigem Eichenholz erbaut, und alles war wie mit Lack überzogen: der Himmel, das Pflaster, die Häuser, die Tempel, die Parks und die Schwäne hinter dem Fenster meines Zimmers, vor dem Kanal im Garten, im Schütze der Bäume. In diesem Zimmer, einem Hotelzimmer wie in einer beliebigen Stadt der Welt, verabschiedeten wir uns. Mister G. schenkte mir ein in Brokat gebun80
denes Büchlein für Eintragungen von Erinnerungen, und als erster schrieb er mir in das Büchlein in seiner uralten Sprache: »Eine hundertjährige Last hat Rußland auf meine Schultern gebürdet. Die Knie beugten sich unter dieser Last auf vielen Umwegen. Ich nähere mich wieder diesem Lande. Das neue Leben in Rußland, hoffe ich, wird meine Last erleichtern und meine Befürchtungen zerstreuen, und eine solche Hoffnung wächst in mir, wenn ich mit Ihnen spreche, Boris Pilnjak.« Wir verabredeten, uns in Moskau im Januar 1928 zu treffen. Und dann fragte ich ihn, was ich früher mich geniert hatte zu fragen. Ich fragte, warum er ein solches Schicksal gewählt habe, das kein Zuhause kennt, das sein Heim, in Koffern verpackt, mit ihm durch die Hotelzimmer der Erde ziehen läßt? Warum er nur immer, zusammen mit seiner Frau, durch die Welt wandere. Er antwortete mir: »Ich reise durch die Welt - nicht um anzukommen, sondern um fortzufahren. Ich wandere durch die Welt, nicht, weil ich noch nicht Gesehenes sehen will, sondern deshalb, weil ich das Gesehene nicht sehen kann.« Er schwieg. Dann sagte er noch: »Es gibt keinen Platz mehr auf dieser Welt.…«, aber er beendete seinen Gedanken nicht. Ich schämte mich, ihn etwas über Spinnen zu fragen. Ich sah in die mit Lack überzogene Finsternis hinaus, auf die lacküberzogenen Laternen der Stadt und auf den Tempel vor dem Hotel. In der Nacht, als wir zum Schlafen auseinandergingen, schrieb ich in mein neues Buch zum Andenken: »Wie groß ist die Erde - wie klein ist die Erde. Ich habe in Japan gelernt, daß alles fließt und alles vergeht. Heute kam ich hierher aus Nara, morgen werde ich in Kobe sein und dann - die Weiten des Stillen Ozeans, unendliche Weiten …« Ja. Nara ist doch die einzige Stadt in der Welt, die aufgehört hat, eine Stadt der Menschen zu sein, um eine Stadt der Edelhirsche zu werden.
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Erde an den Händen Im Sommer, in den ersten Junitagen, muß man in den russischen Provinzstädten schon früh morgens die Fenster öffnen, damit die vom leisen Juniwind bewegte Luft die Räume durchzieht. Die Räume sind dann erfüllt von Kühle und grünem Licht, das von den Linden und von den Ahornbäumen aus dem alten Obstgarten kommt. Der wilde Wein entlang der Terrasse versteckt das Gold des Tages hinter seinem Grün. An solchen Tagen ist der Mensch mit der Erde eins. Es war an einem solchen Morgen, als der Mann bei offenem Fenster, in der von der Terrassentür gegenüberliegenden Ecke, am Schreibtisch über Papieren und in Gedanken saß, während seine Frau draußen im goldenen Morgen, inmitten der Fliedersträucher, die kleinen Blumenbeete im Obstgarten umgrub. Hin und wieder kam sie auf die Terrasse, ein Tuch um den Hals und die Hände von den Hüften gespreizt, um das Kleid nicht zu beschmutzen. Es ist ein seltenes, ein sehr seltenes Glück, der Erde in Freundschaft verbunden zu sein — das Glück einer von Liebe, Vertrauen und Treue erfüllten Ehe. Dieses Glück des Vertrauens, der Freundschaft, der Liebe und der Harmonie lebte in diesem Hause. Dieses Glück ist nur bei Menschen zu finden, deren Denken und Tun edelmütig ist, und diese beiden waren wertvolle, einfache und fleißige Menschen; er soziologischer Schriftsteller, sie Kunstmalerin, Menschen, die einander begegneten, als er schon über fünfunddreißig und sie über dreißig Jahre alt war. Es ist eine süße, muskelermüdende Erholung, in der Erde zu wühlen, Tabak und Reseda in die Beete zu setzen und allerlei Unkraut zu jäten; es ist wundervoll, über die Erde gebeugt zu wissen: Was man in die Erde hier pflanzte, wird wachsen. Auch der Mann hatte neben seiner Frau die Beete umgegraben, bevor er sich zu den Büchern setzte. Mit den Büchern auf dem Schreibtisch kamen die gewohnten Gedanken, Zahlen, Vergleiche, Zitate, Widersprüche, Formeln, kam die wirkliche Arbeit, kamen jene Stunden, in denen bei Gelehrten wie bei Künstlern die Augen völlig abwesend, blind und völlig gleichgültig sind für die Welt, die außerhalb der Bücher liegt. 82
In dieser Gleichgültigkeit hörte der Mann, wie ein Unbekannter, der einen breitkrempigen Hut und einen kleinen Koffer trug, durch die nicht verriegelte Pforte in den Hof trat. Der Ankömmling sagte zum Fenster herein, er wolle zu Anna Andrejewna. Ohne den Kopf von den Papieren zu erheben, erwiderte der Mann, sie sei im Garten. In dieser Gleichgültigkeit bemerkte er nicht, nach welcher Zeit seine Frau in Begleitung des Unbekannten über die Terrasse das Zimmer mit erdbeschmutzten Händen betreten hatte. Er sah das Gesicht seiner Frau nicht. Der Fremde verneigte sich und sagte: »Wenn Sie gestatten, möchte ich noch einige Minuten allein mit Anna sein.« Und Anna sagte: »Ja, ich gehe mit Sergej in mein Zimmer, Pawel.« Wieder sah der Mann das Gesicht seiner Frau nicht, und wieder verging eine Zeit, in der die Augen fern der Welt waren und in der die Welt ganz in den Büchern aufging. Anna kam aus ihrem Zimmer zurück. Pawel hob die leeren Augen und sah, daß die Hände seiner Frau – erdbeschmutzt wie vorher – hilflos herabhingen, daß ihre Augen voller Tränen der Hilflosigkeit waren. Die Welt der Dinge kehrte zu Pawel zurück. Da begann der Fremde zu reden. Anna stand mit dem Rücken gegen beide in der Terrassentür; das Gold des Tages umrandete den wilden Wein und brach sich an ihren Schultern. »Pawel Andrejewitsch«, sagte der Unbekannte und schwieg lange. »Pawel Andrejewitsch, wir beide sind – keine Diebe. Mich bewegen menschliche Gefühle.« Er schwieg eine Zeitlang, um seine Gedanken in klare Sätze zu fassen. »Dreizehn Jahre habe ich Anna nicht gesehen, und in all diesen dreizehn Jahren war ich in meinen Träumen und Gedanken bei ihr. Sie wissen, wir haben uns in Paris getrennt, und ich ging als russischer Soldat an die französische Front. Sie wissen, daß Anna in ihrer Jugend mit mir gelebt hat, aber Sie wissen auch, daß weder Anna sich selbst noch Sie ihr deshalb irgendeinen Vorwurf machen können. Die Erde ist groß genug, um sich auf ihr verirren zu können. Ich komme zu Anna, nachdem ihr beide bereits acht Jahre Eheleben hinter euch habt. Wir sind schon sehr gereifte Menschen. Ich weiß nicht, was ich Ihnen vorschlagen soll... Was werden Sie nun sa83
gen, Pawel Andrejewitsch? Ich wußte nicht, daß Anna geheiratet hat.« Vor Pawel stand jener Mann, dessen Andenken sie in ihrer Ehe bewahrt hatten: Annas erster Mann, ein wertvoller Mensch, ein alter Mann stand da, ein ergrauter Kunstmaler, der einst dem Mädchen Anna die Kunst der Malerei und den Wert des Lebens gelehrt hatte. Die Augen dieses alten Mannes waren gut, und sie blickten Pawel liebevoll und fassungslos an. Sie konnten nicht anders blicken, denn im Zimmer war die Geliebte, die einzige Frau, und der Mensch, dem diese Augen gehörten, war gut. Pawel dachte daran, daß auch er grau war, vorzeitig ergraut und gealtert in den Jahren der russischen Revolutionsstürme, und daß seine Augen genauso gut und hilflos waren. Zwei Menschen standen sich gegenüber, einer dem anderen sehr ähnlich, denn nicht umsonst liebte Anna den einen wie den anderen. Pawel erinnerte sich jetzt, wie Anna von dem jungen und schönen Kunstmaler Sergej erzählt hatte, als einem Menschen von sonniger Helle und aufrichtigem Herzen; diese Erinnerungen an all das von Anna Erzählte vermischten sich jetzt mit dem Bilde dieses guten, alten Mannes, mit dem Eindruck dieser liebevoll und müde blickenden Augen. Dieser Mensch war von den Toten auferstanden! Und Pawel sagte fassungslos: »Wie haben Sie sich verändert, Sergej … Sergej … Sergej Iwanowitsch!« Die beiden Männer lächelten einander an, fast abwesend. Pawel streckte die Hand aus. Und während er die des anderen hielt und fest drückte, fühlte er in der Wirbelsäule, im Rücken, an den Schulterblättern ein nervöses Schaudern. Anna liebte in ihrem Leben nur sie beide. Sie bewahrte das Andenken an Sergej, wie auch er, Pawel, das Andenken dieses Menschen ehrte, der seine Frau geliebt hatte und von dem Anna ein Schreiben des französischen Infanterieregimentes aufbewahrte, in dem es hieß, daß der russische Kunstmaler Sergej Iwanowitsch Lawrenew, gemeiner Soldat dieses Regiments, in der Schlacht bei Verdun gefallen sei. Dieses Andenken – heilig und geheim, und besonders heilig und geheim, wenn es geehrt wird – war zwischen den dreien. Die erste Liebe gab Anna Sergej, die letzte hatte Pawel empfangen. Pawel ehrte das Andenken an Sergej, er erinnerte sich, daß er zartfühlend niemals in all den Jahren ihrer Liebe – kein einziges Mal – seine Frau über die 84
Gefühle zu Sergej befragt hatte und niemals sich mit ihm verglichen hatte in der Bewahrung des Andenkens. Pawel hielt Sergejs Hand. Und in der Wirbelsäule, an dem Schaudern im Rücken fühlte Pawel, daß er von diesem Augenblick an Anna – nicht einmal in seinen Gedanken – seine Frau nennen könne, denn wahrhaftig, er war ja, wie es Sergej gesagt hatte, kein Dieb! Er hielt lange Sergejs Hand. Die Augen Sergejs waren reglos. Pawel sagte: »Ja, Sergej, natürlich bin ich kein Dieb.« Anna wandte sich ihnen zu. Anna trat an sie heran. Ihre von den Hüften gespreizten Hände waren wie versteinert. In ihren Augen standen Tränen. Sergej streckte ihr die Hände hin, die Handflächen nach oben, und Anna senkte die Augen. Da begriff Pawel, daß dieses die gewohnte Geste Sergejs war, die Anna von früher kannte. Auch er senkte die Augen, wie es Menschen tun, die ihre Augen aus Scham senken, um nicht zu sehen, was nicht gesehen werden soll. Anna verstand die gesenkten Augen Pawels, und ihre Hände streckten sich ihm entgegen. Pawel sah es nicht, und Anna blieb mit ausgestreckten Händen stehen. »Ich gehe mir die Hände waschen!« rief Anna. »Geh«, sagte Pawel. »Anna, Pawel Andrejewitsch«, begann Sergej zu reden, und seine Lippen zuckten vor körperlichem Schmerz, »Anna, liebe Annuschka, wenn du es willst, gehe ich sofort weg, für immer, Annuschka ... Ja, ich bin sehr gealtert, Pawel Andrejewitsch, sehr gealtert.« Anna ließ sich kraftlos auf einem Stuhl neben dem Tisch nieder, das Waschen der Hände hatte sie vergessen. »Nein, was denn, was denn …«, begann Pawel, »Anna hat so wunderbar von Ihnen erzählt. Wir haben einige Fotografien von Ihnen, und mir schien, daß … daß das Bild, das ich mir von Ihnen machte … was denn, was denn, Serjoscha?!« Pawel nannte Sergej so, wie er und Anna ihn nannten, wenn sie seiner gedachten. »Nein, warten Sie, Serjoscha, Sie haben sich nur im Vergleich mit der Fotografie verändert.« Annas erdbeschmutzte Hände streckten sich Pawel entgegen, mit der gleichen Geste, mit der gerade erst Sergejs Hände sich Anna entgegengestreckt hatten. Diese Geste – Pawel begriff– hatte Anna von Sergej angenommen. Pawel faßte mit beiden Händen die Hände Annas und küßte die Erde an ihnen, küßte die schwarze, feuchte Erde mit al85
ler Zärtlichkeit, die er für diese Frau empfand. Er wischte die Erde von den Lippen und sagte zu sich selbst: »Ja … die Mutter Erde.« »Nein, Annuschka« – er ertappte sich dabei, daß er Anna bei dem Namen nannte, den ihr Sergej gegeben hatte –, »nein, Anna, ich bin kein Dieb. Ich habe jetzt begriffen, daß ich dich, wahrscheinlich genausowenig wie Serjoscha, nicht mehr meine Frau nennen kann, bevor du mich nicht deinen Mann nennst.« Pawel wischte sich noch einmal die Erde von den Lippen. »Wieviel Seltsames birgt doch die Zeit? Da sind wir also zu dritt, wie soll man es sagen? Das Schönste in meinem Leben war das, was Sie vor mir gekannt haben, Serjoscha, und ich habe das kennengelernt, was für Sie das Heiligste und Ihr alleiniges Geheimnis war. Ich finde keine Worte.« Anna erhob sich. Eine Sekunde lang stand sie unbeweglich. Ihre Willenskraft hatte sie verlassen. Ihr Hals begann wie die Sehne eines Bogens zu zittern. Sie ging zu Sergej hin und umarmte ihn. Pawel und Sergej begriffen: Als Anna die Hände Pawel entgegengestreckt hatte, verteidigte sie Sergej, und als sie nun zu Sergej ging, verteidigte sie Pawel. Den Kopf in die Schultern eingezogen, die Wange an Sergejs Brust, begann Anna zu sprechen: »Ich habe Angst, Serjoscha, ich habe Angst, Pawel. Wie habe ich auf dich gewartet, Serjoscha, damals, als du an die Front gingst, wie furchtbar schwer und hart hat mich die Nachricht von deinem Tode getroffen, als ich wieder in Rußland war. Du weißt, wie ich dich geliebt habe. Nun bist du gekommen … wie froh ich bin! Nein, das sind nicht die richtigen Worte … Du bist zurückgekehrt, du bist wiedergekommen, und ich liebe dich. Aber ich liebe auch Pawel. Ich habe einen Sohn; es ist mein einziges Kind, und ich werde keine Kinder mehr bekommen. Ich habe große Angst … Ich weiß mir keinen Rat, Pawel, hörst du? Ich weiß gar nichts ...« Pawel trat auf sie zu, umarmte Anna und Sergej und lehnte seinen Kopf an Annas Schulter. »Annuschka«, sagte Pawel, und wieder nannte er Anna auf Sergejs Weise, aber er verbesserte sich nicht, »Annuschka, Geliebte, du weißt … du weißt, daß ich wie auch Serjoscha nur dein Glück, daß wir dein Glück wollen … Du weißt … Wir warten auf das, was du sagen wirst.« 86
Pawel verlor die Worte in der großen, wundervollen, glückseligen Liebe zu Anna, in der Dankbarkeit des Menschen für das Menschliche, für das Menschliche, das Anna geschaffen hatte. Er verstummte, senkte den Kopf. Er wollte in Annas Gesicht schauen, aber er konnte nicht sofort ihre Züge erkennen. Im Raum war es dunkel geworden, hinter den Fenstern verblich der Tag. Jene Selbst-Vergessenheit, die Gleichgültigkeit gegen die Zeit, die Pawel in den Stunden seiner Arbeit überkam, war in dieser Stunde, über sie alle gekommen, als sie zu dritt einander umarmt dastanden und die Zeit zum Stehen gebracht hatten. Um sie war das lichte Dunkel einer weißen, russischen Juninacht. Die Erde strahlte ihr Gold aus. Im Zimmer roch es nach Levkojen. Ein Rotkehlchen sang im Garten. Annas Gesicht mit den geschlossenen Augen war blaß. Ihre erdbeschmutzten Hände hingen hilflos über Sergejs Schultern, so, daß sie seine Jacke nicht beschmutzten. »Es ist schon Nacht«, sagte Pawel verwundert. »Annuschka, geh und wasch dir die Hände ab, du hast sie voller Erde.« Pawel nahm Annas Hand und küßte zärtlich die Erde an Annas Hand. Annas Gesicht war glücklich. Sie ging zur Tür ihres Zimmers, um die Erde von ihren Händen abzuwaschen. Alle Fenster standen offen, und durch das Haus zog die grüne Abendluft. In solchen Stunden ist der Mensch mit der Erde eins.
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Das blaue Meer Im November 1854, in den Tagen des Krimkrieges, ging das englische Kriegsschiff ›Schwarzer Prinz‹ in der Nähe der Küste vor Balaklawa im Schwarzen Meer unter. Die Menschheit führt Register über alle Schiffe, die die Meere der Erdkugel befahren. Der ›Schwarze Prinz« war ein englischer Kriegstransporter, das erste Schiff der englischen Flotte aus Eisen, ein Zweieinhalbtausendtonner mit vier Dampfkesseln, der auch Segelausrüstung besaß. Das Schiff gelangte am zwölften November 1854 an die Krimküste. Die Bucht von Balaklawa hielt die Flotte der Alliierten besetzt, die mit Rußland in Kriegshandlungen verwickelt waren und Sewastopol stürmten. Am zwölften November ging der ›Schwarze Prinz‹ auf der äußeren Reede von Balaklawa vor Anker und löschte die Kessel. Das Schiff brachte vier Millionen Pfund Sterling in Gold aus England mit – das sind vierzig Millionen russische Rubel in Gold –, die zur Soldzahlung an die englischen Soldaten dienen sollten; die englische Königin Victoria, die Rußland nicht wohlgesonnen war, hatte dem ›Schwarzen Prinzen‹ einen mit Brillanten besetzten Degen für den englischen Oberbefehlshaber mitgegeben. Am vierzehnten November, um die Mittagszeit, tobte über das Schwarze Meer ein unheimlicher Sturm, von dem die BalaklawaFischer bis zum heutigen Tag mit Schaudern sprechen; der Wasserstaub der Wogen zischte damals bis an die genuesischen Türme, die fast fünfhundert Meter hoch über dem Meer standen. Dieser Sturm blieb im Gedächtnis der Menschen durch den Untergang der zweiunddreißig Schiffe des alliierten Flottengeschwaders, die vor Balaklawa zerschellten Unter ihnen war der ›Schwarze Prinz‹. Der russische Geschichtsschreiber des Krimkrieges, Generalleutnant Bogdanowitsch, berichtet über diesen Sturm und den Untergang der Schiffe: »… Vergebens warfen die französischen und englischen Schiffe die Anker ins Meer; die tosenden Wellen zerrissen die Ketten und trieben die Anker ab; die Schiffe, Spielzeuge des Sturmes, prallten aufeinander, zerschellten und versanken im Abgrund des Meeres. Es war den Matrosen unmöglich, sich auf Deck zu bewegen, sie mußten sich an irgendwelchen Gegenständen festklammern …« 88
Vom Untergang des ›Schwarzen Prinzen‹ ist nichts oder nur sehr wenig bekannt. Der Sturm warf das Schiff gegen die Küste, Die Kessel waren gelöscht. Es gab keine Möglichkeit mehr zu kreuzen, mit den Segeln zu manövrieren und beizudrehen. Die Anker hielten nicht stand. Der Kapitän befahl, die Masten zu kappen, um die Anker zu entlasten. Als die Masten ins Wasser fielen, geschah das Unheil. Der Besanmast stürzte gegen den Wind ins Wasser, bevor die Trossen abgehackt waren. Der Mast wurde unter den Achtersteven geschleudert, die Taue wickelten sich um das Ruder, das Schiff war steuerlos. Die Katastrophe ließ sich nicht mehr abwenden. Der Kapitän gab den letzten Befehl: – Rette sich, wer kann! Von den zweihundertfünfundfünfzig Mann der Besatzung konnte sich nur einer retten, der später über die letzten Stunden des ›Schwarzen Prinzen‹ berichtet hat. Sonst wüsste niemand etwas über die Vernichtung des stolzen Kriegsschiffes. Die ganze Nacht raste der Sturm, und erst am Morgen des fünfzehnten November schimmerte das Meer in blauer Stille unter blauem Himmel in der goldenen Sonne. Mit dem ›Schwarzen Prinzen‹ und seinen zweihundertvierundfünfzig Seeleuten versank in den Fluten auch der Brillantenbesetzte Degen der Königin Victoria. Der genaue Ort des Unterganges ist unbekannt, übrigblieb allein die Legende vom Goldschatz auf dem ›Schwarzen Prinzen‹, vom Gold, das man finden und heben könnte; eine grausame Legende, denn die Sucht nach Gold und Reichtum ist eine der fürchterlichsten und verhängnisvollsten Kräfte, welche die Menschheit bewegt. Auf dem Malachow-Hügel, zur See hin, wurden während der Beschießung von Sewastopol Zielpuppen als Wachposten und die Toten als Kampftruppe postiert; insgesamt verschoß man neun Millionen Kilogramm Pulver, zwei Millionen Artilleriegranaten und fünfundvierzig Millionen Stück Gewehrmunition. Das ist vergessen. Aber das Gold des ›Schwarzen Prinzen‹ ist nicht vergessen: Engländer, Franzosen, Italiener, Rassen, Griechen suchten fieberhaft und fanden nichts, denn nicht einmal die Stätte des Unterganges war bekannt.
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II Das blaue Meer, die blauen Weiten und die Sonne – viel gibt es davon auf dieser Welt! In den Dezembermonaten, den langen Wintern und Nächten, denke ich oft an jene südlichen Länder, die man als ein Paradies bezeichnet und die von der Sonne und dem Blau überschwemmt sind. Ich erinnere mich an das Schwarze Meer, das Marmarameer, das ägäische Gestade, das Meer bei Tsushima und den Stillen Ozean um Japans Küsten, ich erinnere mich an die Länder, die von diesen Meeren umspült sind. Bei der Erinnerung sehe und fühle ich immer die Sonne und das Blau, die unwahrscheinliche Sonne und das Blau, das Blau des Himmels, das Blau des Meeres, das Blau der Weiten - es ist das Wundervollste auf der Welt. Und eines Tages sagte mir in meinem Haus an der Powarskaja-Straße in Moskau mein Freund, der japanische Literat Kuroda Otokitschi, er wolle morgen für vierundzwanzig Stunden zur Krim an die Küste von Balaklawa fahren, wo seine Landsleute auf dem Meeresboden nach dem Gold des ›Schwarzen Prinzen‹ suchten. Ich dachte an das Gold der Sonne, an den Zauber des Blaus – ich beschloß, auf den Meeresboden hinabzusteigen - und fuhr mit Kuroda in einer Nacht an die Krim. Es zeigte sich, daß eine Reise im internationalen Sonderwagen der russischen Fernzüge interessante Erlebnisse bieten kann. In Griechenland habe ich in den Ruinen der hellenistischen Kultur die Spuren der Genueser gesehen. Ich kenne die Türken, sie gleichen wie Brüder den Krimtataren. Ich war in England und kenne diese Beherrscherin der Meere. Ich war auch in Japan, aber ich konnte mir keinen Japaner in Balaklawa vorstellen. Der Ort hieß vor Christi Geburt bei den alten Griechen Simwolon, bei den Genuesern Tschembalo und im fünfzehnten Jahrhundert bei den Türken Balaklawa. Bis zum heutigen Tag sind die Ruinen der genuesischen Festung und die marmornen Wege der alten Griechen erhalten geblieben. Ich wollte selbst den Ort besuchen, wo einst die Griechen, Genueser, Türken, Engländer und Japaner gelebt haben. Der Eisenbahnwagen war in Stille gehüllt - während der Nacht von Moskau bis Kursk und auch an dem endlosen Tag des Nichtstuns von Kursk bis Alexandrowsk. 90
III In Sowjetrußland besaß eine gewisse Behörde das »Talent«, nicht nur in die Weiten und die Zukunft, sondern auch viele Meter tief unter die Erde und das Wasser zu sehen. Diese Behörde hieß GPU*. Der unseligen GPU waren neben dem vielverzweigten Apparat auch andere Wirtschaftsorganisationen unterstellt, darunter die EPRON**, eine Organisation, die vom Meeresboden versunkene Schiffe hob. EPRON hatte eine Schule für Taucher, die man nach Männetradition nicht als Schule, sondern als Trupp bezeichnete. Den Tauchtrupp leitete Doktor K. A. Pawlowskij, die Taucher Tschumak, Galjamin und Fedotow fanden auf dem Meeresboden die Reste des Kriegsschiffes. Die Ehre der Entdeckung des untergegangenen ›Schwarzen Prinzen‹ samt dem legendären Goldschatz gehörte zwar Doktor Pawlowskij, aber die Anrechte darauf blieben allein der EPRON. Man war davon überzeugt, daß das Schiff in sehr großen Tiefen lag, und deshalb nicht gefunden werden konnte, denn der Tauchertrupp arbeitete zur Ausbildung der jungen Taucher in verhältnismäßig kleinen Tiefen. Hier sind die Aufzeichnungen aus dem Tauchertagebuch während des Einsatzes, als der ›Schwarze Prinz‹ entdeckt wurde. »17. November 1925. Um 6 Uhr 50 wurde der Taucher Tschumak hinuntergelassen, um die zweite Hälfte des Quadrates III/a zu erforschen. Es gibt nichts als festen Boden und Steine, Sicht gut, Tiefe 12 bis 15 Meter. Das Absuchen des ganzen Quadrates erbrachte keinerlei Ergebnis. Vom Quadrat III/s aus bemerkte der Taucher im Quadrat III/2 irgendeinen großen Gegenstand, auf den er zuging. Er stellte fest, daß er aus Eisen war und einem Dampfkessel ähnelte. Um 9 Uhr 20 wurde der Taucher heraufgeholt. Um 9 Uhr 30 stieg der Taucher Galjamin zur sorgfältigen Untersuchung des von Tschumak ausgemachten Gegenstandes hinab. Er bestätigte, daß es sich um einen Schiffskessel handelt. Etwas rechts davon entdeckte er einen genau gleichen Kessel, schon stärker von Tang bewachsen und stark beschädigt. Er ging weiter und fand einen * GPU - Staatssicherheitsdienst. ** EPRON - Expedition für unterseeische Arbeiten besonderer Bestimmung. 91
dritten Kessel, der noch mehr von Gewächsen bedeckt und völlig zerborsten war, und nicht weit von dem dritten lag ein vierter Kessel, ebenso zertrümmert. Dicht beim vierten Kessel fand man einen Schornstein und zwei Eisenbänder vom Mastkorb. Es wurden zwei Bruchstücke vom Schornstein und ein Eisenteil, wahrscheinlich ein Stück vom Deck, auf die Barkasse gehoben.« »19. November. Der Taucher Tschumak entdeckte auf dem Meeres-grund große Eisentrümmer. Einen Schornstein, Dampfkessel und zwei Spanten. Unter Gestein fand er eine unversehrte Schrapnellgranate und noch eine weitere, jedoch zertrümmert, außerdem ein medizinisches Hörrohr mit englischer Beschriftung über Firmenbezeichnung und Stadtangabe, einen Tontopf und eine Kupferleiste von einer Luke. Der Taucher Gawril Fedotow brachte eine uralte Handgranate und das Rohr eines Kessels nach oben.« »10. Dezember … Auf dem Meeresgrund wurde ein Teil der Schiffs-seite mit Spanten und mit drei Bullaugen gesichtet . . .« »14. Dezember . . . die Taucher sahen auf dem Meeresgrund Berge von Eisen … Der Taucher Woronkow sah ein Stück Bleirohr unter einem Stein herausragen. Aber auch mit Hilfe einer Winde gelang es ihm nicht, das Rohr freizubekommen ... Es ist notwendig, die betreffende Stelle von Felsbrocken freizulegen, erst dann wäre es möglich, viele Gegenstände nach oben zu heben. Es wäre interessant, versuchshalber einen dieser Felsblöcke zu sprengen, um festzustellen, was darunter liegt.« Zwischen dem siebzehnten November und vierzehnten Dezember enthielt das Tagebuch noch folgende Eintragungen: »20. November. Um 3 Uhr 40 kam aus Richtung Schajtan-Dere ein heftiger Stoßwind auf. Der Taucher wurde heraufgeholt und die Barkasse mußte in der Bucht von Balaklawa Schutz suchen.« »26. November. Auf dem Meer herrschte starker Seegang. Der Taucher Stepan Fedotow wurde hinabgelassen, doch die unruhige See schaukelte ihn heftig hin und her. Wir zogen ihn wieder hoch und fuhren Kurs Balaklawa.« »Der 1., 2., 3. und 8. Dezember. Auf dem Meer ist lebhafter Sturm. Es wurde nicht getaucht.« 92
Nicht ein einziges Mal erwähnte das Taucherjournal den Namen des ›Schwarzen Prinzen‹, obwohl dieser tatsächlich gefunden worden war. Doch niemand konnte annehmen, daß das Schiff nur zweihundertundfünfzig Meter vom Ufer entfernt in der Tiefe von fünfzehn Metern gesunken war, einer Tiefe, die in Tagen der Windstille mit bloßem Auge zu durchdringen ist. Der Trupp ahnte nicht, daß er den ›Schwarzen Prinzen‹ gefunden hatte, in der Fahrrinne, genau inner dem Felsen, auf dessen Spitze die Ruinen des genuesischen Turms Don standen. Die Männer wußten nicht, welches Schiff sie eindeckt hatten und warum es durch die Gesteinsmassen des Felsens begraben worden war. Im Winter ging die Kopie des Taucherjournals nach Moskau in die EPRON-Zentrale. Alle Schiffe, die irgendwann die Meere befahren haben, sind dort eingetragen, denn Schiffe besitzen wie die Menschen einen Paß. Alle Todesfälle der Schiffe sind registriert, genauso wie ihre Namen, Tonnage, Wasserverdrängung, Stärke und Ausrüstung. Erst in Moskau stieß man während der Durchsicht des Taucherjournals auf die Tatsache, daß kein Untergang eines massiven Schiffes bei Balaklawa vermerkt war, außer der Vernichtung des ›Schwarzen Prinzen‹. In englischen Flottenbüchern gab es eine genaue Beschreibung und Zeichnungen vom Schwarzen Prinzen«; man verglich die Zeichnungen und technische Beschreibung mit den auf dem Meeresgrund gefundenen Kesseln und deren Umfang. Der ›Schwarze Prinz« war entdeckt, man hatte gefunden, was von dem stolzen Schiff übriggeblieben war. Der Trupp hatte festgestellt, daß die Schiffsreste unter Felsblöcken begraben lagen. Doktor Pawlowskij schrieb darüber: »Es ist unbedingt notwendig, die Stelle von dem Gestein freizumachen. Doch eine Sprengung wäre nicht zweckmäßig, weil die Blöcke zu groß sind; durch die Sprengung zerstückelt, würden sie die gefundenen Schiffstrümmer noch stärker verschütten. Die weitere Suche ohne Entfernung der Steinmassen würde allerdings ebenso wenig zu neuen Ergebnissen führen.«
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IV Die EPRON hatte dem japanischen Taucher Kataoka-san die Konzession für die Hebung des Goldschatzes gegeben. Kataoka vervollständigte die Kenntnis vom Untergang des ›Schwarzen Prinzen‹ und brachte die Aufklärung, warum man das Kriegsschiff so lange nicht finden konnte. Er hatte den Hergang der Katastrophe in Zeichnungen genau festgehalten und sogar mathematisch errechnet. Der ›Schwarze Prinz‹ war, als das Ruder versagte, zum Spielball des Sturmes geworden. Mit Steuerbordseite wurde er gegen den felsigen Strand geschleudert. Vom Gestein und den Wellen zertrümmert, sank er sofort, nur zweihundert Meter vom Ufer entfernt. Und noch in derselben Nacht, als die Wellen sich fünfhundert Meter hochwarfen zu dem Turm Don, ereignete sich ein riesiger Felssturz. Die Felsen fielen ins Meer, erdrückten den ›Schwarzen Prinzen‹ und verbargen ihn vor dem menschlichen Auge. Unheimlich mußte jene Nacht gewesen sein, in der Novemberdüsternis und im peitschenden Regen, in der Sturmflut und im Orkan, als die Schiffe gegen die Felsen geschleudert wurden und die Felsen das Eisen und die Menschen, die das Eisen geschmiedet hatten, vernichteten. Wir kamen in Balaklawa zu einer Zeit an, als täglich fünfundzwanzig Japaner auf den Meeresboden hinabstiegen und die gewaltigen, vierundzwanzig Tonnen schweren Gesteinskolosse entfernten, um die Stelle, an der das Wrack lag, freizubekommen. Kataoka-san, der Leiter des Unternehmens, ein ehemaliger japanischer Kapitän zur See, war bereits ein Mann mit berühmtem Namen; vor dem ›Schwarzen Prinzen‹ hatte er das Gold des japanischen Dampfers ›Jasaka-maru‹ gehoben, der im Jahre 1915, von einem deutschen U-Boot torpediert, in der Tiefe von zweihundert Metern im Mittelmeer versunken war. Die ›Jasaka-maru‹ hatte eine Goldladung an Bord und versank auf offener See, der genaue Standort war nicht bekannt. Die Engländer und Franzosen versuchten deshalb – und auch wegen der Tiefe – nicht, das Schiff ausfindig zu machen. Kataoka dagegen errechnete die Stelle des Untergangs und konstruierte, nach sorgfältigen Berechnungen und einem genauen Studium der Physiologie des Blutes, einen neuen Taucherapparat. Kataoko hob vom Boden des Mittelmeeres, aus der Tiefe von zweihundert Metern, das Gold von Millionenwert und besaß als Taucher von nun an .Weltruhm. 94
111 Während der ganzen Fahrt verließen wir unser Abteil nicht. Kurodasan trug einen Kimono, aus seinem Gepäck verbreitete sich der Geruch Japans im Abteil. Zwischen Gesprächen über den ›Schwarzen Prinzen‹ und unsere japanischen Erinnerungen las ich »Die Geschichte der genuesischen Ansiedlungen auf der Krim«, die Nikolai Mursakewitsch niedergeschrieben und im Jahre 1827 in Odessa veröffentlicht hatte, außerdem eine wissenschaftliche Abhandlung über »Die Vergangenheit von Taurien«. Mein Freund, Kuroda-san, saß mir auf der Polsterbank gegenüber, die Füße nach japanischem Brauch unter sich geschlagen, rauchte, lächelte und schrieb einen Artikel über die Landschaft von Murmansk, wo er eine Woche vor unserer Fahrt nach dem Süden gewesen war. Mit jeder Stunde, die sich der Zug unserem Ziel näherte, wurde es im Wagen schwüler. Die Sonne wurde stärker, sie überflutete unser Abteil mit blauem Licht. Die südlichen Länder, auch Japan, tauchten in uns auf. Am Abend erzählte Kuroda-san von seiner Kindheit in Japan. Nachts sah ich, wie Kuroda im Kimono auf dem Rücken schlief, die Beine kreuzweise übereinandergelegt – kein einziger Europäer hätte so einschlafen können –, und ich dachte darüber nach, wie verschieden doch die Kulturen von Ost und West sind, bis in die Art des Schlafens. Die uralten Klöster und die Sonne weckten uns. In unserem Eisenbahnwagen war es wie an einem Festtag. Die Sonne tauchte die Erde in ihr klarstes Licht. Wie der Flügel eines Vogels winkte uns das Meer aus der Ferne zu. Kuroda-san und ich zogen weiße Anzüge an und setzten zu Ehren dieses feierlichen Tages Tropenhelme auf. Nach der flimmernden, mit dem Rauch der Lokomotive vermischten Schwüle des Tunnels, badete sich der Zug immer wieder von neuem in Licht und Sonne. Dann fuhr er in die Kühle des weißen Marmors, den Bahnhof von Sewastopol, ein. Grün waren die Schatten des Lichtes im Bahnhof. Die Zähne der Tataren schimmerten blau in der Sonne, und die Gesichter der Griechen schienen violett. Rußland war von dem uralten Taurien, der jetzigen Krim, durch die Nacht getrennt. Vor dem Büfett auf dem Bahnsteig, unter den Palmen, stand ein Japaner, der als Dolmetscher geschickt worden war, um uns abzuholen. Er winkte uns mit seinem Strohhut. Wir tauschten unsere Visitenkarten aus. Das breitbrüstige 95
Automobil spuckte, zuckte, wirbelte Staub auf und brauste davon. Pappeln, ein Streifen Meer, ein Karren, das Lächeln unseres Begleiters, ein kurzes Anhalten bei einer Apotheke, deren Bedienung es nicht eilig hatte, und beim Telegrafenamt. Die Taucherexpedition hatte schon ihre eigentliche Arbeit begonnen. Gestern war eine Münze aus Kupfer, mit dem Bildnis der Königin Victoria und der Jahreszahl achtzehnhundertvierundfünfzig, gefunden worden. Kataoka war zur Stunde draußen auf dem Meer. Frühstück und Bad stand für uns bereit. Kataoka würde den Abend mit uns verbringen. Sehr viele russische Früchte und Fische eignen sich gut für die japanische Küche, doch war es unmöglich, irgendwo Reis aufzutreiben, er wurde telegrafisch aus Moskau bestellt. Balaklawa gleicht einem norwegischen Fjord, riesige Felsen hängen über dem Meer und der Bucht. Hoch auf dem Felsen stehen die Ruinen der genuesischen Festung. Das Wasser in der Bucht ist tiefblau. Die Blüten der Pappeln bestäuben die Straße. Die kleinen Häuser kleben in dichten Trauben aneinander. Die Uferstraße ist über zweitausend Jahre alt. Man quartierte uns im Hotel »Rußland« ein, direkt neben dem Haus, das die Japaner gemietet hatten. Und wir lebten ganz japanisch. Der japanische Diener brachte uns den Tee, führte uns ins Bad, das hinter der Küche lag, und steckte uns in ein japanisches Faß mit fast kochendem Wasser. Das Haus war leer, es roch nach Meer und Tusche. Der Schreiber reichte mir seine Visitenkarte. Im Vorraum waren die Taucheranzüge mit den Beinen nach oben aufgespannt, die Anzüge glichen Marsbewohnern. Im Bad reichte man uns japanische Handtücher, mit denen man sich sowohl waschen als auch abtrocknen mußte. Im Eßzimmer wartete das Frühstück auf uns - gesalzene Pflaumen, grüner Tee, Fisch in Soyasoße und Reis. Die Stäbchen, an Stelle von Messer und Gabel, und der Geschmack des Essens brachten mir Japan in Erinnerung. Wir steckten uns Zigaretten aus Virginiatabak an. Ein Motorboot wartete, um uns aufs Meer, zur Arbeitsstätte der Taucher, zu bringen. Der festliche Glanz des Morgens setzte sich noch an der Uferstraße fort; dort promenierten Frauen und Männer, die aus dem Norden hierher in die Sonne des Südens gekommen waren. Ihre unmöglichen Badeanzüge machten die ohnehin nicht gerade schönen »Hellenen« des Nordens noch unansehnlicher. Das Boot begann in der blauen Bucht zu schaukeln, verließ knatternd die Küste, umgeben vom Blau des Wassers und dem Blau des 96
Himmels. Der am Steuer sitzende Japaner schlang sich ein Handtuch um den Kopf. Sein Arbeitsanzug hatte, wie man ihn in Japan trägt, kurze Beine und Ärmel, war zweckmäßig schön und völlig verschieden von der Kleidung der Moskauer auf der Promenade. Im blauen Meer, unter dem Blau des Himmels, unter dem Turm Don und dem überhängenden Felsen, lag, in einem durch Bojen und Fähnchen gekennzeichneten, abgezäunten Wasserfeld, das kleine Tauchergeschwader, ein durch Dampfkraft angetriebener Prahm mit Hebekranen, ein Motorboot, zwei Taucherbarkassen und einige Boote. Auf dem Prahm kam uns Kataoka-san entgegen, ein mittelgroßer Mann mit einem Gesicht, braun wie gebrannter Kaffee. Der Millionär und Mann von Weltruf trug eine mit Öl verschmierte, europäische Arbeitsbluse, doch weiße Handschuhe, wie sie auch, nebenbei gesagt, die übrigen Japaner, Arbeiter und Ingenieure, die auf dem Deck standen, anhatten. Er lächelte und zeigte wunderschöne Zähne, winkte mit seinem Panamahut, drückte unsere Hände und stellte uns den Japanern und dem Russen, Doktor Pawlowskij, vor, jenem, der den »Schwarzen Prinzen« ausfindig gemacht hatte. Zur Stunde, als wir an Bord kamen, wurden die Felsen auf dem Meeresgrund mit Dynamit gesprengt. Nach der Begrüßung äußerte ich meinen Wunsch, einmal in einem Taucheranzug auf den Meeresboden hinabzusteigen. Kataoka-san war einverstanden, wenn es Doktor Pawlowskij, mit anderen Worten: wenn es meine Gesundheit erlauben würde. Wir gingen zur Seite, um alles zu beobachten und zu hören. Die Taucher, großen Käfern oder deren Larven ähnelnd, stiegen ins Wasser und ließen die Blasen der verbrauchten Luft hochsteigen. Auf dem Meeresgrund legten sie Dynamit und Minen unter die Felsen und kamen wieder nach oben. Die Boote schwammen fächerartig auseinander. Der Sprengmeister schaltete den Strom ein. Das Wasser schrie und zuckte auf. Die Boote näherten sich einander wieder. An der Oberfläche trieben getötete kleine Fische. Die Japaner fingen sie geschickt, rissen ihnen mit dem Daumennagel die Köpfe ab, warfen das Innere weg, aßen roh die noch zuckenden Fische und spukten deren Schwänze ins Wasser. Ein Taucher verschwand wieder wie eine unheimliche Käferlarve unter dem Wasserspiegel, gab Signale und befestigte Trossen um die wohl fünfhundert Zentner schweren Felsblöcke. Der Hebekran begann zu kreischen, und der Prahm schleppte an der 97
Winde diese Blöcke weiter in die Tiefe. Doktor Pawlowskij, in der Uniform eines russischen Marineoffiziers, mit der in den Nacken geschobenen, goldbestickten Mütze, in ärmellosem Trikothemd, das die Brust entblößte, machte den Vorschlag zu baden. Unter dem Felsen, der wie ein Dach über uns hing, zwischen dem ins Meer gefallenen Gestein, wo das Wasser nicht mehr blau, sondern grün war, vergingen mir die Stunden der Sonne, des Wassers, der Trägheit, diese Stunden der blauen Leere und Weite. Ich lag in einem Spalt zwischen zwei großen Steinblöcken, inmitten schattiger Kühle und der Krabben. Meine Beine lagen im grünen Wasser. Eine kleine Welle spielte an dieser seichten Stelle mit den vielen kleinen Kieseln und umspülte meine Schultern. Es war die wohltuende Trägheit einer feierlichen Stunde. Konstantin Alexejewitsch Pawlowskij horchte auf diesen Steinen mein Herz ab, um es auf seine Brauchbarkeit für die Unterwasserstrapazen zu prüfen. Der blaue Rauch der Zigaretten erschien weiß in dem Blau der Schwüle und des Himmels. So verging der Tag. In der Dämmerung erst aßen wir unsere Mahlzeiten - japanisch, aus einem Dutzend kleiner Schälchen. Im Abendrot stiegen wir auf den Felsen. Dann kam die Nacht und mit ihr das Frauengekreisch auf der Uferstraße und in den Vorgärten. Es kamen die riesigen Sterne, das im Chor gesungene Lied vom Meer, die Pfiffe der Nachtwächter, die schweren Gerüche der würzigen Finsternis – es war eine südliche Nacht.
VI Wir gingen zu Kataoka. Er hatte uns bereits im Arbeitsraum der Expedition erwartet. Neben den amerikanischen schwarzen Koffern, transportierbaren Kleiderschränken, lagen mir unbekannte Meßgeräte. In der Ecke sah man einige bedeutsame Fundstücke vom Meeresgrund, die Wände waren mit Statistiken, Zeichnungen und Plänen behängt, hinter einer dünnen Zwischenwand stand ein Feldbett. Auf dem europäisch anmutenden, gedeckten Tisch standen japanischer Tee und japanisches Konfekt, das aus süßen Hülsenfrüchten und Merespflanzen bereitet war. Außerdem englische Zigaretten. 98
Kataoka-san trug einen cremefarbenen Anzug aus Flanell, der weiß von seinem sonnenverbrannten Gesicht abstach. Er war bedächtig und sachlich in seinen Bewegungen. Es stellte sich heraus, daß Kuroda-san ein sehr brauchbarer Dolmetscher war. Ich fragte, wieviel Chancen bestünden, das Gold zu finden. Kataoka erwiderte, daß die Fässer mit Gold, jene hundert Fässer, die der ›Schwarze Prinz‹ an Bord hatte, natürlich zerschellt wären. Man müßte den Meeresboden mit Pumpen durchsuchen und alles durch ein Sieb lassen. Und vielleicht würde es trotzdem nicht gelingen, das Gold zu finden, wenn es von den Wellen fortgespült worden sei. Ich erkundigte mich, warum trotz einer solchen Möglichkeit Kataoka-san diese Tauchkonzession erworben habe. Er lächelte und sagte nur das Wort: »Gold«. »Und wenn Sie es nicht finden?« fragte ich. Kataoka wies mit Überzeugung darauf hin, wie sehr seine Arbeit von allen Tauchern verfolgt wird - in England, Amerika, Japan, in der ganzen Welt. Und wenn er das Gold des ›Schwarzen Prinzen‹ nicht finden sollte, würde er damit wenigstens der Legende ein Ende bereiten. Das schien ihm die Mühe und den Aufwand an Kosten wert zu sein. Ich machte mir meine eigenen Gedanken und schwieg. Vor mir saß ein Mensch, ein Meister, der mit schöpferischer Freude bei seiner Arbeit war. Kataoka-san begann, ohne daß ich ihm eine weitere Frage stellte, von selbst zu reden. Er bat Kuroda, mir zu sagen, daß er und seine vierundzwanzig Mitarbeiter, seine Landsleute, sein Tauchertrupp, mit dem er schon eine Unzahl von großen und kleinen Schiffen aus dem Meer gehoben habe, sich alle ihrer Aufgabe bewußt seien, daß sie ihre Verantwortung vor der Menschheit in jedem Augenblick fühlten. Mir war es klar, daß ich neben einem bedeutenden Menschen saß. Kataoka rauchte und aß das aus Hülsenfrüchten zubereitete Konfekt. Bedeutende Menschen haben meistens einfache Gesten. Er zeigte uns eine Münze der Königin Victoria aus Kupfer, die von Weichtieren zerfressen war. In seinem Gesicht stand eine selbstsichere, würdige Zufriedenheit. Er machte den Vorschlag, einen kleinen Weinkeller an der Uferstraße aufzusuchen, um dort ein Gläschen zu trinken. Die Nacht war finster und warm, eine der Nächte, von denen man sagt, sie seien weich wie Samt. Ich sah das ganze Leben dieses Herrschers über das 99
Wasser vor mir. Schon bei der Morgendämmerung begann er mit seiner Arbeit – er saß im Arbeitsraum über Plänen, mathematischen Formeln, dann stand er draußen auf dem Meer den Naturgewalten gegenüber, mit seiner Erfahrung, mit der Kraft und dem Können, das überall bei ihm zu spüren war. In dem weiten, fremden, für ihn unbegreiflichen Land, das ihm genau wie für einen Russen irgendein japanischer Provinzhafen fremd und unverständlich war, las er an den Abenden japanische Zeitungen und Zeitschriften, die mit einer monatlichen Verspätung kamen, rauchte Zigaretten, aß mit Stäbchen den Reis, machte vor dem Schlafengehen seine Spaziergänge an der Küste entlang und schlief um Mitternacht ein. Am frühen Morgen begann er schon wieder zu arbeiten - um in die geheimnisvollen Meerestiefen hinabzusteigen, sich bewußt, daß die ganze Welt auf ihn sieht, die ihm die Auszeichnung des besten Tauchers der Erde verlieh. Ich verabschiedete mich an jenem Abend ehrfurchtsvoll von Kataoka-san.
VII Am nächsten Morgen erlebte ich ein Wunder, das einzige in meinem Leben, mit nichts vergleichbar: Ich stieg zum Meeresgrund hinab. Ich bin über die Wolken geflogen, ich war in den Theatern des Ostens und Westens, ich fuhr auf den Meeren, ich war in der Arktis und in den Tropen, das alles zählt nicht im Vergleich zu dem, was einem der Meeresgrund gibt. Um im Taucheranzug auf den Boden des Meeres hinabzusteigen, müssen Herz, Ohren und Nerven gesund sein. Das Herz muß die Belastung des Blutes aushalten, denn alle zwei Meter unter dem Wasserspiegel vergrößert sich der Druck um eine Atmosphäre. Das Blut durchsetzt sich mit Stickstoff und »kocht auf«, so wie Mineralwasser beim öffnen der Flasche aufsprudelt. Die Ohren müssen ein starkes Trommelfell haben, damit sie in dem Augenblick widerstehen, in dem die verbrauchte Luft aus dem Anzug hinausdringt und der Druck sich verändert. Und was die Nerven betrifft - dem Menschen ist es beschieden, auf der Erde zu leben, der Fisch verendet an der Luft; als der Pilot mich in den Himmel flog, lag mein Leben in seinen, unter Wasser, im Taucheranzug aber in meinen eigenen Händen – man muß 100
gesunde Nerven haben, um seine Handlungen richtig zu steuern. Die Taucherschüler werden während der Ausbildung zuerst am Ufer in den Anzug gesteckt, dann zwei Meter tief, danach drei Meter unter das Wasser gelassen. Es war ein goldener Tag. Das Motorboot brachte mich und meine Freunde, die sich in der Morgendämmerung eingestellt hatten, darunter auch Wera Inber*, zur Einsatzstelle des Tauchertrupps. Die Moskowiter-Balaklawischen »Hellenen« in ihren Badeanzügen gafften aus den Booten um die gesperrte Zone herum, nachdem sie erfahren hatten, daß ein Schriftsteller tauchen wird. Es war ein wundervoller und sehr heißer Tag. Ich sollte zwar unter Kontrolle von Doktor Pawlowskij auf den Meeresboden hinabsteigen, aber unter Leitung der Japaner, die ebensowenig russisch sprachen wie ich japanisch. Die Japaner begegneten mir bei der höflichen Begrüßung mit dem Lächeln des Ostens. Doktor Pawlowskij überprüfte noch einmal Herz, Ohren, Nerven und nannte die Signalzeichen; in seinem knappen Ton gab es nur ein »gut, schlecht, machen Sie dieses oder jenes .. .« Ich war schon nicht mehr Herr meines Willens. Die braunhäutigen Japaner, in deren Gesichtern genau wie bei den Tataren auf dem Bahnhof die Zähne von der Sonne blau schimmerten, wenn sie lächelten, setzten mich auf eine kleine Bank und begannen mich auszuziehen. Der eine schnürte meine Schuhe auf, der andere nahm mir die Krawatte ab. Meine Unterwäsche konnte ich anbehalten. In meiner Willenlosigkeit kam mir das Beschämende dieser Situation nicht zum Bewußtsein. Man zog mir eine fingerdicke Wollweste an, ebenso dick waren Socken und Unterhose. Ich fühlte mich sofort wie in den Tropen und machte Witze darüber. Die Hitze wurde erträglicher, als mir ein Japaner mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischte. Dann wurde ich in einen Gummisack geschoben. Man legte mich und den Sack aufs Deck und stemmte sich mit den Füßen gegen meine Schultern, damit ich bequemer hineinrutschte. Ich war einem Erstickungsanfall nahe. Meine Füße wurden in bleiern-kupferne Taucherschuhe gesteckt, von denen jeder vierzig Pfund Gewicht hatte. Nachdem man mir noch eine harte Hülle aus Persenning übergezogen hatte, wurde ich auf die Bordwand * Wera Midiailowna Inber (geb. 1890), sowjetrussische Dichterin. 101
gesetzt. Fast so wie man einen Autoreifen über die Felge zieht, begann man über das kupferne Halsjoch, mit seinem Gewicht von etwa fünfzig Pfund, das auf meinen Schultern ruhte, die Ränder des Gummisackes, in dem ich steckte, zu stülpen und den Gummianzug an dem Halsjoch mit Schrauben zu befestigen. Daran hängte man noch vor der Brust und auf dem Rücken zwei Bleigewichte, von denen jedes sicher dreißig Pfund wog. Unterhalb meiner Achselhöhlen wurden die Gewichte festgebunden, damit sie nicht hin und her baumelten. An meinen Oberschenkeln brachte man Signalleinen an. Sie wurden wie die Riemen eines Kummets zusammengezogen; dabei stemmte man sich gegen meine Oberschenkel. Ich hatte jetzt etwa zwei Zentner Last an mir. Dann wurde ich unter den Armen gepackt und auf das Fallreep – bis zum Gürtel im Wasser – gestellt. Mir war heiß und dennoch heiter zumute. Ich hörte Doktor Pawlowskij zum letzten Mal sein kurzes – »Herz, Ohren, Nerven – gut, schlecht, das brauchen wir nicht mehr …« sagen. Die Signalleine hielt ich fest in den Händen. Wera Inber sah mich vom Boot aus mitleidig an, Kuroda lächelte wie die Sonne. Pawlowskij hob mir den Helm über meinen Kopf, der mir das Aussehen eines Marsbewohners gab. Damit war ich um weitere fünfzig Pfund schwerer. Er zeigte mir das Ventil zwischen Genick und dem rechten Ohr, auf das ich mit dem Kopf drücken mußte, um die verbrauchte Luft hinauszulassen. Doktor Pawlowskij hatte mir vorher die Brille abgenommen. Der Taucherhelm wurde am Halsjoch wie ein hermetisch schließender Pfropfen festgeschraubt. Ich war von der Welt abgeschnitten. In meinem Kopf begann es von der Luft, die von dem Prahm hineingepumpt wurde, zu rauschen. Pawlowskij gab mit der Hand ein Zeichen. Ich stieß mich vom Fallreep ab, um in mich selbst und ins Wasser zu versinken. Die grünen Wogen schlugen rauschend über dem Taucheranzug zusammen. Der rote Boden des Bootes, in dem Kuroda und die Inber saßen, begann sich zu heben. Die winkenden Hände aus den Booten wurden seltsam verzerrt, sie nahmen Plattgequetschte Formen an, die allmählich zerflossen. Der Holzboden des Bootes schaukelte und schlängelte sich. Dann löste sich das Boot im Blau auf und entschwand. Das Wasser um mich war ungewöhnlich blau. Die Sonne drang auf zwei Wegen zu mir … als spitze Pfeile und als tellerförmige Fratze. Jedesmal, wenn ich auf das Ventil drückte, gluckste die 102
hinausströmende Luft, in meinen Ohren sauste es von der Leere, und das Herz erstarrte. Die Pumpe jagte frischen Sauerstoff hinein, und das Herz schlug wie schwere Artillerie auf das dick werdende Blut. Und nun endlich sah ich in der blaugrünen Trübe die dunklen Steine des Meeresbodens. Ein kleiner Fisch schwamm auf das Bullauge meines Helms zu, ich wollte ihn mit der Hand greifen, aber er schwamm seelenruhig zur Seite und bewegte sich dann wieder auf mich zu. Ich staunte darüber, wie ungewöhnlich sich meine Hand bewegte; sie entfernte sich von mir und näherte sich in Zickzacklinien wieder, sie dehnte sich und zog sich zusammen wie eine Ziehharmonika. Ich sank mit dem Kopf nach unten auf den Meeresgrund und bemerkte das erst, als ich die Steine auf dem Boden erkannte. Ich bewegte den Kopf und die Schultern und begriff, daß jene vielen Pfunde, die an mir hingen, kein Gewicht mehr hatten. Ich war schwerelos. Dicht neben mir reckte sich, doppelt so groß wie ich, ein mit kleinen Muscheln und Tang bewachsener Felsen empor. Die Sonne drang mit ihren Pfeilen und ihrem verzerrten Rund auch hierher. Alles war trüb-blau, grünblau, wie vom Mondlicht beschienen. Meine Augen stießen in die blaue Dunkelheit. Der Meeresboden glich einer riesigen Schale, deren Ränder in der Unsichtbarkeit und Finsternis verschwinden. Das glich nicht mehr der von den Menschen bevölkerten Erde, es war auch nicht mehr mit den Regeln der Menschen zu messen. Ich wollte den Felsen, der dicht neben mir lag, berühren, doch mein Arm reichte nicht aus. Als ich einen Schritt auf ihn zu tat, schob er sich weiter weg. Zwischen meinen Füßen waren Steine von der Hälfte meiner Größe, und ich machte Schritte wie ein Zyklop. Ich trat auf den Felsen zu, berührte ihn und streckte mich nach dem Stein, der über meinem Kopf hing, dabei lösten sich meine Füße vom Boden. Ein großer Fisch schwamm unter dem Felsen hervor und zog an mir vorbei. Ich stemmte mich ohne große Anstrengung mit den Händen auf den Felsen. Als ich einen Schritt machte, fiel ich herab und landete neben der Backbordseite eines untergegangenen Schiffes. Die Bullaugen sahen mich unheildrohend an; wie ein dreiäugiges Ungetüm bewegte es sich in den gebrochenen Sonnenstrahlen und dem sehr dichten Blau des Wassers. Die Spanten waren von Steinen verschüttet. Da war er, der ›Schwarze Prinz‹, die Legende der Menschen vom Gold. Ein Fisch schwamm aus dem leeren Bullauge heraus. Mein Herz schlug dumpf 103
und schwer, das Trommelfell schien jeden Augenblick zu zerplatzen; ich hatte vergessen, die verbrauchte Luft abzulassen. Ich öffnete das Ventil: Füße, Herz und Kopf versanken in Kraftlosigkeit. Also da war er, der ›Schwarze Prinz«, die Legende vom Gold, der unheilvolle Untergang, der Meeresboden und der Tod! Von oben bekam ich Signale, man fragte mich – »Schön, nicht wahr?« – Ich bedauerte, daß ich nicht antworten konnte – »Unwahrscheinlich!« Die Fische hatten mich in ihre Gemeinschaft aufgenommen und schwammen gleichgültig um mich herum. Niemals und nirgendwo hatte ich so etwas erlebt. Hier auf dem Meeresboden, im Element des Wassers, herrschen absolute, eigene Gesetze der Physik, der Sicht, der Dichte, des Raumes, die es auf der Erde nicht gibt: eigene Gesetze des Atmens und des Lebens. Die Sonne drang mit grünen Pfeilen vor. Der tote ›Schwarze Prinz‹ bewegte sich. Ringsherum war ein unwahrscheinliches, mondlichtes Blau. Immer häufiger wurde ich von oben gefragt – »Schön, nicht wahr?« – so daß ich die Signale verwechselte. Plötzlich kroch ich gegen meinen Willen langsam nach oben und blieb einige Meter hoch über dem ›Schwarzen Prinzen‹ hängen. Dieser Augenblick des Schwebens war wie eine Ewigkeit. Ich wurde noch einige Meter höher gehoben, der Meeresboden verschwand, es war kein Grund mehr unter mir, es war ein blendendes Blau, nur Blau um mich, sonst nichts. Das Herz hämmerte im Kampf mit dem Blut, das dem Kochen nahe war. Damit das Blut nicht von der raschen Veränderung des Druckes in eine solche Wallung gerät, werden die Taucher sehr langsam aus den Meerestiefen heraufgeholt. Man wird einige Meter hochgehoben und dann eine oder zwei Minuten festgehalten: Ich war ein Taucher, und diese Minuten des Schwebens waren wie eine Ewigkeit. Ich sah wieder die Böden der Boote, die Erde, das menschliche Leben! Ich tobte mit den Füßen und Händen wie ein dreizehnjähriger Junge herum vor rasendem Vergnügen über die Begrüßung der Erde und der Menschen, die über den Booten schwebten. Doktor Pawlowskij wollte mein Herz abhören; ich tat es mit einer Handbewegung ab! Ich entledigte mich mit der größten Freude meiner Gewichte und des Gummis, zog stolz die Hose an, band die Krawatte um, wärmte mich an der Sonne, klopfte die Japaner auf die Schultern, »Jurosi-hosa-imasil«, damit wollte ich sagen, daß es sehr 104
schön war! Am Abend aß ich zum letzten Mal, zum letzten Mal in meinem Leben, in Balaklawa japanisch. Anschließend fuhren wir zur Bahnstation, um nach Moskau zurückzukehren. Ich setzte Kuroda-san zu, warum er nicht mit mir auf den Meeresgrund gestiegen sei. Dieser tat es lachend ab und sah mich listig an. Er erzählte mir, daß die japanischen Arbeiter nach unserer Abfahrt den Prahm und die Boote mit Salz bestreut haben, um sie, nach japanischem Brauch, von dem bösen Geist einer Frau zu säubern, weil Wera Inber auf den Prahm und die Boote ihren Fuß gesetzt hatte. Von der südlichen Krim fuhren wir in den trüben Moskauer September hinein. Ich wachte am frühen Morgen in der Ukraine völlig zerschlagen auf: An den Schultern, wo das Halsjoch des Taucheranzuges aufgelegen hatte, an der Stelle des Hinterkopfes, mit der ich auf das Ventil gedrückt hatte, waren blaue Flecken, es zeigten sich Schwellungen, und die Füße wollten nicht mehr mitmachen.
VIII Die Monate sind vergangen, und auch die Jahre werden noch vergehen. Wenn das viele Blau und die Sonne die Welt erfüllt! - immer in den Dezembermonaten, in den langen Wintern, in den Nächten, erinnere ich mich und werde mich oft an jene unwahrscheinlichen Augenblicke erinnern, die ich auf dem Meeresgrund verbracht habe. Je mehr Tage vergehen, um so wundervoller erscheinen mir jene Minuten. Es ist ein Gesetz, daß das Wunder in dem Augenblick, in dem man es erlebt, kein Wunder zu sein scheint. Ich habe genau beschrieben, was ich auf dem Meeresgrund erlebte, doch jetzt scheint mir alles anders, viel majestätischer gewesen zu sein, etwas, das man nicht wiederzugeben vermag, denn die Phantasie kennt keine Grenzen. Und in der Erinnerung an den Meeresgrund verfalle ich, besonders in den Nächten, in eine eigenartige Empfindung des merkwürdigen Blaus; dieses Blau kommt wie ein Schauer über mich, alles wird wunderschön, und auch ich fühle mich wundervoll. Die Japaner fanden kein Gold. Die Japaner fanden den ›Schwarzen Prinzen‹ und löschten seine Legende aus. 105
Das Gold vom ›Schwarzen Prinzen« hatten die Engländer bereits damals, bald nach dem Untergang des Schiffes, gehoben, im Laufe jener sechs Monate, die sie in Balaklawa nach dem vierzehnten November verbrachten. Die Engländer hatten nicht nur das Gold und den mit Brillanten besetzten Degen der Königin Victoria gefunden, sondern sogar die Schiffsteile aus Kupfer. Die Japaner fanden unter dem Gestein einen englischen Taucher, einen im Taucheranzug hermetisch abgeschlossenen Menschen. Er war auf dem Meeresgrund ums Leben gekommen. Die Engländer hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu heben. Er wurde von den Japanern geborgen. In seiner Tasche fand sich ein Tagebuch vom Jahre achtzehnhundertvierundfünfzig. Der Taucher war einer von denen, die das Gold vom ›Schwarzen Prinzen‹ gehoben haben. Es war alles klar. Die Beherrscher der Meere und Kaufleute der Welt – die Engländer- verstehen es, Geheimnisse zu bewahren, sie sind der nationale, englische Stolz! Sie haben sich mit der Legende vom ›Schwarzen Prinzen‹ einen Spaß erlaubt, die Japaner löschten die Legende aus. Der Geschichtsschreiber des Krimkrieges, Generalleutnant Bogdanowitsch, schrieb im dritten Band seines Werkes: ›Wenn auch von unserer Seite nichts getan worden war, um die Notlage der Alliierten auszunützen, so hatte ungeachtet dessen der Sturm vom 2. (14.) November für sie sehr schlimme Folgen, die Cholera und andere Krankheiten vermehrten sich in erschreckendem Maße und vergrößerten die Sterblichkeit im englischen Lager.‹ Die Engländer hatten alle Hände voll zu tun, jedoch nicht nur mit der Cholera. Der genuesische Turm Don steht nach wie vor über Balaklawa. Die Genuesen nannten Balaklawa Tschembalo. In der Chronik von Odessa steht im Jahre achtzehnhundertsiebenundzwanzig, noch vor dem Krimkrieg, über Tschembalo geschrieben: »… getauscht wurden die europäischen Erzeugnisse und Waren gegen russische Pelze, Seide aus Asien und Gewürze aus Hindustan. Die Karawanen mit Waren aus China, Tibet, Indien, Turkestan erreichten durch Astrachen und Tana wohlbehalten Tschembalo. China brachte sein Porzellan, Indien Diamanten 106
und Gewürze, Bengalien Opium, Malabar Safran und Sandelholz, Ceylon Perlen und Zimt, Tibet Moschus, Äthiopien brachte auf dem Meerweg Elfenbein, Arabien Myrrhen und Weihrauch. Die Genuesen boten die prunkvollen Erzeugnisse aus Asien und Afrika, die Stoffe verschiedener Art, besonders von Purpur und roten Farben, Gürtel, Halsschmuck, Armbänder, Ringe und anderen Frauenschmuck, sogar Leopardenfelle. Die wertvollen Metalle bekamen die Genuesen für bedeutende Summen von den Tataren, die diese in Rußland erwarben …« Tschembalo wurde im Jahre dreizehnhundertdreiundachtzig von den Türken in Balaklawa umbenannt. Der türkische General KeduckAchmet-Pascha, der die Krim eroberte, nahm Tschembalo durch List: Die Genuesen wurden von ihrem Anführer Skwartschiafiko und von den Armeniern verraten. Der Chronist schrieb: »Am neunten Tag gab der Sieger ein Gelage, zu dem er auch die Armenier, die bei der Übergabe der Stadt teilgenommen hatten, sowie den weisen Skwartschiafiko einlud. Nach dem Gelage erhielten alle die gerechte Strafe für den Verrat. Beim Verlassen des Tores wurden alle auf den schmalen Treppenstufen hinter die Festung zum Meer hinabgeführt, dort getötet und in die Fluten geworfen.« Die Bezeichnung: das Schwarze Meer, ist die genaue Übersetzung aus dem türkischen Kara, aber Kara hat zwei Bedeutungen – schwarz und böse; die Türken verwenden das Wort Kara in Beziehung auf das Schwarze Meer im Sinne des Bösen; die russische Übersetzung aus dem Türkischen ist nicht richtig. … Bei den Griechen, bei den Hellenen, zu Zeiten Tauriens und Herodots hieß Tschembalo Simwolon. Bei Herodot steht geschrieben: »… weiter östlich liegt die Bucht mit einem schmalen Eingang, die man Hafen der Symbole nennt.« Balaklawa ist ein Hafen der Symbole! Es ist wunderschön, in dieser blauen Welt zu leben. 107
Lord Byron Die Brigg, eine von denen, die den Naturkräften zum Trotz die Meere durchkreuzen und die eine dreihundertjährige Tradition haben, verließ in der Nacht vom dreiundzwanzigsten zum vierundzwanzigsten Dezember das Goldene Horn. Alle drei Masten unter Segel, durchschnitt sie das Marmarameer, und als der Tag zur Neige ging, fuhr sie ins Ägäische Meer – und in die Weihnachtsnacht. Das mit allerlei Sachen beladene Schiff segelte nach Smyrna, um dort eine Fracht von Weintrauben und Feigen an Bord zu nehmen. Die Lichter von Tschanak erloschen in der Nacht. Das Ägäische Meer empfing die Brigg mit einer Brise, die im Morgengrauen zu einem Sturm wurde, in dem sich Mistral, Ponente und Greco Tramontan mit der Düsternis vermischten. Der Regen wechselte ab und zu mit Hagelschnee und stach mit kleinen Eisnadeln, wie es in diesem Meer nur im Dezember geschieht. Die Niederschläge verbargen die Weite, und es schien, als ob die Masten die Wolken stützten. Das Schiff rollte von einer Welle zur anderen, und das rote und blaue Toplicht stießen durch ein Schneegestöber, wie es in den Bergen der Levante und in Rußland häufig ist. Der Kapitän befahl, immer mehr Segel einzuziehen, der Wind pfiff in der Takelage, das Mastwerk ächzte, und im Laderaum kullerten nach dem Rhythmus der Wellen die außer sich geratenen leeren Fässer. Es war eigentlich sehr alltäglich, doch waren das Schlafen wie auch das Trinken nicht erlaubt. Die Messe, in der die Petroleumlampe ihr Licht unter der Decke hin und herschaukelte, diente für alles. Auf den Bänken lagen die unsauberen Betten, zugedeckt mit Decken aus Schaffellen, auf dem Tisch und an den Wänden raschelten rotbraune Schaben, und der Tisch glich einem mit dem Messer zerhackten und von Fett durchtränkten Küchentisch. Es roch nach Teer, Zitronen, nach Tabak und Kaffee, und es herrschte eine unerträgliche Schwüle im Raum, weil alles, bis auf die kleinste Ritze verschalt war. Drei saßen am Tisch, schweigend über die kleinen Tassen mit türkischem Kaffee gebeugt: der Kapitän, Türke, ein alter Mann in der Nationaltracht, breit in den Schultern und gut zwei Meter groß, das Gesicht von der Farbe einer 108
Orange, dabei ganz ergraut; sein unrasiertes, borstiges Haar auf Kopf und Kinn glich einem Reif, der die Orange umrandete. Daneben der Vertreter des Kapitäns, ein ehemaliger russischer Schiffskapitän, ein Emigrant, in der Uniform eines Marineoffiziers seiner früheren Heimat. Der dritte der Runde war ein Gast. Um die Nationalität des Gastes zu bestimmen, muß man sagen: Er war das, was man einen Levantiner nennt, wenn die Abstammung bunt ist durch vielerei Blut, das an den Küsten des Morgenlandes durchgezogen ist. Er war blauäugig, klein von Wuchs, hager, und er hinkte. Sein Rock roch stark nach Olivenöl, und man konnte annehmen, daß er ein Olivenhändler sei. Er rauchte ›Agali‹-Zigaretten, die billigste Sorte, die nur von den Hafenarbeitern geraucht wird, aber er trug eine Luxuskrawatte aus Paris, die gut ihre fünf Lire kostete. Sie bezeichnete das, was man levantinische Modesucht nennt; außerdem hatte er Lackschuhe an. So ließe sich nun freilich die wegen des Geruches aufgestellt: Behauptung, er sei ein Olivenhändler, widerrufen und die Meinung vertreten, daß sein Schicksal und der Auftrieb für diese Fahrt auf dem Meer gewisse Börsenahngelegenheiten waren, eine Krankheit, die nach einer schnellen Anwendung von wirksamem Senfpflaster aus Klatsch und Schmutz verlangte, der alten Würze der Zivilisation nicht nur in Istanbul, sondern auch in Smyrna. Der Levantiner war für die beiden Kapitäne uninteressant. Sie schwiegen, aber sie hatten vergessen, ihm eine Lagerstatt anzubieten, und so schlief er aus Höflichkeit am Tisch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Sein lockiges Haar hatte die Farbe von reifen Kastanien; die polierten Fingernägel waren schmutzig. Der Levantiner schlief so wie sehr gute, scharfe und wachsame Hunde schlafen – jedes Geräusch zwang ihn, den Kopf hochzuheben, und dabei war das Auge nicht schläfrig. Der wachhabende Offizier kam herein und meldete, daß das Achterdeck schlingere. Der Kapitän ordnete an, die Segel vom Besanmast herabzuholen. Ohne den Kopf zu heben, musterte der Levantiner aufmerksam mit einem Auge den wachhabenden Offizier, in seiner blauen Pupille funkelte ein böses kleines Feuerer – seufzte, zuckte zusammen und schloß das Auge. Die Stunden vergingen. Das Schiff ächzte und zitterte auf den Wellen, die Fässer polterten im Laderaum, und die Wanten heulten wie die Eulen. Die Kapitäne rauchten Pfeifen und tranken mit win109
zigkleinen Schlucken den schwarzen, bitteren, breiigen Kaffee. Die Schaben ließen sich durch den Sturm in keiner Weise stören, nur die Lampe schaukelte immer schneller und schneller unter der Decke, und die Tropfen des salzigen Wassers rannen von den Luken, vor denen das Wasser rauschte. Es war sehr trostlos und langweilig. Der wachhabende Offizier erschien wieder und meldete, daß für eine Minute lang der Leuchtturm von Tenedos zu sehen gewesen war. Der Levantiner öffnete beide Augen, bog sich nach hinten zur Wand, zu der sich unter der Luke ansammelnden Lache, warf die Locken zurück und erhob sich – dabei die Hände in den Taschen und den Kopf zurückgeworfen, mit verächtlichem Blick – wie es zu Unrecht beleidigte Menschen tun. Er hatte vor, als solch ein beleidigter Mensch durch die Messe zu gehen, aber er wurde von einer Wand zur anderen geschleudert, die Schöße seines Rockes flogen auseinander, und er mußte sich eilig hinsetzen. Er erhob sich wieder und ging zum Garderobehaken, setzte den Hut auf und griff zum Mantel. »Was hast du vor?« fragte der Kapitän. »Ich will auf Deck«, kam die Antwort des Levantiners. »Das geht nicht«, knurrte der Kapitän. »Warum?« fragte der Levantiner. »Die Wellen spülen dich fort«, entgegnete der Kapitän. Der Levantiner hängte den Hut auf und setzte sich an seinen früheren Platz. Er war beleidigt. Er steckte die Hände in die Taschen und streckte die Brust heraus. Er begann zu sprechen. Die Kapitäne antworteten ihm zögernd und unwillig. Sie unterhielten sich auf Französisch, in der Sprache, die im Nahen Osten zur Sprache der Levantiner geworden ist. »Sie sind Russe?« erkundigte sich der Levantiner beim Ersten Offizier. »Ja, ich bin Russe«, erwiderte dieser. »Ich heiße Isidor Byron«, sagte der Levantiner. »Aha«, antwortete der Russe. »Die Revolutionen sind jetzt herabgesunken zu der … wie soll ich es Ihnen sagen … zu der prosaischen Rolle eines Broterwerbs. Genau an diesem Ort, wo wir jetzt fahren, hat vor hundert Jahren eine noch romantische Revolution stattgefunden. Hier starb damals am gelben Fieber George Gordon Noel Lord Byron, der deshalb hierhergekom110
men war, weil die große Romantik die Gedanken der Menschen beherrschte! – Ja, ja!« fügte der Levantiner hinzu. Er bekam keine Antwort. Die Fässer verloren durch ihr rasendes Fallen den bisherigen Rhythmus, und donnernd übertönten sie die Worte. Die Wanten hörten auf, Eulenschreie auszustoßen, und quietschten nun wie die Ferkel. Die Messe füllte sich jetzt mit einer Unzahl quiekender, kreischender, glucksender, polternder, unheimlicher Geräusche. »Hier fuhren vor hundert Jahren«, redete der Levantiner weiter, »– auf diesen Meeren – die Schiffe der Insurgenten, die die räudigen Griechen von der Barbarei der Türkei befreien wollten – die Taugenichtse, die eigentlich die Enkel der Hellenen, der Väter der jetzigen menschlichen Kultur sind. Auf diesen Meeren und durch diese Länder sind soviel Menschen und Blut gezogen, soviel Kulturen, daß jeder Stein hier ein Denkmal ist – und ihr habt das alles vergessen! Lord George Gordon kam aus Italien hierher, ein Don Juan, der von einer Gerechtigkeit der Völker träumte, an die ich nicht glaube. Hier wanderten einst die Phönizier, Griechen, Römer, Assyrier, Araber, um zu gaunern, zu betrügen, zu verraten, zu vergewaltigen, zu morden, und hier gab es die platonsche, christliche, judäische, mohammedanische und andere Philosophien – freilich falsche, an die ich nicht glaube. Die Gerechtigkeit ist eine Lüge. Die Wahrheit ist eine Lüge. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit sind im Grunde eine Art Heroismus. Hier und in Konstantinopel und in Smyrna werden bis heute Menschen verkauft, Frauen in die Lusthäuser gebracht, es wird gemordet, gelogen, die Sprache des Dolches geführt, alles Menschliche niedergetreten, und bis heute noch kreuzen hier auf den Meeren die Piraten. Einer meiner Urgroßväter, der englische Admiral, den man auf allen Meeren unter dem Namen ›Voul-Weather Jack« kannte, schlug sich hier mit meinem anderen Urgroßvater, dem Piraten Mahomed-Kadri-Ibn-Saud. Wer kann da noch von der Gerechtigkeit reden? – Wo zum Teufel gibt es auf der Erdkugel Gerechtigkeit, Keuschheit, Wahrheit? George Gordon Noel Byron, der größte Dichter und große Abenteurer, wurde geboren von einer stillen Mutter, die ihre Stille einem Gauner und Abenteurer gegeben hat, der sie und ihre Stille verlassen hat, als sie mit Gordon schwanger ging – dem größten Dichter. Und dieser dunkelblonde, schöne Mann, dem ich, wie man sagt, sehr ähnlich bin, dieser Gordon hat als sechzehnjähriger Junge in 111
Newstead Abbey seine Studienfreunde als Mönche verkleidet, und auch sich selbst legte er das Gewand eines Abtes an, und sie tranken Alkohol aus Menschenschädeln, in Silber eingefaßt; zu ihnen kamen zum Beten ihre Freundinnen, als Bacchantinnen verkleidet. Freilich, diese Art Vergnügungen weichen ab von der allgemein gültigen und vor allem von der christlichen Moral. Die Historiker geraten in Verwirrung durch die Namen und die Anzahl der Geliebten und Frauen des Dichters. Ich überliefere der Geschichte noch eine Liebe des Gordon Byron: Es ist unbestreitbar, daß seine Frau, die stille Miss Milbanke, sich gezwungen sah, den Dichter deshalb zu verlassen, weil sie schon in den ersten Tagen ihrer gemeinsamen Ehe im Bett des Dichters Haarnadeln der Schauspielerin Claire Clarmonth fand, dazu die Strumpfbänder von seiner Stiefschwester Augusta Leigh und von Mary Chaworth, der einzigen Frau, die Lord Byron mit einer echten Liebe geliebt hat, einer Liebe, die genauso von der üblichen Moral abweicht. Und ebenso bleibt unbestreitbar, daß Lord George Gordon damals England verließ, um niemals mehr dorthin zurückzukehren, denn er war von der Gesellschaft nach den Gesetzen der allgemein üblichen Moral verachtet, verlassen von seiner Frau als Schmäher der Familiengrundsätze, ein Wüstling, dem die Gerichtspsychiater drohten, ihn auf die Anklagebank zu bringen, ein sittlich unzurechnungsfähiger Mensch, den die Frauen verlassen haben und von dem, wie man in der guten Gesellschaft sagte, die ›Freunde sich abgewandt haben‹. Alle diese Tatsachen sind wahr – die Mutter des Dichters wurde von ihrem Mann verlassen, die Frau des Dichters verließ ihren Mann, die Heimat verschmähte ihn, er schenkte der Welt wunderbare, zauberhafte Werke, sein Leben beendete er im Freiheitskampf für das räudige Griechenland, aber er starb nicht im Kampf, sondern am gelben Fieber. Seine Moral ist für mich annehmbarer als zum Beispiel die christliche Moral …« Der Levantiner sprach sehr angeregt, aber ihm hörte niemand zu. Bei Menschen, die ihr Leben vom Land auf das Meer verlegen, bei den Seeleuten, gibt es bestimmte Regeln ihres Berufes – erstens, das Meer als ein lebendes Wesen zu betrachten, und zweitens, das Meer nicht zu fürchten oder so zu tun, als ob man es nicht fürchte, wenn das Meer unheimlich wird. Um es nicht herauszufordern! Und man konnte schwer feststellen, ob jener Augenblick zu den Kapitänen gekommen 112
war, in dem man sich fürchten muß; denn es schienen bereits das Wasser, der Himmel, die Düsternis, Schnee und Wind sich endgültig vermischt zu haben in dem schrecklichen Vorhaben, die in den Wellen vergrabene, ächzende Dreimastbrigg, die alle ihre Segel herabgelassen hatte, zu vernichten. Die Kapitäne saßen schweigend, unbeweglich, mit einer offensichtlichen Langeweile auf den Gesichtern, sie tranken Kaffee, um nicht einzuschlafen. Auf Deck gingen sie nicht, weil es auf Deck für sie nichts zu tun gab; sie hatten keine Lust, naß zu werden, und der Moment, in dem man die Mäste kappen mußte, um das Leben zu retten und das Schiff sich selbst zu überlassen, war noch nicht gekommen. Der Levantiner schrie: »In diesen Gewässern räuberte Mahomed-Kadri-Ibn-Saud, und dann erholte er sich von seinen erfolgreichen Raubzügen, der Halbaraber, Halbassyrier und Halbtscherkesse. Das ist seine Lebensgeschichte, und er ist einer meiner Großväter. Er kam zur Welt in einem Elendsloch zu Beirut. Mit acht Jahren plapperte er in vier europäischen Sprachen, strich wie eine Katze am Kai herum, tauchte im Wasser nach den von geistreichen Touristen geworfenen Geldmiinzen, fischte diese mit dem Mund auf, führte die Ankömmlinge in die Bordelle, wo schwarze und weiße Frauen sich kunstvoll den Fremden hingaben, ihnen die Szenen der Liebe vorführten und ihren Zuhältern die Hälfte des Gewinnes zahlten. Mahomed-Kadri-Ibn-Saud kannte mit zehn Jahren alle Gesetze des Lebens im Nahen Osten, und wegen seines Verstandes und seiner Gerissenheit wurde er auf dem Schiff der Piraten aufgenommen. Mit sechzehn Jahren saß Mahomed hinter Schloß und Riegel in einem britischen Militärgefängnis. Mit zwanzig befand er sich wieder in Freiheit. Und dann stieg er immer höher und höher auf den Stufen seines blutdürstigen Lebens, mit fünfunddreißig Jahren war er der Schrecken des östlichen Mittelmeeres, ein Pirat, Korsar, Anführer einer Piratenflottille, ein Freund und Gegner des Admiral Byron, des ›Voul-Weather Jack‹, der nach Mahomed jagte, um ihn zu töten, und nach dem Mahomed jagte, um diesen zu töten. Die britischen Beamten schätzten den Kopf Mahomeds mit zehntausenden von Pfund Sterling, Sultanhäscher versprachen, seinen schönen Kopf auf einen Pfahl zu setzen. Die Versuchung war groß, und Mahomed-Kadri beschloß, sich von seinem unruhigen Leben zu erholen: Er verkaufte selbst seinen Kopf und lieferte seine 113
Komplizen dem Statthalter des Archipels, Asad Nurull-Pascha, aus, er brachte dem Sultan Teppiche, die er den Arabern abgenommen hatte, und von den Engländern eroberte Kanonen zum Geschenk dar; ihm wurde verziehen, sogar begnadigt wurde er, und der Kalif beglückte ihn durch einen Erlaß, in dem er ihn ›bis zum Ende seiner Tage einen treuen Wachhund des Padischahs‹ nannte, der über Tenedos für immer zu herrschen habe, um das Tor zur Türkei, den Weg der Griechen zu bewachen. Das ist die Geschichte von MahomedKadri-Ibn-Saud Pascha, eines Mannes aus dem Orient. In Rußland schenkten die Zaren zum Zeichen ihrer Gunst die teuren Pelzmäntel von ihren Schultern, der Kalif schenkte Mahomed-Kadri-Ibn-Saud Pascha eine Frau aus seinem Harem, mit perlmutterfarbener Haut – eine Engländerin. Mahomed ließ sich mit seinem Harem auf dieser Insel nieder, an der jetzt unser Schiff vorbeizieht, und verbrachte hier seinen Lebensabend als Wachhund des Padischah, liebte die Frau mit der perlmutterfarbenen Haut und einer fremden Sprache, die ihm eine Tochter schenkte.« Der Levantiner schwieg eine Minute lang, warf seine Locken zurück und fragte den russischen Kapitän: »Sind Sie Russe?« »Ja, ich bin Russe«, erwiderte der Kapitän. »Mein Name ist Isidor Byron«, sagte der Levantiner. »Aha«, entgegnete der Russe. »Ja! Und das ist die Geschichte dieses heißen und listigen Landstriches. George Gordon Noel Lord Byron war Anführer und Ideologe der griechischen Insurgenten. Es war genau die gleiche Nacht wie heute. Die Brigg kam im Sturm der Nacht vom Kurs ab. Die Brigg war auf Erkundungsfahrt gegen den Feind und hatte Insurgenten an Bord. Auf der Brigg war außer der Mannschaftsbesatzung und den Offizieren ein Ehrengast – Lord Byron. Übrigens, während der Stürme ziehen die Marineoffiziere immer frische Wäsche an – der Tradition nach – und sind dann besonders höflich, weil auch sie hoffen, trotz allem dem Schicksal auszukommen, über ein Wellengrab vor Gottes Thron erscheinen zu müssen. Zwei saßen in der Kapitänskajüte – er, der Kapitän, und der Gast Lord Gordon Byron. In seinen Gedanken wünschte der Kapitän den Lord wohl zu allen Teufeln, diesen Abenteurer, für den es auf der Welt keinen Platz gab außer Griechenland. Aber der Kapitän tat so, als ob er keinen Blick auf die Karte werfe und sich keine Sorgen darüber mache, daß das Schiff in 114
der Nähe der türkischen Küste umherirrte, wo der Tod am Spieß sicher war, und der Kapitän spann dem Gast ein echtes Seemannsgarn. Wahrscheinlich war – genauso wie heute vor einer halben Stunde – der wachhabende Offizier gekommen und hatte dem Kapitän gemeldet, daß das Schiff vorbei an Tenedos fahre, und der Kapitän hatte dem Gast Lord Byron die Lebensgeschichte des Mahomed-Kadri-IbnSaud Pascha erzählt, wie ich sie gerade erzählt habe. Wahrscheinlich hat Lord Byron vor Verwunderung irgend etwas Ähnliches ausgerufen: ›Wie, auf dieser Insel beschließt der Freund meines Großvaters, des Voul-Weather Jack, seinen Lebensabend? Das kann nicht wahr sein!‹ Auf jeden Fall hat er sich sehr erhitzt und aufgeregt, und das war seine letzte phantasmagorische Tapferkeit. Es ist eine historische Tatsache – Lord George Gordon Noel Byron verlangte vom Kapitän, daß er das Schiff in die Bucht von Tenedos steuere; Lord Byron wollte dem Mahomed-Kadri-Ibn-Saud Pascha, dem Freund und Feind zugleich seines Großvaters Admiral Byron, einen Besuch abstatten. Lord Gordon schien es unwesentlich, daß er den Hafen des Feindes anlief und ein Spiel spielte, das seinen Kopf, wie auch die Köpfe der gesamten Besatzung, zu Kerzen auf den Pfählen machen konnte. Wahrscheinlich stimmte der Kapitän dem Abenteurer zu, als er der Meinung war, daß der Tod auf einem Pfahl ruhiger sei als der Tod im Wasser; denn der Sturm in jener Nacht wütete so, daß man die Mäste hätte kappen und das Bild von Nicolo, dem italienischen Heiligen und Schutzpatron der Seeleute, auf die Back tragen müssen. Die Brigg warf Anker in der Bucht des Schlosses, das niemals Gäste hatte. Lord Byron ging selbst mit seinem hinkenden Gang und klopfte an das Tor des Schlosses. Als erster wurde er zu Mahomed-Kadri geführt. Es gibt eine Kraft, die über allen Gesetzen steht; diese Kraft besaß Byron. Byron verbeugte sich vor Ibn-Saud, dem Freund des ›Voul-Weather Jack‹. Und IbnSaud hat es bestätigt – mit dem ›Voul-Weather Jack« verband ihn die Blutsverwandtschaft, der Gast hörte auf, Feind zu sein; das Gesetz des Propheten ist stärker als die Gesetze des Padischah. ›Die Freunde des Freundes sind in der Tat auch meine Freunde, umsomehr der Enkel meines Freundes, und somit ist mein Haus dein Haus.‹ Lord Byron wurden Ehren erwiesen und ein Gastmahl im Schloß des Pascha gegeben, in dem der Herr mit Kindern und Frauen lebte, darunter seiner Lieblingsfrau mit der perlmutterfarbenen Haut, deren Tochter die 115
Sprache von Vater und Mutter in sich vermengt hatte. Aber der Sturm hörte nicht auf, nicht am nächsten Tag und nicht am darauffolgenden, und nur die Mutter, die Frau mit der perlmutterfarbenen Haut, wußte, wie Lord Byron, vorbei an den Eunuchen, in das Gemach der Tochter von der Frau mit der perlmutterfarbenen Haut ging, um mit ihr in ihrer Heimatsprache – der englischen – zu plaudern … Nach drei Tagen nahm die Brigg Kurs in Richtung zur griechischen Küste. Nach drei Monaten starb Lord Byron am gelben Fieber. Nach neun Monaten brachte Saree einen Sohn zur Welt, und er, der Sohn, bekam mit Zustimmung des Großvaters den Namen Byron-Kadri-Ibn-Saud, oder einfach – Byron-Pascha.« Der Levantiner hörte auf zu reden und senkte den Kopf. Das Stöhnen, Quieken, Kreischen, Poltern und Krachen erfüllte die Messe. Die Kapitäne schwiegen. Der wachhabende Offizier betrat die Messe und sagte, daß der Leuchtturm von Tenedos wieder zu sehen sei, das Schiff würde steuerlos wie eine Nußschale auf den Wellen hin und hergeworfen. Dann kam ein Matrose der Wache und meldete aufgeregt, daß von der Brücke ein Schiffsjunge von den Wellen ins Meer gespült worden sei, als er hinaufkletterte, um das rote Toplicht zu richten. Der türkische Kapitän, der von dem Reif des grauen Haares umgeben war, bewies wohl die Haltung, in der man so tat, als ob man vor dem Meer keine Furcht hätte, wenn auch die Masten gekappt werden mußten. Er erhob sich langsam, legte den Wettermantel mit Kapuze an, setzte die Ledermütze auf, wartete ab, bis das Schiff sich noch mehr auf die Seite legte, und mit der Gewandtheit eines Jungen stieg er auf der Steigleiter (als sei es eine ebene Fläche) zum Deck hinauf. Im Lichtschein der Laterne schlug eine rote Welle dem Kapitän gegen die Brust. »Sind Sie Russe?« schrie der Levantiner. »Ja, ich bin Russe«, antwortete der Erste Offizier. »In dieser Welt ist gesetzlich nur die Gesetzlosigkeit, die Gewalt, das Morden, Lug und Trug und Mißachtung der Ehre, ja, genauso ist es, mein lieber, verehrter Herr! Damals gab es noch romantische Revolutionen. Der griechische Freiheitskampf endete mit dem Sieg der Insurgenten. England begann, seine Ordnung im Agäischen Meer einzuführen. Sie aber haben die Revolutionen bis zu den Parias, bis zu den Schauerleuten der Häfen gebracht. Ihr, die Russen! Ich werde 116
noch meine Rechnung mit euch begleichen, ja, ja! Nach dem Tode von Mahomed-Kadri-Ibn-Saud Pascha erbte die Tochter Saree seine Rechte und mit ihnen zusammen die Insel Tenedos. Ihr Sohn, der Byron-Pascha, Graf Byron, studierte in Istanbul und wurde einer der hervorragendsten Generale. Er kannte Kuropa, viele Sprachen, und er heiratete mit fünfunddreißig Jahren die Gräfin Allioti – meine Großmutter. Mein Vater war der Sohn des Grafen Byron. Mein Großvater starb an den ihm von den Russen zugefügten Wunden, er wurde auf Tenedos begraben. Ich kam in dem gleichen Schloß zur Welt, wohin einst Lord Byron, mein Urgroßvater, mit seiner verrückten Brigg gelangt war, aber ich kann mich an meine Jugendjahre nicht mehr erinnern. Ich bin der einzige Erbe dieser Insel!« »Sie?« fragte der russische Seeoffizier. »Ja, ich!« antwortete der Levantiner, »ich, Graf Isidor Byron. Es begann – wie Sie wissen, mit dem ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Umwertung der Werte, wie Ihre Kommunisten zu sagen belieben. Die Türkei verlor den Krieg, die Türkei des Haza Pascha ging nach Anatolien, um ihre Wunden im Gestein Kleinasiens zu lecken. Der Archipel wird von den Engländern, Italienern, Franzosen und Griechen ausgenutzt. Ich verlor den Blick, wer meine Insel gestohlen hat, und ich weiß auch nicht, wem sie jetzt gehört. Ich habe Gesuche an den Völkerbund, Wilson, Clemenceau, an den englischen und italienischen König, an die französischen und griechischen Staatsoberhäupter eingereicht. Die Antwort habe ich noch nicht, aber eines Tages werde ich sie schon bekommen. Ich werde meine Flagge auf der Insel hissen und einen neuen Staat ins Leben rufen, in dem ich alle willkommen heiße, die alle geltende Moral ablehnen, denn gesetzlich ist nur die Gesetzlosigkeit, die mir das Recht auf diese Insel und auf das Leben gibt. Ich werde auf dieser Insel die um mich scharen, die man Abenteurer nennt, ja! Um mich herum werden die interessantesten Männer sein, die schönsten Frauen, und es wird weder Heuchelei noch Lügen geben, ja, ja! Sie sind Russe? Und es waren Ihre sozialistischen Streiche‹, wie man so schön diese Dinge nennt, die mich um meine Insel gebracht haben! Der Teufel soll euch holen! Aber früher oder später werde ich meine Rechte auf Tenedos zurückerhalten!« In das Kreischen, Heulen und Poltern drang ein Laut des fallenden, brechenden Holzes, ein Quieken, Ächzen – und auf der Schwelle 117
stand der Kapitän, der die Messe im Augenblick des Tosens der sich aufbäumenden Welle betrat. »Den Besanmast hat das Meer geschluckt«, sagte gelassen der Kapitän, »wir steuern Tenedos an, der Leuchtturm ist zu sehen. Alle Mann an Deck! Es gibt Arbeit!« Der Erste Offizier – der russische Emigrant – schluckte eilig den letzten Tropfen Kaffee, zog die Stiefel hoch, begann sich anzuziehen und schimpfte erbärmlich, aber er schimpfte auf Russisch, und kein Mensch verstand ihn. Auf Deck war dunkelste Finsternis, die Wellen rollten darüber, die Besatzung, von den Wassermassen geschleudert, klammerte sich an den Trossen fest. Ein paar Matrosen, die durch die Schwärze des Sturmes schon ihre Ruhe verloren hatten, hackten die Masten ab, andere takelten das Aufbaudeck, und die übrigen pumpten das Wasser aus den Laderäumen. Das rote Toplicht wurde vom Wasser ausgelöscht. Auf der Brücke heulte die Sirene in das Tosen des Meeres hinaus. Der Leuchtturm von Tenedos versank immer wieder im Meer. Der Schneesturm legte sich, und unter pfeifendem Geheul war das Meer wie ein finsterer Irrgarten im Nebel. Isidor Byron stand am Reep, das zur Kapitänsbrücke führte. Die Wellen peitschten ihn von rechts und links, an ihm vorbei liefen die Menschen. Vielleicht hatte Byron bemerkt, daß der Erste Offizier, der anfangs langsam und gelassen hin und her ging und mit schläfriger Stimme die Befehle erteilte, nun selbst den Matrosen zu helfen begann und immer hastiger und wendiger wurde, bis er unsinniges Zeug zu den anderen herüberschrie, einen Matrosen ins Gesicht schlug und von diesem zurückgeschlagen wurde; aber die beiden bemerkten es nicht. Jetzt stürzten alle auf dem Schiff durcheinander, in einem verzweifelten Entsetzen wie Katzen, wenn sie auf dem Dach eines brennenden Hauses umherlaufen. Der Erste Offizier war schon viele Male an Byron vorbeigelaufen, und erst jetzt bemerkte er ihn. Byron stand da, nur mit seiner Jacke bekleidet. Der Erste Offizier klammerte sich krampfhaft und fest an die Brust Byrons und begann ihn zu rütteln wie einen jungen Espenbaum.
»Du, Lord Byron, bist ein Schuft, was stehst du hier, geh und pumpe Wasser, Schuft! Pumpen Sie Wasser, Sie, Herr, Nachkomme der großen Abenteurer! Ich werde dann auch mal zu Ihnen, in Ihren neuen Staat kommen!« 118
Der Erste Offizier schleppte Byron in die Düsternis. Byron, durch den harten Griff des Offiziers nach Atem ringend, fiel um und kroch ihm nach, das hinkende Bein nachziehend. Drei Matrosen arbeiteten wie die Besessenen an der Wasserpumpe. Der Levantiner Isidor Byron stellte sich neben einen Matrosen, und auch er begann, wie ein Rasender die sich verschluckende, schnaufende Pumpe zu betätigen. Die Wellen rollten über ihn hinweg, so als ob sie Lust hätten, ihn rechts und links zu ohrfeigen. Am Morgen legte das Schiff im Hafen von Tenedos an. Während des Kriegs von 1914 hatte hier eine türkische Festung gestanden, und das Schloß von Mahomed-Kadri-Ibn-Saud hatte als Kaserne gedient. Schloß und Festung legte die britische Artillerie in Trümmer. In den Tagen des griechisch-türkischen Krieges von 1920 wurde auf der Insel zuerst die gesamte türkische Bevölkerung vernichtet und dann die griechische. Die Insel war eine Ruine. Im Hafen, in den Trümmern aus Marmor, die noch von den Hellenen und von den römischen Kohorten, die einst hier einquartiert waren, zurückgeblieben sind, entstand ein neues Leben – es hausten einige Fischerfamilien darin. Die Bevölkerung war türkisch, und auf dem Ehrenplatz der Insel stand ein Kaffeehaus. Natürlich kam den Türken nicht in den Sinn, daß dieser Tag, der fünfundzwanzigste Dezember, ein Fest für die gesamte christliche Welt ist. Es war der übliche Alltag. Die alten Türken, die wegen des Sturmes nicht zum Fischfang ausgefahren waren, saßen im Kaffeehaus. Der Kapitän, der Erste Offizier und Byron gingen dorthin. Der türkische Kapitän breitete seinen kleinen Teppich etwas abseits von dem Schutzdach des Hauses aus und verrichtete andächtig sein Gebet. Byron bestellte sich Raki-Schnaps und begann sorgfältig die zusammengeklebten und durchweichten Lirescheine auf dem Tisch nebeneinander zu legen, um sie zu trocknen. Der türkische Kapitän weinte bittere Tränen beim Gebet. Der Russe legte sich auf die Erde, um zu schlafen. Die drei waren zu dem Kaffeehaus durch eine schmale Gasse gekommen, die leer und ausgeraubt war, ihren Boden aus Marmorplatten hatten noch römische Legionäre gelegt. Sie gingen vorbei am Trümmerhaufen des Schloßtores, an das einst Lord George Gordon Noel Byron geklopft hatte. 119
BORIS PILNJAK geb. am 29. 9. 1894 in Moshaisk (Gouvernement Moskau) wahrscheinlich 1937 hingerichtet
Boris Pilnjak (eigentlich Boris A. Wogau) gehört zu den bedeutendsten Gestalten der neueren russischen Literatur. Er war der Sohn eines Tierarztes deutsch-jüdischer Abkunft und besuchte die Realschule. 1915 debütierte er als Erzähler mit seiner bereits sehr charakteristischen Novelle ›Ein Leben lang‹ seinen Ruhm begründete dann der Roman ›Das nackte Jahr‹ (1922), der eine ganze Richtung der russischen Literatur prägte. Da Pilnjak sich nicht eindeutig den Doktrinen des Sowjetregimes anpaßte, sich einmal sogar offen für einen NichtKommunisten erklärte und in seinen Erzählungen ›Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond‹ sowie ›Mahagoni‹ (1929) schonungslos Wahrheiten aussprach, fiel er bald in Ungnade. 1929 begann eine Gesamtausgabe seiner Werke zu erscheinen. Zunächst stand Pilnjak noch unter dem Schutz seines Gönners Maxim Gorkij; nach dessen Tode 1937 wurde er jedoch als ›gefährlicher Volksfeind‹ verhaftet und unter unbekannten Umständen hingerichtet.
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